Das Handelshaus

Cover

Der Junge machte sich ganz klein. Sein Gefängnis war von Finsternis erfüllt, und die Dämonen flüsterten ihm zu: Du bist ein Versager! Du bist ein Nichts – ein Nichts, das es nicht wert ist, am Leben zu sein. Eiskalte Angst überkam den Jungen. Etwas packte mit eisernem Griff zu und drückte sein Herz zusammen. Das Blut pulsierte in seinen Adern, hämmerte gegen seine Schläfen, rauschte in seinen Ohren.

«Bitte hilf mir», wimmerte er. «Ich habe entsetzliche Angst. Es ist so dunkel.»

Doch nichts geschah. Er hob das tränenfeuchte Gesicht und flehte: «Ich fürchte mich so sehr … bitte hol mich hier raus. Hörst du mich denn nicht, Stephan …»

 

Stephan hockte auf seinem Bett, starr vor Entsetzen und gelähmt von seiner eigenen Feigheit. Er zitterte am ganzen Leib. Mit weit geöffneten Augen blickte er auf den Schrank, der zwischen seinem Bett und dem Bett seines jüngeren Bruders Simon stand. Draußen graute der Morgen. Böen fauchten um den Loytzenhof. Trotz des Sturms wagte sich ein Spatz auf den Absatz vor dem Fenster und tschilpte tapfer gegen den Wind an.

Am Vorabend hatte das Dienstmädchen der Familie Loytz einen Hering in ihrem Bett gefunden, einen toten, stinkenden Hering. Als Übeltäter für diesen Streich

Stephan hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Er hockte auf seinem Bett, während er dem gedämpften Wimmern aus dem Schrank lauschte und den Geräuschen kleiner Finger, die von innen an den Schrankwänden kratzten.

Vor dem Fenster war es bereits hell, als ihr Vater in die Kammer kam. Seine Augen funkelten. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Er bedachte Stephan mit einem Blick, der der Ernsthaftigkeit der Situation entsprach, bevor er vor den Schrank trat und den Schlüssel im Schloss umdrehte. Im Schatten hinter der Schranktür kam Simons blasses Gesicht zum Vorschein. Die Augen vor Angst geweitet, flehte er: «Ich bin unschuldig, Vater. Ich war’s nicht. Ich hab den Fisch nicht in ihr Bett getan.»

«Wer sonst wäre fähig zu einem so üblen Streich, wenn nicht du?», fragte Vater.

«Sie selbst hat den Fisch in ihr Bett gelegt.» Simon streckte die Hand aus und zeigte auf eine kräftige Frau mit ausladendem Hinterteil, die jetzt in Begleitung von Großmutter Anna in die Kammer trat.

«Sie hasst mich», wimmerte Simon.

«Nein, mich hasst er», protestierte das Dienstmädchen. «Immer tut er mir so ’ne bösen Sachen an.» Mit spitzen Fingern hielt sie das Beweisstück in die Höhe – einen Hering, aus dem das Gedärm quoll. «Wenn ich’s selber getan hätte, hätte ich mich ja nicht draufgelegt.»

Hans Loytz, der in der Nacht von einer Geschäftsreise zurückgekehrt war, blickte seine Mutter an. Seit seine

Großmutter Anna Glienecke nickte ernst. «Es ist ein Kreuz mit dem Jungen. Der Herrgott hat ihm keinen Anstand mitgegeben. Nur Boshaftigkeit hat er im Kopf.»

Hinter den beiden Frauen tauchte im Türrahmen Michael auf, der älteste der drei Loytz-Brüder, und sagte: «Simon ist missraten, Vater. Ihr müsst ihn bestrafen, sonst wird er niemals Anstand lernen.»

Hans Loytz stand dem Stettiner Handelshaus vor. Wie seine Vorfahren bezeichnete er sich nach dem Vorbild des großen Kaufmannsgeschlechts der schwäbischen Fugger als Regierer. Er spannte den Rücken und gefiel sich offensichtlich in seiner Rolle als Patriarch und Richter. Er blickte Simon an und sagte: «Was hast du zu deiner Verteidigung vorzutragen? Alle hier sind überzeugt, dass du den Hering ins Bett gelegt hast.»

«Er ist ein Verbrecher», sagte Michael.

«Ich war’s aber nicht …», jammerte Simon.

Stephan hatte Mitleid mit Simon. Es tat ihm in der Seele weh, ihn leiden zu sehen. Viel zu häufig musste der kleine Bruder als Sündenbock herhalten. Er war schwachbrüstig, musste oft krank das Bett hüten. Dünn wie Schilfhalme waren seine Arme, und weder Gebete noch Lebertran oder Hühnerbrühe konnten ihn aufpäppeln.

Stephan machte einen tiefen Atemzug, dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sagte: «Ich glaube nicht, dass Simon das getan hat.»

Hans Loytz trat vom Schrank zurück. Sein Schatten fiel über Stephan, der schnell den Kopf senkte. Schon verging ihm der Mut wieder.

