Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «House of Gold» bei Penguin Random House, London.
Die Verse von Paul Verlaine auf S. 397 entstammen der Übersetzung von Stefan Zweig unter dem Titel «Mondschein».
Stefan Zweig (Hg.): Gedichte von Paul Verlaine. Eine Anthologie der besten Übertragungen. Berlin, Leipzig 1902. Übersetzt von Stefan Zweig.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2020
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«House of Gold» Copyright © 2018 by Natasha Solomons
Redaktion Johanna Schwering
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt, nach dem Original von Penguin Random House, UK
Umschlagabbildungen Everett Collection/Kletr/Shutterstock; Imagno/Hulton Archive/ Getty Images
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ISBN Printausgabe 978-3-499-29165-4 (1. Auflage 2020)
ISBN E-Book 978-3-644-30028-6
Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
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ISBN 978-3-644-30028-6
Für meine Familie –
David, Luke und Lara
Der Kaiser war ein alter Mann. Er war der älteste Kaiser der Welt. Rings um ihn wandelte der Tod im Kreis, im Kreis und mähte und mähte. Schon war das ganze Feld leer, und nur der Kaiser, wie ein vergessener silberner Halm, stand noch da und wartete.
Joseph Roth, Radetzkymarsch
Den Status eines Mannes konnte man anhand der Anzahl seiner Beetpflanzen ermessen – 10000 für einen Gutsherrn, 20000 für einen Baronet, 30000 für einen Grafen und 50000 für einen Fürsten, aber 60000 für einen Goldbaum.
Häufig zitiertes Bonmot
Das Palais Goldbaum war aus Stein erbaut, nicht aus Gold. Etliche Kinder, die in ihren ordentlich zugeknöpften Mänteln und an der Hand ihrer Kindermädchen oder Mütter durch die Heugasse spazierten, waren unweigerlich enttäuscht. Ihnen war der Palast des Fürsten der Juden versprochen worden, aus Elfenbein und Gold gesponnen und angeblich mit Juwelen übersät, und stattdessen stand hier bloß ein riesiges Haus, das aus gewöhnlichen, weißen Steinen errichtet worden war. Allerdings war es der kostbarste Kalkstein von ganz Österreich, und er war von den Alpen bis nach Wien transportiert worden, auf einer Eisenbahnstrecke, die dank eines Darlehens der Goldbaum-Bank erbaut worden war, und dabei von einer Lokomotive und Waggons befördert worden, die der Goldbaum-Eisenbahn-Gesellschaft gehörten, prachtvoll in den Familienfarben Blau und Gold lackiert und mit dem Familienwappen verziert: fünf Stieglitze, die sich auf dem Ast einer Sykomore niederließen. (Geistreiche Köpfe sprachen angesichts des Wappens gern von «den Vögeln im Geldbaum».) Drinnen war die große Eingangshalle von der Täfelung bis zum höchsten Punkt des Kuppeldachs vergoldet, sodass das Licht, das dieses reflektierte, selbst an trüben Tagen voller Sonnenglanz erstrahlte. So groß waren Macht und Reichtum der Goldbaums, dass sie an tristen Tagen, so hieß es, die Sonne einfach für den Eigenbedarf scheinen ließen.
Abends brannte in jedem Fenster elektrisches Licht, und das Haus erstrahlte wie ein großer Ozeandampfer, der sich durch die Straßen Wiens wälzte. Manchmal ließen sie bei ihren grandiosen Festlichkeiten Hunderte von Stieglitzen in die Halle fliegen, die dann über den Köpfen der Gäste trillerten und flatterten. (Zwei Dutzend zusätzliche Dienstmädchen begleiteten die Vögel, und ihre einzige Aufgabe an dem entsprechenden Abend bestand darin, die kleinen Flecken Vogelkot aufzuwischen, sobald diese auf dem Marmorfußboden erschienen; anscheinend hatte selbst die Macht der Goldbaums ihre Grenzen.) Dennoch geschah wenig in der Hauptstadt oder außerhalb ohne der Goldbaums Zustimmung und noch weniger ohne ihr Wissen. Der Kaiser selbst verabscheute und ertrug die Goldbaums wie schlechtes Wetter. Nichts anderes blieb ihm übrig. Er war ihr Schuldner.
Das Palais in der Heugasse war bloß das Erscheinungsbild ihres Einflusses. Die wahre Quelle ihres Reichtums war ein kleines, unscheinbares Gebäude an der Ringstraße. Hinter der schwarzen Tür lag das Haus des Goldes: die österreichische Niederlassung der Familienbank. Die Goldbaum-Männer waren Bankiers, während die Goldbaum-Frauen Goldbaum-Männer heirateten und Goldbaum-Kinder zur Welt brachten. Allerdings betrachtete die Familie sich nicht nur als eine Bankiers-Dynastie, sondern auch als eine Sammler-Dynastie.
Die Goldbaums sammelten gern schöne Dinge; kostbare Louis-quatorze-Möbel, Gemälde von Rembrandt, Da Vinci und Vermeer und dann auch die großen Herrenhäuser, Schlösser und Burgen, um sie unterzubringen. Sie sammelten Schmuck, Fabergé-Eier, Autos, Rennpferde und die Schulden von Premierministern.
Greta Goldbaum folgte dieser Familientradition: Sie sammelte Ärger und Ungemach. Das war der Charakterzug, den Otto Goldbaum an seiner Schwester am meisten schätzte. Vor ihrer Ankunft hatte seine Mutter das Kinderzimmer besucht, sich, in anderen Umständen befindlich, auf einem Stuhl niedergelassen, der eigens für diesen Zweck reserviert worden war, und ihm mit Hilfe seines Lieblingskindermädchens erklärt, dass er in wenigen Wochen Gesellschaft von einem kleinen Bruder oder einer kleinen Schwester erhalten würde. Sie tranken heiße Schokolade aus winzigen Porzellantassen, die mit dem Familienwappen in vierundzwanzigkarätigem Gold verziert waren, und knabberten winzige Stückchen Sachertorte mit kleinen blaurosa Krönchen, die eigens aus dem Grandhotel herbeigeschafft worden war. Schweigend lauschte Otto und betrachtete mit einigem Misstrauen, wie sich der gewaltige Bauch der Baronin hob und senkte. Aber als vier Wochen später Greta mit ihrem eigenen Gefolge von Kindermädchen in gestärkten Blusen im Kinderzimmer erschien, war er in keiner Weise pikiert. Zum ersten Mal in seinen drei Lebensjahren hatte Otto eine Verbündete. Greta schien ganz gewiss sehr viel mehr zu ihm zu gehören als zu den Eltern, die unten wohnten. Die Baronin galt als äußerst engagierte Mutter, weil sie das neue Baby beinahe jeden Tag besuchte, während Otto immer noch mindestens zweimal die Woche zum Mittagessen mit dem Baron und der Baronin geholt wurde. Er lauschte durch die Wände auf das Schreien und Krächzen seiner Schwester, und wenn die Kindermädchen schliefen, schlich er hinein, um sich auf den Boden ihres Zimmers zu legen. Er tat dies so oft, dass die Kindermädchen es schließlich aufgaben, ihn entweder auszuschimpfen oder in sein eigenes Bett zurückzutragen, und ihm stattdessen neben Gretas Krippe ein kleines Kinderbett aufstellten.
