Karl-Gustav Ruch
Roman
Der Autor dankt der Stadt Winterthur und der Gottlieb und Anna Geilinger-Stiftung für die Unterstützung des Projekts.
Karl-Gustav Ruch: Flut. In: Hinter der Wand. Geschichten zwischen Zürich und Barcelona. Edition 8: Zürich, 2011.
Karl-Gustav Ruch: La mauvaise réputation. In: Hinter der Wand. Geschichten zwischen Zürich und Barcelona. Edition 8: Zürich, 2011.
Karl-Gustav Ruch, geboren 1954 in Zürich, lebt mit seiner Familie in Barcelona. Er arbeitet dort seit 1990 als Deutsch- und Musiklehrer und schreibt. Ab 1987 erste Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Essays in literarischen Zeitschriften. 2004 erschien sein Erzählband Talgo-Pendular und 2011 Hinter der Wand – Geschichten zwischen Zürich und Barcelona. Mit der Erzählung Hinter der Wand wurde er 2009 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.
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Karl-Gustav Ruch: Das letzte Fenster. Roman
Copyright © 2018 by Karl-Gustav Ruch
vertreten von der AVA international GmbH
Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von Zastolskiy Victor/shutterstock.com
Erstausgabe als E-Book © 2018 by hockebooks gmbh
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95751-279-6
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Für Jan-Mark
»Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei.«
(Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)
18. August 2011
Robert! – So kann jeder heißen. Jeder Zwanzigste in Europa heißt Robert oder Roberto. Er fühlte sich nicht angesprochen und hielt den Blick auf die Anzeigetafel gerichtet. LX 967, Zürich, Abflug 14:50, zwanzig Minuten Verspätung. – Da habe ich noch gut eine Stunde. Wenn das Einchecken nicht zu lange dauert, reicht es noch für ein Bier. Er machte sich an seinem Gepäck zu schaffen.
Robert? Are you Robert?
Vor ihm stand ein glatzköpfiger Mann mit angegrautem rotem Bart. Eine halb geöffnete Leinenjacke wölbte sich über dem dicken Bauch, der Hemdkragen war geöffnet und die gelöste Krawatte baumelte nachlässig über dem weißen Hemd.
Sorry, sagte er betreten zu dem Fremden, do we know each other?
Robert! I’m sure you are Robert from Zürich, aren’t you?
Wohin gehörte die Unterlippe, die sich beim Grinsen einseitig nach unten zog; dieser unverschämte Ulk, der um die Augen spielte und ihn zu verspotten schien, die knochigen Wangen mit dem scharlachroten Schmiss, in die das Grinsen jetzt gewandert war? Die dicke Nase, die wie ein Baum aus den struppigen Augenbrauen wuchs, kam wie aus weiter Ferne auf Robert zu und suchte in seiner Erinnerung einen Platz. Der Fremde nahm die Brille von der Nase und öffnete die Arme zu einer Frage.
Wait …! Robert wollte Zeit gewinnen und suchte in seinem Gedächtnis nach dem Namen zu diesem Gesicht.
Portbou!, rief der Mann und grinste.
Portbou?
But Robert! Portbou, remember?
Portbou. Natürlich, Portbou. Der Buchstabe B erschien, ein peinliches Gefühl, chromgelb.
Brian, sagte der Fremde und öffnete seine Arme.
Brian? I can’t believe it.
Yes, sir, it’s me!
Robert versuchte, alte Bilder abzurufen, die er mit dem Gesicht vor sich in Einklang bringen könnte: eine rotblonde Löwenmähne, ein buschiger Schnurrbart, eine spiegelnde Sonnenbrille, spöttisches Gelächter aus einem offenen Mund. Der Bart vor ihm war ein Wildwuchs aus roten und weißen Drähten, eine blanke Glatze mit einem grauen Haarkranz war der Mähne gewichen. Die unruhigen braunen Äugelchen taten dasselbe wie die seinen: das Gegenüber prüfen. Das ist Brian, das war Brian. Inwiefern ist jemand noch, was er nicht mehr ist? – Robert hatte keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu führen. Der Mann, der nun derselbe Brian sein sollte, an dessen Gesicht sich Robert allmählich zu erinnern begann, kam auf ihn zu, umarmte ihn und klopfte ihm den Rücken ab.
Brian, I can’t believe it, wiederholte Robert und schüttelte den Kopf. You have become a stately gentleman.
So do you. Getting older, my friend. How’s life going?
Well, do you have time for a beer?
Great! But just ten minutes, I’ve to get the plane to New York.
Auf dem Weg zur nächsten Bar bewegten sich unscharfe Bilder durch Roberts Kopf: Nacht, Bahnhof von Portbou, Cafetería, Schritte in einer dunklen Gasse, weiß schimmernde Körper auf dem dunklen Wasser, rot blinkender Stern im Nachthimmel, grün gemusterte Tapeten in einem schäbigen Hotelzimmer, ein surrender Deckenventilator, Donner, Fensterläden schlagen, eine Tür öffnet sich knarrend, ein indigoblaues Kopftuch flattert, leerer Strand hinter einer steinernen Balustrade, grau das aufgewühlte Meer, flaschengrünes Meer, schwarzes Meer – eine flimmernde wogende Masse, in der sich alle Bilder wieder auflösen.
Brian bestellte zwei Bier und schaute Robert kopfschüttelnd an.
Wie geht’s? In Berlin in den Ferien?, fragte Robert, um sich aus seiner Verlegenheit zu lösen.
Philosophical Congress. Well, ich bin Philosophie-Professor in New York, halte mich oft in Berlin auf, arbeite in einer Projektgruppe mit der Freien Universität Berlin zusammen. Philosophie im Exil, es geht um die Folgen des Exodus der deutschen Philosophen während des Dritten Reichs, you know. Und wie geht’s dir? Immer noch in Zürich? Married? Children?
Ich arbeite als Gymnasiallehrer in Winterthur. Divorced, no children.
Oh, I’m sorry, und was treibst du hier in Berlin?
Just for pleasure. Seit dem Mauerfall bin ich nicht mehr in Berlin gewesen.
Since Portbou? Since I.?
Robert stutzte einen Moment, bis er im englischen Ai den Buchstaben I erkannte. Brians kleine Augen lauerten, dann buchstabierte er langsam auf Englisch: Ai-Es-Ei-Bi-I-El, Isabel.
Wie lange hatte Robert diesen Namen nicht mehr gehört. Isabel. Die Laute waren farbig. Indigoblau das I, violett das S, A war gelbrot wie ein Sommerabend und BEL eine graue Tapetenwand mit olivgrünem Blumenmuster und einem geöffneten Fenster.
Robert, bist du damals nach Barcelona gefahren, um I. zu suchen? You didn’t find her, right?
Robert schüttelte den Kopf.
Como pasa el tiempo, mi amigo. Brian schaute auf die Uhr.
Well, I’m sorry, I have to catch my plane. Take! Er drückte Robert eine Visitenkarte in die Hand und umarmte ihn. Dann entfernte er sich ein paar Schritte, zögerte und kam zurück.
Listen, Robert, da ist etwas, was ich dich noch fragen wollte: Hast du I. seither wieder getroffen? Hast du Kontakt mit ihr?
Robert schüttelte den Kopf.
