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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2019

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Umschlagabbildungen Philipp Wente

Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

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ISBN Printausgabe 978-3-498-07071-7 (HC, 1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-00218-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00218-0

An einem Brandenburger Nachmittag, das Havelglitzern hinter sauber geschnittenen Hecken, geraten Joachim Król und ich noch einmal richtig hinein in die DDR.

Hunderte Kilometer und ein gutes Dutzend Geschichten liegen da bereits hinter uns, Begegnungen und Biographien, aufgelesen am Straßenrand, hinter den Leitplanken der Landstraßen, an Autobahnausfahrten, auf Raststätten, im märkischen Sand. In Wohnzimmern und Wachtürmen, im Verborgenen und im vielleicht auch schon Bekannten. Geschichten vom Weggehen und vom Ankommen, vom Nochmalanfangen. Deutsche Geschichten auf einer sehr deutschen Reise, auf der wir der Grenze nachspüren wollten, 30 Jahre nachdem die Grenzen geöffnet wurden.

Und nun stehen wir hier, am Tresen einer gerade noch gemütlichen Kneipe, im Rücken eine Wand aus Erinnerungen, getäfelt mit jenem Holz, das die Russen zurückgelassen haben, und lauschen einem Monolog aus dem Gedächtnis der Teilung, der noch einmal alles nach oben spült, das Gewesene und das Gehörte, mit Sätzen, in denen sich die Jahrzehnte überlagern, aus gestern wieder heute wird. Sie fliegen uns entgegen, darin die Namen, die uns zuvor schon begleitet hatten, als seltsame Beifahrer. Krenz und Kohl, Honecker und Genscher.

Es sind innerdeutsche Sätze, geteilte Erinnerungen, in denen es um die Enttäuschung geht und um die Mauer. Sätze, in denen der Westen immer noch drüben und der Osten immer noch hintendran ist. Das ganze Ost-West-Ding, wo man feindwärts schießt und freundwärts lauscht. Hier, in diesem Sturm, sind wir

Ich schaue Joachim an, er lächelt. Zufrieden. Es ist nun doch alles so, wie wir es uns vielleicht sogar erhofft hatten. Damals in Hamburg.

Dort, im Schauspielhaus, hat diese Reise begonnen. Und natürlich war die Idee dazu, das gehört sich so, eine, die im Schnaps geboren wurde.

Im Mai 2009, es war die Show nach dem eigentlichen Abend, standen wir uns plötzlich gegenüber, in einem langen Flur, der angefüllt war vom Raunen der Prominenz, den Gesprächen der Wichtigen, der Kommentatoren und Kolumnisten.

Der rote Teppich hatte erste Brandlöcher, in der Luft lag der schale Geruch von Champagner und Hierarchie.

Joachim hatte zuvor auf der Bühne gelesen, ich hatte zugehört. Wir kannten uns nicht. Im Taumel dieses Abends aber, vereint in der großen Liebe zum Fußball, begannen wir eine unmittelbar übermütige Unterhaltung, in der es erst um die Bundesliga ging und irgendwann auch, die Scheinwerfer längst erloschen, aber alle Lampen an, um das Kino. Und ich erzählte ihm von meiner großen Begeisterung für einen seiner frühen Filme. Wir können auch anders von Detlev Buck, den ich mir gerade erst wieder angeschaut hatte, ein Zufall, die Eindrücke waren noch frisch.

Dieser Film, das sagte ich ihm, entfaltet noch immer einen besonderen Zauber. Weil er, ganz beiläufig, eine irre Zeit eingefangen hat. Wir können auch anders, Bucks Komödie, ist ein Roadmovie durch den Osten, die Bilder staubig und gegen die Sonne, ein Nachwende-Western in den Kulissen der gerade erst ehemaligen DDR. Und fast kann man dabei zusehen, wie sich in diesen 90 Filmminuten das Land verändert, wenn aus den Trabis der Volkspolizei die Volkswagen des BGS werden.

Am Ende ein deutsch-deutscher Abspann.

Der Film ist die Geschichte zweier Brüder, Kipp und Most, die

Zwei Arglose, die sich der Zeit, durch die sie reisen, nicht bewusst sind. So werden sie zu den ersten Touristen der neuen Bundesländer. Randfiguren am Rande. Einfaltspinsel vor einer noch leeren Leinwand.

Und mit den Schauspielern allein saßen die Gegensätze im Wagen. Auf dem Beifahrersitz Joachim, der Wessi aus Herne, der Vater ein Kumpel, die Kindheit mit Kohlestaub überzogen. Am Steuer Horst Krause, der Bauernsohn aus Brandenburg. Kipp und Most, Król und Krause, das waren Dick und Doof, Ost und West. Das gerade richtige Duo.

Der Film, er ist deshalb auch die Geschichte zweier Länder, eine wilde Fahrt durch die Nachwendejahre. Davon erzählen schon die zuerst erdachten, dann aber verworfenen Filmtitel.

Odyssee im Schweineland.

Fröhlich durchs Jammertal.

Plötzlich waren sie da.

Ein Eastern, sagte Joachim damals, längst entflammt, ein Leuchten in den Augen, darin der junge Mann, der er selbst war, während der Dreharbeiten 1992. Und als hätte er nur darauf gewartet, all die Jahre seitdem, begann er zu erzählen. Von den Erlebnissen in einem gerade vereinten Land, die DDR noch als Kratzputz an jedem Haus.

