
Für Susi, Bernd, Marika
und Janina Reinert
und für meinen geliebten Mann
Peter Speemann
Boykott
«Die chirurgische und die geburtshilfliche Klinik der königlichen Charité sind allmählich in einen Zustand geraten, welcher den heutigen Anforderungen des Hospitalwesens absolut nicht mehr entspricht, und der Studierende ist nicht einmal in der Lage, in ihnen zu erfahren, wie denn eigentlich eine solche Einrichtung sein sollte.»
Die Stimme des berühmten Pathologen und Sozialpolitikers durchdrang mühelos den großen Saal, in dem sich die Vertreter des Preußischen Abgeordnetenhauses versammelt hatten.
Rudolf Virchow ließ den Blick über die gewählten Vertreter des Volkes schweifen. Er war noch immer eine imposante Erscheinung, die Augen hinter seiner runden Brille klar, der üppig weiße Vollbart gepflegt, doch die hohe Stirn war nun in sorgenvolle Falten gelegt. Obwohl er die siebzig überschritten hatte, hielt er sich erstaunlich gerade, und er dachte gar nicht daran, seinen Posten als Leiter des Pathologischen Instituts aufzugeben.
«Der Zustand der königlichen Charité ist schlichtweg blamabel für eine Ausbildungsstätte preußischer Militärärzte, und die Kliniken der Universität haben seit ihrer Gründung vor über achtzig Jahren schon lange den Anschluss an die Entwicklung der modernen Medizin verloren. Was muss passieren, dass der König und seine Minister endlich einsehen, dass dieses Flickwerk an Notbauten, die seit Jahrzehnten zunehmen, ein Ende haben muss? In Zeiten des wirtschaftlichen Verfalls, in denen sich die Lebensbedingungen der Arbeiter drastisch verschlechtern, brauchen wir eine großzügige, moderne Einrichtung. Sehen Sie sich die im Pavillonstil errichteten Krankenhäuser in Friedrichshain oder Moabit an. Der Zustand der königlichen Charité ist dagegen eine Schande! Was muss passieren, dass die Verantwortlichen endlich handeln?»
Zehn Millionen Goldmark, so rechnete das Ministerium, dem das Medizinalwesen zugeordnet war, würde ein Neubau der Charité als moderner Klinikkomplex kosten. Noch scheute sich der Kaiser, so viel Geld in die Hand zu nehmen. Diese Sozialpolitiker dramatisierten immer! Bisher lief doch alles ganz gut.
Das konnte sich Kaiser Wilhelm II. einreden, bis im nächsten Sommer eine neue Choleraepidemie von Brandenburg her auf die kaiserliche Hauptstadt zurollte. In Hamburg hatte die Seuche, gegen die es immer noch keine wirksame Medizin gab, bereits achttausend Menschenleben gefordert. Erinnerungen an die letzten großen Epidemien in Berlin in den Jahren 1831 und 1866 wurden wach. So etwas durfte sich nicht wiederholen, darin waren sich alle einig, aber wie konnte man das Vordringen der Seuche verhindern? Wie konnte man die Erkrankten schnell und wirksam isolieren, um die Bevölkerung vor Ansteckung zu bewahren?
Über die maßgebliche Rolle von mangelnder Hygiene und verseuchtem Wasser bei der Verbreitung der Krankheit gab sich keiner mehr irgendwelchen Illusionen hin. Daher forderten die Stadtverordneten und der Magistrat einen Kredit von der preußischen Regierung, um dringend notwendige «sanitätspolizeiliche Maßnahmen» durchführen zu können. Und die Sozialdemokraten wiesen die bewilligten dreihunderttausend Mark als viel zu wenig zurück.
In ihrer Zeitung Vorwärts rief der Arzt Ignaz Zadek die Arbeiter Berlins auf, selbst aktiv zu werden. Mithilfe von Sanitätskolonnen sollten freiwillige Helfer die Missstände in Berlins Fabriken und Wohnhäusern, aber auch in den Krankenhäusern aufspüren und öffentlich machen. Außerdem wurden in der SPD-Zeitung die «menschenunwürdigen Zustände», die in der königlichen Charité herrschten, detailliert ausgebreitet – was zum erhofften Sturm der Entrüstung führte.
Der Herausgeber der Deutschen Medizinischen Wochenzeitschrift schrieb: «Die Charité ist ein Komplex von alten Gebäuden, deren bauliche Zustände völlig ungeeignet und deren hygienische Einrichtung trotz der hier und da angebrachten Flickerei für ein Krankenhaus geradezu verwerflich sind.»
Auch die Krankenkassen schalteten sich ein und riefen gemeinsam mit der Sanitätskommission zum Boykott der Charité auf. Im Dezember 1893 kam es zu Massenprotesten Berliner Arbeiter, die sich über die überfüllten Krankensäle beschwerten, die veralteten sanitären Einrichtungen, das schlecht ausgebildete Pflegepersonal und den Kasernenton, der noch immer in der Klinik herrschte.
So kam es zu einem ungewöhnlichen Bündnis. Ministerialdirektor Althoff, der für die konservativen Monarchisten stand, und Dr. Zadek von den Sozialdemokraten kämpften zusammen mit Virchow und vielen anderen Medizinern für den Neubau der Charité.
