Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Prussian Blue» bei Quercus, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, Mai 2019
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«Prussian Blue» Copyright © 2017 by Thynker, Ltd.
Redaktion Elisabeth Mahler
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ISBN Printausgabe 978-3-8052-0329-6 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-20044-9
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-20044-9
Dieses Buch ist Martin Diesbach gewidmet – kein Verwandter, doch ein sehr guter Freund, dem ich immer dankbar sein werde
Aber noch weniger bin ich so schwach, gegen meine Überzeugung den Forderungen meiner Zeit zu huldigen. Ich spinne mich in meiner Puppe ein, mögen andere ein Gleiches tun, und überlasse es der Zeit, was aus dem Gespinste herauskommen wird, ob ein bunter Schmetterling oder eine Made.
Caspar David Friedrich
Oktober 1956
Es war Ende der Saison, und die meisten Hotels an der Riviera, einschließlich des Grand Hôtel Cap Ferrat, wo ich arbeitete, hatten bereits über Winter geschlossen. Nicht dass Winter in jenem Teil der Welt viel bedeuten würde. Anders als in Berlin, wo der Winter mehr ein Initiationsritus ist als eine Jahreszeit: Man ist kein echter Berliner, ehe man nicht die bitterkalte Erfahrung eines unendlichen preußischen Winters überlebt hat. Der berühmte tanzende Bär im Berliner Stadtwappen versucht nichts weiter, als sich warm zu halten.
Das Hotel Ruhl war für gewöhnlich eins der letzten Hotels in Nizza, die schlossen, denn es hatte ein Casino, und die Menschen spielen gerne, ungeachtet des Wetters. Vielleicht hätten sie im nahegelegenen Hotel Negresco ein Casino aufmachen sollen – das Negresco ähnelte dem Ruhl, bis auf die Tatsache, dass es geschlossen war und alles danach aussah, als würde das auch im nächsten Jahr so bleiben. Es hieß, man würde das Negresco zu Appartements umbauen, doch der Concierge – ein Bekannter von mir und obendrein ein furchtbarer Snob – meinte, der Laden wäre an die Tochter eines bretonischen Schlachters verkauft worden, und normalerweise lag er in diesen Dingen richtig. Er war über den Winter nach Bern gefahren, und ich hielt seine Rückkehr für unwahrscheinlich. Ich würde ihn wohl vermissen, doch als ich den Wagen parkte und anschließend die Promenade des Anglais in Richtung Hotel Ruhl überquerte, dachte ich nicht wirklich darüber nach. Vielleicht lag es an der kühlen Nachtluft und den überschüssigen Eiswürfeln des Barmanns im Rinnstein, denn ich dachte stattdessen an Deutschland. Vielleicht war es aber auch der Anblick der beiden Golems mit ihren kurzgeschorenen Haaren vor dem imposanten mediterranen Eingang des Hotels, die Eiskrem aus Hörnchen aßen und dicke ostdeutsche Anzüge trugen, von der Sorte, die wie Traktorteile und Schaufeln industriell produziert wurden. Allein der Anblick dieser beiden Typen hätte mich stutzig machen müssen, ich hatte jedoch etwas anderes, Wichtigeres im Kopf. Ich freute mich auf ein Wiedersehen mit meiner Frau Elisabeth, die mir völlig überraschend einen Brief geschrieben und mich zu einem Abendessen eingeladen hatte. Wir waren getrennt, und sie lebte wieder daheim in Berlin, aber in ihrem Brief (sie hatte eine wunderschöne Sütterlin-Handschrift, die von den Nationalsozialisten allerdings verboten worden war) schrieb sie davon, dass sie zu ein wenig Geld gekommen war – möglicherweise die Erklärung, wieso sie sich die Reise an die Riviera und den Aufenthalt im Ruhl leisten konnte, das beinahe genauso teuer ist wie das Angleterre oder das Westminster. Wie dem auch sei, ich freute mich auf den Abend in dem blinden Vertrauen von jemandem, der auf Versöhnung hofft. Ich hatte bereits meine ebenso kurze wie dankbare Versöhnungsrede geplant, in der ich ihr sagte, wie sehr ich sie vermisste und dass ich glaubte, wir könnten es immer noch schaffen, und dergleichen mehr. Natürlich war ein Teil von mir auch darauf gefasst, dass sie mir erzählen würde, sie habe jemanden kennengelernt und wolle nun die Scheidung. Trotzdem, es erschien mir als ziemlich aufwendig – von Berlin aus an die Riviera zu reisen war dieser Tage alles andere als einfach.
Das Hotelrestaurant lag auf der obersten Etage in einer der Eckkuppeln. Es war möglicherweise das beste in ganz Nizza, entworfen von Charles Dalmas, und zweifellos das teuerste. Ich war noch nie dort gewesen, doch ich hatte gehört, dass das Essen ausgezeichnet war, und ich freute mich auf das Dinner. Der Maître d’ tänzelte durch den wunderschönen Jugendstilsaal, nahm mich am Reservierungspult in Empfang und suchte im Buch nach dem Namen meiner Frau. Erwartungsvoll blickte ich ihm bereits über die Schulter und suchte die Tische nervös nach Elisabeth ab, ohne sie entdecken zu können. Ich sah auf meine Uhr und begriff, dass ich vielleicht ein wenig zu früh dran war. Ich hörte nicht wirklich hin, als der Maître d’ mir sagte, mein Gastgeber wäre schon eingetroffen, und wir waren über den Marmorfußboden schon quer durch das halbe Restaurant gelaufen, ehe ich sah, dass er mich zu einem ruhigen Tisch in einer Ecke führte, wo ein breiter, grob aussehender Mann bereits einen sehr großen Hummer und eine Flasche weißen Burgunder in Angriff genommen hatte. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick und wollte auf dem Absatz kehrtmachen, nur um meinen Rückweg von zwei weiteren Affen blockiert zu finden, die aussahen, als kämen sie von einer der Palmen auf der Promenade und als wären sie durch das offene Fenster hereingeklettert.
«Gehen Sie noch nicht», sagte einer von ihnen leise mit starkem Leipziger Akzent. «Das würde dem Genossen General nicht gefallen.»
Für einen Moment stand ich unentschlossen da und überlegte, ob ich es riskieren sollte, zum Ausgang zu rennen. Doch die beiden Gestalten, aus dem gleichen groben Lehm gemacht wie die Golems vor dem Hoteleingang auf der Straße, waren mir mehr als ebenbürtig.
«Das ist richtig», sagte der andere. «Es wäre sicher besser, wenn Sie sich wie ein artiger Junge hinsetzen und keine Szene machen würden.»