Wir waren damals, sagte Joachim, das erste Filmteam im Osten, das große Kino des Westens. Mit wilden Blicken empfangen. Ein Sommer, den er bis heute in sich trägt. Die Eindrücke, die Hitze. 37 Grad im Schatten, titelte die Super-Illu damals, selbst die Trabis werden weich. Plaste, die über Kopfsteinpflaster rann. Das weiß Joachim noch genau. Auch die Drehorte kann er problemlos aufzählen. Tornow, Marienthal, Zehdenick,

Nach den Dreharbeiten damals hatte er sich geschworen, zurückzukommen, um das Land hinter der Kamera zu erkunden, hinter den Kulissen, dem künstlich aufgespannten Horizont der Beleuchter. Einmal dieses andere Deutschland kennenlernen, vielleicht sogar verstehen. Da ist ja noch so viel, da lauern die Geschichten. An jeder Ecke. Hinter jeder Tür, man muss einfach nur anklopfen.

Joachim hat diese Reise jedoch nie gemacht. Ganz so, als hätte ihn etwas abgehalten.

Er ist, mal als Schauspieler, mal als Tourist, bis nach Dresden gekommen und nach Ost-Berlin, aber das zählt irgendwie nicht. Die neuen Bundesländer, das erzählte er mir gleich, sind ihm seltsam fremd geblieben, schwarze Flecken in seinem persönlichen Atlas.

Ich überlegte, bereits Szenen im Kopf, eine Route wohl auch.

Eigentlich, sagte ich schließlich, müssten wir einfach noch einmal hineinfahren, in diesen Film, in den Osten, in die Erinnerungen. Das wäre doch was. Im Gepäck all die Fragen, die naiven und die unbedingten. Was war das eigentlich. Und wie lange hielt das wirklich an, die DDR, ein Zustand mehr als ein Land.

Hineinfahren also, um mal zu schauen, was die Wende mit jenen Leuten gemacht hat, die sie hautnah miterlebt haben, an der Mauer, am Zonenrand, in einem Auto auf der Flucht. In Tränen aufgelöst oder im Jubel, im Stadion oder am Schreibtisch. Das wäre doch der Film, den er nie gedreht hat. Was meinste?

Joachim lachte, er nickte, er war den Umständen entsprechend begeistert. Klar machen wir das, sagte er, am besten gleich morgen. Und wir tranken auf Brüderschaft, bis wir uns in der Nacht, in der Menge aus Erzählern und Erzähltem, aus den Augen verloren. Eine Schnapsidee eben.

Neun Jahre später, der Film ist nun ein Vierteljahrhundert alt und die Mauer so lang weg wie sie stand, beugen wir uns in Joachims Küche in Köln über die ADAC-Länderkarte Deutschland Nord-Ost, die wir vor uns auf dem Esstisch ausgebreitet haben wie einen Schlachtplan. Zwei Reisende am Vorabend ihres Aufbruchs, zwei Feldherren, nur bewaffnet mit Kugelschreiber und Textmarker.

Alte Schule, hatte Joachim gesagt, Neongelb auf Papier, damit wir am Ende sehen können, wie weit wir gekommen sind. Joachim mag keine Navis, diese Stimmen aus den Lautsprechern.

Und so zeichnen wir die Route ein, Punkt für Punkt. All die Abzweigungen, weit über den Film hinaus. Vom Ruhrgebiet nach West-Berlin. Über die A2, durch den Zonenrand hindurch, folgen wir dem einstigen Transit. Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg. Helmstedt, Marienborn, Michendorf.

Es ist die Strecke aus Joachims Jugend. Der Weg, den er als Tramper genommen hat, 70er Jahre, die Haare lang, den Daumen raus, immer wieder. Durch das Ostmeer hindurch zur Insel mit dem Funkturm, wo die Freunde wohnten, die zu schlau waren für das Militär. Die ganzen Che-Guevara-Typen, sagt Joachim. Nach Berlin musste man gehen, weil es nur dort wirklich ging. Später waren auch Bowie und Iggy Pop da. Was wollte er mehr.

Danach fahren wir von Berlin zur Ostsee, hinein in den Film, zu den Drehorten auch, dem Wiedererkennen hinterher. Joachim als Suchender, die Anekdoten im Schoß. Die große Klappe, bis sie fällt. Und ich neben ihm, als Beifahrer, als Beobachter. Klar verteilte Rollen. Und ich kann seine Vorfreude spüren, während er mit dem Finger über die Karte fährt, hinauf bis zum Meer.

Boltenhagen, wo die Sehnsucht vor Anker liegt.

Deutschland, sagt er schließlich, was bist du groß geworden. In den 30 Jahren seit der Wende, grenzenlos bis an den Horizont, als hätte jemand den Maßstab verändert.

Deshalb geht es am nächsten Morgen ins Ruhrgebiet, in Joachims einstige Heimat.

Dort, so die Idee, wollen wir uns ein bisschen einstimmen auf die weitere Reise.

Die ersten Eindrücke in den Kofferraum laden, die ersten Fragen stellen.

Dort, tief im Westen, fängt der Osten schon an.

Wir brechen im Frühdunst auf. Bald ist Sommer, Joachim hellwach.

Steig ein, sagt er, ich bin der Fahrer.

Er grinst, breit. Und macht sich hier gleich zu Beginn, das kann er gut, ein bisschen kleiner. Das ist sein Trick, leicht abbücken, sich auch mal hinter einem schlechten Scherz verschanzen, bis sein Gegenüber vergisst, dass da einer steht, den man ja aus dem Kino und dem Fernsehen kennt, der den Menschen also, über die Jahre und auf der Leinwand, durchaus in Überlebensgröße begegnet ist. Die Mattscheibe als Brennglas.