«In den Abteilungen der Charité geht es zu wie in einem Gefängnis!», wetterte Zadek. «Allen voran werden die Patientinnen der venerischen Abteilung wie Verbrecherinnen behandelt!»
Minister Althoff trug den Gesetzentwurf zur Erneuerung der Charité vor den beiden Häusern des Landtags derart mitreißend vor, dass schließlich die gesamte Bausumme von knapp zehn Millionen Mark bewilligt wurde. Auch der Kaiser stimmte zu: 1897 konnte die Erneuerung der Charité beginnen!
Schritt für Schritt wurden alte Flügel und Baracken abgerissen, während die neogotischen Fassaden aus rotem Backstein in die Höhe wuchsen. In dem ersten Gebäude, das fertiggestellt wurde, fanden das Pathologische Institut von Professor Virchow sowie ein Museum für seine über Jahrzehnte angewachsene Präparatesammlung eine würdige Heimat. Danach entstanden die Psychiatrische Klinik und Direktor Heubners Kinderklinik.
Als Minister Althoff 1902 den Internisten Professor Friedrich Kraus an die II. Medizinische Klinik berief, musste sich dieser allerdings vorläufig noch mit der Abteilung im alten Dreiflügelbau der sogenannten Neuen Charité auf der Nordseite des Geländes begnügen. Dennoch brach mit ihm eine neue Zeit an: Nur Monate nach Amtsantritt entschloss sich Kraus dazu, eine seiner Volontärstellen an eine weibliche Bewerberin zu vergeben. Ein absolutes Novum – und die Chance für Dr. Rahel Hirsch aus Frankfurt am Main, die an der Charité Medizingeschichte schrieb!
Aufbruch
Fräulein Doktor
Die Landschaft rauschte am Fenster des Waggons vorbei. Wenn sie den Blick starr geradeaus richtete, lösten sich die Konturen in verschwommene grüne und gelbe Streifen auf. Der Herbst begann, die Blätter zu verfärben. Sie wirbelten im Wind so durcheinander wie die Gedanken in ihrem Kopf.
Sie war unterwegs nach Berlin, zu ihrer ersten Stelle als Ärztin! Sie konnte es noch immer nicht recht glauben. So viele Jahre, und nun sollte der Traum tatsächlich Wirklichkeit werden.
Dr. Rahel Hirsch.
Ihr Großvater, der berühmte Rabbiner Samson Raphael Hirsch, der 1888 im selben Jahr wie die letzten beiden Kaiser gestorben war, wäre heute sehr stolz auf sie, das wusste sie genau. Gelehrsamkeit war für ihn immer eine hohe Tugend gewesen – für Männer und für Frauen.
Ein Jahr nach seinem Tod hatte Rahel in Wiesbaden ihr Lehrerinnenexamen abgelegt, um an der von ihrem Großvater in Frankfurt am Main gegründeten und inzwischen von ihrem Vater geleiteten Höheren Töchterschule der Israelitischen Religionsgemeinschaft zu unterrichten.
Auch ihr Vater, Mendel Hirsch, war inzwischen tot. Er hatte die ersten beiden Jahre ihres Medizinstudiums noch miterlebt und Rahel in ihren ungewöhnlichen Plänen bestärkt. Ohne seine Unterstützung hätte sie nicht in Zürich studieren können. Zürich – noch vor wenigen Jahren bot die dortige Universität die einzige Möglichkeit für eine Frau, Ärztin zu werden. Inzwischen hatte der Bundesrat beschlossen, auch in Deutschland Frauen zum medizinischen Staatsexamen zuzulassen, doch die einzelnen Länder ließen sich Zeit, die Vorgabe umzusetzen. Allen voran Berlin, das seine Universitätstüren für Frauen noch immer nicht geöffnet hatte. Baden sowie Elsass-Lothringen waren als Erste bereit gewesen, dem Beschluss zu folgen. Rahel hatte deshalb in Straßburg ihr Medizinstudium fortgesetzt und mit der Dissertation erfolgreich abgeschlossen.
Sie löste ihren Blick von der vorbeifliegenden Landschaft, öffnete ihre Tasche und zog ein in weinrotes Leder gebundenes Büchlein hervor. Die letzten Eintragungen hatte sie vergangene Nacht in ihrer spartanischen Unterkunft geschrieben, ehe sie ihre Reise hatte fortsetzen können.
Mein Herz rast. Ich kann es in meinen Ohren pochen hören. Ich versuche, mir die Vorgänge in meinem Körper bildlich vorzustellen. Mein Herz zieht sich hektisch zusammen und pumpt, schneller als sonst, das Blut durch meine Adern. Doch woher rührt das Rauschen im Kopf? Kann ich den Fluss meines Blutes durch mein Gehirn hören?
Meine Gedanken wandern zurück nach Zürich und nach Straßburg, zu meinen Professoren, die mich so viel gelehrt haben, und zu den Studenten, denen ich im Anatomiesaal, beim Präparierkurs oder im Vorlesungssaal bei Operationen begegnet bin …
Der Zug hielt an, die Abteiltür öffnete sich, und ein junges Mädchen von vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahren erkundigte sich, ob der Fensterplatz ihr gegenüber noch frei sei. Rahel erhob sich und half, ihren Koffer in die Gepäckablage zu wuchten. Der Koffer des Mädchens war deutlich schwerer als ihr eigener.