Greta war nicht gerade der Liebling der Kindermädchen. Es gelang ihnen nie, sie für die Besuche ihrer Mutter hübsch zu machen. Gretas Haare lagen nicht wie Ottos flach am Kopf an, sondern standen immer in wirren Locken ab. Die kahle Stelle am Hinterkopf, wie die runde Tonsur eines Mönches, wuchs erst zu, als Greta schon beinahe zwei Jahre alt war. Sie war fast immer erkältet. Als sie älter wurde, sagten die Kindermädchen gern zu ihr: «Wenn du keine Goldbaum wärst, würde man dir ordentlich den Hintern versohlen.» Greta sagte zu Otto, dass sie in diesem Falle schrecklich froh darüber sei, eine Goldbaum zu sein, dass ihr aber all die Kinder furchtbar leidtäten, die das nicht waren, da es ihr so vorkam, als würden sie viel Zeit damit verbringen müssen, Schläge einzustecken wegen lauter Bagatellen (Seife im Kinderzimmer-Kamin zu schmelzen, um Knetmasse herzustellen; unerwünschtes Essen im Spielzeugschrank zu verstecken, bis es Wochen später in entsprechendem Zustand entdeckt wird; den Sattel vom Schaukelpferd zu entfernen und ihn Papas Lieblingsbluthund aufzulegen und darauf um die Tulpenbeete zu reiten). Häufig wurde sie ohne Abendessen, nur mit Brot und Milch, ins Bett geschickt. Aber das war ihr ganz egal. Sie hatte ja Otto.
Er war vom Wesen her das Gegenteil seiner Schwester. Wo Greta impulsiv reagierte, war Otto vorsichtig. Sie redete, er hörte zu. Sein Haar lag perfekt an, der Scheitel war makellos gezogen. Während Greta dauernd in Bewegung war, besaß Otto eine Ruhe, die seine Mitmenschen oft irritierte, obwohl er sich durchaus nicht für still hielt, da seine Gedanken immer so laut waren, sein Geist stets rastlos und beschäftigt. Otto brauchte einige Zeit, um zu einer Entscheidung zu kommen, aber wenn er sie einmal getroffen hatte, dann handelte er entschlossen. Er war durchschnittlich groß und schlank, aber er focht und boxte geschickt, trainierte gern und stellte sich ebenso gern auf die Taktik seiner Gegner ein. Er fand, beide Sportarten vereinten genau die richtige Mischung aus Brutalität und Eleganz.
In dem Maße, in dem Greta größer wurde, wuchs auch der Ärger mit ihr. Sie lieh sich Ottos Kleidung aus und verschwand zu einem Picknick am Fluss, wo man sie dabei entdeckte, wie sie sich mit zwei Leutnants einen Zigarillo teilte. Sie überredete Otto, sie mit zur Universität zu nehmen, sodass sie sich eine Astronomie-Vorlesung anhören konnte, die er besuchte. Otto kam zum Schluss, dass sie in ihrem hellblauen Mantel und Hut wie ein Paradiesvogel aussah, der unter lauter Drosseln saß, so wie sie da mitten unter hundert Männern in braunen und grauen Anzügen hockte. Er fragte sie, ob ihr die Vorlesung gefallen habe. «Ganz wunderbar. Hab kein Wort verstanden.» Eine Woche lang ging sie jeden Tag mit und sagte, es helfe ihr, prächtig zu schlafen. Sie organisierte sich heimlichen Trompetenunterricht und spielte schon ziemlich gut, bevor die Baronin es herausfand und die Sache unterband. Klavier, Harfe und im Notfall auch die Geige galten als hinreichend sittsam. Blasinstrumente allerdings waren verrufen; diese ganze Arbeit mit dem Mundstück; schon bei dem Wort wurde die Baronin rot. Doch als Otto ein spontanes Interesse an der Trompete entwickelte, wurde ein neuer Lehrer engagiert. Otto teilte seine Unterrichtsstunden verstohlen mit der Schwester. Dennoch verlor Greta bald das Interesse. Trompete zu üben machte nur Spaß, wenn es verboten war. Otto akzeptierte, dass es eine seiner Aufgaben im Leben war, seiner Schwester aus allerlei Unbill wieder herauszuhelfen. Seit zwanzig Jahren war das nun schon eine Quelle von Stolz und Vergnügen für ihn, und nur gelegentlich auch von Verärgerung.
Wenn irgendjemand Greta gefragt hätte, ob sie Albert Goldbaum heiraten wolle, hätte sie nein gesagt, natürlich nicht. Aber es fragte sie niemand. Nicht einmal ihre Mutter. Man fragte sie alles Mögliche andere. Welche Blumen sie gern in ihrem Brautstrauß hätte. Rosen oder Lilien? Wollte sie zehn Brautjungfern oder zwölf? Greta hatte geantwortet, dass ihr die Anzahl der Brautjungfern herzlich egal sei. Ihr einziger Wunsch war eine Reihe von Dienern mit weißen Regenschirmen. Ihre Mutter hielt einen Moment inne. «Und wenn es nicht regnen wird?» – «Natürlich wird es regnen», hatte Greta geantwortet. «Ich fahre schließlich nach England.»
Greta wusste, dass Baronin Emmeline von der Vorstellung gequält wurde, unpassend gekleidet zu erscheinen. Drei Mäntel ließ sie anfertigen, die alle zu Gretas Hochzeitskleid passen sollten: ein Pelzmantel aus Polarfuchs, ein Mantel aus feinster Lammwolle und ein weiterer aus Seide und Spitze. Die Baronin vertrat entschieden die Meinung, dass eine Dame immer eine Wahl haben und auf Unerwartetes vorbereitet sein solle, wenigstens in Hinblick auf ihre Garderobe. Sie reiste ausnahmslos mit mindestens drei Paar Ersatzschuhen im Kofferraum ihres Automobils: ein Paar robuster Lederstiefel, sollte sich das Wetter wenden, ein Paar eleganter Schuhe, die man anschließend anziehen könne, und für alle Fälle noch ein Paar Satinschläppchen. Für welche Fälle genau Letztere gedacht waren, konnte Greta allerdings nie eruieren.