Die Berühmtheit, sie kann mitunter im Weg stehen, man stolpert dann darüber. Bei ihm ist das anders, das ist sofort spürbar, an diesem Kölner Morgen. Joachim lässt Platz für die Geschichten, die noch kommen.

Dann geht es raus aus der Stadt. Joachim schaut aus dem Fenster, wir überqueren den Rhein. Das Glitzern des Flusses zu beiden Seiten, es blendet, und erinnert immer gleich an andere Zeiten, Flüsse machen das mit den Menschen, sie speichern die Momente und geben sie dann, bei jeder Überfahrt, wieder ab. Brücken und Flüsse, Grenzen und Verbindungen.

Diese Strecke, sagt er, bin ich so oft gefahren wie keine, vom Dom in den Pott.

Das ist die Strecke nach Hause. Er reist sich jetzt selbst hinterher. Joachim hat das Ruhrgebiet vor bald 40 Jahren verlassen, war in München und ist in Köln heimisch geworden. Herne, der Ort seiner Jugend, ist 90 Kilometer weit weg, eine Stunde entfernt,

Ins Ruhrgebiet, das erklärt er mir, führen drei Wege. Wir nehmen den Klassiker, den Ruhrschnellweg, die A40. Sie gilt als die Pulsader, sollte das jedoch stimmen, muss dieses Ruhrgebiet einen sehr niedrigen Blutdruck haben. Hier fließt an einem Morgen wie diesem eher wenig, eine mit Blech verstopfte Arterie, weshalb der Volksmund dieser A40 natürlich längst den viel passenderen Namen gegeben hat.

Ruhrschleichweg, sagt Joachim. Ist was Wahres dran.

Wir schleichen also hinein. In den Pott, der in den Kindheitserinnerungen des Schauspielers eine ganz andere Farbe hat.

Schau dir an, sagt Joachim, wie grün das alles ist.

Unfassbar, das ganze Ruhrgebiet eine sauber gepflegte Schrebergartensiedlung, sattes Blattwerk auf saftigen Auen. Darüber, wie auf Kunstblau getupft, nur eine einzige Wolke, in Watteweiß. Wasserdampf, der aus einem einsamen Schornstein strömt.

Früher, sagt er, war hier alles grau. Früher hat hier der ganze Horizont gequalmt. Das musst du dir mal vorstellen, Schlote, die hinter Schloten standen.

Eine Landschaft, die Kette rauchte. Und nachts, wenn das Koks gestochen wurde, glühte der Himmel. Joachim ist in der Kohle in seinem Element. Und wenn er vom Bergbau und vom Vater erzählt, spricht aus ihm auch das Heimweh nach einer Welt, die bevölkert war von wilden Kerlen mit schwieligen Händen, die,

Das hier, sagt er, hat mit dem Ruhrgebiet meiner Jugend nichts mehr zu tun. Aber ich weiß halt noch, wo man hingucken muss, um die Archäologie wahrzunehmen.

Er deutet auf die Ortsschilder, die Abzweigungen, die Ausfahrten. Links hat Claude-Oliver Rudolph gelebt.

Wir halten uns rechts.

Als die letzte Zeche geschlossen wurde, sagt Joachim nun, da ging etwas zu Ende.

Und er sagt es, als hätten sie auch in ihm etwas geschlossen. Er kann das ja sehen, jedes Mal, wenn er nach Hause fährt. Nach Herne. Die Betontristesse der Innenstädte, die Fußgängerzonen, die keinen Glanz versprühen, weil sich mit Billigketten niemand schmücken kann. Der Karstadt in Herne, einst das größte Warenhaus des Ruhrgebiets und damit das eigentliche Kaufhaus des Westens, steht seit fast 20 Jahren leer. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 10 Prozent. Man muss auch durch diesen Westen fahren, um nachher den Osten besser verstehen zu können. Er gilt, seit Jahren schon, als einer der größten Wendeverlierer.

Das ist das Gefühl der Menschen hier. Sie kennen die Zahlen, und sie kennen die Vokabel dazu. Solidarpakt II. Längst Schimpfwort, die große Frechheit. Es ist noch gar nicht so lange her, da bestimmte Kritik daran die Schlagzeilen. Da waren die wütenden Einwürfe nicht mehr zu überhören, diese Hilferufe aus Städten wie Gelsenkirchen oder Oberhausen, die zum Muster geworden waren für die Kaputtheit des Ruhrgebiets und die Ungerechtigkeit dieses deutsch-deutschen Paktes, der den meisten hier teuflisch erschien. Die Hölle, das sind ja immer die anderen. In Oberhausen etwa, vielzitiertes Beispiel und zu jener Zeit die am höchsten verschuldete Kommune Deutschlands, musste der Bürgermeister Kredite aufnehmen, um seinen Beitrag überhaupt leisten zu können, insgesamt flossen über die Jahre fast 270 Millionen Euro von dort in den Osten, während Schulen und Schwimmbäder geschlossen wurden. Die Oberhausener, so schien es, ertranken in Schulden, während sie gleichzeitig die Jacht der neuen Nachbarn bezahlen sollten. Natürlich war der Neid mit Händen zu greifen. Auch weil sich irgendwann die Zuschreibungen verkehrten. Oberhausen, schrieb der Spiegel 2012, sieht an vielen Stellen aus wie die DDR kurz nach der Wende. Bröckelnde Fassaden, Trostlosigkeit.

Joachim erinnert sich noch genau. Dieser Blick auf seine einstige Heimat hat ihn damals gekränkt, und er kränkt ihn noch immer. Und hier im Auto hat er die auch gleich passende Geschichte zur Hand.

