Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2019
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ISBN 978-3-644-00182-4
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00182-4
Drei Münzen zu werfen ist eine Technik, das I Ging zu konsultieren eine vor über 3000 Jahren in China entstandene Weissagungsmethode. Könige befragten dieses Orakel in Kriegszeiten, und einfache Menschen ersuchten es um Hilfe bei Alltagssorgen. Indem man sechsmal drei Münzen wirft, gelangt man zu einem von 64 Hexagrammen, deren Bedeutung durch einen Text erläutert wird. Konfuzius als einer der bedeutendsten Interpretatoren des I Ging sagte, wenn er fünfzig Jahre übrig hätte, würde er sie dem Studium des Buches widmen. Der Ursprungstext des I Ging ist poetisch, dicht, hochsymbolisch und komplex, philosophisch tiefschürfend, in der Anlage welterklärend und notorisch obskur.
Auf den folgenden Seiten werden drei Münzen benutzt – eine vom I Ging inspirierte Technik, aber nicht das eigentliche I Ging, das etwas anderes ist.
Alle Ergebnisse des Münzenwerfens in diesem Buch sind Ergebnisse tatsächlicher Münzenwürfe.
Oft habe ich die Welt aus großer Entfernung betrachtet – oder gar nicht. Zu jeder Zeit zogen Vögel, Wolken, Bienen, frische Brisen über mich hinweg, die ich nicht wahrnahm, und die Sonne schien mir auf die Haut. Ich lebte nur in der grau getönten, empfindungslosen Welt meines Verstandes, in der ich alles zu analysieren versuchte und zu keinen Schlüssen kam. Ich wünschte mir genügend Zeit, um mir eine Haltung zur Welt zurechtzulegen, aber es war nie genug, und diejenigen, die eine Haltung zur Welt hatten, schienen seit frühester Jugend darüber zu verfügen und nicht erst mit vierzig damit anzufangen. Ich wusste, das Einzige, womit man mit vierzig noch anfangen konnte, war die Literatur. Da ging man mit vierzig noch als jung durch. Aber in jeder anderen Hinsicht war ich alt, alle Boote waren längst abgefahren und auf hoher See, während ich erst auf die Küste zusteuerte und mein Boot noch nicht mal gefunden hatte. Das Mädchen, das bei uns wohnte – sie war zwölf –, zeigte mir meine Beschränkungen auf wie niemand zuvor: meine Schwäche, meine Gefügigkeit, meine belanglose Rebellion; vor allem meine Ignoranz und Sentimentalität. Als ich eines Morgens das Wohnzimmer betrat, lag ein halber Hotdog auf dem Tisch. Ich nannte ihn versehentlich eine Banane. Da wusste ich, dass ich für diese Welt zu alt war, dass mich das Mädchen ganz selbstverständlich überholt hatte und mir fortan voraus sein würde. Die grau getönte Sumpflandschaft meines Verstandes in etwas Solides, Konkretes zu verwandeln, das ganz anders war als ich, ja überhaupt nicht ich, blieb meine einzige Hoffnung. Ich wusste nicht, woraus diese solide Form bestehen oder welche Gestalt sie annehmen würde. Ich wusste nur, dass ich ein mächtiges Monster erschaffen musste, weil ich so ein schwaches war. Ich musste ein ganz eigenständiges Monster erschaffen, das mehr wusste als ich, das über eine Haltung zur Welt verfügte und nicht solch einfache Worte verwechselte.
Ich werfe drei Münzen auf einen Schreibtisch. Zwei- oder dreimal Zahl – ja. Zwei- oder dreimal Kopf – nein.
Ist dieses Buch eine gute Idee?
ja
Ist jetzt die Zeit, damit anzufangen?
ja
Hier in Toronto?
ja
Also brauche ich mir keine Sorgen zu machen?
ja
Ja, ich brauche mir keine Sorgen zu machen?
nein
Also soll ich mir doch Sorgen machen?
ja
Über was soll ich mir Sorgen machen? Meine Seele?
ja
Wird Lesen meiner Seele helfen?
ja
Wird Stillsein meiner Seele helfen?
ja
Wird dieses Buch meiner Seele helfen?
ja
Also mache ich alles richtig?
nein
Handle ich in meiner Beziehung falsch?
nein
Handle ich falsch, indem ich das Leiden anderer ignoriere?
nein
Handle ich falsch, indem ich die große Politik ignoriere?
nein
Handle ich falsch, indem ich nicht dankbar für mein Leben bin?