You loved her, right?
Robert hob die Schultern.
Weißt du, wieso du I. in Barcelona nicht gefunden hast? Brian verlängerte seine Frage mit einem Stirnrunzeln, zog seine Unterlippe schief und begann dann zu grinsen.
Nein.
Well … Brian öffnete seine Arme, begann zu lachen, prustete, klopfte Robert auf die Schulter, sagte: Bye bye my friend, und verschwand Arme winkend im Gedränge.
Robert schlürfte gedankenverloren an seinem Bier. Ein Zug fährt ein. Sie hinter dem fahrenden Fenster, eingehüllt in einen schwarzen Regenmantel, auf ihrer breiten Baskenmütze perlen Regentropfen, ihr Halstuch, indigoblau, Mund, karminrot, ein M auf den Lippen, Kopf wendet sich, ihre Blicke finden sich, Mund öffnet sich zu einem O, der Wagen setzt sich in Bewegung, an ihrer winkenden Hand funkelt ein Goldring, sie fährt aus dem Bild.
Robert hatte einen Fensterplatz. Die Erinnerungsbilder vermengten sich mit den Wolkenschwaden, die weit unten vorbeizogen. Isabel, ihr Gesicht blieb eine helle Wolke, türmte sich zu einem schwarzen Monster und löste sich auf in undurchdringliche Nebelschwaden. Robert kramte sein abgegriffenes Reisetagebuch aus dem Rucksack und überflog die Einträge der letzten zwanzig Jahre. Die meisten waren überschrieben mit Orts- oder Ländernamen und Datum, aber es gab auch einige, über denen ein Frauenname stand: Renate, Barbara, Shirley, Claudia, María etc. Darunter fanden sich kurze Tagebucheinträge, Erlebnisberichte, Reflexionen, Gedichte und Kurzgeschichten. Zwischen Realem und Fiktivem wurde nicht unterschieden. Er blätterte zurück ins Jahr 1990. Ein Eintrag mit der Überschrift »Isabel« oder »Portbou« war nicht darunter. Bei einem kurzen Text blieb er hängen.
L. sieht eines Tages auf einem Bahnhof die Frau seines Lebens. Ariadne sitzt im Zug, zwinkert mit dunklen Mandelaugen, greift in den kauenden Himbeermund und zieht daraus einen Faden. Der Zug fährt ab, der Himbeermund bleibt, und der Faden reißt nicht ab …
Mein Gott, seufzte Robert, die Frau meines Lebens! Das habe ich geschrieben vor über zwanzig Jahren. Und er las den Schluss noch einmal: … der Faden reißt nicht ab … Der Faden ist längst gerissen.
Ariadne tippt Robert sanft auf die Schulter und hält ihren Kopf vor seine Augen. Ihr Gesicht ist verzerrt, das Augenpaar steht senkrecht und die Nase waagerecht. Der Mund vor ihm scheint eine lächelnde Vagina.
Mister, please fasten your seatbelt. Das Gesicht vor ihm lächelt schief und der Mund rückt in die Horizontale.
We’re just about to land at the airport of Zürich. Die Stewardess zeigte auf Roberts losen Sicherheitsgurt. Auf seinen Knien lag immer noch das Reisetagebuch.
Als er im Airport-Terminal Zürich auf den Zug nach Winterthur wartete, sah er auf dem gegenüberliegenden Gleis den Schnellzug nach Zürich Hauptbahnhof. Dort fährt um halb acht der Nachtzug Pau Casals nach Barcelona. Fünf Schritte. Das andere Ende des Fadens. Früher hatte er solche Fünf-Schritt-Entscheide gemocht. Robert hantierte an seinem Gepäck und ließ den Zug abfahren.
Auf dem Bahnhofplatz in Winterthur schlug er aus alter Gewohnheit zuerst die falsche Richtung ein. Erst als er vor der Marktgasse stand und weit hinten den vertrauten Punkt ansteuern wollte, wo er rechts abbiegen musste, wurde er gewahr, dass es hinter der Ecke keinen Fluchtpunkt mehr gab und dass ihre Wohnung dort jetzt nur noch Malus Wohnung war. Jedes Mal, wenn er für längere Zeit abwesend war und sich Winterthur vorzustellen versuchte, gingen ihm dieselben Bilder durch den Sinn: der Blick von seiner früheren Wohnung in der Steinberggasse auf die Marktstände, die flanierenden Köpfe zwischen Kohl, Radieschen und Schnittblumen, auf den Brunnen mit dem stämmigen Fischermaitli, das ihm jahraus, jahrein immer den Rücken zugekehrt hat; und immer wieder der Blick vom Busbahnhof hinauf in die Marktgasse, deren Fluchtlinien am Obertor zusammenfließen zu einem flirrenden, undurchdringlichen Fleck, in dem sich seine Vorstellungskraft erschöpft.
Er setzte sich in den Bus nach Wülflingen. Eine kleine Göre mit ihrer Mama saß ihm gegenüber und musterte ihn unverhohlen. Ihr Mund blieb offen, als wäre ein Ä darin stecken geblieben. Ja, so fühle ich mich auch, dachte Robert, als säße ich einem anderen gegenüber, der in eine fremde Wohnung fährt. Er versuchte, sich seine neue Wohnung vorzustellen. Er würde vor der fremden Tür im zweiten Stock stehen, an deren Klingel immer noch der Name »Evelyne Duttweiler-Marti« stand, den passenden Schlüssel suchen, die Wohnungstür öffnen und in den Korridor treten. Dann sah er vor sich gestapelte Schachteln und eingepackte Möbelteile. Seit dem Einzug vor zwei Monaten hatte er nur das Schlafzimmer, die Küche und ein kleines Arbeitszimmer notdürftig eingerichtet.
Als er dann vor seiner Wohnungstür stand, stellte er fest, dass jemand das alte Namensschild entfernt hatte. Es hing an einem Klebeband an der Tür, daneben haftete ein Post-it: »Bitte ihr Nahmenschild anbringen!« Robert nahm das Kärtchen mit der Aufschrift »Evelyne Duttweiler-Marti«, drehte es um, schrieb mit dem Kugelschreiber ein X darauf und steckte es zurück in den Klingelrahmen.
Robert stellte seinen Koffer in das Abstellzimmer, in dem er seit dem Umzug den Ramsch aufbewahrte, den er nicht mehr um sich haben wollte. An der Tür haftete ein Zettel mit der Aufschrift »Río Lima«. Das Zimmer schloss Erinnerungen ein, als wären es gefährliche Tiere. Er hatte sich vorgenommen, in den Sommerferien hier gründlich aufzuräumen, um in seiner Vergangenheit Ordnung zu schaffen. Aber genau davor grauste ihm: alte Erinnerungsstücke in die Hand zu nehmen. So blieb alles beim Alten und Robert betrat den Raum nur noch, um dort weitere Kisten mit Büchern und Ordnern abzustellen, und gelegentlich, um zu bügeln.
Er stieß sein Fahrrad, ein Bügelbrett und einen Wäschekorb beiseite und bahnte sich den Weg zu den Kartonschachteln, die mit Ordnern, Heften, Fotoalben und alten Büchern aus der Studienzeit gefüllt waren. Zuoberst auf einem Kartonstapel lag eine verrostete Blechdose. Darin befand sich beinahe alles, was von seiner Kindheit übrig geblieben war: eine kleine Spieldose, zwei Murmeln, ein aufziehbares Auto. Irgendwann wird mein ganzes Leben in dieser kleinen Dose Platz finden, dachte er.