 

In Mäntel gehüllt und mit Fellmützen auf den Köpfen trieb Hans Loytz seine beiden Söhne hinunter durch den Treppenturm mit den schrägen Fenstern. Vor der Tür brauste ihnen der Wind in den Ohren, zerrte an ihren Kleidern, heulte und fauchte wie ein Ungeheuer. Sie marschierten durch die Gasse, kamen zum Fischmarkt und gingen weiter zum Oderhafen. Die Oberfläche des Flusses war überzogen von schwappenden, schaumspritzenden Wellen. An den Landebrücken knirschten Taue. Boote und Schiffe schaukelten in den Wellen.

Hans Loytz führte die Jungen zu einem Steg stromabwärts bei der Baumbrücke, wo er sie bei einem Fischerkahn halten ließ. «Steigt ein und setzt euch auf die Ruderbank», befahl er und löste die Taue, bevor er zu ihnen ins Boot stieg und sich gegenüber im Heck auf eine umgedrehte Fischkiste setzte. «Legt die Riemen aus und rudert.»

«Wo fahren wir denn hin?», fragte Stephan. Es war ihm ein Rätsel, was der Vater mit ihnen auf der von Sturmwind gepeitschten Oder vorhatte.

«Das werdet ihr schon sehen», murmelte Hans Loytz.

«Ich habe Angst», wimmerte Simon.

«Schwächlinge haben Angst», entgegnete Hans Loytz. «Ihr seid meine Söhne, und meine Söhne kennen keine Angst. Wer Angst hat, kann kein erfolgreicher Kaufmann sein. Gute Geschäfte erfordern Mut, Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen. Schreibt euch das hinter die Ohren!»

Die Hand hinterließ einen roten Abdruck auf Simons blasser Haut. Tränen traten in seine Augen. Über dem Kahn schwebten Möwen hinweg, und ihr Keifen klang wie höhnisches Gelächter. Der Damsche See war ein weites, von Wäldern, Feldern und kleinen Ortschaften gesäumtes Gewässer. Hans Loytz trieb die Jungen unerbittlich voran, denen der Wind auf dem offenen Gewässer um die Ohren pfiff. Sie kamen kaum noch von der Stelle, sosehr sie sich in die Riemen warfen.

Der Vater legte die Hände wie einen Trichter um den Mund und hob die Stimme, um das Fauchen des Windes zu übertönen, der ungebremst über den See fegte: «Fischfang und harte Arbeit haben unser Unternehmen zu dem gemacht, was es heute ist – ein Handelshaus, dessen Einfluss in alle Länder Nordeuropas reicht. Wir handeln mit Salz, mit Geld und Getreide, aber der Fisch war es, der den Grundstein gelegt hat für den Wohlstand, auf dem ihr Burschen euch ausruht. Jetzt beweist mir, dass ihr keine

Er wies mit der ausgestreckten Hand auf eine Stelle im See. Als Stephan den Kopf drehte, sah er einige Bootslängen entfernt helle Netzschwimmer in den Wellen tanzen. «Holt das Netz ein!», befahl Hans Loytz.

Stephan und Simon verstauten die Riemen unter der Sitzbank. Sofort erfasste der Wind den Kahn und schob ihn mit unsichtbarer Hand auf die Schwimmer zu. Stephan rutschte von der Ruderbank, kniete sich hinter die Bootswand und machte sich bereit. Als vor ihm ein Schwimmer auf einem Wellenkamm in die Höhe fuhr, griff er zu und umklammerte mit vom Rudern steifen Fingern das nasskalte Korkstück.

«Simon», rief er. «Simon – hilf mir, es ist zu schwer.»

Sein Bruder hatte sich in den Bug verkrochen und zwängte sich in die hinterste Ecke wie ein zu Tode erschrockenes Kleinkind.

«Komm her, Junge, und steh deinem Bruder bei», befahl Hans Loytz.

Simon hielt sich die Ohren zu.

Die Wellen warfen das Boot auf und ab. Stephan hielt den Schwimmer tapfer fest, bis ein Ruck durch das Seil ging, mit dem das Korkstück am Netz befestigt war. Offenbar hatte ein Netzsenker sich vom Grund gelöst. Stephan fasste nach dem Seil und zerrte daran, um das Netz nach oben zu ziehen, während der Kahn sich zum Wasser hin neigte. Wellen klatschten gegen den Rumpf. Kaltes Wasser ergoss sich über Stephan.

«Vater, bitte helft mir», flehte er. «Allein schaffe ich es nicht …»

Ins Netz kam Bewegung. Stephan glaubte, es sei die Strömung, doch als er das Seil Stück für Stück heranzog, sah er unter der Oberfläche des aufgewühlten, braunen Wassers etwas Großes und Helles schimmern.

«Es ist ein Fisch, Vater», rief er. «Im Netz hängt ein riesiger Fisch.»

Hans Loytz beugte sich über die Bordwand. «Das muss ein Stör sein, ein prächtiger Bursche. Hol ihn raus!»

«Ich … kann nicht … er ist zu schwer», klagte Stephan. Seine Hände brannten. Warum half Vater ihm nicht?

Da kroch Hans Loytz zu ihm und griff beherzt ins Wasser, um mit den Fingern hinter die Kiemen des Störs zu fassen. Er konnte ihn jedoch nicht richtig greifen, und als er sich weit nach vorn beugte, um erneut zuzufassen, traf eine Welle das schlingernde Boot. Hans Loytz verlor den Halt und stürzte über Bord.