ja
Und für das, was ich dank meiner Zeit und meines Wohlstands damit anfangen kann?
nein
Dank meiner individuellen Besonderheit?
ja
Ist die Zeit vorbei, mir über meine individuelle Besonderheit Sorgen zu machen?
ja
Ist jetzt die Zeit, über die Seele der Zeit nachzudenken?
ja
Habe ich alles, was ich für den Anfang brauche?
ja
Soll ich vorne anfangen und direkt aufs Ende zusteuern?
nein
Soll ich einfach tun, wonach mir der Sinn steht, und es hinterher zusammenbasteln?
nein
Soll ich am Anfang anfangen, nicht wissend, was danach geschieht?
ja
Ist dieser Austausch der Anfang?
ja
Was ist mit diesen Rollen mit farbigem Klebeband da drüben, die Erica mir gekauft hat? Soll ich die irgendwie benutzen?
nein
Soll ich sie einfach da liegen lassen und mir ansehen?
nein
Soll ich sie ihr zurückgeben?
nein
Soll ich sie mir aus den Augen schaffen?
ja
In den Schrank?
ja
Es wird mir so schwerfallen, nicht über mich selbst, sondern über die Seele der Zeit nachzudenken. Ich habe so wenig Übung darin, über die Seele der Zeit nachzudenken, und so viel Übung darin, über mich selbst nachzudenken. Aber aller Anfang ist schwer. Die Wendung die Seele der Zeit begleitet mich, seit Erica und ich vor ein paar Monaten über Silvester nach New York gefahren sind. Eigentlich ging sie mir schon vor dieser Reise durch den Kopf. Ich erinnere mich, sie Erica auf dem U-Bahnsteig genau erklärt zu haben. Wir wohnten in Teresas und Walters Wohnung. Sie waren verreist, besuchten über Weihnachten Verwandte. An diesem Abend übergab ich mich betrunken in ihre Toilette. Aber das andere war viel früher. War es am 31. Dezember?
nein
Komisch, ich erinnere mich gar nicht daran, dass es kalt war, und auch nicht daran, einen Mantel getragen zu haben. War es am 1. Januar?
nein
Am 30. Dezember?
nein
War es auf einer ganz anderen Reise?
ja
Ich glaube nicht. Ich habe Erica die Sache mit der Seele der Zeit erklärt, dass wir nämlich als Individuen entweder gar keine eigene Seele haben, nur eine Art kollektive Seele, die entweder der Zeit gehört oder die Zeit ist, oder dass unser Leben – also wir – die Seele der Zeit ist. So ganz war ich mir da nicht im Klaren. Der Gedanke steckte in den Kinderschuhen, und das tut er noch heute. Erica regte sich ziemlich auf, während mir die Vorstellung, dass meine Seele nicht mir gehörte, sehr tröstlich vorkam. Dass in meinem Leben entweder die Seele der Zeit zum Ausdruck kam oder meine Seele selbst die Zeit war. Ich weiß nicht, ob ich es richtig ausdrücke. Tue ich das?
nein
Nein, nein. Ich hoffe, besser zu verstehen, was ich da auf dem U-Bahnsteig gemeint habe und was meine gute Freundin Erica so aufgeregt hat. Das soll mein Vorsatz, mein Plan oder meine Agenda für das sein, was ich hier schreibe – zu verstehen, was die Seele der Zeit bedeutet, oder es mir selbst zu erklären. Ist das eine gute Prämisse für dieses Buch?
nein
Ist sie zu beschränkt?
ja
Kann es überhaupt um die Seele der Zeit gehen?
nein
Darf ich euch Münzen betrügen?
ja
Dann wird dieses Buch auf jeden Fall auch davon handeln. Vielleicht hätte ich nicht sagen sollen, dass ich es mir selbst erklären, sondern dass ich es anderen Leuten erklären will. Wäre das besser?
nein
Und dass ich es verkörpern will, statt es zu erklären?
ja
Mir brummt der Schädel. Ich bin so müde. Ich hätte dieses Nickerchen nicht machen sollen. Aber wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich jetzt wahrscheinlich noch schlechter drauf, oder?