Und wo war sein blaugrünes Kaleidoskop? Nun erinnerte er sich: Er hatte es, als er ans Gymnasium kam, seiner kleinen Schwester Anna geschenkt. Vermutlich, um damit seine Kindheit abzulegen und seine Reife zu demonstrieren.
Dann hob er Schachtel um Schachtel ab, bis er auf die alten Fotoalben stieß. Er stellte fest, dass alle Fotos, auf denen ein weibliches Wesen abgebildet war, herausgerissen waren. Malu, seine Ex, hatte gründliche Arbeit geleistet. Auch die Fotos, auf denen sie selber abgebildet war, waren entfernt. Aber Robert hatte vorgesorgt. In einem Umschlag, beschriftet mit »Steuererklärungen« und abgelegt in einer Schachtel mit dem Etikett »Dokumente«, hatte er einige Fotos retten können: Klassenfotos aus der Schulzeit; Renate, seine erste Freundin, winkt auf einem Fahrrad; Michele, die zweite, bläst zusammen mit Robert in einem Fotoautomaten Zigarettenrauch vors Objektiv. Dann einige Fotos mit Malu auf einer Vespa, wahrscheinlich auf der Reise durch Ungarn.
In einer Kiste, beschriftet mit »Manuskripte«, lagen Hefte, Ordner und Mäppchen. Ein Stapel Hefte war mit einer Schnur zusammengebunden. Er öffnete die Schnur und las einige Hefttitel: »Aus dem Kühlraum«, »Zu Vaters Tod«, »Der Zwillingsbruder«, »Der Träumer«, »Leties Geschichten«. Das waren seine literarischen Versuche. Er nahm das Heft mit der Überschrift »Lyrik« und las den Anfang eines Gedichts:
Auf der Rambla Frauenbeine,
Frauenfüße stelzen, tänzeln, stöckeln,
Ärsche wackeln, Titten wogen,
Arme schwingen auf ihn zu.
Frauenaugen stechen, blinzeln,
sehen weg
Frauen, Ärsche, Titten! Mein Gott, daraus wird niemals Literatur!, sinnierte Robert und legte das Heft zurück auf den Stapel. Eine Kartonmappe war umwickelt mit einem blauen Seidenschal. Er entfaltete ihn und hielt ihn an seine Nase. Er roch nach Mottenpulver. In der Mappe lag ein gebundenes Heft mit schwarzem Einband, auf der Etikette stand in verwässerter Schrift: »Portbou – Tagebuch I«. Die meisten Seiten waren gewellt, zerknittert oder verklebt; gelbbraune Wasserflecke und blaue, verschmierte Tintenkleckse überzogen das Papier. Nur auf wenigen Seiten in der Mitte konnte er einige verwässerte Schriftzüge entziffern.
Acaba de salir, abgefahren! Worte wie Steine. Ich gehe über den leeren Bahnsteig. Der Zug kommt zurück, irgendwann, alle Züge kommen einmal zurück …
… eine Erscheinung, sie steht hinter Glas. Ignis fatuus. Ich bleibe im Schutz einer dicken Platane stehen. Sie hält den Hörer zwischen Schulter und dem schief gelegten Kopf, drückt ein Blatt gegen die Scheibe und macht sich Notizen. Vor der Telefonkabine steht ihr Gepäck.
Schritte, sie geht dicht am Baum vorbei. Ich hätte sie mit dem ausgestreckten Arm berühren können.
Brian grinst. Ich könnte den Hund erwürgen.
Erst jetzt gelingt’s mir, mit der Faust in das Glas zu schlagen. Ich zerre sie aus der Telefonzelle und schreie sie an: Deine Schönheit ist eingebildet; deine Geheimnisse interessieren mich keinen Deut.
Isabel steht vor mir, zwinkert mit den Augen und sagt: Y qué? Was soll’s? Schönheit ist mehr als die Summe ihrer Teile, Schönheit ist eine Melodie.
Die Parallelen schneiden sich im Unendlichen, feixt Brian und zeigt auf den Mond. Isabel steht auf dem Mond, lacht spöttisch, winkt mit ihrem indigoblauen Halstuch und geht unter …
Nicho número 563, sagt der Mann. In den letzten Jahren kämen immer mehr Touristen, die das Grab des Philosophen suchen würden. Rechts hinten an der Friedhofsmauer …
Ich habe davon gehört, und es ist auch darüber geschrieben worden. Deshalb bin ich hier. Man sagt, das Manuskript sei verschollen.
Ja, es gilt als verschollen.
Wissen Sie mehr darüber?
Ein andermal, sagt der Alte.
Wieso ist sie eigentlich immer noch hier und hat sich nicht mehr nach den Zügen erkundigt? Und immer wieder die Frage: Ist sie hier geblieben wegen mir, wegen Brian – oder gibt es einen andern …
… wieder um Benjamins Koffer. Immer wieder das Wort maleta, dann erzählt Isabel etwas von einem Onkel, tío, und es fallen wiederholt Wörter, die ich nicht verstehe. Títere, titiriti oder titiritreo. Brian winkt dem camarero und bestellt lallend seine dritte …
… küsse sie auf den Mund … ihr Mund ein roter Schlund.