Stephan stieß einen Schrei aus. Das Seil entglitt seinen Händen, wurde mitsamt Netz, Fisch und Schwimmer in den See gezogen und verschwand in den Fluten. Der Kahn trieb weiter.

«Heiliger Herr im Himmel», stieß Stephan aus. «Simon! Simon! Vater ist ins Wasser gefallen.»

Sein Bruder nahm die Hände von den Ohren, schaute zu Stephan und dann aufs Wasser. Eine halbe Armeslänge vom Boot entfernt tauchte der Vater in einem Wellental auf. Er hatte sich im Netz verfangen. Seine Augen waren

Stephan griff nach seinem Vater und bekam dessen Mantel zu greifen, doch das Netz hielt Hans Loytz fest. Der Mantel war mit Wasser vollgesogen und wog schwer – viel zu schwer für einen einzigen Junge. «Hilf mir, Simon! Hilf mir, ihn an Bord zu ziehen!», schrie er panisch.

Simon ließ den Kopf sinken, kniff die Augen zusammen und hielt sich wieder die Ohren zu.

Die Strömung erfasste Hans Loytz, sein Mantel entglitt Stephans Fingern. Das Letzte, was er von seinem Vater sah, waren weit aufgerissene Augen, in denen ein wütender, unausgesprochener Vorwurf lag. Dann wurde er in die Tiefe gezogen.

I. Teil

September bis November 1566

Falsterbo

«Veit, du Teufelskerl – hast du wieder recht gehabt», rief einer der Fischer. «Die verdammten Biester sind hier draußen und nicht anderswo.»

Die Fischer stöhnten in ihren dicken Jacken, lachten aber laut und rau, als sie weit vor der Küste des dänischen Fischerlagers und Handelsplatzes Falsterbo das schwere Netz an die Oberfläche hievten.

Veit Karg, der Steuermann des Fischerbootes, beugte sich über die Bordwand. In den Wellen glitzerte es. Veit sah die zuckenden Flanken der Heringe in den Maschen aufblitzen. Endlich. Das Gefühl hatte ihn nicht getrogen, Gefühl und Erfahrung waren sein Kapital. Seit vielen Jahren fing er Heringe auf den dänischen Vitten in Dragør, Elbogen und Alborg und – wie in diesem Herbst – in Falsterbo. An den dänischen Küsten sagte man über Veit, eines Tages würden ihm Flossen wachsen; man sagte es mit Ehrfurcht und Hochachtung.

Die Fischer fingen für Händler aus Warnemünde, Lübeck oder Stralsund Heringe. Seit Tagen setzten einige von ihnen Stellnetze an Pfählen im flachen Wasser vor der Küste. Andere Fischer versuchten ihr Glück dicht vor der

Von den Fängen in diesem Herbst war Veit enttäuscht. Zumindest bis heute. Mitte August, am heiligen Tage Assumptio Mariae, war die Saison eröffnet worden. Mittlerweile waren einige Wochen vergangen. Die Stellnetzfischer, die Udsetter, hatten kaum Beute eingefahren, und die wenigen Heringe, die sich in ihre Netze vor der Küste von Falsterbo verirrten, waren klein und mager. Den Fischern und Händlern saß die Zeit im Nacken. Gefischt werden durfte laut einem Erlass des dänischen Königs Friedrich II. auf Falsterbo und anderen Vitten nur noch bis zum Sankt-Martins-Tag im November.

Veits Fischer, die wie er aus Stettin stammten, hievten das Netz an Bord. Er murmelte zum Dank ein Gebet. In den Maschen zappelten fette Heringe. Während seine Fischer sich mit schuppenverklebten Händen durch den Fang arbeiteten, hielt Veit den Kahn mit dem Steuerruder in Wellen und Strömung, bis alles an Bord gebracht und die Fischkisten mit Heringen gefüllt waren.

Die Loytz sollen wissen, was sie an mir haben, dachte er und überlegte, sie um mehr Lohn zu bitten, als einer seiner Fischer nach ihm rief. Der Mann stand aufrecht im schwankenden Kahn, beschattete mit der Hand die Augen gegen das gleißende Licht und rief: «Da kommen welche.»

Veit drehte den Kopf und sah zwei mit Ruderern vollbesetzte Boote auf seinen Kahn zuhalten. Zunächst nahm

«Nehmt die Ruder und haltet euch bereit», befahl Veit seinen Fischern. «Mit den Leuten stimmt was nicht.»

Weil es verboten war, beim Fischen Waffen mit an Bord zu nehmen, blieben ihnen zur Verteidigung nur die Ruder. In früheren Jahren war es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ausländischen und dänischen Fischern gekommen. Daher hatte die dänische Obrigkeit in den Fischereigesetzen, den Modbøger, harte Strafen für das Mitführen von Hieb-, Stich- oder Schusswaffen festgesetzt. Wenn die eigenen Landsleute gegen die Gesetze verstießen, zeigte man sich allerdings weitaus nachsichtiger.

Die Männer näherten sich mit kräftigen Ruderschlägen, zogen dann die Riemen ein und holten plötzlich Knüppel und Beile hervor.

Veit legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief: «He, was wollt ihr von uns?»