nein
Heute habe ich geweint, als Miles das Haus verließ. Als er fragte, warum, sagte ich, weil ich nichts zu tun hätte. Er sagte: Du bist Schriftstellerin. Du hast das Bonjour-Philippine-Buch, du hast das I-Ging-Buch … und du hast das Simone-Weil-Buch. Warum arbeitest du nicht an einem von denen? Er zögerte, bevor er das Simone-Weil-Buch erwähnte, weil es seine Idee gewesen war, ich solle über deren Gedankenwelt schreiben; schon als er das vor einigen Wochen vorgeschlagen hatte, war uns beiden mulmig geworden – dass er mir die Idee für ein Buch eingeben konnte. Ich ließ ihn auch auf der Stelle abblitzen, aber gegen Mittag begann ich an einem Buch über Simone Weil zu arbeiten. Am Nachmittag textete Miles mir, um sich zu erkundigen, ob es mir besser ging, und ein paar Stunden später rief er auch noch einmal an. Dabei sollte eigentlich ich mir Sorgen um ihn machen und nicht umgekehrt, schließlich hat er gerade angefangen zu arbeiten und deshalb keine Zeit, viel nachzudenken, oder?
nein
Wäre es also fair, wenn wir uns beide umeinander Gedanken machten?
ja
Ich quäle mich eben mit allem und jedem.
Heute um die Mittagszeit habe ich mit meinem Vater im Auto eine Landpartie gemacht und mich dabei zu entscheiden versucht, ob ich im Juni für drei Wochen nach New York gehen soll. Teresa hatte mir erzählt, sie und Walter würden unterwegs sein, und die Wohnung sei frei, wenn ich sie haben wolle. Nach langem Abwägen traf ich die Wahl, zu tun, womit ich mich im Moment besser und wohler fühlte, also hier zu bleiben. Nach dem Ausflug kam ich nach Hause, machte ein Nickerchen und wachte mit einem guten Gefühl auf. Ich setzte mich auf die lilafarbene Couch im Schlafzimmer und dachte einfach nur nach. Ich schiebe es schon so lange auf, mit einem neuen Projekt anzufangen, aber nun, da Miles ständig so viel arbeitet, sind die Alternativen klar: entweder abwechslungshalber nach New York abhauen und Spaß haben oder eine Schriftstellerin sein, wie er sich ausdrückte, um mich daran zu erinnern, was ich war. Ich wollte ihm sagen, dass ich nicht zu der Sorte Schriftstellerin gehöre, die in ihrem Zimmer hockt und schreibt, aber ich tat es nicht. Mir fällt ein, dass er neulich sagte, sobald ein Schriftsteller anfange, ein interessantes Leben zu führen, leide das Schreiben darunter. Meine Antwort lautete: Du willst doch bloß nicht, dass ich ein interessantes Leben führe! Ob ihm die noch in den Ohren klingt?
ja
Habe ich ihn damit verletzt?
ja
Wird er das eines Tages einfach vergessen?
nein
Soll ich mich heute Abend dafür entschuldigen?
ja
Obwohl Miles und ich einen netten Abend miteinander verbrachten, entschuldigte ich mich für die Bemerkung und erzählte ihm, dass ich nicht für drei Wochen nach New York fahren würde, um Teresas und Walters Wohnung zu übernehmen. Er sagte: Ich kann mit diesen Wertvorstellungen, mit denen du immer aus New York zurückkommst, nichts anfangen. Ich liebe ihn. Vorhin hat er in der Vase mit dem Flieder, den er mir letzte Woche gekauft hat, Wasser nachgefüllt. Er welkte dahin, der Flieder auf meinem Schreibtisch, und mir war es nicht mal aufgefallen. Nun dudelt der Eiswagen draußen sein trauriges Lied, und ich bin beschwipst von dem Wein, den ich am frühen Abend getrunken habe. Es geht mir gut. Aber spielt es eigentlich eine Rolle, wie es mir geht?
nein
Nein, nein. Das habe ich auch nicht angenommen. So viele Gefühle an einem Tag. Die sind eindeutig nicht die Leitlinien – das Orakel –, nach denen man sein Leben ausrichten sollte, nicht dessen Landkarte. Obwohl die Versuchung da ist. Wonach sollte man sich im Leben richten? Nach seinen Wertvorstellungen?
ja
Nach seinen Zukunftsplänen?
nein
Nach seinen künstlerischen Zielen?
nein
Nach dem, was die Leute um einen herum brauchen – ich meine das, was die Leute brauchen, die man liebt?
ja
Sicherheit?
nein
Abenteuer?
nein
Nach allem, was Seelentiefe und Entwicklung zu verheißen scheint?
nein
Nach allem, was Glück bringen könnte?
ja
Also die eigenen Wertvorstellungen, Glück und das, was die Leute um einen herum brauchen. Das sind die Punkte, nach denen man sein Leben ausrichten sollte.