Sie äußerte sonst keine weitere Meinung zu den Hochzeitsvorbereitungen. Auf jeden Vorschlag reagierte sie mit solch betonter Apathie, dass die Baronin aufhörte, sie zu befragen. Dies war Greta absolut recht. Sie besuchte ihre Freundinnen, trank Kaffee und wechselte das Thema, wenn eine von ihnen so taktlos war, ihre bevorstehende Vermählung aufs Tapet zu bringen. Die Hochzeit war eine Unannehmlichkeit, die es zu überstehen galt, und für eine Weile war sie noch hinreichend weit entfernt, sodass Greta so tun konnte, als würde sie überhaupt nicht anstehen. Sie suchte sie allerdings in ihren Träumen heim. Gretas Angst war unbestimmt und finster, etwas Namenloses, vor dem man sich fürchten musste. Nur dass es in Wirklichkeit durchaus einen Namen hatte. Nämlich Albert.
«Er will dich wahrscheinlich auch nicht heiraten», sagte Johanna Schwarzschild eines Morgens, als sie in der Orangerie saßen, Kaffee tranken und Süßigkeiten aßen, einige Wochen vor der Hochzeit. «Vielleicht liebt er eine andere. Er könnte jedenfalls genauso unerfreut sein wie du.»
Greta stellte überrascht ihre Kaffeetasse ab und starrte Johanna an, die rot wurde und sich vielleicht fragte, ob sie ein bisschen zu weit gegangen und deshalb auch keine der zwölf Brautjungfern geworden war. Aber Greta war keineswegs verärgert, sondern einfach nur neugierig. Bis dahin hatte sie einzig ihre eigenen Gefühle in dieser Sache zur Kenntnis genommen und gemeint, dass der ganze Unwille und Groll nur sie betraf. Natürlich war es nicht gerade angenehm, sich vorzustellen, dass ein anderer die Aussicht, einen heiraten zu müssen, mit Schrecken und Widerwillen betrachten könnte, aber, so sinnierte sie, das war schließlich nichts Persönliches. Es war ja nicht so, dass Albert sie nicht mochte; das konnte er ja gar nicht. Denn er kannte sie überhaupt nicht. Aber der arme Albert hielt womöglich auch nicht viel davon, irgendeine Fremde zu heiraten, nur weil sie seine Cousine dritten Grades war und den richtigen Nachnamen trug. So wurde er in ihrer Vorstellung zum «armen Albert», und sie begann ihn in Gedanken beinahe zu mögen. Sie läutete die Glocke. Ein Dienstmädchen erschien.
«Noch etwas Kaffee, Fräulein?»
«Nein, danke, Helga. Richten Sie meiner Mutter aus, dass ich meine Meinung geändert habe. Ich möchte weder Rosen noch Lilien. Ich hätte gern Gardenien für meinen Brautstrauß.»
Zum ersten Mal, seit ihre Mutter sie in ihr Ankleidezimmer gerufen und ihr eröffnet hatte, dass sie Albert heiraten und nach England ziehen werde, nahm Greta wieder englische Romane zur Hand. Der zaghafte Mr Neville-Jones mit seinen schweißigen Händen hatte ihr weiterhin jeden Morgen für drei Stunden englischen Konversationsunterricht erteilt, aber in einer stillen und sinnlosen Geste des Missfallens hatte sie die englische Literatur für die französische und italienische beiseitegeschoben. Nun, angesichts ihrer wärmeren Empfindungen für den armen Albert, legte sie sich eine stramme Lektüreliste an. Dickens gefiel ihr ausnehmend gut. Das Gewimmel und der Gestank Londons klangen bezaubernd, verglichen mit der musealen Stille und vertrockneten Förmlichkeit Wiens. Mit Jane Austen allerdings kam sie überhaupt nicht zurecht. In deren Romanen gab es viel zu viele junge Damen, die viel zu versessen darauf waren, verheiratet zu werden. Mr Darcy kam Greta wie ein totaler Langweiler vor, und Mr Bingley war noch schlimmer. Sie hoffte nur, dass der arme Albert keinem der beiden ähnelte.
Dann entdeckte sie Jane Eyre. Oh, wie großartig es klang, eine Gouvernante und ganz und gar unabhängig zu sein. Die Gefahren und Wunder, wenn man ganz allein auf der Welt war. Jane Eyre mochte eine Gouvernante gewesen sein, die davon geträumt hatte, eine Braut zu werden, aber Greta Goldbaum war eine Braut, die davon träumte, Gouvernante zu werden.
Als Greta Arm in Arm mit Otto durch den Stadtpark spazierte, sah sie, dass die Krokusse unter den Espen hervorbrachen, ganze Regimenter von lila und hellgelben Blümchen in kaiserlichen Farben, wie Tausende von Miniatursoldaten. Nur noch stellenweise lag ein wenig Schnee hier und da, zu nassen Haufen zusammengeschoben und schmutzig weiß wie durchweichtes Zeitungspapier.
Ihr Blick fiel auf einen flatternden Zettel, der an einen Baum geheftet war, und sie hielt inne, um ihn zu lesen. Greta mochte diese Anschlagzettel. Die Bäume im Park waren voll von ihnen, wie von einer bestimmten Art weißer Vögel. Sie waren Botschaften aus einer anderen Welt – aus der gewöhnlichen Welt, in der Menschen zu kämpfen hatten, Schnaps aus der Flasche tranken, Schnitzel und Würste zu Abend aßen und eine überschaubare Anzahl Hosen besaßen. Die Zettel an den Bäumen betrafen verloren gegangene Hunde, Zimmer zur Miete oder Damen niederen Ansehens, die ihre Dienste anboten. Die verzweifeltsten waren auch die faszinierendsten: ein Geiger, der im Tausch für ein anständiges Essen und einen Eimer Kohlen Unterrichtsstunden anbot, zum Beispiel.
Das Gewöhnliche und das Alltägliche war in Gretas Augen voller Glanz. Die Aura ihres Namens folgte ihr überallhin wie ein glänzender Schatten; seinem Schein konnte sie niemals entkommen. Menschen, die im Allgemeinen nicht freundlich waren, waren ausnahmslos freundlich zu ihr, jedenfalls machten ihre Freundinnen sie häufig darauf aufmerksam. Sie vermutete, dass ihre Sicht auf die Welt verzerrt war, als würde alles, was sie verspeiste, großzügig mit Zucker bestreut. Sie sehnte sich danach, das Leben ungesüßt schmecken zu können.
