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Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Leanne Shapton

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-00182-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00182-4

Anmerkung

Drei Münzen zu werfen ist eine Technik, das I Ging zu konsultieren eine vor über 3000 Jahren in China entstandene Weissagungsmethode. Könige befragten dieses Orakel in Kriegszeiten, und einfache Menschen ersuchten es um Hilfe bei Alltagssorgen. Indem man sechsmal drei Münzen wirft, gelangt man zu einem von 64 Hexagrammen, deren Bedeutung durch einen Text erläutert wird. Konfuzius als einer der bedeutendsten Interpretatoren des I Ging sagte, wenn er fünfzig Jahre übrig hätte, würde er sie dem Studium des Buches widmen. Der Ursprungstext des I Ging ist poetisch, dicht, hochsymbolisch und komplex, philosophisch tiefschürfend, in der Anlage welterklärend und notorisch obskur.

Auf den folgenden Seiten werden drei Münzen benutzt – eine vom I Ging inspirierte Technik, aber nicht das eigentliche I Ging, das etwas anderes ist.

Alle Ergebnisse des Münzenwerfens in diesem Buch sind Ergebnisse tatsächlicher Münzenwürfe.

Ist dieses Buch eine gute Idee?

ja

Ist jetzt die Zeit, damit anzufangen?

ja

Hier in Toronto?

ja

Also brauche ich mir keine Sorgen zu machen?

ja

Ja, ich brauche mir keine Sorgen zu machen?

nein

Also soll ich mir doch Sorgen machen?

ja

Über was soll ich mir Sorgen machen? Meine Seele?

ja

Wird Lesen meiner Seele helfen?

ja

Wird Stillsein meiner Seele helfen?

ja

Wird dieses Buch meiner Seele helfen?

ja

Also mache ich alles richtig?

nein

Handle ich in meiner Beziehung falsch?

nein

Handle ich falsch, indem ich das Leiden anderer ignoriere?

Handle ich falsch, indem ich die große Politik ignoriere?

nein

Handle ich falsch, indem ich nicht dankbar für mein Leben bin?

ja

Und für das, was ich dank meiner Zeit und meines Wohlstands damit anfangen kann?

nein

Dank meiner individuellen Besonderheit?

ja

Ist die Zeit vorbei, mir über meine individuelle Besonderheit Sorgen zu machen?

ja

Ist jetzt die Zeit, über die Seele der Zeit nachzudenken?

ja

Habe ich alles, was ich für den Anfang brauche?

ja

Soll ich vorne anfangen und direkt aufs Ende zusteuern?

nein

Soll ich einfach tun, wonach mir der Sinn steht, und es hinterher zusammenbasteln?

nein

Soll ich am Anfang anfangen, nicht wissend, was danach geschieht?

ja

Ist dieser Austausch der Anfang?

ja

Was ist mit diesen Rollen mit farbigem Klebeband da drüben, die Erica mir gekauft hat? Soll ich die irgendwie benutzen?

nein

nein

Soll ich sie ihr zurückgeben?

nein

Soll ich sie mir aus den Augen schaffen?

ja

In den Schrank?

ja

Es wird mir so schwerfallen, nicht über mich selbst, sondern über die Seele der Zeit nachzudenken. Ich habe so wenig Übung darin, über die Seele der Zeit nachzudenken, und so viel Übung darin, über mich selbst nachzudenken. Aber aller Anfang ist schwer. Die Wendung die Seele der Zeit begleitet mich, seit Erica und ich vor ein paar Monaten über Silvester nach New York gefahren sind. Eigentlich ging sie mir schon vor dieser Reise durch den Kopf. Ich erinnere mich, sie Erica auf dem U-Bahnsteig genau erklärt zu

nein

Komisch, ich erinnere mich gar nicht daran, dass es kalt war, und auch nicht daran, einen Mantel getragen zu haben. War es am 1. Januar?

nein

Am 30. Dezember?

nein

War es auf einer ganz anderen Reise?

ja

Ich glaube nicht. Ich habe Erica die Sache mit der Seele der Zeit erklärt, dass wir nämlich als Individuen entweder gar keine eigene Seele haben, nur eine Art kollektive Seele, die entweder der Zeit gehört oder die Zeit ist, oder dass unser Leben – also wir – die Seele der Zeit ist. So ganz war ich mir da nicht im Klaren. Der Gedanke steckte in den Kinderschuhen, und das tut er noch heute. Erica regte sich ziemlich auf, während mir die Vorstellung, dass meine Seele nicht mir gehörte, sehr tröstlich vorkam. Dass in meinem Leben entweder die Seele der Zeit zum Ausdruck kam oder meine Seele selbst die Zeit war. Ich weiß nicht, ob ich es richtig ausdrücke. Tue ich das?