Meine Mutter weinte vierzig Tage und vierzig Nächte lang. Solange ich sie kenne, weiß ich, dass sie nah am Wasser gebaut hat. Früher dachte ich, aus mir würde einmal eine andere Sorte Frau werden, ich würde nicht weinen, und ich würde auch ihr Problem mit den Tränen lösen. Nie war sie in der Lage, mir zu sagen, was eigentlich nicht stimmte, nichts außer: Ich bin müde. Konnte sie wirklich ständig müde sein? Als ich noch klein war, fragte ich mich: Merkt sie denn nicht, dass sie unglücklich ist? Unglücklich zu sein, ohne es zu wissen, schien mir das Allerschlimmste. Als ich älter wurde, prüfte ich mich zwanghaft auf Zeichen des Unglücklichseins. Und dann wurde auch ich unglücklich, ein Fass voller Tränen.
Meine ganze Kindheit über hatte ich das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich hinterfragte jede meiner Gesten, meine Worte, die Art und Weise, wie ich auf einem Stuhl saß. Was tat ich nur, das meine Mutter zu Tränen trieb? Ein Kind denkt, es sei sogar für den Lauf der Sterne im Himmel verantwortlich, also musste sie meinetwegen weinen. Warum war ich überhaupt auf der Welt, wenn ich ihr nur Kummer bereitete? Da ich ihn verursacht hatte, wollte ich ihn auch von ihr nehmen. Aber ich war zu klein. Ich konnte noch nicht mal meinen Namen buchstabieren. Da ich so wenig wusste, wie hätte ich auch nur ansatzweise ihren Kummer verstehen sollen? Ich verstehe ihn noch heute nicht. Kein Kind kann seine Mutter durch reine Willenskraft von ihrem Kummer befreien, und als Erwachsene war ich immer sehr beschäftigt. Mit Schreiben beschäftigt. Meine Mutter sagt oft: Du bist frei. Vielleicht bin ich das wirklich. Ich kann tun, was ich will. Also werde ich sie vom Weinen abhalten. Wenn ich mit diesem Buch hier fertig bin, wird keine von uns je wieder weinen.
Dies wird also ein Buch, das zukünftige Tränen verhindern, das mich und meine Mutter vom Weinen abhalten soll. Es darf erfolgreich genannt werden, wenn meine Mutter nach der Lektüre das Weinen ganz aufgibt. Ich weiß, es ist nicht die Aufgabe eines Kindes, seine Mutter vom Weinen abzuhalten, aber ich bin kein Kind mehr. Ich bin Schriftstellerin. Indem ich vom Kind zur Schriftstellerin wurde, habe ich Kräfte erlangt – will sagen, magische Kräfte sind mir durchaus nicht fremd. Wenn ich als Schriftstellerin gut genug bin, kann ich sie vielleicht vom Weinen abhalten. Vielleicht bekomme ich heraus, warum sie weint und warum auch ich weine, und kann uns mit meinen Worten beide heilen.
Ist Aufmerksamkeit gleich Seelentiefe? Wenn ich dem Leiden meiner Mutter Aufmerksamkeit schenke, kommt dann etwas Beseeltes dabei heraus? Wenn ich ihrem Unglück Aufmerksamkeit schenke – es in Worte kleide, in etwas Neues verwandle –, kann ich wie die Alchimisten sein und aus Blei Gold machen? Wenn ich dieses Buch verkaufe, werde ich Gold dafür bekommen. Das ist eine Art Alchimie. Die Philosophen wollten dunkle Materie in Gold verwandeln, und ich will die Traurigkeit meiner Mutter in Gold verwandeln. Wenn das Gold dann angeliefert wird, werde ich vor meine Mutter treten und sagen: Hier ist deine in Gold verwandelte Traurigkeit.
Soll der Titel dieses Buches Die Seele der Zeit lauten?
ja
Soll es einen Untertitel haben?
nein
Es ist beruhigend, einen Titel zu haben, ob er nun gut oder schlecht ist. Ist er gut?
nein
Nein, aber trotzdem soll er so lauten?
ja
Vermutlich spielt das nach allgemeinen Maßstäben keine große Rolle. Natürlich könnte die Frage, ob der Buchtitel gut oder schlecht ist, für mich eine große Rolle spielen, denn schließlich bin ich dafür verantwortlich und also diejenige, die dafür gescholten werden wird. Das Augenmerk wird sich auf mich richten, und über meinen schlechten Geschmack wird geurteilt werden. Aber für die Welt spielt es keine große Rolle, ob ein Buch einen guten oder schlechten Titel hat, also warum soll es mich kümmern? Muss dieses Buch überhaupt gut werden?