Otto hatte es besser, dachte sie ein wenig neidisch. Seine Fehltritte wurden nicht bloß toleriert, er wurde zu ihnen geradezu ermutigt. Ihm war gestattet worden, ganze sechs Monate in der Kaiserlichen Sternwarte an der Grenze zu Russland zu verbringen, wo einen die Windböen, die durch die großen Wälder wehten, den Atem der Feinde spüren ließen. Er hatte nicht bloß Sterne und Kometenschweife gesehen, sondern auch Kosaken, die durch die Steppen ritten, die die beiden großen Reiche voneinander trennten, wobei ihre rot-blauen Halstücher ihre Gesichter im Mondlicht verbargen. So stellte Greta es sich jedenfalls vor; Otto war in seinen Briefen, was die Einzelheiten anbelangte, enttäuschend vage geblieben. Da hatte viel zu viel über die Berechnungen der Beobachtungssterne und viel zu wenig über Banditen und Kosaken oder die legendären Ostjuden gestanden, die in den Sümpfen an der Grenze Handel trieben und lange rote Bärte trugen, die aufflammten wie Moses brennender Busch.
Alles war plötzlich mit Bedeutung aufgeladen; die silberne Kaffeekanne und die mit kleinen Stieglitzen gestempelten Butterportionen waren nicht mehr bloße Gegenstände, sondern Chiffren. Am Morgen hatte sie zugesehen, als das Hausmädchen der Baronin ihr Haar frisierte, etwas, was Greta seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte, sie hatte zugesehen, wie das Hausmädchen das lange, silbrige Haar ihrer Mutter bürstete und bürstete, bis es geschmeidig war wie der Schwanz eines Wiesels. Dann wurde es mehrfach geschlungen und zu einem weichen Kranz gelegt. Die elfenbeinerne Bürste lag auf dem Schminktisch, und Greta betrachtete sie im Wissen, dass die Tage solcher Intimität beinahe vorüber waren. Als sie die Baronin ihrem Kaffee überließ, verspürte sie einen Stich unerwarteter Zärtlichkeit für sie.
«Wien zu verlassen fühlt sich ein wenig wie sterben an», sagte Greta zu Otto, als sie sich einige Minuten später zu ihm an den Frühstückstisch setzte. Er blickte sie über die Zeitung hinweg an und lachte, als er sah, dass es ihr ganz ernst damit war.
«Was weißt du schon vom Sterben?», fragte er und legte die Zeitung weg.
«Genauso viel oder wenig wie alle anderen», antwortete sie geziert, während sie ihr Brötchen mit Butter bestrich.
Zeitungen in vier Sprachen lagen auf der Anrichte im Frühstückszimmer. Nur die auf Deutsch und Französisch waren von heute. Die italienischen und englischen Blätter kamen aus Mailand und Paris, aber diese Sendungen brauchten immer einen Tag, und so trugen die Zeitungen das Datum von gestern, als müssten sich diese Nationen immer beeilen, um mit der Gegenwart Schritt zu halten. Greta nahm an, dass es in England andersherum sein würde und dass sie dort die Nachrichten von zu Hause bis in alle Ewigkeit erst einen Tag später zu lesen bekäme.
Eine Schüssel mit Orangen, die wie schimmernde Mittagssonnen aussahen, stand auf dem Tisch. Sie waren früh am Morgen im Gewächshaus gepflückt worden. Das Obst wurde gehegt und gepflegt wie eine Herzoginwitwe, das Gewächshaus wurde von beflissenen Gärtnern geheizt und gewässert. Greta zog sich gern mit einem Roman hierher zurück, pflückte selbst Orangen, schälte sie mit den Fingern und aß sie genüsslich, wobei sie den Fruchtsaft an ihrer Bluse abwischte. Einmal hatte man sie erwischt und der Baronin von ihrer Untat berichtet. Zur Strafe musste sie einige Stunden im Frühstückszimmer sitzen und lernen, wie man eine Orange mit Messer und Gabel schälte, ohne dabei ihre weißen Baumwollhandschuhe auch nur mit einem einzigen Tropfen Saft zu beflecken. Während sie übte, lehrte die Baronin sie außerdem, mit einer Orange zwischen den Schulterblättern dazusitzen. Sie musste lernen, sich mehr wie eine richtige Dame zu benehmen, mit passender Haltung und entsprechendem Anstand, darauf bestand die Baronin. Offenbar spielten die Orangen dabei als zivilisierendste aller Früchte eine wichtige Rolle.
«Darf ich dir eine schälen?», fragte sie Otto.
«Ja, sehr gern.»
Er lehnte sich zurück und lächelte, während Greta die Orange mit einem kleinen Silbermesser und der passenden Gabel geschickt zerlegte.
«Aber wer wird das nächste Woche für dich tun?»
«Tja, wer?»
Er aß schweigend, während sie zusah, und beide waren sich dieser schrecklichen Liste letzter Male bewusst – das letzte Frühstück, der letzte Tag zu Hause, die letzte Orange. Otto sah ein, dass Greta recht hatte und dass ihr Abschied, wenn schon nicht einen Tod, dann doch das Ende von etwas bezeichnete.
Unter dem Palais Goldbaum siebte Karl im Dunkeln nach Knochen. Er langte mit seinem Netz in das schwarze Wasser und stocherte, als er es hob, zwischen den Ablagerungen nach der scharfen Spitze eines Vogelknochens, des Gabelbeins, oder dem runden Kopf des Schienbeins eines größeren Tieres. Er stellte seine Lampe auf den Boden, zündete sie wieder an, verstaute die Streichhölzer in seinem Rucksack und versuchte die öligen Dämpfe, die aufstiegen, nicht einzuatmen. Von den anderen Kanaltrottern wurde Karl «Kanalratte» genannt, weil er sich in den Tunneln und Röhren so gut auskannte und sich wohl fühlte wie die fetten, schwarzen Ratten, die dort herumhuschten und deren Pfoten im Dunkeln scharrten, ihre Rivalen auf der Suche nach Knochen.
Karl hockte barfuß am Rand eines unterirdischen Kanals und siebte geschwind, wieder und wieder. Eine Stunde verging oder vielleicht auch vier oder fünf. Er hatte keine Uhr, und hier unten herrschte immer Mitternacht. Wenn er von den herablassenden, aber wohlmeinenden Sekretärinnen der Kinderhäuser, die er regelmäßig besuchte, gefragt wurde, wo er wohne, sagte er gern: «Am Palais Goldbaum. Direkt darunter.»