«Gunther!», sagte eine Stimme hinter mir ebenfalls auf Deutsch. «Bernhard Gunther! Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, Sie alter Faschist. Keine Sorge!» Er lachte belustigt. «Ich erschieße Sie nicht. Wir sind mitten in der Öffentlichkeit.» Schätzungsweise nahm er an, dass nicht so viele Deutsch sprechende Gäste im Hotel Ruhl verkehrten, womit er nicht ganz falschlag. «Was soll Ihnen hier schon passieren? Abgesehen davon ist das Essen exzellent und der Wein noch besser.»
Ich drehte mich zu der Stimme um und sah den Mann an, der sitzen geblieben war und sich immer noch mit Hummerzange und -gabel seinem Essen widmete wie ein Klempner, der den Dichtungsring eines Wasserhahns wechselt. Er trug einen besseren Anzug als seine Leute – blaue Nadelstreifen, maßgeschneidert – und eine gemusterte Seidenkrawatte, die er nur in Frankreich erstanden haben konnte. Eine Krawatte wie diese kostete in der DDR einen Wochenlohn und brachte einem vermutlich eine Menge unangenehmer Fragen auf dem nächsten Polizeirevier ein, genau wie die protzige goldene Uhr, die wie ein Miniaturleuchtturm an seinem rechten Handgelenk blitzte. Er stopfte das Hummerfleisch in sich hinein, das im Übrigen von der gleichen Farbe war wie das deutlich üppigere Fleisch seiner kräftigen Hände. Sein Haar war oben noch dunkel, doch an den Seiten seiner Abrissbirne von einem Schädel war es so kurz geschnitten, dass es aussah wie das schwarze Scheitelkäppchen eines Priesters. Er hatte einiges an Gewicht zugelegt, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und er hatte die Frühkartoffeln, die Spargelspitzen, den Salade niçoise, die süßen eingelegten Gurken, die Mayonnaise und den Teller dunkle Schokolade, die vor ihm arrangiert standen, bisher noch nicht angerührt. Mit seiner Boxergestalt erinnerte er mich stark an Martin Bormann, den Sekretär des Führers – und er war zweifellos durch und durch genauso gefährlich.
Also setzte ich mich, schenkte mir ein Glas Weißwein ein und warf mein Zigarettenetui vor mir auf den Tisch.
«Genosse General Erich Mielke», sagte ich. «Welch ein unerwartetes Vergnügen.»
«Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie unter einem Vorwand hergelockt habe. Aber ich wusste, dass Sie nicht kommen würden, wenn Sie gewusst hätten, dass ich derjenige bin, der zum Essen lädt.»
«Geht es ihr gut? Elisabeth? Beantworten Sie mir diese eine Frage, und dann höre ich mir an, was Sie mir sonst noch zu sagen haben, General.»
«Ja, es geht ihr gut.»
«Ich nehme an, sie ist gar nicht hier in Nizza.»
«Nein, ist sie nicht. Tut mir leid. Aber Sie sind bestimmt erfreut zu erfahren, dass sie sich sehr gesträubt hat, diesen Brief zu schreiben. Ich musste ihr erklären, dass die Alternative sehr viel schmerzhafter wäre, zumindest für Sie, Gunther. Also bitte machen Sie ihr keinen Vorwurf. Sie hat ihn mit den besten Absichten geschrieben.» Mielke hob eine Hand und schnippte mit den Fingern nach dem Kellner. «Nehmen Sie sich etwas zu essen, Gunther. Nehmen Sie sich Wein. Ich selbst trinke nur wenig, aber man hat mir gesagt, dieser hier wäre der beste. Was immer sie mögen. Ich bestehe darauf. Das Ministerium für Staatssicherheit übernimmt die Rechnung. Aber bitte rauchen Sie nicht. Ich hasse Zigarettengeruch, insbesondere wenn ich esse.»
«Ich bin nicht hungrig, danke sehr.»
«Selbstverständlich sind Sie hungrig. Sie sind Berliner. Wir müssen nicht hungrig sein, um zu essen, das hat uns der Krieg gelehrt. Wir Berliner essen, wenn etwas auf dem Tisch steht.»
«In der Tat steht reichlich Essen auf dem Tisch. Erwarten wir noch jemanden? Vielleicht die Rote Armee?»
«Ich mag es, wenn der Tisch reich gedeckt ist, selbst wenn ich nicht alles davon esse. Es ist nicht nur der Magen eines Mannes, der gefüllt werden muss. Seine Sinne essen ebenfalls mit.»
Ich nahm die Flasche zur Hand und inspizierte das Etikett.
«Corton-Charlemagne. Respekt. Schön zu sehen, dass ein alter Kommunist wie Sie immer noch einige der schöneren Dinge im Leben zu schätzen weiß, General. Dieser Wein ist bestimmt der teuerste auf der Karte.»
«Das tue ich, und ja, ist er.»
Ich leerte mein Glas und schenkte mir nach. Der Wein war ausgezeichnet.
Der Kellner näherte sich nervös, als hätte er bereits die Schärfe von Mielkes Zunge zu spüren bekommen.
«Wir nehmen zwei saftige Steaks», sagte Mielke in gutem Französisch – das Ergebnis von zwei Jahren in einem französischen Gefangenenlager vor und während des Krieges, stellte ich mir vor. «Nein, besser noch, wir nehmen Chateaubriand. Und bitte sehr blutig.»
Der Kellner entfernte sich.
«Ist es nur Steak, das Sie so bevorzugen?», fragte ich. «Oder alles andere auch?»
«Immer noch dieser schräge Sinn für Humor, Gunther. Es ist mir ein Rätsel, wie Sie so lange am Leben bleiben konnten.»
«Die Franzosen sind in diesen Dingen ein wenig toleranter als die Deutschen in Ihrer lachhaften Demokratischen Republik. Verraten Sie mir, Genosse General, wann wird die kommunistische Regierung das Volk auflösen und sich ein neues wählen?»
«Das Volk?» Mielke lachte, und für einen Moment ließ er von seinem Hummer ab und schob sich ein Stück Schokolade in den Mund, als wäre es völlig belanglos, was er aß, solange es nur etwas war, das man in der DDR nicht so leicht bekam. «Das Volk weiß selten, was gut für es ist. Beinahe vierzehn Millionen Menschen haben im März 1932 für Hitler gestimmt und damit die Nationalsozialisten zur größten Partei im Reichstag gemacht. Glauben Sie ernsthaft, diese Leute wussten, was gut für sie ist? Nein, selbstverständlich nicht. Niemand wusste es. Alles, was die Leute interessiert, ist ein regelmäßiger Gehaltszettel, Zigaretten und Bier.»