nein
Weil es nie veröffentlicht und von niemandem wahrgenommen werden wird?
ja
Was soll es, etwas zu schreiben, das nie jemand liest? Mir ist entfallen, wer gesagt hat, eine künstlerische Arbeit existiere nie ohne Publikum – sie zu erschaffen reiche nicht aus. Ist es falsch, sich ein Publikum vorzustellen, wenn man mit einer künstlerischen Arbeit beginnt?
ja
Soll man es einfach nur der Erfahrung wegen tun?
nein
Tut man es für das Nicht-Publikum, das Gott heißt?
ja
Um die Welt im Glorienschein erstrahlen zu lassen?
nein
Aus Dankbarkeit dafür, dass einem das Leben geschenkt wurde?
ja
Und weil Menschen eben Kunst machen?
ja
Werden meine Unsicherheiten meine Beziehung ruinieren?
ja
Kann ich dagegen irgendetwas tun?
ja
Wird das lange dauern?
ja
Wird unsere Beziehung beendet sein, bis ich sie überwunden habe?
ja
Ist daran etwas Gutes?
ja
Für uns beide?
ja
Miles macht uns gerade Abendessen. Ist es wichtiger als das Schreiben, dass ich jetzt in die Küche gehe und ihm Gesellschaft leiste?
ja
Gut, dann tue ich das.
Jetzt sitze ich auf unserem Bett, und draußen sirren die Zikaden. Miles ist im Laden an der Ecke. Ich muss auf die Frage zurückkommen, die ich vor dem Abendessen gestellt hatte: Wird unsere Beziehung beendet sein, bis ich meine Unsicherheiten überwunden habe? Als ich sie stellte, kam ich gar nicht auf den Gedanken, unsere Beziehung könnte beendet sein, bis ich meine Unsicherheiten überwunden hätte, denn unsere Unsicherheiten überwinden wir erst im Tod. Hattet ihr das gemeint? Dass ich meine Unsicherheiten erst im Tod überwinden werde und dass deshalb unsere Liebe und Beziehung bis zu meinem Tod andauern?
ja
Oh, schön! Ich fühle mich so gut. Alles fühlt sich tausendmal besser an als gestern. Ich bin froh, dass ich nicht nach New York in Teresas und Walters Wohnung fahren werde. Hier zu bleiben fühlt sich so viel intensiver, erfüllter und lebendiger an.
Heute Nacht hatte ich einen lebhaften Traum, einen wilden Traum, in dem ich mit meinem ungefähr fünf Jahre alten Sohn zusammen war. Fast den ganzen Traum hindurch starrte ich ihm ins Gesicht. Ich wusste, dass er es war, wusste, dass es ein Traum war, und die ganze Zeit wollte ich alles aufschreiben – dass dies geschah, dass ich mich dem Antlitz meines zukünftigen Sohnes gegenübersah. Es war eindeutig mein Sohn mit Miles. Der Junge hatte etwas dunklere Haut als Miles oder ich und ein intelligentes, feingeschnittenes Gesicht. An einer Stelle weinte ich, und Tränen der Trauer rannen mir über die Wangen; er saß auf einem Fensterbrett in der Küche und beobachtete mich, und ich sah ihm an, dass ihn meine Erwachsenengefühle überwältigten. Ich merkte, dass ich ihn nicht so mit meinem Gefühlsleben belasten durfte, dass die Bürde zu schwer war. Er wirkte wirklich zart und anmutig. Ich liebte ihn, aber ich hatte auch den Eindruck, dass die Liebe nicht so war, wie ich sie mir vorgestellt hatte, nicht so herzenstief, wie ich sie zu empfinden erwartet hätte; warum, weiß ich nicht. Ich fühlte mich ihm ein wenig fern, ein wenig fremd. Aber ich liebte es, ihm ins Gesicht und in die Augen zu schauen. Ich sagte mir: Ich kann nicht glauben, dass ich das Gesicht meines zukünftigen Sohnes sehe! So gern hätte ich ein solches Kind. Er war schmal und lieb.
Mitten in der Nacht wachte ich aus diesem Traum auf, angewidert und erschrocken, dass ich so hatte leben können. Eine Frau, die auf die vierzig zuging, nicht genug Geld verdiente, in einer Mietwohnung mit einer Mausplage wohnte, ohne Ersparnisse, ohne Kinder, geschieden und noch immer in ihrer Geburtsstadt lebend, ich schien nicht nachgedacht zu haben, wie es mir mein Vater zehn Jahre zuvor nach dem Ende meiner Ehe angeraten hatte: Beim nächsten Mal – DENK NACH! Ich erkannte, dass ich nicht nachgedacht, sondern mich einfach weiter von den Wogen des Lebens hin- und herwerfen lassen hatte, ohne mir etwas aufzubauen.