«Danke», sagte sie ein wenig atemlos und streckte die Hand aus. «Johanna Hermann», stellte sie sich vor. «Wir werden nun wohl einige Stunden gemeinsam verbringen.»
Der Eifer des jungen Dings ließ Rahel lächeln. «Rahel Hirsch», sagte sie. Fast wäre sie der Versuchung erlegen, sich als Dr. Rahel Hirsch vorzustellen.
Die Abteiltür öffnete sich erneut, und ein älterer Herr in stramm sitzender Uniform kam herein. Er musterte die beiden Frauen und wählte dann einen Platz, der ihm ein wenig Abstand gewährte. Rahel und Johanna setzten sich. Während Rahel ihr Tagebuch wieder in ihrer Tasche verstaute, faltete der Offizier eine Zeitung auf und verschanzte sich hinter den bedruckten Blättern.
Rahel beobachtete das Mädchen ihr gegenüber, das nervös auf seinem Sitz hin- und herrutschte. Sie war ein hübsches Ding mit blonden Zöpfen, die ordentlich an beiden Seiten in Form einer Schnecke festgesteckt waren. Ihr Gesicht war schmal, die Augen von einem hellen Blau. Die rosige Haut zeigte ihre Jugend. Sie trug ein schlicht geschnittenes Kleid von guter Stoffqualität. Dass sie nicht aus einer armen Familie stammte, schloss Rahel bereits aus dem Umstand, dass sie in der zweiten Klasse fuhr.
Johanna zog ein Buch aus der Tasche, schlug es auf und beugte sich darüber, doch sie schien sich nicht recht konzentrieren zu können. Ungeduldig blätterte sie nach vorn und zurück und schlug es dann mit einem Seufzer wieder zu. Rahel erhaschte einen Blick auf den Titel und stellte erstaunt fest, dass es sich um ein Werk über Arithmetik und Geometrie handelte. Ihre Blicke begegneten einander.
«Ich sollte die Bahnfahrt eigentlich zum Lernen nutzen, aber ich bin zu aufgeregt», sagte Johanna. «Ich fahre zu meiner Tante nach Berlin», verriet sie. «Ich durfte in Karlsruhe den neu eingerichteten Gymnasialkurs für Mädchen besuchen und werde nun als externe Schülerin am Königlichen Luisengymnasium meine Reifeprüfung ablegen!»
Hinter der Zeitung ertönte ein abfälliges Schnauben, das die beiden Frauen geflissentlich ignorierten.
Rahel beglückwünschte ihre sichtlich begeisterte Mitfahrerin. «Und wie soll es danach weitergehen?», erkundigte sie sich und warf ihr einen aufmunternden Blick zu.
«Ich werde bei meiner Tante wohnen und auf einer privaten Schule eine Ausbildung zur Lehrerin machen», sagte sie mit einem gewissen Stolz. «Ich möchte nicht nur Kinder unterrichten. Ich möchte später auch ältere Mädchen in Chemie und Mathematik unterrichten!»
«Sie sind ehrgeizig, das gefällt mir, doch dafür müssten Sie eine Zulassung für den Unterricht an einer Oberstufe erhalten. Das wird nicht einfach», vermutete Rahel. «Bisher gibt es doch dort nur männliche Lehrer und Rektoren, nicht wahr?»
«Ich weiß», sagte Johanna mit einem Seufzen. «Kennen Sie Helene Lange? Sie ist eine Freundin meiner Tante und erkämpft unermüdlich bessere Bildungschancen für Mädchen. Sie und ihre Mitstreiterinnen haben es geschafft, dass das Kultusministerium ein Oberlehrerinnenexamen eingeführt hat. Allerdings muss ich zuvor ein paar Jahre als Lehrerin in der Grundstufe arbeiten, dann bestimmte Kurse an der Universität belegen und in zwei Fächern eine Prüfung bestehen. Ziel ist es, dass Mädchenoberschulen auch von Frauen geleitet werden dürfen!»
«Das wird ein langer Weg», bemerkte Rahel, «aber wenn Sie weiterhin so enthusiastisch darauf zuarbeiten, werden Sie bestimmt alles schaffen.»
Über Johannas Gesicht huschte ein glückliches Lächeln, dann aber zuckte sie mit den Achseln: «Frau Lange behauptet, das Ministerium mache es den Frauen absichtlich schwer, weil man die Vorherrschaft der Direktoren und Oberlehrer nicht gefährden will. Sie sagt, der Etat für die Knabenschulen sei noch immer fünfzig Mal höher als der für Mädchenbildung. Das ist so ungerecht.»
Hinter der Zeitung grunzte es wieder. Vermutlich hielt der Offizier das für eine gerechte Politik.
«Das glaube ich gerne, dass dahinter eine Strategie steht», stimmte ihr Rahel zu. «Ich selbst habe früher in Frankfurt an einer privaten Schule unterrichtet, weil es nicht anders möglich war.»
«Warum haben Sie denn damit aufgehört?» Johanna klang enttäuscht.
«Weil ich noch andere Pläne hatte. Ich bin dann in die Schweiz gegangen, um Medizin zu studieren, und nun fahre ich nach Berlin. Zu meiner ersten Anstellung als Ärztin!»