Zwischen den verklebten Seiten fand er ein Foto, ein verwackeltes Bild mit einer jungen Frau und einem jungen Mann. Auf der Hinterseite des Fotos stand mit Bleistift geschrieben: »I & B, 23. Sept. 1990«. Die beiden sitzen an einem Tisch einer Terrasse, lachen und strecken ihre gefüllten Weingläser gegen das Objektiv. Isabels Gesicht ist nur schwer zu erkennen. Es ist zur Hälfte verdeckt durch ein flatterndes blaues Tuch, das sie um den Kopf gewickelt hat – der indigoblaue Seidenschal! –, und eine große, spiegelnde Sonnenbrille, in der das glitzernde Meer und eine dunkle Silhouette mit einer Kamera vor dem Kopf abgebildet sind. Ja, ich bin nur eine Silhouette, sagte sich Robert. Isabels offener Mund mit den weißen Zahnreihen. Ihre lachenden Nasenflügel. Brians langes rotes Haar flattert vor dem Gesicht und lässt nur die große Nase und den wilden, struppigen Schnauz erkennen. Worüber lachen die beiden? Über Robert, den Fotografen? Fotos, sie geben nur die glänzende Oberfläche der Dinge wieder, ein lächerlicher Versuch, die Zeit aufzuhalten und wiederzufinden, was für immer verloren ist, folglich nichts mehr als angesammelte Erinnerungslast, dachte Robert, strich mit den Fingern über die gewellten Seiten des Hefts und sah die Papierschiffchen auf dem Río Lima davonschwimmen. Es geschah auf der Autoreise nach Galizien und Portugal zusammen mit Malu anfangs der neunziger Jahre. Er hatte dieses Tagebuch und ein paar Hefte mitgenommen, um an seinem Romanprojekt mit dem Titel »Portbou« weiterzuarbeiten. Die Inspiration ließ ihn auch auf dieser Reise im Stich, endgültig. Zumal hatte er das nachher so weitererzählt und auch er hielt sich lange an diese Version. Aus Erklärungsnotstand, wie er sich später eingestand. Sie hatten die portugiesische Grenze überquert, fuhren die Atlantikküste hinunter und irgendwann standen sie an der Mündung des Río Lima. Robert hatte in seinem Reiseführer gelesen, dass man in der Antike den Fluss für Lethe hielt, den mythischen Fluss des Vergessens. Man glaubte, dass derjenige, der in den Lethe steigt oder Wasser aus ihm trinkt, seine Erinnerungen vergisst. Ein römischer General hatte versucht, den Mythos zu widerlegen, weil der Fluss die militärische Kampagne in der Gegend behinderte. Es heißt, er habe den Fluss überquert und anschließend jeden einzelnen seiner Soldaten, die an der anderen Flussseite warteten, beim Namen genannt. Schau, hatte Robert darauf zu Malu gesagt, der Río Lima treibt die Erinnerungen ins Meer. Dort draußen lösen sie sich auf und werden zu Fischfutter, Algen und Muscheln. Dann holte er seine Hefte und das Tagebuch aus dem Kofferraum des Autos, stieg die Uferböschung hinunter und watete an einer seichten Stelle ein paar Meter hinaus in den Fluss. Ich werde den römischen General widerlegen, rief er und lachte verstört, öffnete ein Heft nach dem andern, riss Seite um Seite heraus und warf sie ins Wasser. – Robert, hör auf, du spinnst, rief Malu vom Ufer. Sie kam herangerannt und fiel ihm in die Arme. Einige der Hefte fielen dabei ins Wasser, aber Malu fischte sie heraus. Sie zog den immer noch hysterisch lachenden Robert ans Ufer und legte die nassen Hefte zum Trocknen auf die Steine. Dann setzten sie sich auf die Böschung. Robert schaute den langsam davontreibenden Manuskriptblättern hinterher, bis sie zu weißen tanzenden Punkten wurden. Papierschiffchen, nichts weiter als Papierschiffchen, sagte er. Dann begann er Steine nach den Schiffchen zu werfen. – Sie kommen zurück, es kommt alles zurück, rief er und begann zu weinen. Als er sich beruhigt hatte, legten sie sich hinter einer Düne in den Sand und liebten sich. Das einzige klare Bild, das sich Robert eingeprägt hatte, sind die davontanzenden Papierschiffchen auf dem Wasser: ein feierliches Bild – es bedeutete für ihn das Ende seiner schriftstellerischen Karriere, einer Karriere, die offiziell gar nie begonnen hatte. Damit die Schiffchen nicht zurückkommen, wie er Malu später sagte, nahm Robert sein Studium wieder auf und suchte sich eine Arbeit auf der Post.
Robert blätterte weiter im Tagebuch bis zum Schluss. Zwischen der letzten Seite und dem Einbanddeckel fand er eine alte Mac-Diskette mit der Aufschrift »Portbou Tagebuch I« und, eingepackt in zwei Blätter, eine schmale, versilberte Zigarettendose mit einem kyrillischen Schriftzug und einem eingravierten Reiter. Robert konnte sich augenblicklich an die kleine Dose erinnern. Meistens hatte sie in Isabels Händen gelegen, und ihre Finger, wenn sie nicht gerade Zigaretten drehten, spielten mit dem Deckelverschluss. Er öffnete sie und fand darin vier selbst gedrehte Zigaretten. Der trockene Tabak raschelte, als er eine zwischen die Finger nahm. Die beiden losen Blätter, in die die Dose eingepackt gewesen war, waren zerknittert und übersät mit von Gelb bis Dunkelbraun reichenden, konzentrisch abgestuften Wasserflecken. Auf der Innenseite war seine Handschrift zu erkennen. Im Gegensatz zu den anderen Tagebuchseiten waren sie nicht liniert und hatten eine gröbere Maserung. Es mussten die Seiten eines anderen Heftes sein, wahrscheinlich aus »Portbou Tagebuch II«. Die zittrig geschriebenen Buchstaben ließen sich mit einiger Mühe entziffern.
Ich lehne mich über die Balustrade, dort wo ich dich umarmt habe. Wie lang ist das her? Zwei Tage, ein Leben lang. Die Zeit davor wird unwirklich, und die Zeit danach steht still. Die Gegenwart ist leer wie der Strand. Nicht einmal mehr deine Spuren im Sand sind hier zu finden, Wind und Brandung haben sie weggewischt. Der dunkle Himmel hängt teilnahmslos über dem grauen Meer. Über der Kimm dreht ein Schwarm Seemöwen gleichgültig im Kreis. In einem Wolkenriss zeigt sich für einen Moment die untergehende Mondsichel. Die Wellen tragen Schaumkronen, donnern über die Steine und hinterlassen auf dem Sand nichtssagende Schaumspuren. Man hört Kies rollen. Dort, wo vor zwei Tagen noch dein Badetuch lag, auf dem du in deinem Tagebuch geschrieben und meine Postkarte gelesen hast, sitzt eine Gruppe von französischen Pensionären. Versuchen, Karten zu spielen, aber die Windböen reißen ihnen immer wieder die Karten aus der Hand. Was ist geschehen? Wo bist du? Brian. Der andere Mann. Etwas anderes denken. Die Farbe des Wassers an der Mole ist grün, flaschengrün. Der andere. Der dritte Mann.
… drücke mich in eine Eingangsnische gegenüber und beobachte den Eingang des Hostal Juventus. Nach etwa zehn Minuten geht ein Mann mit einem Lederkoffer an mir vorbei und tritt ins hostal. Schnurrbart, Bürstenhaar, Lederjacke. Er spricht mit dem conserje. Der conserje überreicht ihm einen Schlüssel. Der Mann steigt die Treppe hinauf. Drei Minuten später kommt der Mann zurück mit demselben Lederkoffer und hängt den Schlüssel ans Nagelbrett. Verlässt das hostal und entfernt sich Richtung Dorfzentrum. Der conserje kommt aus dem Hinterzimmer, tritt auf die Straße und blickt sich um. Geht zurück und verschwindet wieder im Hinterzimmer. Ich schleiche ins hostal, greife mir den Schlüssel 206 vom Brett hinter dem Empfangspult, steige hinauf in den zweiten Stock und schließe das Zimmer auf. Es ist noch nicht gemacht. Stolpere über eine Weinflasche, sie kollert über den Boden. Gestank nach Alkohol und abgestandenem Tabakrauch. Bettdecken, Zeitungen, Zigarettenkippen, Bier- und Weinflaschen. Zwei nebeneinanderliegende Betten. Auf einem der weißen Bettlaken ein Blutfleck, verschmierte Blutstropfen auf dem Boden. Jemand hat mit Blut die Zahl 88 an die Wand geschmiert. Über einem Stuhl dein indigoblaues Halstuch. Ich rieche daran. Ambra, zitronengelb. Auf einem Nachttischchen deine versilberte Zigarettendose. Inhalt: zwei handgedrehte Zigaretten, Zigarettenpapier. Sie riechen außer nach Tabak nach deiner Vagina. Ich steck dein Halstuch und deine Zigarettendose in die Jackentasche und verlasse eiligst das Zimmer.