Miles hat gesagt, ich solle entscheiden – er will keine weiteren Kinder neben dem einen ziemlich ungeplanten aus seiner Jugend, das mit der Mutter in einem anderen Land wohnt und uns an Feiertagen und den Sommer über besuchen kommt. Es ist ein Risiko, sagt er; seine Tochter sei nett, aber man wisse nie, was man kriege. Wenn ich ein Kind wolle, könnten wir eines bekommen, sagte er, aber du musst dir sicher sein.
Ob ich Kinder will, ist ein Geheimnis, das ich vor mir selbst verberge – das größte Geheimnis.
Wenn man über etwas im Zweifel ist, empfiehlt es sich zu warten. Aber wie lange? Nächste Woche werde ich siebenunddreißig. Bei manchen Entscheidungen läuft einem die Zeit davon. Woher sollen wir wissen, wie es für uns laufen wird, uns zwiegespaltene Frauen von siebenunddreißig? Einerseits: die Freude an Kindern. Andererseits: das Elend mit ihnen. Einerseits: die Freiheit, keine Kinder zu haben. Andererseits: der Verlust, nie welche bekommen zu haben – aber was gibt es zu verlieren? Die Liebe, das Kind und all die mütterlichen Gefühle, über die Mütter so verlockend sprechen, als wäre ein Kind eine Gabe und nicht etwa eine Aufgabe. Die Aufgabe scheint das, was daran so schwierig ist. Eines zu bekommen scheint wunderbar. Aber man bekommt kein Kind, man bekommt eine Aufgabe. Ich weiß, dass ich mehr habe als die meisten Mütter. Aber zugleich habe ich weniger. In gewisser Weise habe ich gar nichts. Doch ich mag das und denke, ich will kein Kind.
Gestern habe ich mit Teresa telefoniert, die ungefähr fünfzig ist. Ich sagte, es scheine so, als wären mir andere Menschen mit ihren Ehen, ihren Häusern, ihren Kindern und ihren Ersparnissen plötzlich davongeeilt. Sie erwiderte, wenn jemand sich so fühle, solle er genauer darauf schauen, welches seine wirklichen Werte seien. Nach denen müssten wir nämlich leben. Oft spüle es Leute einfach in eine konventionelle Existenz – jene, die zu führen einem so druckvoll nahegelegt wird. Aber wie könne es nur einen einzigen legitimen Lebensweg geben? Sie sagte, dieser Weg sei oft nicht mal für diejenigen der richtige, die ihm schließlich folgten. Sie würden fünfundvierzig, fünfzig, dann prallten sie gegen eine Wand. Es ist leicht, einfach mit dem Strom zu schwimmen, sagte sie. Aber nur für eine gewisse Zeit.
Will ich Kinder, weil ich als die bewundernswerte Frau bewundert werden möchte, die Kinder hat? Weil ich als normale Frau betrachtet werden oder weil ich zur besten Sorte Frau gehören will, derjenigen, die nicht nur Arbeit hat, sondern auch den Wunsch und die Fähigkeit zu nähren, einen Körper, der Babys produzieren kann, und mit der ein anderer Mensch Babys zeugen möchte? Will ich ein Kind, um mir zu beweisen, dass ich zu der (normalen) Sorte Frau gehöre, die ein Kind will und es schließlich auch bekommt?
Mein Gefühl, dass ich kein Kind will, ist das Gefühl, nicht zu jemandes Vorstellung von mir werden zu wollen. Eltern haben mehr, als ich je haben werde, etwas Größeres, das ich aber nicht will, und mag es noch so groß sein, der Hauptgewinn gewissermaßen, den sie ergattert haben, der goldene Ring, der in der genetischen Erleichterung besteht – der Erleichterung, sich fortgepflanzt zu haben; Erfolg im biologischen Sinn, der einem bisweilen wie der allein bedeutsame Sinn vorkommt. Und sozialen Erfolg haben sie außerdem.