Johanna starrte sie mit offenem Mund an. «Oh mein Gott, das ist ja phantastisch! Ich bin beeindruckt. Dann sind Sie Doktor Rahel Hirsch!»
Die Bewunderung tat Rahel gut. Allerdings schien das dem Offizier nun doch zu viel. Er ließ die Zeitung sinken und schenkte den beiden Frauen einen strengen Blick.
«‹Wo ist dein Weib?›, fragte der Herr Abraham, und der antwortete: ‹Sarah ist in der Hütte, Herr! Das ist ihre Bestimmung.› So war es, und so sollte es auch bleiben! Aufgrund des natürlichen Anlehnungsbedürfnisses der weiblichen Psyche eignet sich der Mann besonders dazu, in einer Mädchenschule zu unterrichten. Ein verheirateter Lehrer erzieht Mädchen zur edlen Weiblichkeit, statt sie mit unnützen Ideen zu verderben. Und dann auch noch eine Ärztin!» Seine tiefe Entrüstung war fast mit Händen zu greifen.
«Wir leben nicht mehr in Abrahams Zeiten!», ereiferte sich Johanna. «Frauen haben in den vergangenen Jahren vielfach unter Beweis gestellt, dass sie die Intelligenz und die Stärke haben, jedes Fach zu studieren und jeden Beruf zu erlernen.»
«Ach ja? Und was kommt als Nächstes? Die Verwaltung oder gar die Regierung? Es würde unserer Verfassung widersprechen, Männer unter die Leitung einer Frau zu stellen! Kein Mann von Ehre würde unter einer Direktorin in einer Mädchenschule unterrichten.»
Demonstrativ wandte sich Johanna von ihrem Mitreisenden ab, der beleidigt hinter seiner Zeitung verschwand.
Die beiden Frauen tauschten Blicke, dann lenkte das junge Mädchen das Gespräch auf ein weniger politisch brisantes Terrain.
«Haben Ihnen das alles Ihre Eltern ermöglicht?», fragte Johanna und wandte sich erneut an Rahel. «Meinem Vater ist der Sohn versagt geblieben. Ich denke, daher steht er meinen und den Wünschen meiner Schwester offener gegenüber. Haben Sie auch Geschwister?»
Rahel lächelte verschmitzt. «Ja, ich habe eine wunderbare Familie. Und ja, dazu gehören jede Menge Geschwister. Wir waren elf Kinder daheim in Frankfurt!»
Johanna stieß einen überraschten Laut aus.
«Neun Mädchen und zwei Jungen. Meine Brüder haben ebenfalls Medizin studiert, während ich zuerst in Wiesbaden das Lehrerinnenseminar besuchte.»
«Und dann durften Sie auch noch Medizin studieren? Ihre Eltern müssen aber sehr wohlhabend sein», entfuhr es Johanna, die sich sogleich für diese unpassende Bemerkung entschuldigte.
«Sie haben recht, uns ging es immer gut. Trotzdem denke ich, es lag vor allem an der Einstellung meines Großvaters, der ein bekannter Rabbiner war, und meines Vaters, der Mädchenbildung ebenfalls für wichtig hielt. Inzwischen sind beide leider tot. Jedenfalls wurden wir Schwestern nicht in dem Sinn erzogen, lediglich gute Ehefrauen und Mütter zu werden. Ich hatte in meiner Kindheit mehr Freiheiten als die meisten Mädchen und durfte viele Jahre mit den Brüdern und ihren Freunden unbeschwert draußen spielen und toben.»
Rahel lehnte sich in ihren Sitz zurück und genoss sichtlich die Erinnerungen an die schöne Zeit.
«Das hört sich so schön an», sagte Johanna mit Sehnsucht in der Stimme.
Rahel nickte. «Und nicht zu vergessen meine Mutter! Sie war schon immer die wichtigste Person in unserer Familie, nicht nur, weil sie sich um uns Kinder kümmerte. Sie hat sich um alles gekümmert. Mein Vater war ein liebenswürdiger Gelehrter, Direktor der Schule, der sich ansonsten mit religiösen Schriften befasste und nicht mit täglichen Problemen belästigt werden wollte.»
«Ich verstehe, was Sie meinen. Haben Sie sich denn mit allen Geschwistern gleich gut verstanden? Ich habe mit meiner Schwester viel gezankt!»
«Da gab es immer wechselnde Parteien», erwiderte Rahel und schmunzelte. «Mal verbündeten wir uns mit, mal gegen die Jungen, aber am nächsten stand mir schon immer meine Schwester Theresa, die zwei Jahre vor mir geboren ist. Wir sind uns sehr ähnlich. Theresa ist seit Jahren Lehrerin in der Schule, an der auch ich war und die mein Vater bis zu seinem Tod geleitet hat.»
Sie schwiegen eine Weile und sahen in die vorbeihuschende Landschaft hinaus. Dann nahm Johanna noch einmal ihr Mathematikbuch zur Hand und vertiefte sich in seine Seiten.

Berlin!
Rahel verließ den Bahnhof und stand, den Koffer in der Hand, erst einmal staunend da. Eine Droschke hielt neben ihr, der Kutscher beugte sich zu ihr hinunter.