Er erhielt keine Antwort, stattdessen krachte eins der beiden Boote gegen Veits Kahn. Er hörte Holz splittern. Der Aufprall kam mit voller Wucht. Veit und ein paar Fischer wurden von den Sitzbänken geschleudert, sodass Veit sich mit dem Gesicht in einer Fischkiste wiederfand. Er schmeckte den salzigen Geschmack von rohem Hering. Als er sich wieder aufrichtete und Fischschleim aus den Augen wischte, sah er das andere Boot neben seinem Kahn liegen. Ruder, Knüppel und Beile flogen. Einige Fischer wehrten sich, doch es dauerte nicht lange, bis ihr Widerstand gebrochen war. Veits Männer waren harte Kerle,

Das Letzte, woran er dachte, bevor es dunkel um ihn wurde, waren seine Frau und die Kinder, die in Stettin auf ihn und seinen Lohn warteten.

 

Veit blinzelte in die treibenden Wolken und sah die Umrisse kreisender Möwen. Sein Schädel schmerzte, als wäre er von einem Ochsenkarren überrollt worden. Er fand sich ausgestreckt in den Heringen liegend, drehte sich auf die Seite und stützte den Ellenbogen auf. Eine scharfe Flüssigkeit schoss in seinen Hals. Es gelang ihm gerade noch, den Kopf über die Bootswand zu strecken, bevor er sich ins Wasser erbrach.

Veit rang nach Luft und hob den Blick. Jemand stapfte durch die Heringe zu ihm. Durch einen Schleier aus Tränen und Schmerzen sah er Ulf auftauchen. Seine Oberlippe war aufgeplatzt, ein Auge geschwollen und blau angelaufen.

«Die anderen …», japste Veit und zwang sich, den schrecklichen Gedanken auszusprechen. «Haben sie einen von uns umgebracht?»

Ulf betastete sein blaues Auge. «Sind alle am Leben, aber unsere Netze haben sie mitgenommen.»

Der Verlust wog schwer, denn die feinmaschigen Netze waren teuer. Die Angreifer – wer zur Hölle diese Männer auch waren – hatten aber alle Heringe dagelassen. Veit mitgerechnet, waren ein Dutzend Männer an Bord, die auf den Ruderbänken kauerten und ihre Wunden

«Was sollte das?», überlegte er laut. «Warum verprügeln sie uns und stehlen die Netze, lassen uns aber die Heringe?»

 

In der Abenddämmerung kehrten sie zur Vitte von Falsterbo zurück. Veit steuerte den Kahn zu einem freien Platz zwischen anderen Fischerbooten, die zu Hunderten den Strand säumten. Hinter den flachen Dünen standen die Hütten des Fischerlagers, das Fiskelejer, das sich auf einer Länge von insgesamt gut zwei Meilen erstreckte. Der Wind hatte sich gelegt. Über den Dächern stiegen Rauchfahnen in den Himmel. Nur wenige Fischer waren noch am Strand, wo sie im letzten Tageslicht ihre Boote ausräumten, Netze flickten und Seegras aus den Maschen zupften.

Als Veits Männer die mit Heringen gefüllten Kisten aus dem Boot schleppten und am Strand zum Abtransport bereitstellten, ließen andere Fischer ihre Arbeiten liegen und kamen zu ihnen.

«Das ist ’n guter Fang, Veit Karg», bemerkte ein älterer Mann, der zu den Fischern aus Rostock gehörte. «Hast wohl wieder ’nen richtigen Riecher gehabt … Aber Männer, ihr seht ja übel mitgenommen aus! Haben die Heringe euch verprügelt?»

Einige der Umstehenden lachten.

«Ha, ha», machte Veit mürrisch. «Du wirst es nicht glauben, wir sind überfallen worden. Mir haben sie fast den Schädel eingeschlagen.» Er schaute in die Runde. «Hat einer irgendwas gehört oder gesehen von diesen Leuten? Zwei Boote waren es, mit mindestens zwei

Die Fischer schüttelten die Köpfe. Ein Mann aus der Gruppe des Alten trat vor und sagte: «Waren bestimmt Dänen. Gestern hab ich welche reden gehört, dass sie einen Dreck darauf geben, was mit unseren Hansestädten vereinbart wurde. Die Dänen behaupten, dieses Jahr wird so wenig Hering gefangen, weil wir ihnen die Fische wegfangen. Die wollen uns nicht mehr auf ihren Vitten haben. Seit sie Krieg gegen die Schweden führen, ist’s mit den Dänen noch ungemütlicher geworden.»

Den Verdacht, dass Dänen hinter dem Angriff steckten, hatte auch Veit. Gleich nachdem sie dem Loytz’schen Händler die Heringe übergeben hatten, würde er den Überfall beim Vogt von Falsterbo anzeigen. Er nahm eine weitere Fischkiste entgegen, um sie zu den anderen zu bringen, als jemand seinen Namen rief. Ein auffällig gekleideter Mann, begleitet von einem halben Dutzend bewaffneter Männer, schob sich durch die zurückweichende Menge der Fischer.