22. August 2011
Robert Lang starrte. Ein neues Gesicht. Es war plötzlich da, mengte sich lächelnd unter die hinter dem Ferienteint altmüden Gesichter seiner Lehrerkollegen, die mit vorgehaltenen Champagner-Gläsern ihre Ferienerlebnisse zum Besten gaben, ihr Lächeln tauchte bald hinter andern Köpfen unter, ihr interessiert parlierender Mund erschien an einem neuen Ort, wurde dann von einem Haarschopf verdeckt und tauchte wieder breit und strahlend hinter dem Rücken des Direktors auf. Ein frisches, leuchtendes Gesicht, das sich in seinem Gedächtnis bewegte, als hätte es sich schon immer dort bewegt, aber es bewegte sich am falschen Ort. Robert fühlte sich in etwas Fernes und Wehes zurückgeholt. Ein Gefühl, das ihm fremd geworden war und plötzlich wieder vertraut war, aber es blieb unbestimmt, neblig, grünblau. Sehnsucht? Nein, es war nicht Sehnsucht nach Isabel, es war etwas wie Sehnsucht nach Gefühl, Sehnsucht nach Vergangenheit, Sehnsucht nach Erinnerung.
Die Zeit fließt mit zunehmendem Alter rückwärts, dachte Robert, zurück zu den Erinnerungen, die Gegenwart schrumpft und die Erinnerungsbilder wachsen an wie in einem Fotoalbum. Was von der Gegenwart bleibt, ist immer Vergangenheit. Das Jetzt existiert nicht, es zerfällt, wenn man es halten will. Das Einzige, was existiert, ist die Vergangenheit, aber sie ist eine verlorene Wirklichkeit, somit Einbildung, Es ist nicht so, dass ich mich an die Vergangenheit klammere, nein, die Erinnerungen greifen nach mir. Und Erinnerungen lösen Schmerz aus, Schmerz an der Vergänglichkeit: Warum ist nicht mehr, was einmal war? Wieso kehrt es nicht wieder? Wir versuchen, das Vergangene mit Erinnerungsbildern dem Nicht-mehr-Sein zu entreißen. Erinnerungsbilder füllen den Raum zwischen dem, was einmal war und jetzt nicht mehr ist. Ein hilfloser Versuch, den Schmerz zu lindern, denn die Bilder werden unscharf und verblassen: zuerst das Bild meines Bruders, dann das Bild meines Vaters, mit dem Verblassen schwindet der Schmerz, der mit dem Verlust von Personen und dem Verlust der Kindheit und der Jugend verbunden ist, und es entsteht Platz für einen neuen Schmerz: den des Verlustes an Erinnerung. Was bleibt, sind Erinnerungen an leere Erinnerungen. Das dünnwandige Haus, das wir bewohnen und das wir unser Bewusstsein nennen, ist gebaut aus Erinnerungen, und auf die Erinnerungen ist kein Verlass, sie schieben sich übereinander, und wenn das Zeitband in unserem Kopf reißt, bleibt nur noch ein dünner Faden aus Farbe, Ton, Geruch und Gefühlen – sie kriechen uns den Magen hoch und fallen uns an wie Dämonen, und wenn wir nach ihnen greifen, werden sie zu Eisschollen. Eisschollen, die langsam schmelzen. Und alles wird grünblau wie das Wasser in Portbou. Portbou, Isabel – Robert wurde aus seinen Gedanken geholt:
Hoi Robert, du siehst müde aus nach den Ferien. Hast du dich nicht entspannt?
Ciao Robert, du siehst blendend aus, man sieht, die Ferien haben dir gutgetan.
Hallo Röbi, du bist ja gar nicht braun geworden in Spanien.
Ich war nicht in Spanien, gab er missmutig zurück, nur ein paar Tage in Berlin.
Isabel, dachte Robert, sie ist nicht Isabel.
Ja sali Röbi, kommt dir auch alles so strange vor, ich komme eben aus einem indischen Ashram.
Jetzt hatte er das Gesicht Isabels klar vor sich. Aber es dauerte nur einen Augenblick, dann war es wieder weg. Und wieder:
Na, wie waren deine ersten Ferien in Spanien als frischgebackener Junggeselle?
Toll, sagte Robert und wandte sich ab.
Dann stand Isabel plötzlich vor ihm.
Salü, ich bin Muriel Meier, die neue Französischlehrerin.
Freut mich, Robert Lang. Deutsch und Spanisch.
Aus der Nähe war es nicht mehr Isabels Gesicht. Robert war enttäuscht.
Ich habe vorhin eben mitgehört. Du warst in Spanien in den Ferien?
Nein, aber ich wollte ursprünglich in die Alpujarra.
Oh, im Frühling war ich in Granada an der Semana Santa. Unglaublich …
Da war die leicht stupsige Nase, die in ihrem ebenmäßigen Gesicht stand wie ein freches I; das ironische Lächeln, das Unsicherheit verriet und von dem man nicht wusste, wo es entstand: irgendwo zwischen den Mundwinkeln und den bebenden Nasenflügeln; und da waren die spöttisch nach oben gezogenen Brauen und der schiefe Blick. Aber es war nicht Isabel.
Ich habe die Prozession zum Sacromonte mitgemacht, nachts in den cuevas wurden saetas gesungen, Flamenco getanzt …
Auch der Mund bewegte sich anders. Es bildete sich kein O auf den Lippen beim Sprechen und auch kein M beim Schweigen. Er hätte sie gern wieder auf Distanz gesetzt, um zu Isabels Bild zurückzufinden. Der Direktor kam ihm zu Hilfe, er schlug sein Glas an und hob an zu einer Begrüßungsrede.
In der Spanischstunde stellte Robert wieder einmal fest, dass die Schüler der Klasse 4b ihre Kenntnisse in den Ferien so gut wie getilgt hatten. Eine Gruppe war zu einem Sprachaufenthalt in Barcelona gewesen, aber viel mehr als cerveza, fiesta und playa war aus ihnen nicht herauszubringen. Das pretérito indefinido hatten sie vergessen und den subjuntivo verwechselten sie wieder mit dem condicional. – Schon wieder, dachte Lehrer Lang, bevor er sich darauf besann, dass die Schüler der gegenwärtigen Klasse 4b nichts dafür konnten, dass frühere Jahrgänge nach den Sommerferien die spanische Grammatik auch vergessen hatten. Déjà-vu. Aber er ärgerte sich trotzdem: nicht darüber, dass sie genauso faul waren wie ihre Vorgänger, denn Faulheit war ein Vorrecht der Jugend, fand Robert, nein, was Lehrer Lang störte, war, dass sie genauso faul waren wie er und dass er es als Lehrer mit seinen Erziehungsversuchen nicht weiter gebracht hatte als seine Lehrer mit ihm. Was Robert hingegen gefiel, war, dass sich die Schüler noch immer nicht von den Lehrern bändigen ließen, denn auch die Aufmüpfigkeit ist ein Privileg der Jugend; was wiederum Lehrer Lang nervte, denn er fand, dass Aufmüpfigkeit bei ihm nicht nötig war. Also: Auf morgen wiederholt ihr die Übung zum pretérito indefinido, in eurem eigenen Interesse. – Wieso, gibt’s eine Prüfung, fragten die Schüler. – Ja, log Lehrer Lang.