Es liegt eine Art Traurigkeit darin, etwas nicht zu wollen, was dem Leben so vieler anderer Bedeutung verleiht. Es kann Trauer erzeugen, wenn man nicht teilhat an einer universelleren Geschichte – dem mutmaßlichen Lebenszyklus, jenem Zyklus, aus dem mutmaßlich ein anderer erwachsen soll. Aber wenn aus deinem Leben kein neuer Zyklus entsteht, wie fühlt sich das an? Nach nichts Besonderem. Und doch bleibt eine gewisse Enttäuschung, wenn die großen Ereignisse im Leben anderer – wenn du die für dich selbst nicht willst.
Es ist so schwer, sich Kunstschaffen vorzustellen ohne ein Publikum, das es am Ende zu Gesicht bekommen wird. Ich weiß, dass wir Kunst machen, weil wir Menschen sind, und das tun Menschen eben, um Gottes willen und zu Seinem Lobpreis. Aber wird Gott sie jemals zu Gesicht bekommen?
nein
Liegt das daran, dass die Kunst Gott ist?
nein
Liegt es daran, dass die Kunst im Hause Gottes existiert, dass Gott sich aber nicht darum kümmert, was bei ihm zu Hause los ist?
ja
Ist die Kunst in der Welt zu Hause?
ja
Ist die Kunst lebendig – also, während man sie macht? So lebendig wie alles, was wir lebendig nennen?
ja
Ist sie noch genauso lebendig, wenn sie zwischen Buchdeckel gebunden oder an die Wand gehängt wird?
ja
Kann also das Universum eine Frau, die Bücher macht, aus der Verantwortung dafür entlassen, dass sie nicht dieses lebendige Etwas erschafft, das wir Babys nennen?
ja
Oh, schön! Manchmal fühle ich mich deshalb so schuldig und finde, es ist das, was ich eigentlich tun sollte, weil ich immer denke, dass Tiere am glücklichsten sind, wenn sie ihren Instinkten folgen. Vielleicht nicht am glücklichsten, aber sie fühlen sich dann am lebendigsten. Und doch fühle ich mich am lebendigsten, wenn ich Kunst mache; wenn ich mich um andere kümmere, fühle ich mich nicht so lebendig. Vielleicht muss ich mich mir weniger als Frau mit dieser frauenspezifischen Aufgabe vorstellen denn als Individuum mit einer eigenen spezifischen Aufgabe – also das Frausein nicht über meine Individualität erheben. Ist das richtig?
nein
Ist Babys zu machen denn keine spezifische Aufgabe der Frau?
ja
Ich sollte keine verneinenden Fragen stellen. Ist es ihre spezifische Aufgabe?
ja
Ja, aber das Universum entlässt Frauen, die Kunst, aber keine Babys machen, aus der Verantwortung? Kümmert es das Universum, wenn sich auch Frauen, die keine Kunst machen, gegen Kinder entscheiden?
ja
Werden diese Frauen bestraft?
ja
Indem sie nicht das Wunder und die Freude erleben?
ja
Auch noch auf andere Weise?
ja
Indem sie ihre Gene nicht weitergeben?
ja
Aber ich lege gar keinen Wert darauf, meine Gene weiterzugeben! Kann man seine Gene nicht durch die Kunst weitergeben?
ja
Erhalten auch Männer, die sich nicht fortpflanzen, eine Strafe vom Universum?
nein
Erhalten sie eine Strafe, wenn sie andere, typische Männeraufgaben vernachlässigen?
nein
Männer sind jeglicher Verdammnis entzogen und können machen, was sie wollen?
nein
Vielleicht erteilt ihnen nicht das Universum, sondern die Gesellschaft ihre Strafe?
ja
In Form von Spott?
ja
Von Frauen?
nein
Von anderen Männern?
ja
Und leiden sie genauso wie die dem Universum ausgelieferten Frauen?
ja
Na, das scheint mir doch fair zu sein.
ja
Gestern hat mir Erica, deren erstes Kind in wenigen Wochen auf die Welt kommen soll, ein Gemälde von Berthe Morisot geschickt. Sie sagte: Dieses Gemälde erinnert mich an dich. So, denke ich, sähest du aus, wenn du ein Kind hättest. Ich schrieb ihr zurück, die Frau auf dem Gemälde sehe ein bisschen gelangweilt aus, worauf sie erwiderte, die Frau sei interessiert an ihrem schlafenden Kind, und sie habe das Gefühl, das würde ich auch sein. Ich hatte es so verstanden, dass die Frau ihre Hand irgendwie achtlos, ohne nachzudenken, auf den Wiegenrand gelegt hatte. Aber Erica meinte, die Hand liege zärtlich und beschützend über dem Rand der Krippe.