Es war eine gute Lage. Küchenhilfen aus dem Palais verteilten jeden Abend Essensreste an den Eingängen zu den Abwasserkanälen, und wenn man schnell genug war, fiel immer irgendetwas für einen ab. Karl siebte am liebsten im Dunkeln. Im Laufe der Jahre hatte er alle möglichen Schätze ergattert, von denen er die kostbarsten in seinem Rucksack hortete. Da war ein blauer Glasknopf, rund und glatt wie ein ausgewaschener Kiesel, ein verbogener Metalllöffel, in den fünf winzige Vögel eingraviert waren. Ab und zu fand er eine Münze. Das waren die Silbertage, an denen er sofort aufhörte zu fischen, seine Habseligkeiten sorgfältig zusammenpackte und sich ein Abendessen aus Eintopf, Brot und Bier leistete und einmal, als er ganze zehn Kronen gefunden hatte, sogar ein großes Stück Apfelstrudel, mit Mandeln bestreut. Er hatte gar nicht gewusst, was Mandeln waren, bis er sie gekostet hatte, und anfangs hatte er sie für kleine Knochensplitter gehalten.
Schlamm. Schlamm. Ein Zweig. Ein toter Spatz, dessen Knochen zu dünn waren, um der Mühe wert zu sein. Er rechte und siebte. Rippen von einem Schweinebraten. Einige der anderen zogen es vor, unter den Restaurants zu sieben, wo die Ausbeute reicher war, aber die Konkurrenz war hart. Selbst hier unten gab es eine Hierarchie. Ganz oben standen die, die nach Schrottmetall suchten, die Knochensammler standen ganz unten. Die größeren Männer suchten sich die besten Plätze neben den Schlachthöfen oder den Bierhallen aus, während Jungen wie Karl nur übrig blieb, zu sieben, wo immer sie konnten. Aber ihn störte das nicht. Er zog die Stille in den tieferen, schmaleren Kanälen vor, wo selbst erfahrene Kanaltrotter von Erstickungsangst ergriffen wurden. Er wusste nicht, wie lange er schon hier unten war. Er maß die Zeit nur daran, wie sich sein Eimer füllte. Ein Stück Leder. Matsch. Zähne. Ob tierische oder menschliche, wusste er nicht. Ein halber Schafsschädel, an dem noch der Kiefer hing. Der Eimer war voll.
Seine Lampe hatte geflackert und war ausgegangen, aber er fand auch im Dunkeln seinen Weg. Er rannte zurück durch den Kanal, spritzte durch das eisige Wasser, seine Füße waren taub. Er versuchte, das Gewicht seines Eimers abzuschätzen: zwei Kilo, drei? Fünf Kronen vielleicht, wenn er Glück hatte. Die Knochen waren triefend nass, und er musste sie sorgfältig trocknen, bevor er sie nach Atzgersdorf bringen konnte, um sie den Seifensiedern zu verkaufen.
Am Abend des Balles hielt Greta sich lange im Bad auf. Sie wickelte ein frisches Stück Mimosa-Seife aus ihrem rotgoldenen Papier und wusch sich Hände und Gesicht. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, saß sie in ihrem neuen weißen Kleid da, in einem Sessel neben dem Kamin, zog die Knie bis unters Kinn und betrachtete ihr Kinderzimmer. Bereits viele ihrer kostbarsten Besitztümer waren nicht mehr da. Anna hatte ein Dutzend Kisten gepackt, die nach England in ihr neues Zuhause vorausgeschickt werden sollten. Die meisten waren auf Anweisung der Baronin mit Hochzeitsschmuck, Pariser Kleidern, einem Perserteppich aus dem achtzehnten Jahrhundert und einem Porzellandöschen für Ohrringe, das Kaiserin Josephine gehört hatte, gefüllt worden. Greta hatte wenig Interesse an diesen Gegenständen. Sie dienten lediglich dazu, ihre zukünftige Schwiegerfamilie daran zu erinnern, dass die neue Braut vielleicht nicht den Reichtum der Londoner Familie besaß, aber immer noch eine Goldbaum war. Mit Annas Hilfe hatte Greta ihre eigenen Wertsachen eingepackt, die einer anderen Ordnung folgten als die Auswahl ihrer Mutter. Dazu gehörte ein illustriertes Buch über Kolibris, das Otto ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Die Illustrationen waren handgefertigt, aber zu ihrer Beschämung verunzierte ein dicker Schokoladenfleck den Umschlag. Die Bilder an ihren Schlafzimmerwänden waren schon abgehängt worden. Es war schon gar nicht mehr ihr Zimmer, stellte sie fest. Es war jener Dinge beraubt, die es zu ihrem Zuhause gemacht hatten.
«Setzen Sie sich», befahl Anna, die ins Zimmer gestürmt war und auf den Stuhl vor dem Schminktisch zeigte. «Ich habe Helga mitgebracht, damit wir es noch einmal mit Ihrem Haar versuchen.»
Greta seufzte, stand auf, um sich vor den Spiegel zu setzen, und spielte mit einer Schachtel Haarnadeln herum, während die beiden Dienstmädchen sich zankten und an ihrem Haar zogen, um es zum Gehorsam zu zwingen.
«Ich weiß gar nicht, warum ihr euch solche Mühe macht. Es ist ohnehin vergebens.»
«Die Baronin hat darauf bestanden. Sie fragt nach Ihnen.»
«Dann lasst mein Haar zufrieden. Ich gehe jetzt zu ihr. Ich werde ihr sagen, dass ihr tapfer gekämpft habt. Der Feind aber war unbesiegbar.»
Greta stand auf und gestattete den beiden Mädchen, die Falten des weißen Seidenkleids zu glätten und die Perlenstickerei um ihre Schultern zurechtzurücken.
«Es ist zu schade, dass Mr Albert Goldbaum Sie nicht sehen kann. Sie sehen wunderschön aus», sagte Anna und bewunderte ihr Werk.
«Ja, der arme Albert», stimmte Greta ohne Überzeugung zu. Albert hatte sich in London eine schlimme Erkältung zugezogen und konnte nicht reisen. Der Hochzeitsfeier am heutigen Abend fehlte ein Bräutigam, was Gretas Meinung nach ungünstig war. Wer wusste schon, was Albert von ihr halten würde? Sie war größer, als allgemein für schicklich gehalten wurde, ihr Haar war dick und unbändig, ihre Hände waren groß oder «teuer», wie der Juwelier befunden hatte, der ihre Finger für die Verlobungs- und Trauringe ausgemessen hatte. Ihr Mund allerdings war perfekt. Nur dass den Menschen selten Gelegenheit gegeben wurde, das überhaupt zu bemerken, da er, wie die Baronin vorwurfsvoll bemerkte, die meiste Zeit redete.
Gretas Fotografie war bereits nach England geschickt worden, ohne Zweifel um Albert zu versichern, dass seine geheimnisvolle Braut genügend Reize besaß. Niemand hatte daran gedacht, auch ihr ein Bild von ihm zu schicken. Er war jung. Er war ein Goldbaum. Was konnte sie da für Einwände haben?
Sie wandte sich zum Gehen, aber Anna schrie auf. «Ihre Schuhe! Sie tragen die falschen Schuhe! Sie können doch nicht die grünen tragen. Die weißen Seidenschuhe sind für heute Abend.»