«Wo woll’n Se denn hin, Frollein?»
Rahel wandte sich um und zeigte auf das Schild, auf dem «Potsdamer Bahnhof» zu lesen war.
«Ich bin hier doch am Bahnhof von Berlin, nicht wahr?»
Der Droschkenfahrer lachte. «Sie sind in Berlin, Frollein, det is schon richtich, aber wir ham hier zehn Bahnhöfe in der Stadt. Könn’n Se sich eenen aussuch’n. Also, wo woll’n Se hin?», fragte er noch einmal.
«Zur Charité», gab Rahel Auskunft.
«Ah, ’ne Krankenschwester», sagte der Kutscher und nickte.
«Nein, Ärztin», widersprach Rahel und reckte das Kinn.
Der Droschkenfahrer lachte ungläubig und nannte ihr dann den Preis.
Rahel überlegte. Ihre Mutter hatte ihr zwar Geld mitgegeben, aber sie würde sparsam damit umgehen müssen. Vor allem, weil sie als Volontärärztin erst einmal gar kein Gehalt bekommen würde. Doch da sie in der Charité wohnen und essen konnte, hoffte sie, mit den Ersparnissen der Familie lange genug durchhalten zu können, bis sie irgendwann ihr eigenes Geld verdienen würde.
«Wie weit ist es denn bis zur Charité?», erkundigte sich Rahel.
«Det is zu weit. Det könn’n Se mit dem Koffer nich loofen.»
«Gibt es denn eine billigere Möglichkeit dahinzukommen als mit der Droschke?», fragte sie tapfer, obwohl es ihr peinlich war.
Der Kutscher warf sich in die Brust. «Aber klar! Berlin is ’ne moderne Stadt. Wir ham hier nich nur den alten Pferdeomnibus. In der janzen Stadt fährt auch die Straßenbahn, elektrisch uff Schienen! Weiter draußen ham se so Böjen aus Ziejelsteinen jemauert, uff denen die Bahn langfährt. Untendrunter jibt’s ’n paar jemütliche Kneipen, det kann ick Ihnen sagen. Und ’ne Stadtbahn jibt’s ooch bei uns. Die fährt hier inne Stadt durch ’nen langen Tunnel. Aber mit der komm’n Se nich zur Charité, die fährt nur nach Charlottenburg raus. Am billichsten ist der Pferdeomnibus für fünf Pfennich», fügte er noch hinzu. «Dort drüben uffe Ecke könn’n Se wart’n und frag’n, wo Se umsteig’n müss’n.»
Rahel bedankte sich herzlich und wünschte dem Kutscher einen schönen Tag und viele Fahrgäste. Dann machte sie sich mit ihrem Koffer in der Hand auf zur Haltestelle des Pferdeomnibusses.
Während der Fahrt wuchs ihre Anspannung noch. Was für eine Stadt! Rahel sah aus dem Fenster und bestaunte die prächtigen Gebäude zu beiden Seiten der breiten Straßen. Zuerst folgten sie der Leipziger Straße bis zum Spittelmarkt, dann ging es weiter am Kanal entlang Richtung Norden. Immer wieder kreuzten sie die Schienen der Straßenbahn. Doch es waren auch vornehme private Kutschen neben einfachen Karren von Krämern oder Handwerkern unterwegs. Und natürlich die Automobile! Es knatterte und hupte, dann schoss wieder eine glänzende Karosse an den gemächlich dahintrottenden Pferden vorbei. Rote, schwarze und dunkelgrüne Motorhauben glänzten in der Herbstsonne. Wolken aus Benzindunst und Rauch hüllten die Fahrgäste des Pferdeomnibusses ein und reizten zum Husten. Das konnte nicht gesund sein, dachte Rahel. Auf der rechten Seite erhaschte sie einen Blick auf das kaiserliche Stadtschloss. Dahinter erhob sich die Kuppel des Doms in den Himmel.
Als sie in die von Linden gesäumte Allee einbogen, wurde der Verkehr noch dichter. Rahel wunderte sich, wie all die unterschiedlichen Gefährte vorankamen, ohne sich gegenseitig anzurempeln. An einer belebten Kreuzung sah sie einen Polizisten stehen, der anzeigte, in welche Richtung gerade gefahren werden durfte.
«Unter den Linden», sagte auf einmal der Mann, der hinter ihr saß und sich nun zu ihr vorbeugte. «Sie sind nicht von hier, richtig? Waren Sie denn schon mal in Berlin?»
Die Zutraulichkeit des Fremden überraschte Rahel. Sie drehte sich zu ihrem Mitfahrenden um, der ihr nett und harmlos vorkam, und verneinte.
Nun kam der Herr in Schwung und begann, all die prachtvollen Gebäude rechts und links zu benennen. «Beeindruckend, nicht wahr? Dort drüben ist das Zeughaus. Und daneben, das Gebäude mit den Säulen, das ist die Neue Wache. Auf der gegenüberliegenden Seite sehen Sie die Oper. Und hier auf unserer Seite liegt das ehemalige Prinzenpalais, etwas zurückgesetzt hinter dem schmiedeeisernen Gitter. Das ist schon lange das Hauptgebäude der Universität, die bald ihr hundertjähriges Bestehen feiern darf. Ein moderner Forschungstempel für unzählige Disziplinen», schwärmte der unbekannte Mitfahrer.