Das kommt mir gut vor – der Wirklichkeit die Hand aufzulegen. Sie der Verzerrung durch das Denken zu entziehen und das, was ist, zu erspüren.
Heute Nachmittag war ich bei meiner Ärztin. Sie machte einen Check-up und stellte mir dann ein paar Fragen, inklusive der, wie Miles und ich verhüteten. Ich wurde verlegen und antwortete wahrheitsgemäß: durch Rausziehen. Das hatte ich mit fast allen Männern so gemacht. Was, wenn Sie schwanger würden? Fänden Sie das in Ordnung? Ich versuchte, leichthin zu antworten, verhedderte mich aber ziemlich bald.
Nach dem Termin lief ich durch die Straßen und rief Teresa an. Ich kam auf meine Sorge zu sprechen, gewisse Wege nicht eingeschlagen zu haben, und sie sagte, solche Sorgen mache sich jeder, aber wenn man auf sein Leben zurückschaue, sehe man oft, dass die Entscheidungen, die man getroffen, und die Wege, die man eingeschlagen habe, die richtigen gewesen seien. Sie sagte, es gehe nicht darum, sich für diese und gegen jene Lebensweise zu entscheiden, sondern darum, ein Gespür für das Leben zu entwickeln, das durch einen gelebt werden wolle. Man brauche Spannung, um etwas zu erschaffen – das Sandkorn in der Perle. Sie sagte, meine Fragen und Zweifel seien der Sand. Sie sagte, die seien eine gute Sache und zwängen mich, integer zu leben, mich zu dem, was mir wichtig sei, zu befragen und so den Sinn meines Lebens zu erfüllen, statt mein Heil in der Konvention zu suchen.
Also dann: Versuchen, herauszufinden, was meine Werte sind, und nach ihnen leben, selbst wenn es so aussieht, als käme ich damit nicht voran, während meine Freunde voranzukommen scheinen, indem sie nach Schema F leben. Frage nur, ob du nach deinen Werten lebst, nicht, ob du ins Schema passt.
Nach diesem Telefonat wurde mir klar, was ich immer mache: Ich versuche, mir unterschiedliche Versionen der Zukunft auszumalen, das, von dem ich mir wünsche, dass es einträfe. Ich weiß nicht, warum ich das tue, wo doch alles, was ich mir je erhofft habe – wenn es denn wirklich eintraf –, in nichts dem glich, was ich mir ausgemalt hatte. Warum verwende ich meine Zeit dann also nicht darauf, mich mit dem zu arrangieren, was wirklich geschehen ist? Warum finde ich mich in Anbetracht dessen, was ich aus meinem gelebten Leben über das Leben im Allgemeinen weiß, nicht mit den tatsächlichen Verhältnissen ab? Stattdessen hänge ich Phantasien nach, obwohl mir alles Glück, das ich je erfahren habe, ohne mein Zutun zugefallen ist.
Deine Vorstellung davon, worum es im Leben geht oder wie es verlaufen sollte, entwickelt sich schon, bevor dieses Leben überhaupt Gelegenheit hatte, sich richtig zu entfalten. In Anbetracht von so viel Zeit, die noch nicht die Gelegenheit hatte, sich darzubieten, gibst du dir große Mühe, den leeren Raum vor dir so zu füllen, wie du es dir erhoffst. Aber was für einen Sinn ergibt es, so viel Zeit zu haben? Überhaupt nur in ihr zu leben? Warum stirbst du nicht einfach, sobald sich in deinem Kopf eine ausreichend befriedigende Vorstellung davon, wie dein Leben verlaufen sollte, herausgebildet hat?
Dass wir uns nicht einfach umbringen, sobald wir herausgefunden haben, wie unser Leben aussehen sollte, liegt daran, dass wir Erfahrungen machen wollen. Aber was, wenn das, was wir erleben zu wollen glaubten, nicht geschähe? Oder wenn etwas tatsächlich geschieht, das wir nicht erleben wollten? Was für einen Sinn ergibt es, dieses ganze andere Zeug zu erleben, das, was wir nicht gewollt, was wir uns nicht ausgesucht haben?
Wenn das Leben selten mit unseren Erwartungen zur Deckung kommt, warum dann überhaupt etwas erwarten? Wäre es nicht besser, gar nicht vorauszuplanen? Aber auch das erscheint verrückt, denn manchmal hilft Planen und Wünschen ja wirklich. Und selbst wenn nicht, bringt es uns trotzdem voran. Zumindest scheint es einem so, als komme man nicht vom Fleck, wenn man nicht wünscht und plant.