«Ich nehme an, das ist der Grund, warum Monat für Monat zwanzigtausend Ostdeutsche in die Bundesrepublik geflüchtet sind – zumindest so lange, bis Sie Ihr Grenzregime samt verbotener Zone und Schutzstreifen eingerichtet haben. Diese Leute waren auf der Suche nach besserem Bier und besseren Zigaretten und vielleicht einer Gelegenheit, sich zu beschweren, ohne die Konsequenzen fürchten zu müssen.»
«Wer war es noch gleich, der gesagt hat, niemand ist hoffnungsloser versklavt als derjenige, der sich in Freiheit wähnt?»
«Das war Goethe, und Sie zitieren ihn falsch. Er hat gesagt, niemand ist hoffnungsloser versklavt als jene, die sich im falschen Glauben wiegen, frei zu sein.»
«Meiner Meinung ist das ein und dasselbe.»
«Damit meinen Sie vermutlich die einzige Meinung, die Sie gelten lassen.»
«Sie sind ein romantischer Narr, Gunther. Das vergesse ich gelegentlich. Hören Sie, die meisten Leute haben eine falsche Vorstellung von Freiheit. Sie glauben, schon frei zu sein, wenn sie etwas Derbes an eine Scheißhauswand schreiben. Ich hingegen glaube, dass die Menschen faul sind und es vorziehen, der Regierung die Aufgabe des Regierens zu überlassen. Allerdings ist es wichtig, dass die Menschen den Leuten, die die Verantwortung tragen, keine Bürde aufladen, die zu schwer zum Tragen ist. Daher meine Anwesenheit hier in Frankreich. Im Allgemeinen gehe ich lieber jagen, aber ich komme häufig um diese Jahreszeit hierher, um ein wenig Abstand zu meiner Verantwortung zu gewinnen. Ich spiele gerne Bakkarat.»
«Das ist ein hochriskantes Spiel. Aber Sie waren ja schon immer ein Spieler.»
«Wollen Sie wissen, was am Spielen so großartig ist?» Er grinste. «Die meiste Zeit verliere ich. Wenn es in der DDR noch so dekadente Dinge wie Casinos gäbe, fürchte ich, die Croupiers würden sicherstellen, dass ich immer gewinne. Gewinnen ist aber nur dann lustig, wenn man verlieren kann. Ich war früher oft in Baden-Baden, doch bei meinem letzten Besuch dort wurde ich erkannt, und seitdem kann ich nicht mehr hin. Also fahre ich jetzt nach Nizza. Oder manchmal auch nach Le Touquet. Obwohl ich Nizza vorziehe. Das Wetter ist ein wenig verlässlicher als an der Atlantikküste.»
«Irgendwie glaube ich nicht, dass das der einzige Grund ist, aus dem Sie hier sind.»
«Da haben Sie recht.»
«Also, was zur Hölle wollen Sie?»
«Sie erinnern sich an die Geschichte vor einigen Monaten, mit Somerset Maugham und unseren gemeinsamen Freunden Harold Hennig und Anne French? Beinahe wäre es Ihnen gelungen, eine von langer Hand geplante Operation zu sabotieren.»
Mielke bezog sich auf einen Plan der Stasi, Roger Hollis zu diskreditieren, den stellvertretenden Direktor des MI5, der britischen Inlands-Spionageabwehr. Der eigentliche Plan hatte darin bestanden, Hollis reinzuwaschen, nachdem die fingierte Stasi-Operation aufgeflogen war.
«Es war sehr nett von Ihnen, das lose Ende für uns mit zu verknüpfen», fuhr Mielke fort. «Sie waren es, der Hennig beseitigt hat, oder?»
Ich antwortete nicht, doch wir wussten beide, dass es stimmte. Ich hatte Harold Hennig in dem Haus erschossen, das Anne French in Villefranche angemietet hatte, und mein Bestes getan, um ihr die Tat in die Schuhe zu schieben. Damals hatte mir die französische Polizei alle möglichen Fragen über sie gestellt. Soweit ich wusste, war Anne French sicher nach England zurückgekehrt, das war alles.
«Also um der Einfachheit willen sagen wir für den Moment, Sie waren es», fuhr Mielke fort. Er schob sich den Rest des Schokoladenstücks in den Mund, nahm mit der Gabel eine eingelegte Gurke und trank einen Schluck weißen Burgunder hinterher, was mich einigermaßen sprachlos machte. Seine Geschmacksnerven waren offensichtlich genauso durch und durch korrumpiert wie seine politischen und moralischen Ansichten. «Tatsache ist, Hennigs Zeit war ohnehin abgelaufen, seine Tage gezählt. Genau wie die von Anne French. Die fingierte Operation, Hollis zu diskreditieren, kann aber nur gelingen, wenn wir Anstrengungen unternehmen, French ebenfalls zu eliminieren – wie es sich gehört für jemanden, der uns betrogen hat. Vor allem nachdem die Franzosen ein Auslieferungsersuchen an England gestellt haben, um French wegen dem Mord an Hennig vor Gericht zu stellen. Ich muss Ihnen nicht erklären, dass wir das unter keinen Umständen zulassen dürfen. An diesem Punkt kommen Sie ins Spiel, Gunther.»
«Ich?» Ich zuckte die Schultern. «Damit ich das richtig verstehe: Sie bitten mich, Anne French zu beseitigen?»
«Korrekt – beinahe. Nur dass ich Sie nicht bitte. Tatsächlich ist die Beseitigung von Anne French die Bedingung dafür, dass Sie selbst am Leben bleiben.»
Oktober 1956
Ich habe einmal geschätzt, dass die Gestapo weniger als fünfzigtausend Beamte beschäftigt hat, um achtzig Millionen Deutsche im Auge zu behalten, doch nach allem, was man über die DDR liest, verfügt die Stasi über mehr als doppelt so viele, um gerade mal siebzehn Millionen Deutsche zu überwachen – ganz zu schweigen von den zahlreichen inoffiziellen Mitarbeitern und Spionen, zu denen den Gerüchten zufolge jeder Zehnte in der Bevölkerung gehört. Als Stellvertretender Leiter der Stasi war Erich Mielke einer der mächtigsten Männer in der DDR. Wie von einem solchen Mann nicht anders zu erwarten, hatte er bereits all meine Einwände gegen eine so geschmacklose Mission vorhergesehen und war bereit, sie mit der brutalen Entschlossenheit eines Mannes beiseitezuwischen, der es gewohnt war, sich bei Leuten durchzusetzen, die selbst über Macht und Autorität verfügten. Ich hatte das Gefühl, Mielke hätte mich an der Kehle gepackt oder meinen Kopf auf den Esstisch geschlagen – selbstverständlich war Gewalt ein essenzieller Teil seines Charakters: Als junger Kommunist in Berlin war er Mittäter bei dem schändlichen Mord an zwei uniformierten Polizeibeamten gewesen.