Vor einigen Jahren, erzählt er also, da habe ich einen Anhalter mitgenommen. Einen Amerikaner, der schon eine ziemliche Deutschlandtour hinter sich hatte und auf seiner Reise bereits durch die neuen Bundesländer gekommen war. Auf der Höhe von Gelsenkirchen sagte er dann, aus wirklich heiterem Himmel:

Das, sagt Joachim, hat mir fast das Herz gebrochen.

Der Solidarpakt II endet in diesem Jahr, 2019. Nach drei Jahrzehnten.

Eigentlich, sagt Joachim, brauchen wir jetzt einen Aufbau West.

Dann passieren wir, wie zum Beweis, das Ortsschild Bochum und biegen auf eine lange Straße, die hineinführt in die Stadt, vorbei an blinden Fenstern und stumpf gewordenen Ecken. Die Orte, in denen sich die Kumpel einst den Kohlestaub aus den Kehlen gespült haben, sie sind auch hier geschlossen, versiegte Tränken. Die Türen zugemauert.

Es war doch immer so, sagt er nun, am Sonntag gingen die Menschen in die Kirche und danach in die Kneipe. Altar und Tresen, Messwein und Bierchen. Frühschoppen, was für ein wunderbares Wort. Aber jetzt: weniger Schlote, weniger Kirchtürme, alles weniger geworden.

Früher konnte Joachim einem Fremden den ganzen Weg von Herne nach Bochum anhand der Kneipen erklären. Jetzt könnte er hier verloren gehen.

Wir aber suchen sowieso etwas anderes.

Die DDR hatte am Ende etwa 16,4 Millionen Einwohner. Das sind, wenn man sich erst mal darauf einlässt, 16,4 Millionen Geschichten, jede Biographie ein Buch. Eine davon wartet nun auf uns. In der Lobby des Mercure-Hotels am Bochumer Hauptbahnhof.

Ursula Thom, damals Polizistin, heute Rentnerin, ist am 7. November 1989 aus der DDR geflüchtet, zwei Tage vor dem Mauerfall. Über die Tschechoslowakai und Bayern, über Unna und über Umwege ist sie nach Bochum gekommen. Und geblieben.

Sie, heute 69 Jahre alt, hat ihr halbes Leben in der DDR verbracht und die andere Hälfte im Ruhrgebiet. In ihrer Brust, das

Treffen um zehn, hatte sie gesagt. Deshalb beeilen wir uns.

Eine Dame, sagt Joachim, lässt man nicht warten.

Wir sind dann kurz vor ihr da und schauen ein bisschen. In der Lobby und auf der Treppe, vor den Toiletten und an der Bar stehen junge Männer in Anzügen und junge Frauen in Kostümen, die Haare akkurat, auch das Lächeln von der Stange. Sie tragen das Emblem einer großen deutschen Versicherung, am Revers oder als Brosche.

Als unsere Verabredung durch die Drehtür tritt, tauschen die Männer gegelte Blicke.

Ursula Thom, die von guten Freunden und früheren Verehrern natürlich noch immer Uschi genannt wird, schreitet als Ansage durch die Lobby. Die große Grazie, keine Frage. Es ist dies der durchaus spektakuläre Auftritt einer Dame, die sich unverhohlen ihrer selbst bewusst ist.

Ganz in Weiß kommt sie auf uns zu, die Handtasche auf das Kostüm abgestimmt. Pompöös, dazu die passenden Pumps. Bleistiftabsätze, wie sie das nennt. Der Gang über Jahrzehnte einstudiert, das verlernt sie nicht mehr.

Hinter ihrem Lächeln aber, das sie uns zur Begrüßung schenkt, darin auch die endlosen Sommer an der Ostsee, die Nackten und die Roten, verbirgt sich der große Spaß am Unfug. Eine Unangepasstheit, die so gut passt. Als hätte ihr der Glööckler auch noch die Widerrede auf den Leib geschneidert. Man möchte sie also mit einem Handkuss empfangen und mit ihr auf jene Pferde wetten, die man danach stehlen wird.

Joachim nun neben ihr, Ursula Thom, Bleistiftabsätze, gut einen Kopf größer als er.

Besser, wir setzen uns gleich. Augenhöhe, die ist wichtig, wenn man zusammen zurückschauen möchte.

Erst mal aber entschuldigt sie sich.

Wenn mir gleich die Tränen kommen, sagt sie und lacht, dann hat das nichts mit der DDR zu tun, sondern mit der Allergie.

Heuschnupfen statt Honecker.

Joachim glüht, er ist hellauf begeistert.

Und Ursula Thom streift sich eine Falte aus dem Rock, setzt sich aufrecht, zieht die Aufmerksamkeit glatt. Es dauert einige Augenblicke, bis es ihr gelingt, in ihre Erinnerungen hineinzuschlüpfen. Sie hat dieses eine Leben, das erste, ja irgendwann abgestreift. Weil es ihr zu klein geworden war, weil ihr weder die Farben noch die Schnitte gefallen haben. Die DDR ein Haufen Lumpen, längst aus der Mode.

Altkader wie Altkleider.

Im Rückblick, das spürt man sofort, trägt Ursula Thom wieder Uniform.

Ich war ja, sagt sie, eine richtige Winkermieze. Damals bei der Verkehrspolizei.

Und so geht es hinein. Oben tagt der Kapitalismus, unten beginnt Ursula Thom mit ihrer Geschichte. Am Anfang, so muss das sein, steht die große Pointe.

Sie ist ja zwei Tage zu früh losgefahren. 7. November 1989. Zwei Tage vor der Öffnung der Grenze. Nach all den Jahren kann sie heute darüber lachen.