nein

Nein, nein. Ich hoffe, besser zu verstehen, was ich da auf dem U-Bahnsteig gemeint habe und was meine gute Freundin Erica so aufgeregt hat. Das soll mein Vorsatz, mein Plan oder meine Agenda für das sein, was ich hier schreibe – zu verstehen, was die Seele der Zeit bedeutet, oder

nein

Ist sie zu beschränkt?

ja

Kann es überhaupt um die Seele der Zeit gehen?

nein

Darf ich euch Münzen betrügen?

ja

Dann wird dieses Buch auf jeden Fall auch davon handeln. Vielleicht hätte ich nicht sagen sollen, dass ich es mir selbst erklären, sondern dass ich es anderen Leuten erklären will. Wäre das besser?

nein

Und dass ich es verkörpern will, statt es zu erklären?

ja

Mir brummt der Schädel. Ich bin so müde. Ich hätte dieses Nickerchen nicht machen sollen. Aber wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich jetzt wahrscheinlich noch schlechter drauf, oder?

nein

nein

Wäre es also fair, wenn wir uns beide umeinander Gedanken machten?

ja

Ich quäle mich eben mit allem und jedem.

~

ja

Habe ich ihn damit verletzt?

ja

Wird er das eines Tages einfach vergessen?

nein

Soll ich mich heute Abend dafür entschuldigen?

ja

~

nein

Nein, nein. Das habe ich auch nicht angenommen. So viele Gefühle an einem Tag. Die sind eindeutig nicht die Leitlinien – das Orakel –, nach denen man sein Leben ausrichten sollte, nicht dessen Landkarte. Obwohl die Versuchung da ist. Wonach sollte man sich im Leben richten? Nach seinen Wertvorstellungen?

ja

Nach seinen Zukunftsplänen?

nein

Nach seinen künstlerischen Zielen?

nein

Nach dem, was die Leute um einen herum brauchen – ich meine das, was die Leute brauchen, die man liebt?

ja

Sicherheit?

nein

Abenteuer?

Nach allem, was Seelentiefe und Entwicklung zu verheißen scheint?

nein

Nach allem, was Glück bringen könnte?

ja

Also die eigenen Wertvorstellungen, Glück und das, was die Leute um einen herum brauchen. Das sind die Punkte, nach denen man sein Leben ausrichten sollte.

Meine ganze Kindheit über hatte ich das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich hinterfragte jede meiner Gesten, meine Worte, die Art und Weise, wie ich auf einem Stuhl saß. Was tat ich nur, das meine Mutter zu Tränen trieb? Ein Kind denkt, es sei sogar für den Lauf der Sterne im Himmel verantwortlich, also musste sie meinetwegen weinen. Warum war ich überhaupt auf der Welt, wenn ich ihr nur Kummer bereitete? Da ich ihn verursacht hatte, wollte ich ihn auch von ihr nehmen. Aber ich war zu klein. Ich konnte noch nicht mal meinen Namen buchstabieren. Da ich so wenig wusste, wie hätte ich auch nur ansatzweise ihren Kummer verstehen sollen? Ich verstehe ihn noch heute nicht. Kein Kind kann seine Mutter durch reine Willenskraft von ihrem Kummer befreien, und als Erwachsene war ich immer sehr beschäftigt. Mit Schreiben

Dies wird also ein Buch, das zukünftige Tränen verhindern, das mich und meine Mutter vom Weinen abhalten soll. Es darf erfolgreich genannt werden, wenn meine Mutter nach der Lektüre das Weinen ganz aufgibt. Ich weiß, es ist nicht die Aufgabe eines Kindes, seine Mutter vom Weinen abzuhalten, aber ich bin kein Kind mehr. Ich bin Schriftstellerin. Indem ich vom Kind zur Schriftstellerin wurde, habe ich Kräfte erlangt – will sagen, magische Kräfte sind mir durchaus nicht fremd. Wenn ich als Schriftstellerin gut genug bin, kann ich sie vielleicht vom Weinen abhalten. Vielleicht bekomme ich heraus, warum sie weint und warum auch ich weine, und kann uns mit meinen Worten beide heilen.