«Nein, rauchen Sie nicht», sagte er. «Hören Sie einfach zu. Das ist eine gute Gelegenheit für Sie, Gunther. Sie können etwas Geld verdienen und kriegen einen neuen Pass – einen echten westdeutschen Pass – mit einem anderen Namen. Sie können irgendwo ganz neu anfangen, und was noch besser ist: Sie können Anne French mit Zinsen heimzahlen, wie skrupellos sie Sie für ihre Zwecke missbraucht hat.»
«Nur, weil Sie es ihr befohlen haben. Nicht wahr? Sie waren derjenige, der Anne auf mich angesetzt hat.»
«Ich habe ihr nicht gesagt, dass sie mit Ihnen schlafen soll. Das war ihre Idee. Wie dem auch sei, sie hat Sie nach allen Regeln der Kunst manipuliert, Gunther. Aber das ist alles egal, oder? Sie haben sich unsterblich in sie verliebt, nicht wahr?»
«Es ist nicht zu übersehen, was Sie beide gemein haben, Genosse General. Sie sind beide vollkommen skrupellos.»
«Stimmt. Obwohl Anne obendrein eine der besten Lügnerinnen ist, denen ich je begegnet bin. Ich meine, ein geradezu pathologischer Fall. Ich glaube, sie merkt selbst nicht einmal, wann sie lügt und wann sie die Wahrheit sagt. Vermutlich schert sie sich nicht um die moralischen Aspekte ihrer Lügen – solange die ihre Gier nach materiellen Besitztümern befriedigen können. Sie hat es sogar fertiggebracht, sich selbst einzureden, dass sie es nicht wegen des Geldes tut – sie hält sich allen Ernstes für einen Menschen mit Prinzipien. Was sie zu einer idealen Spionin macht. Aber was erzähle ich Ihnen die Vorgeschichte. Die spielt keine Rolle. Was eine Rolle spielt – wenigstens für mich –, ist, dass jemand sie aus dem Weg räumen muss. Ich denke, der MI5 wäre ehrlich überrascht, wenn wir es nicht wenigstens versuchen würden. So wie ich das sehe, könnten gut Sie dieser Jemand sein. Sie haben schließlich schon früher Leute aus dem Weg geräumt, nicht wahr? Hennig beispielsweise. Ich meine, Sie müssen es einfach gewesen sein, der Hennig eine Kugel in den Kopf gejagt und es so aussehen lassen hat, als wäre es Anne gewesen …»
Mielke verstummte, als unser Chateaubriand eintraf. Er schob den halb aufgegessenen Hummer beiseite. «Wir teilen es selbst», informierte er den Kellner schroff. «Und bringen Sie bitte eine Flasche von Ihrem besten Bordeaux. Dekantiert, wohlgemerkt. Aber ich möchte die Flasche sehen, in der er war. Und den Korken.»
«Sie vertrauen wohl niemandem», stellte ich fest.
«Das ist einer der Gründe, warum ich so lange am Leben geblieben bin.» Als der Kellner gegangen war, schnitt Mielke das Chateaubriand durch, wuchtete sich die größere Hälfte auf den Teller und gluckste. «Aber ich achte auch auf mich, wissen Sie? Ich rauche nicht, ich trinke nicht viel, und ich halte mich fit, weil ich im Herzen ein alter Straßenkämpfer bin. Außerdem finde ich, dass die Menschen eher bereit sind, auf einen Polizeibeamten zu hören, der aussieht, als könnte er auf sich selbst aufpassen, als auf jemanden, der schwächlich wirkt. Sie würden nicht glauben, wie oft ich Mitglieder des SED-Zentralkomitees einschüchtern musste. Ich schwöre, selbst Walter Ulbricht hat Angst vor mir.»
«So nennen Sie sich heute, Genosse General? Einen Polizeibeamten?»
«Warum nicht? Es ist das, was ich bin. Warum sollte das einen Mann wie Sie stören, Gunther? Sie waren fast zwanzig Jahre lang bei der Kripo und beim SD. Einige der sogenannten Polizeibeamten, für die Sie gearbeitet haben, sind als die schlimmsten Verbrecher in die Geschichte eingegangen: Heydrich, Himmler, Nebe. Und Sie haben für alle drei gearbeitet.» Er schüttelte verärgert den Kopf. «Wissen Sie, eines Tages werde ich wirklich einen Blick in Ihre RSHA-Akte werfen und nachsehen, welche Verbrechen Sie begangen haben, Gunther. Ich habe den heimlichen Verdacht, dass Sie mitnichten so sauber sind, wie Sie es mir gerne weismachen möchten. Also hören wir auf, so zu tun, als gäbe es irgendetwas, das uns voneinander unterscheidet, soweit es moralische Überlegenheit betrifft. Wir haben beide Dinge getan, die wir lieber nicht getan hätten. Trotzdem sind wir noch hier.»
Mielke verstummte, während er sein Steak in kleine Stücke zerschnitt.
«Gleichwohl vergesse ich nicht, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Zweimal sogar.»
«Dreimal», sagte ich bitter.
«Tatsächlich? Vielleicht. Also wie ich bereits sagte: Räumen Sie sie aus dem Weg. Das ist eine gute Gelegenheit für Sie. Sie können neu anfangen. Zurückkehren nach Deutschland, weg aus diesem Kaff in einer der entlegensten Ecken Europas, wo ein Mann von Ihren Talenten offen gestanden verschwendet ist. Ich nehme an, Sie sind klug genug, das zu begreifen.»
Mielke steckte sich ein großes Stück Steak in den Mund und fing wild an zu kauen.
«Hören Sie mich widersprechen?»
«Nein, ausnahmsweise nicht. Was für sich genommen eigenartig ist.»
Ich zuckte die Schultern. «Ich bin bereit, zu tun, was Sie verlangen, Genosse General. Ich bin pleite. Ich habe keine Freunde. Ich lebe allein in einer Wohnung, die nicht viel größer ist als ein Hummertopf, und ich habe einen Job, der im Winter auf Eis liegt. Ich vermisse Deutschland. Herrgott, ich vermisse sogar das Wetter. Wenn Anne French aus dem Weg zu räumen der Preis ist, um mein altes Leben zurückzukriegen, dann bin ich mehr als bereit, ihn zu bezahlen.»
«Sie sind kein Mann, der sich leicht zu etwas überreden lässt, das er nicht will. Im Ernst, ich hatte mehr Widerstand erwartet, Gunther. Vielleicht hassen Sie Anne French mehr, als ich dachte. Vielleicht wollen Sie ihren Tod. Doch in diesem Fall ist wollen nicht genug. Sie müssen nach England und es tun.»