War das Ungeduld, fragt Joachim sofort. Dass etwas passiert, war doch abzusehen. Oder nicht?

In der Ferne schon das Grollen einer Lawine. Ein Land seit Wochen in Aufruhr, erste Risse in der Mauer.

Und er meint den Herbst, in dem aus Botschaften Zufluchtsorte geworden waren, Inseln der Hoffnung, die Nachrichten aus Budapest und Warschau, vor allem aber die Fernsehbilder

Am 30. September 1989, 18 Uhr 59, tritt Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der Prager Botschaft, zu seinen Füßen etwa 5000 DDR-Bürger, und spricht den vielleicht berühmtesten Satz der jüngeren deutschen Geschichte. Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise. Es ist ein Dreiviertelsatz, weil die restlichen Worte im Jubel untergehen. Ungläubige Erleichterung. Die Menschen dort, im Park des Palais Lobkowitz, können es kaum fassen. Genschers Worte sind Fahrkarten in die Freiheit.

Hinterher, vor den Mikrophonen, spricht er selbst von der bewegendsten Stunde seiner politischen Arbeit. Er steht dort im Schweinwerferlicht der Kameras, ein heller Fleck in sonst dunkler Nacht, er trägt einen schwarzen Anzug und eine schwarze Krawatte. Genscher sieht aus, als sei er zu einer Beerdigung gekommen. Der Außenminister als Totengräber der DDR.

Schon am nächsten Tag werden die ersten Menschen mit Sonderzügen in die Bundesrepublik gebracht. Vier Wochen später, am 3. November, erlaubt die Regierung in Ost-Berlin die Ausreise über die Grenze der Tschechoslowakei. In den drei Tagen danach verlassen mehr als 23000 Menschen die DDR auf diesem Wege, schnell sind die Aufnahmelager in Grenznähe überfüllt.

Niemand hat einen solchen Andrang erwartet. Auf der Hamburger Reeperbahn werden Freudenhäuser geräumt, um Platz zu schaffen für die Übersiedler. Als selbst das ehemalige Eroscenter ausgebucht ist, müssen die Flüchtlinge in Wohnwagen und Containern untergebracht werden.

150 Flüchtlinge pro Stunde, titelt die Bild an diesem Wochenende, wann ist die DDR leer?

Sie saß damals vor dem Fernseher und wartete auf den ersten Schuss.

Ursula Thom wurde 1949 geboren, im Jahr der Republiksgründung. Eines der ersten Kinder der DDR. In Solpke, einem Dorf in Sachsen-Anhalt, ist sie mit den Entbehrungen der Nachkriegsjahre aufgewachsen, mit den Lebensmittelmarken, den Rationierungen, zwischen den Frauen, die auf ihre Männer gewartet und währenddessen gelernt hatten, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Mit 19 Jahren ist sie Mutter geworden.

So, sagt sie, war das in der DDR. Alleinerziehend, 80 Ost-Mark Miete, suchte sie eine Anstellung. Im Haus der jungen Talente wurde sie angesprochen, hast du nicht Lust. Und landete so bei der Polizei in Magdeburg. Dort sollte sie anfangen, Kommissarin werden.

Die Polizei, das ist die eigentliche große Liebe ihres Lebens. Sie begann, auch das passt, mit einem Irrtum.

VK, sagt Ursula Thom, stand in der Stellenbeschreibung. Und ich dachte, wunderbar, Volkspolizei, Abteilung Kriminalpolizei. Ich war ja naiv. Sie lacht. Aber VK, das war natürlich Verkehrspolizei. Und deshalb stand sie bald auf der Kreuzung, den Verkehrsstab in der Hand.

Eine richtige Winkermieze.

Es gibt noch Fotos davon. Ursula Thom trägt sie bei sich, in ihrer Handtasche. Gleich neben dem Führerschein, auf dem bis heute das DDR-Logo prangt. Sie sagt Fahrerlaubnis dazu, auch das ist geblieben. Die, sagt sie, habe ich seit 1970.

Und immer, wenn sie damit in eine Kontrolle gerät, schauen die Beamten nicht schlecht, mustern das Foto, mustern dann sie. Ursula Thom, als wäre sie eine Zeitreisende. Jedes Mal ein großer Spaß.

Auf den Fotos ist die Uniform schon maßgeschneidert.

Es ist ein Rundgang einmal durch den Apparat, einmal durch die Dienststellen und die Bürokratie der DDR, durch das Ministerium des Innern. Ich habe, sagt Ursula Thom, dort am Ende alles durchlaufen. Die Verkehrspolizei mit allen Abteilungen, die Kriminalpolizei mit allen Abteilungen.

Am Ende kannte sie den Mechaniker und den Kommissar. Kannte die Kollegen von der Feuerwehr und die von der Schutzpolizei, all die Genossen, hatte Opfer gesehen und auch Täter. Sie hatte sich durch die Hierarchien gearbeitet. 15 Jahre lang. Hauptwachtmeister der Volkspolizei steht in der Ehrenurkunde, mit der sie am 15. Juli 1984 freundlich zur Tür begleitet wurde. Ausgeschieden aus dem Dienst in den Organen. Ganz so, als hätte das System sie, mit Dank und Anerkennung, verdaut. Ursula Thom war dort, bei der Polizei, erst Sekretärin, dann Mädchen für alles.

Ich konnte, sagt sie, schreiben wie nur wenige. Und ich war, sagen wir mal, kein hässliches Entlein. Deshalb hatte ich da eine gewisse Narrenfreiheit.