~

Ist Aufmerksamkeit gleich Seelentiefe? Wenn ich dem Leiden meiner Mutter Aufmerksamkeit schenke, kommt dann etwas Beseeltes dabei heraus? Wenn ich ihrem Unglück Aufmerksamkeit schenke – es in Worte kleide, in etwas Neues verwandle –, kann ich wie die Alchimisten sein und aus Blei Gold machen? Wenn ich dieses Buch verkaufe, werde ich Gold dafür bekommen. Das ist eine Art Alchimie. Die Philosophen wollten dunkle Materie in Gold verwandeln, und ich will die Traurigkeit meiner Mutter in Gold verwandeln. Wenn das Gold dann angeliefert wird, werde ich vor meine Mutter treten und sagen: Hier ist deine in Gold verwandelte Traurigkeit.

ja

Soll es einen Untertitel haben?

nein

Es ist beruhigend, einen Titel zu haben, ob er nun gut oder schlecht ist. Ist er gut?

nein

Nein, aber trotzdem soll er so lauten?

ja

Vermutlich spielt das nach allgemeinen Maßstäben keine große Rolle. Natürlich könnte die Frage, ob der Buchtitel gut oder schlecht ist, für mich eine große Rolle spielen, denn schließlich bin ich dafür verantwortlich und also diejenige, die dafür gescholten werden wird. Das Augenmerk wird sich auf mich richten, und über meinen schlechten Geschmack wird geurteilt werden. Aber für die Welt spielt es keine große Rolle, ob ein Buch einen guten oder schlechten Titel hat, also warum soll es mich kümmern? Muss dieses Buch überhaupt gut werden?

nein

Weil es nie veröffentlicht und von niemandem wahrgenommen werden wird?

ja

Was soll es, etwas zu schreiben, das nie jemand liest? Mir ist entfallen, wer gesagt hat, eine künstlerische Arbeit

ja

Soll man es einfach nur der Erfahrung wegen tun?

nein

Tut man es für das Nicht-Publikum, das Gott heißt?

ja

Um die Welt im Glorienschein erstrahlen zu lassen?

nein

Aus Dankbarkeit dafür, dass einem das Leben geschenkt wurde?

ja

Und weil Menschen eben Kunst machen?

ja

Werden meine Unsicherheiten meine Beziehung ruinieren?

ja

Kann ich dagegen irgendetwas tun?

ja

Wird das lange dauern?

ja

Wird unsere Beziehung beendet sein, bis ich sie überwunden habe?

ja

Ist daran etwas Gutes?

ja

Für uns beide?

ja

Miles macht uns gerade Abendessen. Ist es wichtiger als das Schreiben, dass ich jetzt in die Küche gehe und ihm Gesellschaft leiste?

Gut, dann tue ich das.

~

Jetzt sitze ich auf unserem Bett, und draußen sirren die Zikaden. Miles ist im Laden an der Ecke. Ich muss auf die Frage zurückkommen, die ich vor dem Abendessen gestellt hatte: Wird unsere Beziehung beendet sein, bis ich meine Unsicherheiten überwunden habe? Als ich sie stellte, kam ich gar nicht auf den Gedanken, unsere Beziehung könnte beendet sein, bis ich meine Unsicherheiten überwunden hätte, denn unsere Unsicherheiten überwinden wir erst im Tod. Hattet ihr das gemeint? Dass ich meine Unsicherheiten erst im Tod überwinden werde und dass deshalb unsere Liebe und Beziehung bis zu meinem Tod andauern?

ja

Oh, schön! Ich fühle mich so gut. Alles fühlt sich tausendmal besser an als gestern. Ich bin froh, dass ich nicht nach New York in Teresas und Walters Wohnung fahren werde. Hier zu bleiben fühlt sich so viel intensiver, erfüllter und lebendiger an.

Mitten in der Nacht wachte ich aus diesem Traum auf, angewidert und erschrocken, dass ich so hatte leben können. Eine Frau, die auf die vierzig zuging, nicht genug

~

Miles hat gesagt, ich solle entscheiden – er will keine weiteren Kinder neben dem einen ziemlich ungeplanten aus seiner Jugend, das mit der Mutter in einem anderen Land wohnt und uns an Feiertagen und den Sommer über besuchen kommt. Es ist ein Risiko, sagt er; seine Tochter sei nett, aber man wisse nie, was man kriege. Wenn ich ein Kind wolle, könnten wir eines bekommen, sagte er, aber du musst dir sicher sein.