Der Kellner kehrte mit einer Karaffe Rotwein und der Flasche zurück und stellte sie vor uns auf den Tisch. Mielke nahm ihm den Korken ab, roch daran und nickte dann in Richtung der leeren Flasche Château Mouton Rothschild, die zur Inspektion bereitstand.
«Probieren Sie», sagte er zu mir.
Ich probierte, und wie vorherzusehen war er genauso gut wie der Wein, den ich vorher getrunken hatte, vielleicht sogar besser. Ich nickte ihm zu.
«Ich hasse sie tatsächlich», gestand ich. «Viel mehr, als ich gedacht hätte. Und ja, ich werde sie beseitigen. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, wüsste ich gerne ein wenig mehr über Ihren Plan.»
«Meine Männer werden Sie hier in Nizza am Bahnhof treffen. Man wird Ihnen einen neuen Pass, etwas Geld und einen Fahrschein geben. Sie fahren mit dem Train Bleu nach Paris, steigen dort in den Flèche d’Or nach Calais um, setzen mit der Canterbury über und fahren auf der anderen Seite mit dem Golden Arrow weiter nach London. Bei Ihrer Ankunft werden Sie von weiteren meiner Leute in Empfang genommen. Man wird Ihnen zusätzliche Informationen geben und Sie auf Ihrer Mission begleiten.»
«Lebt sie dort? In London?»
«Nein, sie lebt in einer kleinen Stadt an der englischen Südküste. Sie kämpft juristisch gegen ihre Auslieferung, aber mit wenig Aussicht auf Erfolg. Der MI5 scheint sie mehr oder weniger aufgegeben zu haben. Meine Männer werden Ihnen einen detaillierten Tagesablauf von Anne French zur Verfügung stellen, sodass Sie ihr zufällig begegnen und sich mit ihr auf einen Drink verabreden können.»
«Angenommen, sie will sich nicht mit mir verabreden? Wie wir auseinandergegangen sind – das geschah nicht gerade in bestem Einvernehmen.»
«Überreden Sie sie. Mit einer Pistole, wenn es sein muss. Wir geben Ihnen eine. Aber bringen Sie sie dazu, mit Ihnen zu gehen. An einen öffentlichen Ort. Auf diese Weise ist sie weniger misstrauisch.»
«Ich verstehe nicht ganz. Sie wollen nicht, dass ich sie erschieße?»
«Gütiger Himmel, nein! Das Letzte, was ich will, ist, dass Sie verhaftet werden, damit Sie den Briten alles erzählen! Sie müssen weit weg von Anne sein, wenn sie stirbt. Vielleicht sogar schon wieder in Deutschland, unter einem neuen Namen. Das wäre doch schön, oder nicht?»
«Also, was soll ich tun, ihren Tee vergiften oder was?»
«Ja. Gift ist in einer Situation wie dieser immer das beste Mittel. Etwas, das langsam wirkt und keine Spuren hinterlässt. Seit kurzem benutzen wir Thallium. Eine beeindruckende Mordwaffe – farblos, geruchlos, geschmacklos, und seine Wirkung setzt frühestens nach einem oder zwei Tagen ein. Aber wenn es dann geschieht – unschlagbar.» Mielke lächelte grausam. «Sie könnten sogar etwas in diesem Wein gehabt haben, den Sie gerade genießen. Ich meine, Sie würden es wirklich nicht merken. Ich könnte den Kellner dazu gebracht haben, das Zeug in die Karaffe zu schütten. Deswegen habe ich Sie davon trinken lassen und selbst nichts geschluckt. Verstehen Sie, wie einfach es ist?»
Ich starrte unbehaglich auf das Glas Mouton Rothschild und ballte die Faust.
Mielke amüsierte sich über meine Nervosität. «Zuerst wird sie denken, sie hat sich den Magen verdorben. Und dann – nun ja, es ist ein langer, schmerzhafter Tod. Sie wird sich tagelang übergeben, anschließend wird sie unter grässlichen Krämpfen und Muskelschmerzen leiden. Und danach verändert sich ihre Persönlichkeit vollständig. Halluzinationen, Angstzustände. Und zuletzt Haarausfall, Blindheit, furchtbare Schmerzen in der Brust, und dann das Ende. Das müssen Sie gesehen haben. Glauben Sie mir, es ist die Hölle. Der Tod, wenn er dann kommt, wird ihr als Erlösung erscheinen.»
«Gibt es ein Gegenmittel?» Ich starrte immer noch auf den Wein, von dem ich getrunken hatte, während ich mich fragte, wie viel von dem, was Mielke mir erzählt hatte, der Wahrheit entsprach.
«Angeblich wirkt Berliner Blau, oral verabreicht, als Antidot.»
«Die Farbe?»
«Genaugenommen ja, die Farbe. Berliner Blau ist ein synthetisches Pigment, das durch kolloidale Dispersion funktioniert. Ionenaustausch, irgendwas in der Art. Ich bin kein Chemiker. Aber ich glaube, es ist eines von diesen Gegengiften, die nur marginal weniger schmerzhaft wirken als das Gift selbst. Bis zu dem Zeitpunkt, da in einem englischen Krankenhaus jemand aufwacht, herausfindet, dass die arme Anne mit Thallium vergiftet wurde, und ihr Berliner Blau verabreicht, ist die Vergiftung aller Wahrscheinlichkeit nach längst zu weit fortgeschritten, als dass man noch etwas bewirken könnte.»
«Mein Gott», sagte ich und nahm meine Zigaretten vom Tisch. Ich steckte mir eine in den Mund und wollte sie anzünden, als Mielke sie mir wortlos wegschnappte und in einen Pflanzkübel warf.
«Wie ich bereits sagte, bis dahin sind Sie längst in Sicherheit, zurück in Westdeutschland. Allerdings nicht in Berlin. Ich kann Sie nicht in Berlin gebrauchen, Gunther. Zu viele Leute kennen Sie dort. Ich denke, Bonn oder vielleicht Hamburg wären besser geeignet für Sie, und vor allem besser für mich.»
«Aber Sie haben sicher Hunderte von Stasi-Agenten überall in Westdeutschland, General. Warum ausgerechnet ich?»
«Sie verfügen über eine Reihe außergewöhnlicher Fähigkeiten, Gunther. Ein nützlicher Hintergrund für das, was ich im Sinn habe. Ich möchte, dass Sie eine Neonazi-Organisation gründen. Mit Ihrem faschistischen Hintergrund sollte Ihnen das nicht schwerfallen. Ihre erste Aufgabe wird darin bestehen, jüdische Einrichtungen in Westdeutschland zu sabotieren oder zu entweihen – Kulturzentren, Friedhöfe, Synagogen. Sie können zum Beispiel einige Ihrer alten Kameraden vom Reichssicherheitshauptamt überreden oder meinetwegen auch dazu erpressen, Leserbriefe an die Zeitungen und die Bundesregierung zu schreiben, in denen sie die Freilassung von Kriegsverbrechern verlangen oder gegen die Verurteilung anderer protestieren.»