Manchmal, wenn ihr einer der Männer im Dienst ein Schreiben in die Maschine diktierte, summte sie dazu. Die Thom, das dachten die meisten, die spinnt. Aber, sagt sie, ich habe geliefert.

So saß sie an ihrer Schreibmaschine. Saß dort, im absurden Theater der DDR, und konnte jeden Tag hinter die Kulissen schauen. Joachim beugt sich ein wenig nach vorne.

Es ist eine Frage, in der seine Begeisterung mitschwingt und seine Neugierde. Er schaut sie an, Feuer und Flamme. Diese Erzählung, sie hat ihn längst gepackt.

Ein bisschen, sagt sie und lächelt.

Staatsgeheimniskrämerin.

Ich wusste, sagt sie, wo die Unterlagen aufbewahrt wurden, ich saß in der Nähe des Panzerschranks und hatte ungehinderten Zugang, und wenn ich da was gelesen habe, wurde das geduldet.

Narrenfreiheit.

Ich habe, sie schaut mit großen Augen, am Geschwür der Menschheit gearbeitet. Bei der Kripo. Hatte das alles in der Hand. Die Dokumente, vertrauliche Verschlusssachen. Und, und, und. Ursula Thom, die Sekretärin als Zeitzeugin, die einen Teil der DDR stenographiert hat, eine Schnitte an den Schnittstellen.

Dort, sagt sie, habe ich Sachen erlebt, das kann ich Ihnen sagen.

Sagt dann aber nichts, kürzt es lieber ab, schiebt einen Riegel davor. Und, und, und.

Das ist ihr Ausweg, wenn die Geschichte zu groß wird.

Und, und, und.

Dahinter verbirgt sich das Eigentliche. Es ist die Andeutung, dass da noch so viel kommen könnte und gleichzeitig das Signal dafür, dass nichts mehr kommen wird. Ursula Thom erzählt gern, aber es gibt Dinge, die sie für sich behält. Und, und, und.

Das ist die Tür, die sie zuschlägt, genug gesehen. Sie beendet diese Erzählung und beginnt eine neue. Den Rest, soll das heißen, können Sie sich doch bitte schön denken.

Joachim aber möchte mehr, gerne noch den nächsten Schritt gehen. Er sitzt hier nun in der leicht nach vorne gebeugten Haltung des Wissbegierigen, der Moderator seiner eigenen

Und die Stasi, fragt er also. Was natürlich die richtige Frage ist, weil sie auf das System zielt, in das Leben in der DDR, und weil Joachim dadurch auch gleich nach den Gründen für die Flucht fragt. Es hängt hier ja doch wieder alles mit allem zusammen. Im Hintergrund saugt eine Reinigungskraft den schweren Teppich, im Vordergrund atmet Joachim die nächste Antwort ein.

Natürlich, sagt Ursula Thom, wurde ich von der Stasi angesprochen. Früher schon.

Von Männern, die ihr fürstlichen Lohn versprachen für eine eher nicht so fürstliche Arbeit. Aber das ging nicht. Eine Winkermieze, die schnüffeln sollte wie ein Hund, das passte nicht zu ihr.

Ich habe, sagt sie, in der DDR erlebt, wie Denunziantentum funktioniert. Menschen sind käuflich, das habe ich da gelernt. Da gab es welche, die haben im eigenen Betrieb spioniert, in der eigenen Familie. Da ist mir fast der Kaffee wieder hochgekommen, widerlich.

Und in den Dienststellen öffneten sich irgendwann dunkle Türen.

Überall, sagt sie, wurden konspirative Zimmer eingerichtet. Dort musste jeder mal rein.

Es gibt Menschen, die diese Zimmer bis heute nie richtig verlassen haben.

Der Griff der Stasi, sagte sie, wurde immer fester. Wie ein Ring, der sich um die Brust legte. So erzählt sie es. Und es klingt nach einem Land unter Folter. Ursula Thom, das wird schnell deutlich, ist in der DDR irgendwann an ihre Grenzen gestoßen.

Wir haben, sagt sie, unter einer Käseglocke gelebt.

Hinter Staatssicherheitsglas, der Mensch dem Menschen tatsächlich ein Wolf. Damit musstest du, sagt sie, erst mal klarkommen. Damit musstest du dich erst mal arrangieren.

Ich wollte, sagt sie, unbedingt in den Süden.

Ins Warme, dorthin, wo, kein Scherz, die Bananen wachsen, die Zitronen blühen.

Die Sehnsucht, in dieser Erzählung ist sie gelb, sie kann sauer schmecken, und wenn es dumm läuft, rutscht man auf ihr aus.

Ich hatte, sagt sie, so viel erlebt. Jetzt wollte ich nur noch fort. Die Käseglocke, darunter wirst du verrückt.

So hatte es zu brodeln begonnen. In ihr, aber auch in ihrem Umfeld. In der Nachbarschaft, in den Unterhaltungen, da änderte sich der Ton, da passierte jetzt etwas. Sie musste sich ja nur umhören und dann die Zahlen vergleichen.

Bei der letzten Wahl, sagt sie, da hieß es: 99,9 Prozent für die SED. Aber mein ganzer Freundeskreis hatte seine Stimmzettel ungültig gemacht, der stille Protest. Das passte alles nicht zusammen.

Dann sprach Genscher in Prag, dann fuhren die ersten Züge von Dresden nach Hof.

Honecker, sagt sie, war Dachdecker. Aber es tropfte längst rein.

Die DDR war undicht geworden, ein baufälliges Haus, Ursula Thom hat es durch die Hintertür verlassen. Sie, gerade 40 Jahre alt, liebte in jenen Tagen einen ehemaligen Kanuten, der Trainer werden wollte, aber nicht Trainer werden durfte.