Allerdings nicht so modern, als dass hier Studentinnen zum Examen zugelassen würden, dachte Rahel.
An der Ecke zur Friedrichstraße musste sie umsteigen. Sie verabschiedete sich höflich von ihrem Stadtführer und wechselte das Gefährt. Der nächste Omnibus brachte sie bis vor das Tor der königlichen Charité. Dr. Rahel Hirsch war endlich angekommen – am Ziel ihrer langgehegten Wünsche.

Oktober 1903
Theresa, meine geliebte Schwester,
ich bin in Berlin gut angekommen. Wie viele Eindrücke stürzten bereits bei der Fahrt zur Charité auf mich ein! Ach, ich würde Dir gern all die prächtigen Straßen und Palais beschreiben. In einem der prächtigsten Unter den Linden ist die Universität untergebracht, die sich noch immer weigert, Studentinnen aufzunehmen. Wie Du ja weißt … Mehr als ein paar Veranstaltungen als Gasthörerin zu besuchen, ist nicht möglich, und selbst dazu sind nicht alle Professoren bereit. Und gerade in der Medizin verweisen einige nach wie vor jedes weibliche Wesen aus ihrem Hörsaal.
Doch ich will Dir von der Charité berichten, die mich sehr beeindruckt. Das Gelände ist riesig und ummauert, und hier wird eifrig gebaut. Die ersten neuen Gebäude mit ihren neogotischen Klinkerfassaden lassen erahnen, wie großartig das Ensemble irgendwann aussehen wird. Leider sind die Medizinischen Kliniken, die für innere Leiden zuständig sind, noch in einem alten Dreiflügelbau untergebracht. Und ausgerechnet der heißt kurioserweise Neue Charité. Die Pflegekräfte und die Assistenten der Klinik wohnen in Zimmern unter dem Dach.
Eigentlich sind die Ärzte im Flügel gegenüber, doch mir haben die Hauseltern eine Kammer in dem Bereich zugewiesen, in dem auch die Schwestern der Diakonie untergebracht sind. Sie haben wie ich ein eigenes kleines Zimmer, während Pflegerinnen und Pfleger sich Kammern mit mehreren Betten teilen.
Mein Zimmer ist recht bescheiden eingerichtet. Ich habe ein Bett, einen Nachtkasten, eine Kommode und einen kleinen Tisch. Der steht unter dem Fenster, das in den Innenhof hinauszeigt. Aber es ist zum ersten Mal mein eigenes Reich, ich muss es mit niemandem teilen! Ein Bad gibt es am Ende des Ganges.
So gut es ging, habe ich versucht, mich wohnlich einzurichten. Das Foto, das Mutter vergangenes Jahr von der Familie hat machen lassen, steht auf meinem Nachtkasten, daneben ein Bild von Papa. Auf dem Tisch habe ich das Damasttuch ausgebreitet, das Du mir mit so viel Mühe bestickt hast, und darauf steht der kleine silberne Leuchter, den Mutter mir zum Abschied geschenkt hat.
Liebe Theresa, nach unseren schönen Sommerwochen vermisse ich Dich, Mutter und die anderen Geschwister sehr!
Es ist schon recht spät, und ich sollte eigentlich schlafen, doch ich fühle mich so ruhelos. Morgen lerne ich den Direktor und die Kollegen kennen! Ich gebe zu, ich bin ein wenig nervös. Es wäre schön, Du würdest jetzt neben mir sitzen, liebe Schwester, und mir Mut machen. Schließlich bin ich die erste Ärztin, die an der Charité anfängt!
Gerade wandern meine Gedanken nach Zürich und Straßburg. In der Schweiz waren es Professoren und Studenten bereits seit Jahren gewohnt, auch mit studierenden Frauen zu tun zu haben. In Straßburg wurde ich dagegen öfters angestarrt und musste manch spöttische Bemerkung schlucken. Ja, Theresa, dort war man den Anblick von Studentinnen noch nicht gewöhnt. Allerdings gab es auch einige junge Männer, die uns zuvorkommend behandelten – was dann oft dazu führte, dass sie uns den Hof machten. Umso mehr mussten wir Frauen darauf achten, uns tadellos zu benehmen …
Aber jetzt ist nicht die Zeit für alte Geschichten. Ich sehe gespannt dem Morgen entgegen, wenn meine Arbeit an der II. Medizinischen Klinik beginnt!
Ich drücke Dich herzlich!
Vergiss nicht, Mutter und alle anderen von mir zu grüßen, und schreib mir bald!
Deine Schwester Rahel
Barbara Schubert
Barbara blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Sie unterdrückte ein in ihr aufsteigendes Stöhnen. Sie war müde, die Beine schmerzten. Sie fühlten sich an, als sei sie heute mindestens drei Mal um ganz Berlin herumgelaufen. Na ja, ganz so weit war es sicher nicht gewesen, aber sie hatte genug. Dennoch biss sie die Zähne zusammen und machte sich nicht zu Marlenes Wohnung auf, die sie, seit sie vor zwei Jahren nach Berlin gekommen war, mit ihrer Tante und deren Sohn Franz teilte. Er war zwanzig, ein Jahr jünger als sie selbst, und sie kamen ganz passabel miteinander aus.