«Was haben Sie gegen Juden?»
«Nichts.» Mielke stopfte sich ein weiteres Stück Schokolade in seinen Omnivorenmund, zu dem Stück Steak, das sich immer noch dort befinden musste – es war, als würde man mit einem preisgekrönten preußischen Mastschwein beim Fraß aus den Resten eines Festmahls zusammensitzen. «Überhaupt nichts. Aber es verleiht unserer eigenen Propaganda mehr Gewicht, wenn der Westen und seine Regierung immer noch Nazis sind. Was stimmt. Schließlich war es Adenauer, der den gesamten Entnazifizierungsprozess aufgekündigt und ein Amnestiegesetz für Nazi-Kriegsverbrecher vorgelegt hat. Wir helfen den Menschen nur, das zu sehen, was schon da ist.»
«Sie scheinen an alles gedacht zu haben, Genosse General.»
«Wenn nicht ich, dann jemand anderes. Und wenn nicht, dann bezahlt er dafür. Aber lassen Sie sich nicht von meiner jovialen Art narren, Gunther. Ich mag im Urlaub sein, doch ich meine es todernst. Und Sie besser auch.»
Er richtete seine Gabel auf mich, als würde er überlegen, ob er sie mir ins Auge stechen sollte, und ich fühlte mich nur ein klein wenig sicherer, weil auf den Zinken ein Stück Fleisch steckte. «Wenn nicht, dann sollten Sie sich das schleunigst anders überlegen, sonst erleben Sie den morgigen Tag nicht mehr. Wie sieht es aus? Meinen Sie es ernst?»
Ich beeilte mich zu nicken. «Ja, Genosse General. Ich meine es ernst. Ich will dieses englische Miststück genauso gerne tot sehen wie Sie. Vielleicht noch mehr als Sie. Hören Sie, ich würde es vorziehen, nicht en détail über das zu reden, was zwischen uns war. Es macht mir immer noch zu schaffen. Aber ich verrate Ihnen so viel: Das Einzige, was ich an Ihrem Plan bedaure, ist, dass ich nicht persönlich da sein werde, um sie leiden zu sehen. Das würde ich nämlich gerne. Ihren Schmerz und ihren allmählichen Tod. Beantwortet das Ihre Frage?»
Oktober 1956
Unzufrieden kehrte ich in meine Wohnung in Villefranche zurück. Wenigstens war es mir gelungen, Mielke zu überzeugen, dass ich seine Befehle ausführen und nach England reisen würde, um Anne French zu vergiften. Die Wahrheit jedoch war, dass ich sie zwar hasste wegen all des Schmerzes, den sie mir zugefügt hatte, aber ich hasste sie bei weitem nicht genug, um ihr den Tod zu wünschen, geschweige denn, sie zu ermorden, und ganz gewiss nicht auf die ungeheuerliche Art und Weise, die Mielke für sie vorgesehen hatte. Ich wollte unbedingt einen neuen westdeutschen Pass, allerdings wollte ich auch lange genug am Leben bleiben, um ihn zu benutzen, und ich hatte keinerlei Zweifel, dass Mielke durchaus bereit war, mich von seinen Männern aus dem Weg räumen zu lassen, wenn er auch nur halbwegs den Verdacht hegte, ich könnte ihn hintergehen. Und so überlegte ich für einen Moment, ob ich nicht lieber sofort meinen Koffer packen und die Riviera ein für alle Mal hinter mir lassen sollte. Ich hatte ein wenig Geld unter der Matratze, eine Pistole und natürlich einen Wagen, andererseits würden Mielkes Männer vermutlich meine Wohnung beobachten, und in diesem Fall wäre ein Fluchtversuch zum Scheitern verurteilt. Was mich mit der haarsträubenden Aussicht konfrontierte, lange genug bei Mielkes bösem Spiel mitzuspielen, bis ich den Pass und das versprochene Geld in der Tasche hatte, um hernach die erste Gelegenheit zu nutzen, mich seinen Männern zu entziehen. Damit war ich zwischen Rinde und Stamm gefangen. Die meisten Mitarbeiter der Stasi hatten ihre Ausbildung noch bei der Gestapo erhalten und waren Experten darin, Leute aufzuspüren. Der Versuch, ihnen zu entwischen, war so aussichtslos, wie ein Rudel englischer Bluthunde abzuschütteln.
Um herauszufinden, ob ich tatsächlich unter Beobachtung stand, beschloss ich, einen Spaziergang am Meer entlang zu unternehmen. Vielleicht würde sich ja die Stasi zu erkennen geben – oder die kühle Nachtluft mir wenigstens helfen, den Kopf so weit klarzubekommen, dass ich mir eine Lösung für mein unmittelbares Problem ausdenken konnte. Wie nicht anders zu erwarten, trugen mich meine Füße zu einer Bar in der passend benannten Rue Obscure, wo ich eine Flasche Roten trank und eine halbe Packung Zigaretten rauchte. Das Resultat war leider das exakte Gegenteil dessen, was ich mir erhofft hatte: Stunden später schüttelte ich immer noch ratlos den Kopf und brütete über meinen sehr beschränkten Optionen, als ich ein wenig unsicher den Heimweg antrat.
Villefranche ist ein eigenartiges Gewirr aus Gassen und schmalen Straßen, und insbesondere nachts in der Nachsaison erinnert es an eine Szene aus einem Film von Fritz Lang. In diesem dunklen, mäandernden Gewirr von Straßen bildet man sich schnell ein, von unsichtbaren Vigilanten verfolgt zu werden wie der arme Peter Lorre, mit dem großen Kreide-M auf der Rückseite des Mantels – erst recht, wenn man vorher getrunken hat. Doch ich war nicht so betrunken, dass ich den Schwanz nicht mehr sah, den man mir an den Hintern geheftet hatte. Das heißt weniger sah, als vielmehr hörte: das immer wieder verharrende Klappern billiger Schuhe auf dem Pflaster, bemüht, sich dem erratischen Tempo meiner eigenen Schritte anzupassen. Ich hätte mich umwenden und ihnen zurufen können, ihre Anstrengungen, mich im Auge zu behalten, verspotten, doch mein Verstand – mein gesunder Menschenverstand vermutlich – mahnte mich, dass es vielleicht besser wäre, ihnen, und vor allem dem Genossen General, keinerlei Anlass zu der Vermutung zu geben, ich könnte etwas anderes als kooperativ sein und mich nicht an seine Befehle halten. Der neue Gunther hatte eine sehr viel leisere Schnauze als der alte, was vermutlich ganz kommod war, zumindest, wenn ich Deutschland wiedersehen wollte. Daher war ich überrascht, als der Rückweg hinunter zur Esplanade durch zwei menschliche Poller blockiert war, jeder von ihnen mit absurd blondem Herrenrassenhaar von der Sorte, wie sie Himmlers Lieblingsbarbier an seiner Heldenfrisurenwand aufgehängt hätte. In den Schatten hinter den beiden lauerte ein kleinerer Kerl mit einer ledernen Augenklappe, den ich von früher irgendwie kannte, wenngleich ich nicht zu sagen vermochte, woher – auch wenn das vielleicht nur daran lag, dass die beiden menschlichen Poller bereits damit beschäftigt waren, meinen Mund zu knebeln und mir die Hände vor dem Leib zu fesseln.