Die Partei, sagt sie nur.

Zwei Wörter, die reichen. Darin die Erklärung für vieles. Zerstörte Träume, zerbrochene Biographien. Und der Kanute saß auf dem Trockenen, zog traurige Bahnen an Land.

Er wollte, das wusste sie, im Westen noch einmal neu anfangen. In Duisburg suchten sie Leute wie ihn, für die Stützpunkte,

Die mögliche Flucht war ein Spiel in Gedanken, der mutige Kopfsprung in das letztgültig unbekannte Gewässer. Sie hatten oft genug darüber gesprochen.

Der Aufbruch selbst aber war spontan. Mehr aus dem Bauch heraus. Als hätte sie einem Druck nachgegeben, aus der Magengegend, darin der Hunger nach Freiheit. Ein leises Grummeln, die Leere in ihr.

Es gab, sagt Ursula Thom, keinen richtigen Plan.

Am frühen Morgen des 7. November, die Sonne war noch nicht aufgegangen, packte sie ihre Koffer und fuhr mit dem Kanuten in einem alten Wartburg zur Grenze. Mit ihr auf den Straßen bald Hunderte anderer, Trabis vollgepackt mit Tüten und Taschen, mit Hoffen und Bangen. Sie waren in den Sog dieser Tage geraten. 150 Flüchtlinge pro Stunde. Am Grenzübergang zur Tschechoslowakei hatten sich bereits zwei lange Schlangen gebildet.

Links, sagt sie, standen all jene, die ausreisen wollten.

Sie aber fuhren nach rechts und tauschten noch Geld, 1200 Ost-Mark in tschechoslowakische Kronen, und gaben dann an, nur kurz in den Urlaub fahren zu wollen. Die andere Währung als Tarnung. Damit sie niemand verdächtigt. Ursula Thom sah die andere Schlange, aber sie traute ihr nicht. Einfach ausreisen, wie sollte das gehen, nach allem, was gewesen war. Nach 28 Jahren unter einem Himmel aus Glas.

Ich war, sagt sie, 15 Jahre bei den bewaffneten Organen, ich hätte nie gedacht, dass die uns plötzlich gehen lassen. Ich hatte Angst, ich habe bis zum Ende gezweifelt.

Dann wurden sie durchgewunken und kamen schließlich, eine Reise im Zeitraffer, ein Daumenkino aus vermeintlichen Trugbildern, an den Grenzübergang Schirnding, hinter dem

Wir sind dann, sagt Ursula Thom, blind in die Dunkelheit gefahren. Wir wussten ja nicht, wo wir waren. Am Morgen aber ging die Sonne im Westen auf.

Ursula Thom hält inne. Für einen Moment kehrt Stille ein in der Lobby, und sie greift nach ihrem Wasserglas, das Erinnern hat sie durstig gemacht, die DDR liegt ihr auf der Zunge, trocken im Abstand.

Und, fragt Joachim dann, wie waren die ersten Stunden im Westen? Gab es eine Willkommenskultur?

Ursula Thom schaut ihn an, wischt sich den Schimmer aus den Augen und nickt.

In Bayern, da gab es zur Begrüßung gleich mehr als nur Geld, erste Umarmungen und gute Wünsche.

Und Ursula Thom konnte das alles nicht fassen.

Ich habe, sagt sie, erst mal geweint, weil ich mit der Situation überfordert war. Das war alles zu viel.

Für sie, aber auch für den Wartburg.

Denn der Weg in das neue Leben, er führte bergauf, ins Gebirge hinein. 40 Prozent Steigung, bayrische Pässe. Für den Wagen unbekanntes Gelände, echtes Neuland, er ächzte, er schien auseinanderzufallen. Und irgendwann kochte der Kühler über.

Da standen sie, Ursula Thom und ihr Freund, zwei Geflüchtete am Straßenrand, bis einer vorbeikam. Der erste Wessi hinter der Grenze. Er nahm den Kanuten mit und holte Wasser, er klopfte ihnen auf die Schulter und dem Wartburg aufs Dach. Der gute erste Eindruck, so fing es an. So ging es weiter. Immer wenn sie

Frischgezapftes Westgeld.

Egal, wo wir ankamen, sagt Ursula Thom, wurden wir freundlich begrüßt. Das hatte ich so nicht erwartet.

Und während sie ihren Wartburg durch Bayern lenkte, fuhren die ersten Trabis durch West-Berlin, war die Mauer doch gefallen. Das aber wusste sie da noch nicht.

Dass die Grenzen offen waren, erzählt sie nun und muss wieder schmunzeln, das haben wir erst mitbekommen, als wir schon im Westen waren, ganz tief.

Schabowski, den Zettel, meines Wissens unverzüglich, sofort, das hat sie erst in der Wiederholung gesehen. Auf einem Fernsehgerät in einer Turnhalle in Bochum.

So waren sie zwischen die Geschichte geraten, Ursula Thom und ihr Freund, und standen nun dort, im Ruhrgebiet, am 11. November 1989, ihr ganz persönlicher Karneval. In der Tasche den Pass eines Landes, das es bald nicht mehr geben sollte.

Die ersten vier Wochen in Bochum lebte Ursula Thom gemeinsam mit 100 anderen Flüchtlingen im Auffanglager der Bereitschaftspolizei. Eine gute Zeit. Menschen in Uniformen, da fühlte sie sich, geliebte weiße Maus, gleich gut aufgehoben. Den Ort, sagt sie, gibt es immer noch. Die Gebäude stehen nicht weit entfernt am Bochumer Ruhrstadion, am Rande der Zweitklassigkeit.