Wenn man vom Teufel sprach – es war der Vogt! Konnte das ein Zufall sein?, fragte sich Veit. Der Vogt ließ sich nur selten am Strand blicken. Vermutlich befürchtete er, seine feinen Kleider könnten dreckig werden. Heute trug er einen makellosen blauen Mantel und einen breitkrempigen Hut, den eine Feder schmückte. Der Mann hieß Björn Gryll. Bei den Fischern aus Pommern, Mecklenburg und Lübeck war er so beliebt wie die Pocken. Früher hatte jede Hansestadt auf Falsterbo ihren eigenen Vogt gestellt. Vor einigen Jahren hatte jedoch der dänische König verfügt, dass nur noch ein einziger Vogt, und zwar ein dänischer, auf der Vitte für Recht und Ordnung sorgte. Es

«Bist du der Steuermann Veit Karg aus Stettin?», fragte Gryll und blickte in Veits Boot.

«Der bin ich», erwiderte Veit. «Gut, dass Ihr hier seid. Ich muss Euch eine Mitteilung machen …»

«Wie ich sehe, sind deine Fischkisten gut gefüllt», unterbrach ihn Gryll. «Was ich jedoch in deinem Boot nicht sehe, ist ein Netz, mit dem du die Heringe gefangen haben willst.»

«Davon wollte ich Euch gerade berichten», sagte Veit schnell und machte eine abwehrende Geste. Eine leise Angst machte sich in seinem Magen bemerkbar. «Man hat uns die Netze gestohlen.»

«Willst du mich für dumm verkaufen, Karg?», brauste der Vogt auf. «Warum sollte sich jemand die Mühe machen, eure Netze zu stehlen, ohne die Heringe mitzunehmen?»

«Das weiß ich nicht», entgegnete Veit hilflos. «Die Männer, die uns angegriffen haben, waren mit Tüchern vermummt.» Den Verdacht, es könne sich um Dänen gehandelt haben, erwähnte er lieber nicht, um den Vogt nicht noch mehr gegen sich aufzubringen.

Gryll lachte höhnisch. «Du musst mir schon eine bessere Geschichte auftischen. Weißt du, was ich glaube – nein, wovon ich überzeugt bin? Du hast überhaupt kein Netz dabeigehabt, sondern die Netze anderer Fischer geplündert.»

Der Atem brach Veit heiser aus der Kehle. Kalte Angst überkam ihn, und er wich vor dem Vogt zurück, bis er gegen den Rumpf seines Bootes stieß. Er wechselte einen Blick mit seinen Leuten, denen das Entsetzen in die

«Fischraub wird mit der Todesstrafe geahndet», sagte Gryll. Zu seinen Söldnern gewandt, sagte er: «Nehmt den Mann fest. Dieser Fang wird im Namen des Königs beschlagnahmt, ebenso alle Heringe, die diese Fischer zuvor bereits gefangen haben.»

Als die Söldner Veit packen wollten, hob er verzweifelt die Hände. «Lasst mich, ich werde keinen Widerstand leisten. Alles wird sich aufklären. Björn Gryll – Ihr verdächtigt den Falschen.» Er rang um Atem und wandte sich an seine verängstigten Fischer. «Ihr müsst die Loytz benachrichtigen. Erzählt ihnen, was geschehen ist und dass es sich um einen Irrtum handelt …»

Dann wurde Veit abgeführt.

2 Stettiner Hinterland

«Eure Geschichte ist sehr beeindruckend, mein Herr», sagte die junge Frau. Ihre Augenlider klimperten aufreizend, die langen Wimpern flatterten. Die Spitze ihrer Zunge glitt über Schneidezähne und Oberlippe und hinterließ einen feuchten Glanz. «Wirklich sehr beeindruckend.»

«Und das ist noch nicht die ganze Geschichte, Teuerste», sagte Stephan Loytz. Seine Finger spielten mit einem vergoldeten Knopf an seinem Seidenwams und schnippten einen Fussel vom purpurfarbenen Stoff.

Stephan blickte verstohlen zum Vater des Mädchens. Seit die beiden am frühen Morgen bei einem Zwischenhalt zugestiegen waren, schlummerte der alte Herr an eine Strebe gelehnt und schreckte gelegentlich hoch, wenn die Räder durch ein Schlagloch rumpelten. Dann knurrte er ungehalten, nahm einen Schluck aus einem Trinkschlauch, in dem vermutlich kein Wasser war, und döste weiter.

Durch die Öffnung in der Plane konnte man sehen, dass eine flache, mit niedrigen Hügeln durchsetzte Landschaft vorüberzog. Es war ein unangenehm windiger Herbstmorgen; graue Wolken jagten über das Land. Der Regen der vergangenen Tage hatte die Wege aufgeweicht und Schlaglöcher mit Wasser gefüllt. Vor drei Tagen war der Wagen in Berlin abgefahren, wo Stephan auf der Rückreise aus Italien einige Tage bei seinem alten Freund Salomon Silbermann verbracht hatte; am heutigen Nachmittag sollte die Kutsche Stettin erreichen.

«Oh bitte, bitte erzählt doch weiter», sagte die junge Frau, deren Namen er noch nicht kannte. Er wusste nur, dass sie mit ihrem Vater von Stettin aus mit einem Schiff nach Danzig weiterreisen wollte. Vielleicht blieben sie einige Tage in Stettin, überlegte Stephan, dann konnte er versuchen, das Mädchen allein zu treffen. Ob sie seinem Charme und seinem guten Aussehen vielleicht schon längst erlegen war?