~

Ob ich Kinder will, ist ein Geheimnis, das ich vor mir selbst verberge – das größte Geheimnis.

Wenn man über etwas im Zweifel ist, empfiehlt es sich zu warten. Aber wie lange? Nächste Woche werde ich siebenunddreißig. Bei manchen Entscheidungen läuft einem die Zeit davon. Woher sollen wir wissen, wie es für uns laufen wird, uns zwiegespaltene Frauen von siebenunddreißig? Einerseits: die Freude an Kindern. Andererseits: das Elend mit ihnen. Einerseits: die Freiheit, keine Kinder

Gestern habe ich mit Teresa telefoniert, die ungefähr fünfzig ist. Ich sagte, es scheine so, als wären mir andere Menschen mit ihren Ehen, ihren Häusern, ihren Kindern und ihren Ersparnissen plötzlich davongeeilt. Sie erwiderte, wenn jemand sich so fühle, solle er genauer darauf schauen, welches seine wirklichen Werte seien. Nach denen müssten wir nämlich leben. Oft spüle es Leute einfach in eine konventionelle Existenz – jene, die zu führen einem so druckvoll nahegelegt wird. Aber wie könne es nur einen einzigen legitimen Lebensweg geben? Sie sagte, dieser Weg sei oft nicht mal für diejenigen der richtige, die ihm schließlich folgten. Sie würden fünfundvierzig, fünfzig, dann prallten sie gegen eine Wand. Es ist leicht, einfach mit dem Strom zu schwimmen, sagte sie. Aber nur für eine gewisse Zeit.

~

Will ich Kinder, weil ich als die bewundernswerte Frau bewundert werden möchte, die Kinder hat? Weil ich als normale Frau betrachtet werden oder weil ich zur besten

Mein Gefühl, dass ich kein Kind will, ist das Gefühl, nicht zu jemandes Vorstellung von mir werden zu wollen. Eltern haben mehr, als ich je haben werde, etwas Größeres, das ich aber nicht will, und mag es noch so groß sein, der Hauptgewinn gewissermaßen, den sie ergattert haben, der goldene Ring, der in der genetischen Erleichterung besteht – der Erleichterung, sich fortgepflanzt zu haben; Erfolg im biologischen Sinn, der einem bisweilen wie der allein bedeutsame Sinn vorkommt. Und sozialen Erfolg haben sie außerdem.

Es liegt eine Art Traurigkeit darin, etwas nicht zu wollen, was dem Leben so vieler anderer Bedeutung verleiht. Es kann Trauer erzeugen, wenn man nicht teilhat an einer universelleren Geschichte – dem mutmaßlichen Lebenszyklus, jenem Zyklus, aus dem mutmaßlich ein anderer erwachsen soll. Aber wenn aus deinem Leben kein neuer Zyklus entsteht, wie fühlt sich das an? Nach nichts Besonderem. Und doch bleibt eine gewisse Enttäuschung, wenn die großen Ereignisse im Leben anderer – wenn du die für dich selbst nicht willst.

nein

Liegt das daran, dass die Kunst Gott ist?

nein

Liegt es daran, dass die Kunst im Hause Gottes existiert, dass Gott sich aber nicht darum kümmert, was bei ihm zu Hause los ist?

ja

Ist die Kunst in der Welt zu Hause?

ja

Ist die Kunst lebendig – also, während man sie macht? So lebendig wie alles, was wir lebendig nennen?

ja

Ist sie noch genauso lebendig, wenn sie zwischen Buchdeckel gebunden oder an die Wand gehängt wird?

ja

Kann also das Universum eine Frau, die Bücher macht, aus der Verantwortung dafür entlassen, dass sie nicht dieses lebendige Etwas erschafft, das wir Babys nennen?

ja

nein

Ist Babys zu machen denn keine spezifische Aufgabe der Frau?

ja

Ich sollte keine verneinenden Fragen stellen. Ist es ihre spezifische Aufgabe?

ja

Ja, aber das Universum entlässt Frauen, die Kunst, aber keine Babys machen, aus der Verantwortung? Kümmert es das Universum, wenn sich auch Frauen, die keine Kunst machen, gegen Kinder entscheiden?