An diesem ersten Schultag ging er, gegen seine Gewohnheit, jede Pause ins Lehrerzimmer. Erst als er Muriel sah, wusste er, wieso. Und gleich darauf wusste er es nicht mehr. Kein Déjà-vu. Sie erinnerte ihn nicht im Entferntesten mehr an Isabel, im Gegenteil, sie störte ihn dabei, sich Isabel zu vergegenwärtigen. Er verließ das Lehrerzimmer. Aus einem Klassenzimmer drang Georges Brassens’ Lied »Les amoureux des bancs publics«. Durch das Türfenster sah er Französischlehrer André Rutishauser vor einer Klasse stehen. Robert trat ans Fenster und sah seinem Kollegen zu. Jetzt stoppte die Musik und Rutishauser las Brassens’ Text vor, mit den Armen heftig gestikulierend: Als er ihn entdeckte, blieb sein Mund beim U stecken, er nahm die Brille ab und sah Robert fragend an. Die Szene kam ihm bekannt vor. Déjà-vu. Robert grinste, winkte ihm zu und verzog sich ins Arbeitszimmer der Sprachlehrer.
Jedes Jahr denkst du, dass du die Rolle als Lehrer nicht mehr kannst, sagte er zu seinem Kollegen Markus Bolliger, mit Spitznamen Rilke, der in seinem Computer Ferienfotos betrachtete. Du meinst, dass du aus der Rolle fallen wirst, aber schon in der zweiten Stunde läuft die Rolle wieder wie geschmiert, sodass du vergessen hast, dass du eine Rolle spielst. Das ist erschreckend.
Wieso? Das gehört zum Spiel, meinte Markus, auch die Schüler spielen eine Rolle.
Ja, aber sie wissen es nicht. Wir wissen es und wir wissen auch: Wir fallen immer wieder in dieselbe Rolle.
Spiel doch mal eine andere, z. B. den Bösen, den Strengen, den Unnachgiebigen oder den Sprücheklopfer, den Witzemacher, den Wütenden oder den Gleichgültigen.
Das ist zynisch.
Nein, das ist professionell, fand Markus Bolliger.
Wie wär’s denn mit Haifisch, sagte Robert, und zeigte auf das A4-Blatt, das über Bolligers Arbeitsplatz an die Wand geheftet war. Robert hatte es ihm zu seinem fünfundzwanzigsten Arbeitsjubiläum gewidmet.
Curriculum Vitae
Geboren wurde ich als Amöbe, strampelte
auf Scheinfüßen ein paar Millionen Jahre
durch die Meere des Kambriums,
schlug dann mit Flossen,
kroch, schlich, humpelte
eine halbe Milliarde Jahre später ins Holozän,
überlebte Meteoritenhagel, Eiszeiten und Napoleon.
Mein Bruder wurde Haifisch,
schnappt nach Beinen und Gedärm.
Ich wurde Lehrer und
korrigiere Aufsätze.
Die Stammesgeschichte der Spezies Lehrer, sagte Markus belustigt. Ob dein Zynismus besser ist?
Immerhin haben einige von uns den Haifisch überwunden, brummte Robert und öffnete seinen Laptop. Während des Hochfahrens starrte er gebannt auf den Bildschirm. Mitten im schwarzen Nichts blinkte der Cursor auf, zeigte auf Robert und sagte: hier, hier, du, du, hier, du, hier, du … Robert wandte den Blick ab. Vor dem Fenster stand ein dunkles Wolkenband, das sich von Westen näherte. Die beiden Türme der Stadtkirche mit den leuchtenden Goldkugeln auf den roten Spitzen ragten über Dächer und Bäume hinaus, sie waren noch von der Sonne beschienen und die Spitzen zeigten auf den zerfransten Rand des Wolkenbandes.
Da kommt der Herbst.
»Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß«, begann Markus Bolliger alias Rilke aus seinem Zitatenschatz zu rezitieren: »Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los …« – Genug, unterbrach ihn Robert missgelaunt. »Der Sommer war zu klein, und bald haben wir auch hier keine Schatten mehr und keine Sonnenuhren« – aber Markus Bolliger war nicht zu halten und zitierte munter weiter: »Befiehl den letzten Früchten voll zu sein …«
Roberts Blick fiel jetzt auf das gelbrote Backsteinhaus unterhalb der Schule, wo sich früher das Gottfried-Keller-Stübli befunden und wo er als Schüler manche Geografie- und Biologiestunde mit Tischfußball verbummelt hatte.
Gömmer go jöggele!, sagte einer aus der Klasse, und sich der Gruppe anzuschließen galt als Ehrensache, zumal für ihn.
Die schwänzen heute nicht einmal mehr, sie rekeln sich in der Schulbank und warten gelangweilt, bis die Stunde vorbei ist, sagte jetzt Robert, während Markus Bolliger eben den letzten Vers aus Rilkes Herbsttag beendete: »… wenn die Blätter treiben.«
Wie?, fragte er. Möchtest du vielleicht, dass sie deine Spanisch- oder Deutschstunden schwänzen? Ich gebe den Schülern gerne einen Wink.
Ja, brummte Robert, aber bitte! Allerdings werden Schüler für das Schwänzen eine deiner Deutschstunden über Rilke bevorzugen.
Du meinst, das sind sowieso Perlen für die Säue.
Robert verkniff sich die Antwort. Er öffnete »Meine Dokumente« und startete einen Suchlauf mit dem Namen »Isabel«. Die Suche ergab kein Resultat. Erst im »Papierkorb« wurde er fündig. Dort lagen in einem Ordner mit dem Titel »Isabel« drei Dokumente mit den Überschriften »Die Technik des Vergessens«, »Isabels Faden« und »Seemannsgarn«. Das erste Dokument bestand lediglich aus einem Satz:
Wie man auch das Vergessen vergisst.
Im »Papierkorb« fand er ein Dokument mit dem Namen »La mauvaise réputation«. Das Déjà-vu von vorher.