«Bevor mir also der Papst in Rom eine Audienz gewährte, habe ich am Collegium Germanicum mein Wissen vertieft und meinen höfischen Umgang geschult. Außerdem habe ich in Bologna Jurisprudenz, Literatur und Sprachen studiert», erklärte er und fügte mit einem Lächeln hinzu: «Libenter homines id, quod volunt, credunt.»

«Oh, ist das lateinisch? Was bedeutet es denn?»

«Die Menschen glauben gern, was sie wünschen.»

«Ach, Ihr seid so ein kluger Mann», sagte sie, ohne die Doppeldeutigkeit der lateinischen Weisheit zu verstehen. Wenn er in Rom nämlich jemanden nicht getroffen hatte, war es der Papst. Stephan und seine Kommilitonen waren vor allem den jungen Italienerinnen nachgeschlichen, wenn sie nicht gerade an der Universität studierten.

«Meine Familie soll schließlich was bekommen für ihr Geld», erklärte er. «Vor sieben Jahren verließ ich meine Heimatstadt Stettin. Ich lernte, züchtig zu leben und das kaufmännische Handwerk in unserer Faktorei in Antwerpen. Ihr wisst schon: Geldhandel, Geschäftsabschlüsse, Bilanzbuchhaltung und so weiter. Nun freue ich mich darauf, das alles im Unternehmen meiner Familie in die Tat umzusetzen. Erwähnte ich, dass wir in Stettin seit vielen Generationen ein bekanntes Handelshaus führen? Vielleicht sagt Euch der Name Loytz etwas?»

Sie antwortete nicht, sondern lächelte versonnen mit

«Unser Unternehmen hat großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einfluss, müsst Ihr wissen, Teuerste. In allen bedeutenden europäischen Handelsstädten betreiben wir Faktoreien.»

«Dann seid Ihr wohl sehr reich?» Sie beugte den Oberkörper weit vor und bot ihm einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté.

Er räusperte sich und fuhr fort: «In gewissen Kreisen – und damit meine ich auch höchste adlige Kreise – nennt man uns die Fugger des Nordens, wenn Ihr versteht, was ich meine …»

Da ließ mit einem Mal ein harter Ruck den Wagen erbeben. Stephan wäre fast mit der Nase in ihrem Dekolleté gelandet, konnte sich aber gerade noch an der Sitzbank festhalten.

Der Vater schreckte hoch, stieß mit zusammengepressten Zähnen einen Fluch aus und rief dann zum Kutscher: «Kannst du nicht aufpassen? Seit Stunden schüttelst du uns in deinem entsetzlichen Gefährt durch.»

Der Wagen stand still, die Pferde schnauften. Auf dem Bock sagte der Fahrer: «Tut mir leid, mein Herr, aber ich fürchte, hier geht’s nicht weiter.» Dann kletterte er vom Wagen und verschwand.

«Schau mal nach, was da los ist», sagte der Vater zu seiner Tochter. «Wird ja hoffentlich kein Raubüberfall sein.»

Sie saß dem Ausstieg am nächsten, steckte den Kopf durch die Planenöffnung und sagte: «Da liegt ein Karren quer über dem Weg, Vater. Daneben steht ein hässlicher,

Sie zog den Kopf zurück, zwinkerte Stephan zu und fragte: «Könnt Ihr nicht etwas tun?» Und an ihren Vater gewandt erklärte sie: «Er hat nämlich in Italien studiert, wo er sogar den Papst getroffen hat.»

«Also meine Hilfe braucht der Kutscher bestimmt nicht», sagte Stephan schnell. Die Vorstellung, draußen durch die Pfützen zu waten und sich Schuhe und Strümpfe dreckig zu machen, gefiel ihm überhaupt nicht.

Der Fahrer kehrte zur Kutsche zurück. «Wir werden eine Weile warten müssen, bis der Bauer seinen Karren aus dem Dreck gezogen hat …»

«Warum hilfst du dem Bauernlümmel nicht?», fuhr der Vater den Fahrer an.

«Weil ich hier der Einzige weit und breit bin, der Euch nach Stettin kutschieren kann. Sollte ich mir die Hand verstauchen oder den Hals brechen …»

Stephan spürte einen sanften Druck auf seinem Knie. Die junge Frau hatte ihre Hand daraufgelegt und sich wieder weit vorgebeugt. «Vielleicht könnt Ihr doch irgendwie helfen. Wir wollen in dieser Wildnis ja nicht übernachten.»

Stephan zwang sich, ihr in die Augen zu schauen. «Gut, Ihr wollt einen Helden, meine Teuerste, dann sollt Ihr einen Helden bekommen.»

Das waren große Worte, die Stephan sogleich bereute, aber gesagt war gesagt. Außerdem, so dachte er, schadete es nicht, die Bewunderung, die das hübsche Mädchen gewiss für ihn empfand, durch eine Heldentat weiter zu vertiefen. Er straffte die Schultern und stieg aus dem Wagen.