ja

Werden diese Frauen bestraft?

ja

Indem sie nicht das Wunder und die Freude erleben?

ja

Auch noch auf andere Weise?

ja

Indem sie ihre Gene nicht weitergeben?

ja

ja

Erhalten auch Männer, die sich nicht fortpflanzen, eine Strafe vom Universum?

nein

Erhalten sie eine Strafe, wenn sie andere, typische Männeraufgaben vernachlässigen?

nein

Männer sind jeglicher Verdammnis entzogen und können machen, was sie wollen?

nein

Vielleicht erteilt ihnen nicht das Universum, sondern die Gesellschaft ihre Strafe?

ja

In Form von Spott?

ja

Von Frauen?

nein

Von anderen Männern?

ja

Und leiden sie genauso wie die dem Universum ausgelieferten Frauen?

ja

Na, das scheint mir doch fair zu sein.

ja

~

Das kommt mir gut vor – der Wirklichkeit die Hand aufzulegen. Sie der Verzerrung durch das Denken zu entziehen und das, was ist, zu erspüren.

Heute Nachmittag war ich bei meiner Ärztin. Sie machte einen Check-up und stellte mir dann ein paar Fragen, inklusive der, wie Miles und ich verhüteten. Ich wurde verlegen und antwortete wahrheitsgemäß: durch Rausziehen. Das hatte ich mit fast allen Männern so gemacht. Was, wenn Sie schwanger würden? Fänden Sie das in Ordnung? Ich versuchte, leichthin zu antworten, verhedderte mich aber ziemlich bald.

Nach dem Termin lief ich durch die Straßen und rief Teresa an. Ich kam auf meine Sorge zu sprechen, gewisse Wege nicht eingeschlagen zu haben, und sie sagte, solche Sorgen mache sich jeder, aber wenn man auf sein Leben zurückschaue, sehe man oft, dass die Entscheidungen, die man getroffen, und die Wege, die man eingeschlagen habe, die richtigen gewesen seien. Sie sagte, es gehe nicht darum, sich für diese und gegen jene Lebensweise zu entscheiden, sondern darum, ein Gespür für das Leben zu entwickeln, das durch einen gelebt werden wolle. Man brauche Spannung, um etwas zu erschaffen – das Sandkorn in der Perle. Sie sagte, meine Fragen und Zweifel seien der Sand. Sie sagte, die seien eine gute Sache und zwängen mich, integer zu leben, mich zu dem, was mir wichtig sei, zu befragen und so den Sinn meines Lebens zu erfüllen, statt mein Heil in der Konvention zu suchen.

Also dann: Versuchen, herauszufinden, was meine Werte sind, und nach ihnen leben, selbst wenn es so aussieht, als käme ich damit nicht voran, während meine Freunde voranzukommen scheinen, indem sie nach Schema F leben. Frage nur, ob du nach deinen Werten lebst, nicht, ob du ins Schema passt.

~

Deine Vorstellung davon, worum es im Leben geht oder wie es verlaufen sollte, entwickelt sich schon, bevor dieses Leben überhaupt Gelegenheit hatte, sich richtig zu entfalten. In Anbetracht von so viel Zeit, die noch nicht die Gelegenheit hatte, sich darzubieten, gibst du dir große Mühe, den leeren Raum vor dir so zu füllen, wie du es dir erhoffst. Aber was für einen Sinn ergibt es, so viel Zeit zu haben? Überhaupt nur in ihr zu leben? Warum stirbst du nicht einfach, sobald sich in deinem Kopf eine ausreichend befriedigende Vorstellung davon, wie dein Leben verlaufen sollte, herausgebildet hat?

Dass wir uns nicht einfach umbringen, sobald wir herausgefunden haben, wie unser Leben aussehen sollte, liegt daran, dass wir Erfahrungen machen wollen. Aber was, wenn das, was wir erleben zu wollen glaubten, nicht geschähe? Oder wenn etwas tatsächlich geschieht, das wir

Wenn das Leben selten mit unseren Erwartungen zur Deckung kommt, warum dann überhaupt etwas erwarten? Wäre es nicht besser, gar nicht vorauszuplanen? Aber auch das erscheint verrückt, denn manchmal hilft Planen und Wünschen ja wirklich. Und selbst wenn nicht, bringt es uns trotzdem voran. Zumindest scheint es einem so, als komme man nicht vom Fleck, wenn man nicht wünscht und plant.

~