«Sie sind eine halbe Nummer zu klein. Ich schwöre, das macht Mutter mit Absicht.»
Anna nickte verständnisvoll. «Selbst wenn. Die Baronin …»
«Lieber Gott.» Greta zwängte resigniert ihre Füße in ein neues Paar Tanzschuhe mit niedrigen Absätzen.
Dann ging sie in den Ostflügel, zu den Gemächern ihrer Mutter, begleitet von einem Gefolge von Gretas in identischem Weiß in den Spiegeln auf beiden Seiten. Von unten konnte sie die Klänge des Orchesters hören, einzelne Strauß-Melodien schwebten hinauf, warm und süß wie das frische Gebäck in den Cafés an der Herrengasse. Diener in ihren feinsten Livrees standen aufgereiht wie Soldaten zu beiden Seiten, ihre Koteletten waren rasiert und gewachst. Zur Verwirrung der Rekrutierungsoffiziere stellte ihr Vater immer die größten, ansehnlichsten Männer ein, die sich vor den Rekrutierungsbüros der Kavallerie Ihrer Apostolischen Majestät aufgereiht hatten. Baron Goldbaum schickte Vertreter seines Hausgesindes dorthin, die immer deutlich mehr Lohn anboten, als der normale Sold eines Soldaten betrug. Die Livree in prächtigem Blau und Gold war eine verlockende Uniform für solche, die es nach militärischem Schnitt verlangte, während es, wie der Butlergehilfe immer zu scherzen beliebte, anders als in der Armee beim Dienst für die Goldbaums kein Todesrisiko gab. Die Rekruten lächelten bei diesem kleinen Scherz: Außer einem allzu kurzen Scharmützel mit Serbien hatte es seit Jahren keinen anständigen Krieg mehr gegeben. Was nützt schon ein Soldat in Friedenszeiten?
Greta passierte zwei Diener, die auf Trittleitern standen und damit begannen, die fünfhundert Kerzen auf dem Montgolfier-Kronleuchter am oberen Ende des großen Treppenaufgangs anzuzünden. Der Baron hatte es abgelehnt, ihn elektrifizieren zu lassen, da er die Wirkung des Kerzenlichts bevorzugte, wie es durch das Kalknatronglas gebrochen wurde. Er musste schließlich nicht selbst auf einer Leiter oben an der Treppe mit einer brennenden Wachskerze in der Hand stehen. Nachdem einer der Diener seinen Hut beim Anzünden der Kerze in Brand gesetzt hatte, war ihnen die Erlaubnis gewährt worden, den Hut und die Perücke abzusetzen, während sie den Kronleuchter anzündeten – ein Fortschritt in Richtung Ungezwungenheit, den die Baronin allerdings für beinahe ebenso gefährlich hielt wie das Risiko der Selbstverbrennung. Otto, einfühlsamer und von mathematischen Aufgaben fasziniert, hatte einen Nachmittag damit verbracht, ein System zu entwickeln, das, indem es eine bestimmte Reihenfolge festlegte, in der die Kerzen angezündet werden sollten, jedes Risiko möglichst minimierte. Der Baron befahl dieser Anordnung zu folgen, und Greta bemerkte einen dritten Diener, der Ottos Diagramm außer der Reichweite der Flammen in der Hand hielt und seinen Kollegen Anweisungen erteilte.
Sie klopfte und wurde ins Ankleidezimmer ihrer Mutter eingelassen. Die Baronin saß zurückgelehnt auf einem Tagesbett und trank schwarzen Tee mit Zitrone, ihr gewöhnliches Ritual vor einem Ball. Im schummrigen Licht färbten sich die cremefarbenen Wände gelb, die roten Rosen auf der Kommode wirkten schwarz. An der Stuckdecke spielte ein Paar dicker Cherubim Federball mit einer Taube. Die Vorhänge waren fest zugezogen, ein Kohlenfeuer flackerte, und angesichts der stickigen Luft verzog Greta das Gesicht. Sie knipste ein Licht an und bat das Dienstmädchen, ein Fenster zu öffnen, dann lehnte sie sich hinaus und sog die feuchte Frühlingsluft ein. In den Gärten wurden Öllampen angezündet, und durch die Dunkelheit konnte sie gerade noch den Dunst ausmachen, der von den Gewächshäusern aufstieg. Sie blickte zu ihrer Mutter zurück, die steif in grauer Spitze dasaß, ein Spinnennetz von Diamanten an ihrer Kehle.
«Hast du Vater geliebt?»
Die Baronin sah überrascht zu Greta auf. Solche Gespräche führten sie eigentlich nicht.
«Zunächst natürlich nicht. Ich kannte ihn ein wenig, bevor wir geheiratet haben. Er missfiel mir nicht.»
«Und jetzt?»
«Ich habe deinen Vater inzwischen mögen gelernt.»
Mögen, dachte Greta. Das war eine fade, schlaffe Form der Zuneigung. In diesem Moment wurde sie überwältigt von Mitleid für ihre Mutter, und zu ihrer beider Erstaunen setzte sie sich neben die Baronin und schlang ihre Arme um sie. Sie wollte weinen, tat es aber nicht, weil sie wusste, dass die Baronin das überhaupt nicht mögen würde.
«Ich werde dich vermissen. Wirklich, das werde ich», sagte Greta.
«Dann hoffe ich, dass du mir schreiben wirst. Du bist normalerweise eine grässliche Briefschreiberin», sagte die Baronin.
Greta lehnte sich zurück und sah ihre Mutter an, die vertrauten blauen Augen, die nicht hell wie Saphire leuchteten, sondern von wässrigem, verwaschenem Blau waren. In diesem Licht konnte Greta keine einzige Falte oder Runzel auf ihrer Haut erkennen. Wenn sie lächelte, war die Baronin schön, sie tat es nur nicht sehr oft. Greta bemerkte auf dem Tablett neben dem Teeglas ein weiteres Glas, das leer war und nach Schnaps roch. Die Baronin nahm Gretas Hand in ihre eigene behandschuhte.
«Mein liebes Mädchen, weißt du alles, was du wissen musst über die ‹unangenehme Seite der Ehe›?»
«Du meinst den Koitus?», fragte Greta.
«Oh, mein Gott», sagte Baronin Emmeline und rollte mit den Augen. «Diese Ausdrucksweise, Kind!» Offenkundig hatte ein Glas Schnaps nicht ausgereicht.
Greta spielte für einen Moment mit dem Gedanken, ihre Mutter zu bitten, sie mit ein paar spektakulären Einzelheiten vertraut zu machen, ließ dann aber davon ab.