Ob wir dorthin möchten, fragt sie uns nun.

Und Joachim nickt, natürlich.

Ein Ort, in dem Geschichte steckt, neben einem Stadion, dessen Geschichten er kennt, der ist natürlich wie gemacht für ihn. Weil dort wieder alles zusammenkommt, das Vertraute und das Unbekannte, zwei Lebenswege, die sich kreuzen, im Schatten der Tribünen.

Der erste Bummel in Bochum, sagt sie, war eine absolute Reizüberflutung, die Schaufenster, die Auslagen, die frisch verputzten Fassaden. Bochum, sagt Ursula Thom, sah für mich aus wie Budapest, eine goldene Stadt.

Und sie schaute, oben und unten, bis sie nicht mehr wusste, wo vorne und hinten ist, bis ihr erst komisch wurde und dann speiübel. Ich habe das, sagt sie, kaum verkraftet.

Zurück in der Turnhalle, vorübergehend Zuhause, musste sie sich erst mal hinlegen.

Der Westen als Schwindel.

Joachim, auf dem Beifahrersitz, schmunzelt.

Ich bin Lokalpatriot, sagt er, und gerade sehr begeistert, dass sie so begeistert sind. Eine Momentaufnahme, er hält sie in der Hand wie ein altes, bald verblichenes Polaroid.

Dann fahren wir an Häusern vorbei, die ihn wieder daran erinnern, dass seit dieser Ankunft, seit 1989, eben doch 30 Jahre vergangen, auch hier die Fassaden gebröckelt sind. Hinter der Windschutzscheibe ein anderes Bochum. Und er erzählt Ursula Thom von Herne und von den geschlossenen Kneipen, vom Tramper, von den vertauschten Innenstädten und vom Aufbau-West.

Sie hört zu, lenkt, nickt.

Damals, sagt sie schließlich, kamen ein paar Polizisten zu uns und sagten: Die Straßen bei euch im Osten, das gibt es doch gar nicht, fürchterlich. Da habe ich nur gesagt: Meine Herren, wir sprechen uns in zehn Jahren noch mal. Schade, dass ich recht behalten habe.

Verkehrte Verhältnisse.

Hinter der nächsten Kurve packt sie das Erstaunen. Ihre

Du meine Güte, entfährt es ihr, du lieber Himmel, während sie den Wagen auf einen staubigen Parkplatz lenkt. Das habe ich nicht gewusst.

Geschichte, sagt Joachim, wiederholt sich.

Aber mehr Gegenwart als hier bekommen wir heute nicht mehr. Neben ihm Ursula Thom, auf der anderen Straßenseite ein Familienvater, der müde am Zaun lehnt, zwei Fluchtgeschichten, die sich fremd gegenüberstehen, nichts voneinander wissen und nichts miteinander zu tun haben. Jahrzehnte dazwischen, nur der Ort ist der gleiche geblieben.

Wir, sagt Ursula Thom, waren damals vier Wochen hier untergebracht. Dann hatten alle schon Wohnungen. Wir waren nur hundert, das ist ein Unterschied.

Und sie erinnert sich hier, auf diesem Parkplatz, an die eigenen Anfänge in diesem anderen Land, in dem die Menschen nun in der gleichen Sprache aneinander vorbeireden, sich wunderbar missverstehen konnten. Deutsche, die plötzlich Deutschen gegenüberstanden.

In Unna, sagt sie, gab es damals viele neugierige Bürger, die kamen zum Lager, teilweise mit dem Fahrrad, um mal zu schauen, wie diese Ostdeutschen wirklich aussehen, was die so anhaben.

Der Klamottencheck, bisschen Ossi-Safari.

Die, sagt sie, kannten uns ja sonst nur aus dem Fernsehen. Dann wurde ein bisschen geglotzt und mit dem Finger gezeigt.

Da haben sie dann Witze über die Witze gemacht. Das sollte lustig sein, selbstironisch, geschmerzt hat es trotzdem.

Hat das, fragt Joachim nun, nachdenklich, irgendwann aufgehört. Die Sache mit den Bananen, den krummen Dingern, dieses wilde Karussell der Vorurteile?

Ursula Thom, Blick in die Ferne, antwortet nicht sofort. Es dauert einige Sekunden, bis sie die richtigen Sätze findet, als müsste sie ihre eigenen Erfahrungen durchforsten, so wie man im Keller durch alte Fotoalben blättert. Diese Frage, das ist spürbar, löst etwas aus.

Dunkeldeutschland, sagt sie schließlich, mit diesem Wort, mit diesem Klischee hatte ich eine ganze Weile zu tun. Das war immer so, hinter vorgehaltener Hand. Und dauernd wurde ich zum Essen eingeladen. Das war den Leuten immer besonders wichtig, uns Essen zu reichen.

Als wollten sie Hunger stillen, um ein schlechtes Gewissen zu tilgen. Einmal, unvergessen, verbrachte Ursula Thom den Abend bei einem befreundeten Arzt, der alles wissen wollte, über die DDR, die Flucht, ihr neues Leben.

Ein schöner Abend, sagt sie. Am Ende aber reichte ihr der Arzt, Feierlichkeit in der Geste, zwei riesige Salamis, groß wie Unterarme, Kaventsmänner aus Ungarn. Als wäre sie sonst vom Fleisch gefallen.

Ich, sagt sie, habe dann immer versucht zu erklären, dass wir in der DDR nicht gehungert haben, wir haben uns nur anders ernährt. Wer, bitte schön, braucht denn das ganze Jahr Bananen?

Joachim nickt, als hätte er das alles schon mal gehört.

DDR