Barbara war, wie so viele, die vom Land nach Berlin gezogen waren, wieder einmal auf der Suche nach Arbeit. Sie hatte fast alle Adressen, die Marlene und die Nachbarn ihr empfohlen hatten, bereits aufgesucht, doch niemand wollte ihr eine Stelle geben, obgleich sie eine geschickte Näherin war und schnell arbeitete. Es half nichts. Sie hatte ihre Stelle in der Wäschefabrik hinter dem Stettiner Bahnhof nicht durch eigene Schuld verloren. Die Firma, hieß es, habe in letzter Zeit Verluste gemacht, daher mussten zwei Dutzend Arbeiterinnen gehen. Jede von ihnen lief sich jetzt vermutlich die Füße platt auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Wie sie selbst. Es gab einfach zu viele Arbeitssuchende in Berlin. Jede freie Stelle war im Handumdrehen neu besetzt, und Dutzende Suchende mussten enttäuscht und müde wieder von dannen ziehen.
Frierend blieb Barbara vor einem der blank geputzten Schaufenster stehen, hinter denen das goldgelbe Licht eines Kristalllüsters die herbstliche Dämmerung zurückdrängte. Sie betrachtete die feinen Kleider, Mäntel und Kostüme, die hinter der Scheibe in Szene gesetzt waren. Herbstmode in dunklem Rot oder in Naturtönen aus weichen Wollstoffen mit Pelzkragen war im Moment sehr gefragt. Vielleicht hatte Marlene eines dieser Kleider zusammengenäht, welches hier zu einem Preis angeboten wurde, der ein Jahresgehalt verschlingen würde. Barbara seufzte. Sie sah ihre Tante vor sich, wie sie Stunde um Stunde mit gebeugtem Rücken vor ihrer Nähmaschine saß, die längst noch nicht abgezahlt war. Marlene arbeitete für die Firma Hurwitz & Sohn. Sie nähte die von einem Schneidermeister zugeschnittenen Teile zusammen, säumte die Kanten, nähte Knöpfe, Borten und Häkchen an. Pro Kleidungsstück verdiente sie ein paar Pfennige, sodass sie in guten Wochen auf sechs oder sieben Mark kam – wenn sie fleißig jeden Tag zwölf Stunden nähte.
Im Haupthaus der Konfektionsmeister von Hurwitz & Sohn am Hausvogteiplatz entstanden die Entwürfe, dort wurden auch die Farben und Stoffe festgelegt, bevor man die Aufträge an diverse Schneidermeister weiterleitete. Diese Zwischenmeister schnitten dann die einzelnen Teile zu und gaben sie an das Heer der Heimnäherinnen weiter. Marlene war eine von ihnen. Viele Frauen hatten kleine Kinder, die sie zwangen, eine Arbeit im Haus zu verrichten. Marlene hatte damit angefangen, als Franz noch zur Schule ging und ihre kleine Tochter Ida noch nicht einmal den Windeln entwachsen war. Damals hatte Josef auch noch gelebt.
Barbara hatte ihn nie kennengelernt, doch so wie Marlene von ihm sprach, musste er ein guter Ehemann gewesen sein, bis es in der Gießerei der Borsigwerke draußen in Moabit beim Transport des flüssigen Eisens zu einem Unfall gekommen war. Mit schweren Verbrennungen hatte man Josef in die Charité eingeliefert, wo er unter Schmerzen einige Tage später in Marlenes Armen gestorben war.
Das Geld der Sterbekasse, die noch Albert Borsig ins Leben gerufen hatte, reichte gerade einmal für die Beerdigung und die ersten Monate nach Josefs Tod. Seitdem war Marlene mit ihren beiden Kindern auf sich allein gestellt.
In jenem Jahr habe das Glück sie verlassen, sagte sie immer wieder. Denn nur wenig später erkrankte Ida und bekam hohes Fieber. Auch ihr konnte man in der Charité nicht helfen, und Marlene verlor kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag auch ihre kleine Tochter. So freute sie sich, als ihre Nichte Barbara einige Jahre später nach Berlin kam und zu ihr und Franz in die Wohnung zog. Auch weil Barbara ihren Teil der Miete tragen musste und Marlene nicht mehr gezwungen war, fremde Schlafgänger aufzunehmen. Wie viele andere Wohnungen in den grauen Mietskasernen der Arbeiterviertel bestand auch Marlenes Wohnung nur aus einem beheizten Zimmer und einer Kammer. Unten im Hof gab es einen Abtritt für die Bewohner. Vierzig waren sie, ungefähr, Frauen und Männer, die sich diesen Abtritt teilten.
Barbara riss sich endlich von dem Schaufenster los. Sie musste weiter, durfte nicht aufgeben! Denn wenn sie keine Arbeit fand, bestand die Gefahr, dass sie ihre Wohnung verloren. Morgen war der 1. Oktober, einer der beiden «Ziehtage» des Jahres. Konnten sie die Miete nicht bezahlen, mussten sie sich in das Heer der Berliner einreihen, die an diesen Tagen mit Handkarren und Säcken mit ihren Habseligkeiten über den Schultern in den Arbeitervierteln unterwegs waren, um in eine noch billigere Bleibe zu ziehen. Manche zogen auch in die neuen Wohnblocks, die überall am Rand der Stadt entstanden. Die frisch verputzten Wohnungen waren neu, aber noch feucht, und die Wohnungsuchenden zogen ein zum «Trockenwohnen», was so manchem auf die Gesundheit schlug. Denn natürlich durften sie nur so lange bleiben, bis die Wohnung ausgetrocknet war. Danach konnte man sie wesentlich teurer an besserverdienende Bürger vermieten.