«Ja, darüber weiß ich schon alles. Otto ist schließlich Wissenschaftler. Er hat noch nie eine Entdeckung vor mir geheim halten können. Schon vor Jahren hat er in unserem Seehaus ein faszinierendes Buch über die Fortpflanzung bei Rindern entdeckt und …»
«Genug!», sagte Baronin Emmeline, die hauptsächlich erleichtert war. «Vergiss nur nicht, dass dieser unangenehme Teil der Ehe, so unerfreulich er auch sein mag, deine Pflicht ist. Verweigere dich ihm nie mehr als einmal von dreien. Aber», ihre Wangen waren etwas gerötet vom Schnaps, während sie sich allmählich für das Thema zu ereifern schien, «lass ihn nicht jedes Mal gewähren. Ein Mann muss in Bewegung gehalten werden, er muss in Ungewissheit darüber bleiben, ob er zum Erfolg kommt.»
«Einmal von dreien? Nicht ab und zu einmal von vieren? Denn wenn ich ihn jedes dritte Mal zurückweise, dann weiß er doch schon, dass ich nein sagen werde, und strengt sich überhaupt nicht mehr an.»
Die Baronin fixierte sie mit einem kühlen Blick.
«Einmal von dreien. Nicht mehr und nicht weniger.»
Einige Augenblicke lang saßen sie schweigend da, und Gretas Wagemut löste sich auf wie Champagnerperlen, während sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie in weniger als einer Woche mit einem Fremden das Bett teilen würde. Sie war müde, ihre Füße litten in den viel zu kleinen Schuhen, und sie spürte, wie sich die Wut auf ihre Mutter in ihrem Bauch sammelte wie unverdautes Essen nach einem viel zu üppigen Mahl. Sie sah auf, begegnete dem Blick der Baronin und sprach langsam.
«Wenn ich Mutter bin, werde ich nicht so sein wie du. Ich werde meine Kinder jeden Tag sehen. Und ich werde sie küssen und in den Arm nehmen und zulassen, dass sie auf meinen Schultern kleine Fäden von Rotz hinterlassen wie eine Schneckenspur. Und sie werden auch wissen, dass ich sie liebe.»
Greta küsste ihre Mutter auf die Stirn und ließ sie allein in ihrem dämmrigen Zimmer. Baronin Emmeline griff nach ihrem Schnapsglas, entdeckte aber, dass es schon leer war.
«Weißt du das denn nicht?», fragte sie, aber Greta hörte sie nicht mehr.
Es hatte lange Diskussionen darüber gegeben, wie der Ball am besten zu eröffnen wäre. Eigentlich hätte Albert der erste Tanz gebührt, aber Albert war ja nicht da. Schließlich tanzte Greta mit ihrem Vater. Baron Peter war ein guter Tänzer. Das war eins der Dinge, die seine Frau an ihm wirklich mochte. Er sah elegant aus, als er mit Greta hervortrat, wobei der exquisite Schnitt seines Fracks seine wachsende Wampe diskret verbarg (ein Teil ihres Ehemanns, das die Baronin weniger mochte). Sein Schnurrbart war gewachst, seine Koteletten perfekt gekämmt, und er sah jeden Zoll wie der stolze Papa aus. Er steuerte Greta in einem langsamen, königlichen Walzer durch den Raum, und fünfhundert Augenpaare sahen ihnen dabei zu. Der Raum war so lang und der Rhythmus so langsam, dass es sie zwei ganze Minuten kostete, um am anderen Ende anzugelangen. Hunderte von Fächern wedelten wie eine Flotte tropischer Schmetterlinge und verbargen die flüsternden Münder der sie musternden Frauen. Der Raum roch nach gepuderten Leibern und Gardenien. Zehntausend Blumen füllten den Ballsaal in Hunderten von Vasen und verbreiteten einen übermächtigen süßen Duft.
Greta und Baron Peter sprachen leise und versuchten die Zuschauer zu ignorieren.
«Lach einfach über Alberts Witze», sagte der Baron.
«Und was, wenn sie nicht komisch sind?», fragte Greta.
«Lach trotzdem.»
«Hat Mama auch über deine Witze gelacht?»
«Na ja, nein. Aber ich habe immer gedacht, es wäre nett, wenn sie es täte.»
Er ließ den Kopf hängen, und Greta drückte ihm die Hand. «Mama lacht überhaupt nicht über Witze. Ich würde es nicht persönlich nehmen.»
«Nein, du hast ganz recht», stimmte der Baron zu und wirkte wieder etwas munterer.
«Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob ich je einen Witz von dir gehört habe», sagte Greta langsam. Vielleicht hatte er versucht, ihr Witze zu erzählen, und sie hatte zu große Angst vor ihm gehabt, um ihm zuzuhören; und jetzt reiste sie ab, und bald wäre es zu spät dafür. «Erzähl mir doch jetzt einen, und ich verspreche dir, ich werde lachen!»
Der Baron runzelte die Stirn, war einige Augenblicke lang still und überlegte. «Mir fällt kein einziger Witz ein», sagte er schließlich, und seine Stimme war so voller Enttäuschung und Bedauern, dass Greta nicht anders konnte, als den Kopf in den Nacken zu werfen und mit so überschwänglicher Ausgelassenheit zu lachen, dass ihr Vater ebenfalls zu lachen begann, ein den ganzen Körper erfassendes Kichern, das drohte, die so sorgfältig verborgene Wampe aus ihrem Gefängnis zu befreien. Die flüsternden Damen an den Wänden rund um den Ballsaal gaben einander nun zu verstehen, wie entzückend es doch war, solch eine glückliche Braut zu sehen (trotz des fehlenden Bräutigams), und wie reizend, dass der Baron seiner Tochter so nahe war.