«Es tut mir wirklich leid, Gunther», sagte der Kerl mit der Augenklappe. «Zu dumm, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen, aber Befehl ist Befehl. Ich muss Ihnen ja nicht sagen, wie das funktioniert. Es ist nichts Persönliches, verstehen Sie? Der Genosse General möchte es so.»
Noch während er sprach, packten mich die beiden Poller an den Unterarmen, hoben mich von den Beinen und trugen mich wie eine Schaufensterpuppe zum Ende einer Sackgasse. Eine einzelne Straßenlaterne tauchte die Nachtluft summend in schwefliges Gelb, bis sie jemand mit einer Schalldämpferpistole zum Verstummen brachte, jedoch nicht bevor ich den Holzbalken unter den hohen Dächern sah und die Schlinge, die in offensichtlich tödlicher Absicht vom Balken herunterbaumelte. Die Erkenntnis, dass ich im Begriff stand, in dieser gottverlassenen dunklen Gasse kurzerhand aufgeknüpft zu werden, reichte aus, um meine betrunkenen Gliedmaßen für einen kurzen Moment mit neuer Energie zu fluten, und ich kämpfte mit aller Kraft gegen den eisernen Griff der beiden Stasi-Schergen an – vergeblich. Wie Jesus, der in den Himmel auffuhr, fühlte ich, wie ich den Boden verließ und der Schlinge entgegenschwebte. Ein weiterer Stasi-Mann mit Hut und in einem grauen Anzug, der sich bis jetzt an einer Straßenlaterne festgehalten hatte wie Gene Kelly, half seinen Genossen, meinen Kopf hindurchzustecken.
«Fertig», sagte er, als die Schlinge um meinen Hals lag. Leipziger Akzent – der gleiche Kerl wie im Hotel Ruhl? Musste wohl. «In Ordnung, Jungs, ihr könnt ihn loslassen. Lasst den Bastard baumeln.»
Als er die Schlinge unter meinem linken Ohr festzog, atmete ich ein letztes Mal tief ein, und in der nächsten Sekunde ließen mich die beiden Hünen fallen. Die Schlinge zog sich zusammen, die Welt verschwamm wie ein unscharfes Foto, und ich hörte auf zu atmen. Verzweifelt tastete ich mit den Zehenspitzen nach dem Boden irgendwo unter mir, doch das Einzige, was ich damit bewirkte, war, dass ich mich um die eigene Achse drehte wie der letzte Schinken im Schaufenster eines Metzgerladens. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Stasi-Schergen, die mir in aller Ruhe beim Hängen zusahen, dann zappelte ich ein wenig mehr auf meinem unsichtbaren Fahrrad, bevor ich entschied, dass es vielleicht einfacher war, wenn ich nicht dagegen ankämpfte, und ehrlich gestanden, so weh tat es auch wieder nicht. Es war weniger Schmerz, den ich spürte, als vielmehr ein Gefühl von gewaltigem Druck, als müsste mein Körper im nächsten Moment platzen, weil die Luft nirgendwo entweichen konnte. Meine Zunge wurde groß wie eine Bakkarat-Palette, weswegen sich vermutlich der größte Teil von ihr außerhalb meines Mundes zu befinden schien, und meine Augen huschten hin und her, als wollten sie den Ursprung des infernalischen Lärms orten, den ich hörte – der jedoch wohl das Geräusch des Blutes war, das in meinem Kopf rauschte. Am merkwürdigsten von allem jedoch war, dass ich plötzlich meinen kleinen Finger wieder spürte. Ich hatte ihn vor Jahren in München verloren; ein alter Kamerad und Genosse hatte ihn mir mit einem Hammer und einem Meißel abgetrennt. Es war, als wäre mein ganzes Sein plötzlich in einem Körperteil konzentriert, der überhaupt nicht mehr existierte. Und dann erschienen mir München und das Jahr 1949 und die arme Vera Messmann, als wäre alles erst zehn Minuten her. Der Phantomfinger wurde rasch größer, wurde zu einem ganzen Arm und dann dem Rest meines Körpers, und ich wusste, dass ich starb, weswegen ich mich vollpinkelte. Ich erinnere mich, dass jemand lachte und vermutlich dachte, dass ich es die ganzen Jahre herausgefordert hatte und froh sein konnte, so lange durchgehalten zu haben. Dann war ich am Grund der eisigen Ostsee und schwamm aus dem Wrack der Wilhelm Gustloff nach oben, der welligen Oberfläche entgegen, nur dass es zu weit war, und während meine Lungen platzten, wusste ich, dass ich es nicht schaffen würde. Was der Moment war, in dem sich mein Bewusstsein von meinem Körper löste.
Ich war immer noch in der Luft, doch ich sah hinunter auf meinen Körper, der auf dem Pflaster der Rue Obscure lag. Ich schwebte über den Strohköpfen all dieser Stasi-Schergen wie eine Gaswolke. Sie hatten mich vom Strick geschnitten und versuchten, die Schlinge um meinen Hals zu lösen, doch dann gaben sie auf, und einer der Kerle zog einen Drahtschneider hervor und knipste sie durch, erwischte dabei einen Fetzen Haut unter meinem Ohr. Jemand trampelte auf meine Brust – mehr an Erster Hilfe war von der Stasi nicht zu erwarten –, und ich fing wieder an zu leben. Einer von ihnen applaudierte meinem Schauspiel am Hochseil – seine Worte, nicht meine –, und zurück in meinem Körper drehte ich mich auf den Bauch, um zu würgen und auf das Pflaster zu sabbern und die brennenden Lungen schmerzhaft mit ein wenig neuer Luft zu füllen. Ich berührte etwas Nasses an meinem Hals, das sich als mein eigenes Blut herausstellte, und hörte mich etwas Undeutliches nuscheln mit einer Zunge, die sich erst noch daran gewöhnen musste, wieder in meinem Mund zu sein.
«Was war das?» Der Mann mit dem Drahtschneider beugte sich vor, um mir beim Aufsetzen zu helfen, und ich wiederholte meine Worte.