Der Kutscher deutete mit dem Kinn nach vorne und sagte: «Ich glaube, der Bursche kriegt das auch allein hin.»

«Was meint der Mann damit, du bekommst einen Helden?», hörte Stephan den Vater in der Kutsche fragen. Die Antwort der jungen Frau wartete er nicht ab, sondern ging zu dem Bauern über den grasbewachsenen Randstreifen, der fest und einigermaßen trocken war. Bis er die Pfütze erreichte, waren seine Lederschuhe noch sauber. Mit etwas Glück und Geschick würde das auch so bleiben. «Warum nimmst du kein Seil und befestigst es am Karren?», fragte er den Bauern.

Der Alte ließ von dem Gefährt ab. Sein rundes Gesicht war vor Anstrengung gerötet, aus der dicken Nase rann Schnodder. Er trug die schlichte graue Kleidung der Leute vom Lande, die Sachen waren mit Dreckspritzern überzogen.

Mit großen Augen betrachtete er Stephans feine Kleider und schüttelte bedauernd den Kopf. «Weil ich kein Seil habe, Herr.»

«He, hast du ein Seil dabei?», rief Stephan dem Kutscher zu. Der kletterte sogleich hinten in den Wagen und kam mit einem daumendicken Hanfseil wieder zum Vorschein, das er Stephan brachte.

«Knote das Seil an deinem Karren fest und leg das andere Ende um einen Baum am Wegesrand», erklärte Stephan dem Bauern. Genauso machte der es, dann zog er kräftig am Seil. Der Karren ruckte kaum mehr als eine Handbreit zum Baum hin, bevor der Bauer erschöpft aufgab.

Am Rand der Pfütze fand er eine trockene Stelle, und zusammen zogen sie am Seil, bis der Karren sich endlich bewegte und Zoll um Zoll aus der Pfütze rutschte. Bald fehlte nur noch ein kleines Stück, bis der Weg so weit frei war, dass die Kutsche vorbeifahren konnte. Mit einem Blick über die Schulter überzeugte sich Stephan, dass das Mädchen zu ihm herüberschaute. Denn was brachte ihm die Heldentat, wenn keine Bewunderin sie würdigte? Und er legte noch einmal seine ganze Kraft ins Seil, als es mit einem Knall entzweiriss und Stephan und der Bauer der Länge nach ins Wasser stürzten.

 

Stephan hob den Kopf. Sein Mund war voll Schlamm und Dreck. Er spuckte aus. Zwischen seinen Zähnen knirschte Sand. Wasser lief ihm aus der Nase. Er stemmte sich hoch. Unter ihm dümpelten die Äpfel in der Pfütze, sie waren rot und knackig. Der Bauer hätte dafür einen guten Preis auf dem Markt erzielt, wenn er seinen verfluchten Karren nicht hätte umkippen lassen.

Stephan richtete sich auf und schaute an sich herunter. Heiliger Herr Jesus! Was er da sah, war eine Katastrophe. Sein Seidenwams, die Hose und Strümpfe, die Schuhe – durchweg feinste italienische Mode. Und jetzt? Jetzt war die Pracht mit schmutzig braunem Schlamm überzogen. Das Wasser triefte ihm aus den Kleidern und rann ihm aus den Haaren übers Gesicht.

Der Bauer sah nicht besser aus, was ihn aber nicht zu kümmern schien. Er watete durch Wasser und Äpfel zu seinem Karren und betrachtete das Gefährt von allen

Stephan blickte zur Kutsche. Die junge Frau und ihr Vater waren wieder eingestiegen. Auf dem Bock schnalzte der Fahrer mit der Zunge, woraufhin sich die Pferde in Bewegung setzten. Um dem Wagen Platz zu machen, wich Stephan an den Randstreifen zurück und ließ die Pferde an sich vorbeitrotten; sie schnappten nach einigen Äpfeln und zerquetschten andere unter ihren Hufen. Stephan rief dem Fahrer zu: «Halt den Wagen gleich hinter der Pfütze an, damit ich einsteigen kann.»

Oben auf dem Bock schüttelte der Fahrer bedauernd den Kopf. «So schmutzig, wie Ihr seid, wollen Euch die Herrschaften nicht dabeihaben.»

Stephan klappte der Mund auf. Als die Kutsche vorbeirollte, streckte die junge Frau den blonden Kopf heraus. «Tut mir leid, mein Held, aber Ihr würdet alles dreckig machen. Ihr versteht sicher, dass wir auf unsere Kleider achtgeben müssen», rief sie und zog den Kopf zurück.

Als der Wagen ein Stück weitergerollt war, sah Stephan seine kleine Reisekiste aus dem Wagen fliegen. Die Kiste überschlug sich auf dem Weg, der Verschluss sprang auf, und der Inhalt – Kleidungsstücke, Papiere und ein paar Bücher – verstreute sich in Pfützen und zwischen Äpfeln und Grasbüscheln.