Zwanzig nach elf, die vierte Morgenstunde. Die Grammatikübung zum Partizip I ist besprochen. An der Tafel steht: Ein Lied pfeifend, ging er durch die Straße. Einige Schüler in der mittleren Reihe gähnen und legen den Kopf auf den Tisch, in der vordersten Reihe wird geschwatzt, hinten links in der Ecke wird getuschelt und gekichert. Noch fünfzehn Minuten bis zur Pause. Zwei Papierflugzeuge steigen aus der Ecke auf. Auf dem einen steht »Vögelnd«, auf dem anderen »Gevögelt«. »Vögelnd« fliegt der mittleren Reihe entlang, prallt in die Fensterscheibe und stürzt ab, »Gevögelt« fliegt schräg über die Köpfe der pennenden Schüler und landet sanft vor Lehrer W.’s Füßen. Gelächter. Aber bitte, sagt Lehrer W. Aus der Wand zu Zimmer 26 surrt ein französisches Lied: »Au village, sans prétention, j’ai mauvaise réputation«. Lehrer W. packt sein Buch und einen Stoß von Aufsätzen in die Mappe, schiebt das Sichtmäppchen mit den Arbeitsblättern nach, steckt die drei Kugelschreiber (blau, rot, grün) ins Außenfach und lässt den Verschluss schnappen. Schüler schauen auf. Ist die Stunde schon vorbei? Bin gleich zurück, sagt Lehrer W., öffnet die Tür und schreitet durch den Gang … »En suivant mon chemin de petit bonhomme …«, im Türfenster des Nebenzimmers wendet Kollege R. singend den Kopf, »… mais les brav’s gens n’aiment pas que l’on suive une autre route qu’eux«, sein Mund bleibt beim »eux« stecken, er hebt den Arm mit der Uhr vor die Brille, nimmt die Brille ab und schaut Kollege W. fragend an, sein Mund hält immer noch das »eux«, während Georges Brassens’ Stimme alleine weitersingt: »non les brav’s gens n’aiment pas que l’on suive une autre route qu’eux …«, und Lehrer W. zockelt die Treppe hinunter, über den Hof, aus dem offenen Fenster singt Brassens’ »En suivant les ch’mins qui n’mènent pas à Rome …«, Lehrer W. winkt dem Hausmeister, setzt sich auf sein Fahrrad, fährt über den Pausenhof, eine Katze flüchtet erschreckt in die Büsche, Lehrer W. rollt die Dorfstraße hinunter, beschleunigt, trampt dann den Kirchenhügel hinauf, runter zur Gemeindekanzlei, am Bahnhof vorbei, nimmt die Landstraße, passiert das Dorfausfahrtsschild, das Wallisellen ankündigt, eine Stunde später ist er in Zürich, fährt pfeifend die Rämistraße runter zum Bellevue, über die Quaibrücke, Enge, Wollishofen, die Seestraße entlang, dann über Adliswil nach Zug, Schwyz und Brunnen, die Axenstraße, rechts im Vierwaldstättersee kräuseln sich weiß die Wellen, Altdorf, dann die Schöllenenschlucht hinauf nach Andermatt, über die alte Gotthardstraße weiter hinauf auf die Passhöhe, über den Lenker gebeugt die Serpentinen hinab, die Mappe am Gurt fliegt hinterher, mit gelösten Bremsen die Leventina runter, Bellinzona, von da nach Locarno, dem Lago Maggiore entlang über die Grenze nach Italien, durchs Piemont nach Genua, Küste, Wellenkämme fahren mit nach La Spezia, Livorno, Civitavecchia, »En suivant les ch’mins qui n’mènent pas à Rome … pas à Rome«, Neapel, den Stiefel runter, bis es nicht mehr runter geht.
An der Strandpromenade von Reggio di Calabria steigt Lehrer W. vom Rad, setzt sich auf eine Bank und verschnauft.
Ein warmer Wind aus Süden strich ihm durch das Haar.
Eine Seemöwe schrie über seinem Kopf.
Eine verbeulte Pepsi-Dose kam angekollert.
Zwei Motorräder heulten um die Wette.
Eine sandgelbe Katze rieb sich an seinem Bein.
Ein Schiffshorn gellte draußen im Meer.
Die Brandung toste, der Wind pfiff:
»Au village, sans prétention, j’ai mauvaise réputation … En suivant mon chemin de petit bonhomme …«
Da draußen sind Scylla und Charybdis, dachte Lehrer W.
Über den Asphalt kam ein Papierchen geflattert.
Nichts stand darauf.
Lehrer W. packt die Aufsätze aus und beginnt zu korrigieren.
Robert erinnerte sich an den Anlass zu diesem Text. Der Deutschlehrer René Wehrli war vor ein paar Jahren plötzlich aufgestanden, aus dem Klassenzimmer gegangen, auf sein Fahrrad gestiegen, dann war er verschwunden. Ein Skandal. Während Wochen war René Wehrli das Tagesgespräch an der Schule. Als er nach zwei Wochen wieder erschien, wurde er vor die Tür gesetzt. Robert und einige seiner Kollegen waren darauf für Wehrli eingetreten, hatten Briefe an die Direktion geschrieben und mit dem Slogan »Wir alle sind Wehrli« einen Teil der Lehrerschaft zu einer Solidaritätskundgebung im Lehrerzimmer versammeln können. Das Überraschende am Skandal Wehrli war, wie viele Lehrerinnen und Lehrer, selbst abgebrühte und als souverän geltende Lehrkräfte, in diesen Tagen gestanden, sich Lehrer Wehrli nahe zu fühlen und selbst schon mit dem Gedanken gespielt hätten, Reißaus zu nehmen und ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Nur mit Mühe gelang es der Direktion, vor allem durch den energischen Einsatz von Prorektor Ernst Würgler, die Stimmung in der Lehrerschaft zu wenden und die Mehrheit der Lehrerschaft wieder hinter sich und ihren Entscheid zu scharen. Ein paar Wochen später war die Krise vergessen, und wenn jemand von Wehrli sprach, schüttelten die anderen sogleich die Köpfe und der gewohnte Unterrichtsalltag war wieder hergestellt. Letzten Winter hatte Robert René Wehrli auf der Steinberggasse getroffen. Er schob eine Karre vor sich her und steckte Werbepost in die Briefkästen. Als Robert ihn grüßte, senkte er den Kopf, murrte und ging ihm aus dem Weg.
Robert startete den Web-Browser und öffnete die »Weißen Seiten« für Spanien. Die Sucheingabe »Isabel, Barcelona« ergab 5562 Einträge, für die ganze Provinz Barcelona 14686. Dann erinnerte er sich an Brians Visitenkarte. Sie war immer noch in seiner Brieftasche. »Dr. Brian Gurland, PhD, NYU Department of Philosophy, Moral and Political Philosophy«. E-Mail-Anschrift der New York University.
Betreff: I.
Dear Brian. Was nice to see you again. Ich habe zu Hause immer noch I.’s blauen Schal und wollte ihn ihr gerne zurückschicken. Kennst du ihre Adresse?
Saludos, Robert
Dann setzte er sich an Kollege Rutishausers Arbeitstisch. Dort stand der einzige Computer, der noch über ein Diskettenlaufwerk verfügte. Robert startete den alten Computer, nahm die Mac-Diskette, die er im Tagebuch gefunden hatte, und steckte sie ins Laufwerk. Es öffnete sich ein Fenster mit dem Dokument »P#RTB#Ñ«. Als er es anklickte, erschien auf dem Bildschirm eine Seite mit nicht entzifferbaren Zeichen.
Schreibst du jetzt Hieroglyphen?, fragte Markus Bolliger.
Nein, aber ich möchte sie gerne verstehen. Weißt du, wie man eine alte Mac-Diskette entziffert?
Mit einem Konvertierungsprogramm. Frag Michi, der ist ein digitaler Alchemist, der konvertiert dir alles.
Als er abends seine Wohnung betrat, klebte wieder ein gelbes Post-it an der Tür: »Bitte ihr Nahmen anbringen! Hausmeister Rüedi« – »ihr« war jetzt unterstrichen. Das Kärtchen mit der Aufschrift »X« steckte quer im Klingelrahmen. Er zog es heraus, ergänzte die Aufschrift mit einem roten Stift zu »XXX« und steckte es wieder in den Klingelrahmen. Die Wohnung war ihm so fremd wie gestern und die Küche wollte er gar nicht erst betreten. Er setzte sich an seinen Arbeitstisch, packte aus einer Einkaufstüte ein Stück Pizza, Joghurt und eine Bierdose und schaltete den Computer ein. Sein Mail-Server kündete eine Mail an von Michael Spöri, dem Informatiklehrer.