Um elf Uhr wurden die Tänzer von einem silbernen Schwan zum Essen gerufen. Der Automat war von einem Juwelier und Uhrenmacher in Paris angefertigt worden, der eifrig bestrebt gewesen war, seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Bemerkenswerte Fähigkeiten, die sich an der Grenze zwischen Mechanik und Magie bewegten. Ein Diener setzte sich einen Hut mit passender Silberbordüre auf und drehte die Kurbel, und während sich die Gäste versammelten, um zuzuschauen, erwachte der lebensgroße Schwan schwimmend zum Leben. Tausende von silbrigen Federn in seinem Gefieder sträubten sich, der muskulöse Nacken reckte und wandte sich, sodass das Tier Greta aus kühlen, schwarzen Augen musterte. Eine Melodie erklang, und der Schwan stieß vor in das gespiegelte Wasser nach einem winzigen, zuckenden Fisch. Er verschluckte ihn und war reglos. Die Musik stockte und stoppte. Die Gäste lachten und applaudierten, das leise Trommeln der behandschuhten Hände klang wie ferne Pferde auf weichem Boden. Der Baron und seine Gattin führten die Gäste in den Speisesaal. Die meisten folgten ihnen, doch einige schlüpften in einen Nebenraum, der für Bakkarat, Whist und Tarock vorgesehen war, sie waren hungriger nach Kartenspiel als nach irgendetwas anderem. Im Speisesaal säumte ein Bataillon von Dienern und Dienstmädchen in den Familienfarben Blau und Gold die Wände. Auf den langen Banketttafeln standen glänzende Kerzen in Kränzen aus Gardenien. Es gab vielleicht keine Schweinelende oder Hummer oder Austern oder dicke, österreichische Wurst, aber dafür ein gewaltiges und blutiges Chateaubriand mit einem Krug Béarnaise, während ein spezieller Tisch für Käse, den Baron Peter in Auftrag gegeben hatte und der eine Karte von Europa aus Marmorplatten zeigte, an der Seite stand. Emmentaler und ein großes Stück Gruyère hockten auf den Schweizer Alpen, ein ganzer, schneeweißer Camembert lag auf Nordfrankreich, eine Klippe Parmesan bedeckte Italien, und ein Wald von Räucherkäse war über das k.-u.-k.-Reich verstreut. Nur ein Tisch war von den übrigen abgerückt, an dem sich die religiöseren und frommeren Familienmitglieder mit ihren Freunden versammelten, ein wenig verstohlen und im Bewusstsein, dass immer weniger Juden in der Stadt heutzutage noch koscher aßen, und doch unwillig, selbst die Regeln außer Acht zu lassen. Der Baron und die Baronin waren exzellente Gastgeber, und selbst wenn der Baron sich privat womöglich ein ordinäres Schweineschnitzel genehmigen sollte, stellten sie doch sicher, dass alle ihre Gäste aufs Angemessenste umsorgt wurden. Am Ende der Mahlzeit, falls es auch nur ansatzweise geschehen sein konnte, dass ein Teller mit koscherem Fleisch versehentlich durch ein versprengtes Stück Roquefort verunreinigt wurde, so wurde dieser zerbrochen und weggeworfen. Jedes Jahr wurden auf diese Weise mehrere Tafelservices beseitigt.
Greta fand, dass es zu heiß und zu laut war, das Geschwätz und die Lachsalven der Gäste wetteiferten mit den Klängen des Orchesters, welches wiederum lauter und schneller spielte, um gegen den Lärm anzukommen. Sie entdeckte Johanna in einem rosa Seidenkleid, die mit einigen ihrer Freundinnen zusammensaß, allesamt stocherten sie auf Tellern mit kaltem Hühnchen und Zwetschgenknödeln herum. Sie winkten, damit sie sich zu ihnen setzte, aber Greta kam es so vor, als wäre sie bereits fort und als wehten ihre Stimmen ihr übers Meer zu.
«Ich gehe mal ein wenig an die frische Luft», sagte sie, erhob sich und eilte aus dem Speisesaal, bevor ihr irgendjemand folgen konnte.
Sie schlüpfte in das überfüllte Zimmer hinter dem Ballsaal und dann durch eine Tür in den Garten. Durch die großen Bogenfenster konnte sie einzelne Paare im Ballsaal sehen, die sich schweigend drehten und drehten. Draußen war es kühl, und den Rasen säumte ein Federkleid aus Frost. Sie setzte sich auf eine Steinstufe, zog ihre Schuhe aus und schleuderte sie mit erheblicher Erleichterung in einen Rosenbusch.
«Nicht dein bester Plan», sagte eine Stimme hinter ihr.
Greta drehte sich um und erblickte Otto. Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. «Im Gegenteil. Wenn ich sie nicht wiederfinde, kann ich sie auch nicht mehr anziehen.»
Sie rieb sich die Zehen und tupfte auf eine runde Blase an ihrer Ferse. Sie fragte Otto nicht, warum er allein hier draußen war. Er hatte Partys immer verabscheut. Er hatte nichts gegen ein Abendessen mit Freunden (Wissenschaftlerkollegen), aber Tanzabende mit endlos vielen Bekannten langweilten ihn. Otto fühlte sich, anders als Greta, selten getrieben, an etwas teilzunehmen, das ihm nicht gefiel. Er holte einen Flachmann aus seiner Tasche und reichte ihn ihr. Sie nahm einen Schluck, Cognac lief ihr übers Kinn.
«Du wirst doch kommen und mich besuchen, oder?», fragte sie und versuchte, den Anklang von Verzweiflung aus ihrer Stimme zu verbannen.
«Na ja, ich habe schrecklich viel zu tun, und du bist wirklich lästig, aber ja. Ich werde vielleicht sogar noch vor Jahresende in Cambridge sein.»
«Und das ist in England?», fragte Greta neckisch.
Otto schnippte ein Blatt nach ihr.
Sie packte seine Hand und zog ihn in den abschüssigen Teil des Gartens, lief barfuß über den Kies, und die Steine waren kalt und spitz unter ihren Füßen. Der nächtliche Mond war gelb und voll, und Greta stellte sich vor, das Summen der Sterne hören zu können. Irgendwo gen Osten lag die Donau, und wenn sie tief einatmete, konnte sie sie beinahe riechen, eine dunkle Spule, die sich auf- und wieder entrollte. Am steinernen Rand eines Teiches blieben sie stehen und sahen zu, wie auf der Oberfläche ein winziger Mond zitterte. Eine weiße Statue der Venus betrachtete sie voller Trauer, während sie ihr nasses Kleid an ihren Marmorbusen drückte. Greta ließ Ottos Hand los, hob ihre Röcke und stieg in den Teich. Das Wasser war tiefer, als sie es in Erinnerung hatte, es reichte ihr fast bis zu den Knien.
«Oh, jetzt stell dich nicht so an und komm rein», rief sie.
Otto seufzte und zog Schuhe und Socken aus, versuchte die Hosenbeine aufzukrempeln und trat ins Wasser. Angesichts der Kälte entfuhr ihm ein Schrei.
«Ist das nicht besser als die Party?», fragte sie glücklich.
Otto griff auf der Suche nach dem Cognac in seine Tasche. «Ich stehe in nassen Hosen in einem eiskalten Teich. Aber ja, das ist unendlich viel besser.»
Über ihnen hörten sie das Scharren von Türen, die geöffnet wurden, und den Klang von Stimmen auf der Terrasse. Johannas Stimme kam zischend durch den Garten. «Greta? Wo bist du?»
Greta wartete einen Moment, bevor sie ausrief: «Hier unten!»
Eine Minute später erschien Johanna mit einem Diener, der eine Laterne trug. Sein Gesicht zeigte keine Regung, als er Greta und Otto im Teich erblickte.