«Anhalten!», rief Stephan, als er seine Sprache wiederfand. «Haltet sofort den Wagen an!» Er wollte seine Sachen einsammeln und dem Wagen nachlaufen. Ihn einzuholen, wäre ihm ein Leichtes; auf dem weichen Untergrund kamen die Pferde nur langsam voran. Doch sein

Stephan seufzte und klaubte seine Kleider auf, die ebenso mit Dreck besudelt waren wie die Sachen, die er am Leib trug. Erleichtert stellte er fest, dass immerhin die Bücher keinen Schaden genommen hatten. Als er zu dem Alten ging, quoll bei jedem Schritt Wasser aus seinen Schuhen. Es dauerte eine Weile, bis sie den Karren aufgerichtet und alle unbeschadeten Äpfel eingesammelt und aufgeladen hatten. Der Bauer schenkte ihm zum Abschied ein paar Äpfel, bevor er sein quietschendes Gefährt davonschob.

Stephan stopfte die Äpfel in seine Reisekiste. Dann warf er einen Blick in seinen Handspiegel, wischte den gröbsten Schmutz aus seinem Gesicht und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Stettin.

3 Stettin

Der erste Schluck brannte wie ein Feuer. Gierig stürzte er den Branntwein hinunter und kippte sogleich Bier nach, um das Feuer in seiner Kehle zu löschen. Dann ein zweiter Schluck Branntwein und mehr Bier hinterher. Das Brennen wurde schwächer.

Die Becher leerten sich rasch. Allmählich ließ das Zittern seiner Hände nach. Er bestellte eine zweite, dann eine dritte Runde. So ging es eine Weile, bis die Mattigkeit, nach der er sich sehnte, wie dichter Nebel durch seinen Kopf waberte und seine Gedanken von einer klebrigen Masse niedergedrückt wurden. Er floh vor seinen

«He, Bursche!» Jemand knuffte ihn gegen die Schulter. «Mehr gibt’s nicht!»

Er hob den Kopf, der sich so schwer anfühlte, als sei er mit Blei gefüllt. Die verschwommene, kahlköpfige Gestalt, die sich über den Tisch beugte, teilte sich auf in zwei Gestalten. Er kniff ein Auge zusammen. In seinem Magen rumorte der Branntwein.

«Du hast genug getrunken», hörte er die Gestalt sagen. «Schau dich mal in ’nem Spiegel an. Siehst aus wie ’n Toter.»

«Na und, was geht’s dich an?», lallte er. «Nichts geht’s dich an … is meine Sache, wie ich aussehe …»

«Meinetwegen kannste verrecken, Bursche. Aber vorher zahlste deine Schulden.»

«Jaja, aber bring mir mehr zu trinken. Kriegst dein Geld bald … bald hab ich ’n ganzen Sack voll Geld … damit kauf ich dieses Loch dreimal … ich bin nämlich reich …» Eine brennende Flüssigkeit stieg in seiner Kehle auf.

«Das sagste jedes Mal», fuhr die Gestalt ihn an. «Auf dein Gerede fall ich nicht mehr rein, Bursche. Du zahlst sofort, oder ich werf dich raus!»

«Macht dir der Trunkenbold wieder Ärger?», rief eine andere Stimme. «Soll’n wir dem Manieren beibringen?»

«Mit dem werd ich allein fertig», entgegnete die Gestalt. «Also, Bursche, gib mir mein Geld, oder …»

Er wühlte in seinen Sachen, fand tatsächlich irgendwo eine verbogene Münze und warf sie auf den Tisch. Die Münze kullerte über den Tisch, bis sie in einer Bierpfütze liegen blieb.

«Mehr hab ich grad nicht …», lallte er, bevor ihm die gallenbittere Flüssigkeit in den Mund schoss und er sich auf den Boden übergab.

«Du verfluchtes Schwein!», schrie die Gestalt. «Raus mit dir!»

Kräftige Hände packten ihn, zogen ihn hinter dem Tisch hervor und stießen ihn Richtung Tür. Er stolperte über seine eigenen Füße und stürzte auf einen anderen Tisch, der krachend unter ihm zusammenbrach. Er hörte spitze Schreie, Rufe, laute Stimmen. Jemand brüllte ihn an, beschimpfte ihn. Als er sich aufrappelte, stieß etwas hart gegen seine Hüfte. Er verlor den Halt, fiel auf den Rücken und blickte auf. Über ihm waren verzerrte Gesichter, die vor seinen Augen zu einer einzigen, wütenden Grimasse verschwammen. Dann kam der nächste Fußtritt und traf ihn an der Schläfe. Blitze zuckten durch seinen Kopf. Trunkenes Gelächter mischte sich in das aufgeregte Stimmengewirr.

«Prügelt ihm die Scheiße aus dem Schädel!», rief eine helle Frauenstimme.

In seinem Körper flammten höllische Schmerzen auf. Von allen Seiten wurde jetzt auf ihn eingetreten. Seine Lippen platzten auf, er schmeckte Blut. Die Schmerzen waren schlimm, aber noch unerträglicher war das Gefühl der Erniedrigung.

«Schlagt das Schwein tot!», hörte er Stimmen rufen. «Der ist wertloser Dreck, Ungeziefer!»

Es gelang ihm, sich auf die Seite zu rollen, die Knie an die Brust zu ziehen und die Arme schützend um seinen Kopf zu schlingen. Unvermindert hart prasselten Schläge

Er machte sich klein, so klein wie einer, der gar nicht mehr hier war. Der niemals hier gewesen war. Und er sehnte den Tod herbei.