Betreff: dein arbeitsblatt
Hab den text nicht ins word-format konvertieren können, hab aber ein pdf-dokument hergestellt (anhang). War nicht ganz einfach, weil uraltes mac-format. Scheint ja ein interessantes arbeitsblatt. Tschuldigung, konnte nicht umhin, die ersten 2 oder 3 sätze zu lesen. Die mac-diskette leg ich dir morgen ins fach.
Lg, Michi
22. – 25. September 1990
Portbou, 22. Sept. 1990
Plötzlich hektische Bewegungen im Abteil. Tüten rascheln, Reißverschlüsse werden gezogen, Reisedokumente hervorgezogen, Kleiderstücke ein- und ausgepackt. Mein Nachbar, ein trampender Amerikaner mit Gitarre, tritt mit seinen riesigen Turnschuhen auf meine Füße, als er sich nach dem Rucksack auf der Gepäckablage über mir streckt.
– Sorry! – No problem!, sage ich und versuche, zu gähnen. Blick auf die Uhr: 03:10. Lasse den Fenstervorhang in die Höhe schnellen und blicke in eine dunkle Fläche mit Lichtstreifen und Blitzen. Eine Ansammlung von Lichtern, das muss Collioure sein oder ein anderer französischer Küstenort in Grenznähe. Dahinter eine tiefschwarze Ebene, das Meer? Nach Fahrplan sind es fünf Minuten bis zur spanischen Grenzstadt Portbou, mit der zu erwartenden Verspätung vielleicht zwanzig. Wieso die Leute immer vor der Zeit bereit sein wollen und dann eine halbe Stunde mit dem Rucksack am Rücken oder mit dem Koffer in der Hand im Gang herumstehen? Portbou verpassen kann man nicht, Portbou ist Endstation. Reisende nach Spanien müssen, falls sie mit dem normalen Zug unterwegs sind, auf die spanischen Breitspur-Züge umsteigen. Wie immer, wenn ich nachts Zug fahre: Ich kann mich nachher nicht erinnern, ob ich geschlafen habe. Erinnerungen an das endlose Warten auf französischen Bahnhöfen, ruckweises Anschieben, Zurückrollen, Schlagen von Kupplungen, endlich das beruhigende rhythmische Klopfen – dadamm – dadamm – dadamm. Farbreste eines unangenehmen Traumes: Hauptfarbe schmutzigbraungrün, aber auch etwas Angenehmes, Erfreuliches, Tiefblaues.
Cerbère, der letzte Ort vor der Grenze. Gepäckstücke werden in den verstopften Gang geschoben. Schlange aus drängelnden Reisenden mit geschleppten Koffern. Der Zug fährt an, hält nach wenigen Minuten, setzt sich wieder in Bewegung, keine richtige Fahrt mehr, nur ein hinausgeschobenes Ankommen. Man spürt, hier ist Grenze, die Reise ist zu Ende und es beginnt eine neue. Der Zug steht definitiv still. Im Fenster ein trüb beleuchtetes Bahnhofsschild: »Portbou«. Nervöses Gedränge. Lasse mich von der Schlange im Halbschlaf, von hinten gestoßen, den Schub an die Vorderen weitergebend, endlich zur Tür hinaus auf den Bahnsteig spülen.
Passiere den Zoll und betrete Spanien in einer großen, verrauchten Wartehalle, folge der Neonschrift »Cafetería«, dränge mich an den Tresen, bestelle café con leche. Mein Anschlusszug nach Barcelona fährt nach meinem Fahrplan in fünfundzwanzig Minuten.
Hola!, ruft plötzlich eine Frauenstimme in meinem Rücken. Ich dreh mich um und blicke in zwei dunkle Augen. Das Kastanienbraun der Iris ist kaum vom Schwarz der Pupillen zu unterscheiden, das macht ihren Blick unbestimmbar. Erinnerungen an die schwarzen Zugfenster in der Nacht. Es ist die junge Frau aus dem Zugabteil von nebenan, mit der ich gestern Abend geplaudert habe, als sie im Gang eine Zigarette geraucht hat. Isabel, hat sie gesagt, soy Isabel, und das klang wie ein Versprechen, vor allem das helle I. Man muss sich den Buchstaben nur kleingeschrieben mit einem Punkt vorstellen, und schon hat man einen Leuchtturm – oder auf dem Kopf, dann ist es ein Ausrufezeichen. Isabel ist Medizin-Studentin aus Barcelona. Isabels große Augen glitzern, Isabels Mundwinkel spotten, Isabels Nasenflügel zittern. Und Isabel trägt, obwohl die Nacht warm ist, einen dunkelblauen Seidenschal – Indigo, die angenehmen Farbreste meines nächtlichen Traums. Sie setzt sich auf den Barhocker nebenan, kreuzt ihre Beine und wendet sich mir zu. Der Rand ihrer Shorts rutscht nach oben.
Hola, sage ich befangen, wartest du auch auf den Zug nach Barcelona?
Sie zieht das obere Hosenbein hinunter. Ist ihre Scham gespielt?
Huelga.
Perdón?
Streik, grève. Der nächste Zug fährt frühestens in vier Stunden, um 07:35, wenn er überhaupt fährt. Man merkt, man ist wieder zu Hause.
Isabel lächelt, öffnet ihren indigoblauen Seidenschal und entblößt ihren langen, schlanken Hals. Mein Blick fällt auf die feine goldene Halskette, gleitet der Kette entlang über ihre Schlüsselbeine, hinunter in den V-Ausschnitt ihres T-Shirts, in dem ein in Gold gefasster Türkisstein zwischen den Brustansätzen sitzt. Weiter getraue ich meinen Blick nicht zu senken, denn sie nimmt ihn wahr. Ich fühle mich ertappt. – Ich mag Türkissteine, sage ich, deiner hat eine ganz besondere Färbung. Woher hast du ihn? Etwas Dümmeres konnte mir nicht einfallen. – Aus Holland, sagt sie lakonisch und wirft den blauen Seidenschal wieder um den Hals. Dann legt sie eine silberne Zigarettendose mit einem aufgeprägten Gralsritter auf den Tresen und lässt ihre Finger mit dem Schnappverschluss spielen.
Qué vamos a hacer?, sage ich und freue mich bereits auf die Aussicht, vier Stunden mit Isabel zu verbringen.
Cigarrillo? Selbst gedreht. – Sie hält mir die geöffnete Zigarettendose hin.
Gracias. – Ich greife zu, obwohl ich vor einem halben Jahr mit Rauchen aufgehört habe. Isabel erzählt von ihren Ferien in Schweden und Norwegen. Wenn Isabel spricht, sind ihre großen dunklen Augen wie Türen, sie öffnen sich, schließen sich, und Isabels Mund lacht beim Sprechen über die Welt, über sich selbst. Über mich? Wenn sie den Mund schließt, erscheint auf ihren Lippen ein wohlgeformtes M. Isabel war mit einem Freund unterwegs, mit einem compañero