Marlene hatte schon oft gesagt, dass sie sich weigern würde, in solch eine Wohnung zu ziehen, zu sehr fürchtete sie sich vor Tuberkulose und Lungenentzündung. Sie würde es schlicht nicht ertragen, noch ein Familienmitglied sterben zu sehen.
Barbara hatte sich kaum umgedreht, als sich die Glastür des Modegeschäfts mit einem Klingeln öffnete und eine junge Dame das Geschäft verließ. Barbara sah den pelzbesetzten Mantel, den reich dekorierten Hut, die behandschuhte Hand. So elegant werde ich nie aussehen, dachte sie und strich über ihren verschlissenen Mantel. Das Kleid, das sie trug, war mausgrau und viel zu weit, aber sie hatte eine hübsche Figur, weibliche Hüften und dazu blitzende blaue Augen. Das lange blonde Haar trug sie hochgesteckt in einem Knoten, aus dem sich manchmal eine Locke löste, die sich frech an ihrem Hals ringelte …
Der Wind frischte auf und jagte kalte Böen die Straße entlang. Barbara war hungrig und durstig und sehnte sich nach einem warmen Ofen, dem sie ihre Füße entgegenstrecken konnte. Aber sie hatte noch etwas vor. Sie hatte gelesen, dass die Charité Wäscherinnen suchte. Vielleicht hatte sie doch noch Glück an diesem Tag. Jedenfalls marschierte sie strammen Schrittes voran, bis sich zu ihrer Linken hinter der langen, schnurgeraden Mauer die Klinikgebäude der Charité erhoben. Barbara bog in die Hannoversche Straße ein. Dort, neben dem Chemischen Institut der Universität, befand sich ihr Ziel: ein graues Gebäude, aus dessen geöffneten Fenstern heißer Wasserdampf in den Herbsthimmel stieg.
Die Vorsteherin des Waschhauses der königlichen Charité, Frau Küfer, war eine dralle Person mit buschig grauem Haar, das strähnig unter ihrer Haube hervorlugte. Sie war kaum größer als Barbara, hatte graue Augen und rote Wangen, doch ihre zu einem Strich zusammengepressten Lippen warnten davor, sie zu unterschätzen. Barbara ahnte, dass sie das Waschhaus mit strenger Hand führte und keine Nachlässigkeiten durchgehen ließ.
Frau Küfer zog sich hinter einen fleckigen Schreibtisch zurück und studierte aufmerksam Barbaras Unterlagen.
«Das wäre jetzt also die vierte Stelle, die du innerhalb von zwei Jahren antrittst», sagte sie.
«Es war nich meine Schuld, dass ich entlass’n wurde», stieß Barbara hervor.
«Das hab ich auch nicht behauptet», stellte die Vorsteherin fest. «Aber nicht immer steht in solchen Schreiben die ganze Wahrheit. Es gibt unter Männern und Frauen solche, die fleißig arbeiten, und solche, die mehr reden und aufwiegeln und sogar nach den Gewerkschaften schreien. So was bringt nur Ärger, den ich hier in meinem Waschhaus nicht dulde!»
«Ich bin fleißig und scheu die Arbeit nicht», sagte Barbara fest und hielt dem Blick aus grauen Augen stand.
Die Tür öffnete sich, und ein großgewachsener Mann in Uniform trat ein. Die Vorsteherin erhob sich von ihrem Stuhl.
«Ist das eine Bewerberin?», erkundigte sich der Mann.
«Ja, Herr Direktor», presste Frau Küfer hervor.
Der Mann musterte Barbara. Dann lächelte er. «Sie scheint mir tüchtig zu sein. Und hübsch ist sie obendrein.»
Die Lippen der Vorsteherin wurden noch schmaler.
«Wenn es also nichts gibt, was dagegenspricht, dann geben Sie ihr die Stelle, Frau Küfer.»
Barbara wusste nicht, ob der Zufall, der den Herrn Direktor in diesem Augenblick hierhergeführt hatte, ihr Glück war, und sie wagte kaum, die Vorsteherin anzusehen. Doch als diese nickte, durchströmte Barbara eine Welle der Erleichterung.
«Nein, gibt es nicht, Herr Direktor. Sie kann morgen anfangen.»
«Gut, Frau Küfer, dann machen Sie den Vertrag fertig und lassen Sie Fräulein …?»
«Schubert. Barbara Schubert», beeilte sich Barbara zu sagen.
«… dann lassen Sie Fräulein Schubert unterschreiben.» Damit verabschiedete er sich und verschwand.
Frau Küfer gab ein Geräusch von sich, das sich fast wie ein Knurren anhörte, doch dann löste sich die Spannung in ihrem Gesicht. Sie streckte Barbara die Hand entgegen. «Dann willkommen, Fräulein Schubert. Wir fangen um sechs Uhr an, pünktlich!»