«Ich brauche eine Zigarette», röchelte ich. «Muss zu Atem kommen.» Ich legte meine Hand auf die Brust und versuchte, meinen Herzschlag ein wenig zu verlangsamen, bevor das Herz von der Aufregung meiner mutmaßlich letzten, auf jeden Fall aber so empfundenen Augenblicke auf dieser Welt völlig den Dienst quittierte.
«Du bist vielleicht ein harter Hund, das muss man dir lassen», sagte er und drehte sich zu seinen Kameraden um. «Er sagt, er will eine Kippe.»
Er lachte, zog eine Packung Hitparades aus der Tasche und steckte mir einen Glimmstängel zwischen die immer noch zitternden Lippen. «Hier hast du eine.»
Ich hustete noch ein wenig, dann, als er mir Feuer gab, sog ich den Rauch tief in die Lungen. Es war vermutlich die beste Zigarette meines Lebens.
«Ich habe davon gehört, wie es ist, eine letzte Zigarette zu rauchen», sagte er. «Aber ich habe noch nie gesehen, wie jemand nach seiner Exekution geraucht hat. Bist ein zäher alter Bastard, wie?»
«Weniger alt», erwiderte ich. «Ich fühle mich wie neugeboren.»
«Stellt ihn auf die Beine», sagte ein anderer. «Wir bringen ihn heim.»
«Erwartet aber bloß keinen Kuss», krächzte ich. «Nicht, nachdem ihr mich so durch den Kakao gezogen habt.»
Sie hatten ihre Arbeit ziemlich gut gemacht, mich halb zu Tode zu hängen, und als ich auf den Beinen stand, wäre ich beinahe ohnmächtig geworden, und sie mussten mich auffangen.
«Es geht schon wieder», sagte ich. «Ich brauche nur einen Moment.» Und dann kotzte ich – was eine Schande war angesichts des schönen Chateaubriands, das ich mir mit Mielke geteilt hatte. Andererseits kommt es nicht jeden Tag vor, dass man sein eigenes Hängen überlebt.
Sie trugen mich halb, halb führten sie mich nach Hause, und unterwegs erklärte mir der Mann, den ich von irgendwoher kannte, was sie mir klarzumachen versucht hatten.
«Tut mir leid, Gunther», sagte er.
«Kein Problem.»
«Der Boss war der Meinung, dass Sie ihn nicht ernst genug genommen haben. Das gefiel ihm nicht. Er meinte, der alte Gunther hätte sich energischer gesträubt, eine alte Freundin umzubringen. Ich muss sagen, ich bin seiner Meinung. Sie hatten immer jede Menge Haare auf den Zähnen, und als er überhaupt keine gesehen hat, dachte er, Sie nehmen ihn auf den Arm. Wir sollten Sie ein wenig aufmischen und Ihnen klarmachen, was passiert, wenn Sie versuchen, ihn reinzulegen. Beim nächsten Mal sollen wir Sie baumeln lassen, lautet der Befehl. Oder was Schlimmeres.»
«Schön, wieder eine deutsche Stimme zu hören», sagte ich erschöpft. Ich konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. «Selbst wenn sie einem elenden Schwein gehört.»
«Ach, sagen Sie das nicht, Gunther. Das tut mir doch auch weh. Wir waren mal Freunde, Sie und ich.»
Ich fing an, den Kopf zu schütteln, als jedoch der Schmerz einsetzte, überlegte ich es mir schnell anders. Mein Hals fühlte sich an, als hätte ich eine chiropraktische Sitzung bei einem Gorilla hinter mir. Ich hustete erneut und hielt nur kurz inne, um ein weiteres Mal in den Rinnstein zu kotzen.
«Daran erinnere ich mich nicht. Andererseits war mein Hirn minutenlang ohne Sauerstoff, und ich bin froh, dass ich noch meinen Namen weiß, geschweige denn Ihren.»
«Sie brauchen ein Schmerzmittel», sagte mein namenloser alter Freund. Er zog einen Taschenwärmer hervor, setzte ihn an meine Lippen und ließ mich einen substanziellen Schluck vom Inhalt nehmen. Es schmeckte wie geschmolzene Lava.
Ich verzog das Gesicht und produzierte ein stakkatoartiges Hustenkonzert. «Gütiger! Was ist das für ein Zeug?», wollte ich wissen.
«Goldwasser», lautete die Antwort. «Aus Danzig. Ja genau.» Er nickte grinsend. «Jetzt kommen wir wieder zu uns. Sie erinnern sich an mich, Gunther, oder?»
In Wahrheit hatte ich immer noch nicht die geringste Ahnung, wo ich ihn hinstecken sollte, doch ich lächelte ihn an und nickte. Es gibt nichts dem Hängen Vergleichbares, um dich eifrig darauf bedacht zu machen zu gefallen, schon gar nicht, wenn der Henker behauptet, zum eigenen Freundeskreis zu gehören.
«Genau. Ich habe dieses Zeug immer getrunken, als wir noch bei der Polizei am Alex gearbeitet haben. Daran erinnern Sie sich doch? Jemand wie Sie vergisst nicht so leicht, würde ich meinen. Ich war von 38 bis 39 einer Ihrer Assistenten. Wir haben zusammen an einer Reihe großer Fälle gearbeitet. Der Weisthor-Fall. Erinnern Sie sich an dieses Arschloch? Und natürlich Karl Flex, 1939. Berchtesgaden? Den haben Sie ganz bestimmt nicht vergessen. Oder die kalte Luft auf dem Obersalzberg.»
«Sicher, ich erinnere mich», sagte ich, während ich meinen Zigarettenstummel wegwarf. Ich hatte immer noch nicht die leiseste Ahnung, wer er war. «Ich dachte, Sie wären tot. Alle anderen sind es nämlich dieser Tage. Jedenfalls Leute wie Sie und ich.»
«Wir sind die Letzten, Sie und ich, das stimmt», antwortete er. «Vom Alex, meine ich. Sie sollten den Platz mal sehen, Gunther. Ich schwöre, Sie würden ihn nicht wiedererkennen. Es gibt die Straßenbahn, genau wie früher, und das Kaufhaus, aber das alte Polizeipräsidium existiert nicht mehr. Als hätte es nie dort gestanden. Die Russen haben es abgerissen, weil es angeblich ein Symbol des Faschismus war. Das und das Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße. Die ganze Gegend ist eine riesige öde Fläche. Das neue Präsidium ist dieser Tage in Lichtenberg. Und ein schickes neues Gebäude ist im Bau, mit Kantine, Duschen, Kinderhort … Wir haben sogar eine Sauna.»
«Wie schön für Sie. Die Sauna, meine ich.»