Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2019
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
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Die englische Originalausgabe erschien 2018 bei Bloomsbury Publishing, London, unter dem Titel «Somebody I Used to Know» Copyright © 2018 by Wendy Mitchell and Anna Wharton
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63410-9 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-40528-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40528-8
Neulich ist es wieder passiert. Es war völlig anders als sonst. Es war schlimm, sehr schlimm. Diesmal war es kein einzelnes Wort, das mir nicht über die Lippen wollte; kein abwesendes Adjektiv, kein verschwundenes Verb. Ich bin nicht einfach nur vom Sofa aufgestanden, in Hausschuhen in die Küche geschlurft und mit leeren Händen zurückgekehrt, weil ich die Tasse Tee vergessen hatte, die ich mir gerade eingeschenkt hatte. Ich bin auch nicht eilig die Treppe hochgelaufen, nur um oben auf dem Absatz stehen zu bleiben, weil mir um nichts in der Welt einfiel, was ich im ersten Stock eigentlich gewollt hatte.
Diesmal war es absolut anders.
Diesmal war alles völlig leer.
Ein
großes
dunkles
schwarzes
Loch.
Und das Schlimmste: Als ich dich am dringendsten brauchte, warst du verschwunden.
Ich jogge mit einem Gefühl des Unbehagens, das ich einfach nicht zu fassen kriege, den Uferweg entlang. Es lauert schon seit einigen Wochen in mir. Seit einigen Monaten, wenn ich ehrlich bin. Es lässt sich nur schwer beschreiben. Vielleicht bin ich deshalb nicht zum Arzt gegangen, habe ich noch nie darüber gesprochen, nicht einmal mit meinen Töchtern. Wie soll man so etwas auch beschreiben? Mein Kopf fühlt sich irgendwie … unscharf an, das Leben hat seine klaren Konturen verloren. Gibt es dafür überhaupt einen Fachbegriff? Es käme mir falsch vor, damit die Zeit meines Arztes zu verschwenden. Trotzdem weiß ich: Etwas stimmt nicht, ich verfüge nicht mehr über meine volle Leistungskraft. Auch wenn mir klar ist, dass das trotzdem noch für die meisten Menschen ausreichend wäre – das hier, das bin einfach nicht ich.
Genau dieses diffuse Gefühl hatte mich am Nachmittag vom Sofa gedrängt, hatte meine Füße in die Laufschuhe geschoben, hatte mir den Hausschlüssel in die eine und den iPod in die andere Hand gedrückt. Obwohl mir nicht ganz klar war, woher ich die Energie zum Joggen nehmen sollte, wusste ich, dass sie kommen würde: Ich musste nur den anfänglichen Widerstand überwinden, wie schon so oft, und wenn ich nach meiner Runde die Wohnungstür meines Appartements am Fluss wieder aufsperren würde, dann mit jeder Menge Adrenalin in den Adern und einem Gefühl von Lebendigkeit. Diesen Effekt hatte Joggen immer schon auf mich.
Ich schaue nach unten und sehe meinen Füßen zu, die ihre Arbeit tun, die den richtigen Schritt finden, ihren eigenen Rhythmus – so, wie sie es seit jeher getan haben. Ich höre das leise Geräusch der Sohlen auf dem Pflaster, dann hebe ich den Blick nach vorn auf den Weg und warte darauf, dass die Welt wieder in den Fokus rückt, ihre Konturen zurückgewinnt, so wie ich es gewohnt bin. «Fünfhundert Meter», sagt die Computerstimme in meinen Ohren. Mein iPod zählt mit, motiviert mich zum Durchhalten, aber jetzt fühlt es sich eher an wie der Beweis meines Versagens. Ich war schon besser. Letztes Jahr hatte ich mir die Three Peaks Challenge vorgenommen, und ich erinnere mich noch gut daran, wie es war, als ich den Gipfel des Pen-y-ghent erreicht hatte, den ersten der drei Hügel, 700 Meter über dem Meer: Es fühlte sich an, als hätte ich die ganze Welt erobert. Während mir da oben der Wind um die Ohren pfiff, hatte das Adrenalin, das ich jetzt so verzweifelt herbeisehne, das Blut durch meinen Körper gepumpt und mir die Kraft verliehen, am selben Tag noch zwei weitere Hügel in Angriff zu nehmen. Damals war das Leben an den Rändern nicht schwammig gewesen, sondern gestochen scharf.
Der Tag ist kalt und klar, aber die Laufleggins hält die Körperwärme fest. Abgesehen von dem Geräusch der Gummisohlen auf dem Weg durchbricht nur das Plätschern der Ruderer, die zwischen den Brücken trainieren, die Stille des Flusses. Ich will das eine Flussufer hinunterlaufen, dann die Millenium Bridge überqueren und auf der anderen Seite wieder zurück, so wie schon unzählige Male zuvor. Doch dann, binnen einer einzigen Sekunde, wird alles anders. Ich schlage lang hin, einfach so, ohne Vorwarnung. Plötzlich rast der Boden auf mich zu, es bleibt keine Zeit, auch nur die Hände auszustrecken, um mich abzufangen. Ich pralle mit dem Gesicht direkt aufs Pflaster; heißer Schmerz schießt mir in die Nase und in meine Wangenknochen; irgendwo knackt es. Etwas Warmes, Klebriges läuft über mein Gesicht. Ein paar Sekunden vergehen, dann kommt alles zur Ruhe. Ich nutze die Stille, um wieder zu Atem zu kommen, und als ich mir ins Gesicht fasse, ist meine Hand blutverschmiert. In dem Augenblick setzt der Schmerz ein. Zu den körperlichen Schmerzen gesellt sich ein heißer Stich aus Scham, als ich meine Beine betrachte. Für den Bruchteil einer Sekunde erkenne ich sie nicht wieder, weiß nicht, was diese Dinger mir gerade angetan haben. Oder besser, was sie gerade geschehen ließen. Das Nasenbein ist gebrochen, da bin ich mir sicher. Taumelnd komme ich hoch, Blut sickert in mein Lauf-Top. Unfähig, zu verhindern, dass der Fleck sich immer weiter ausbreitet, humple ich nach Hause zurück.
Die Praxis meines Hausarztes liegt gleich um die Ecke, und ich beschließe, auf dem Heimweg dort vorbeizugehen. Der Schock breitet sich in meinen Gliedern aus, und als ich endlich vor der Sprechstundenhilfe stehe, zittern mir die Hände. Meine Knie zittern ebenfalls, und ich hoffe, dass sie es nicht merkt.
Sie schickt mich sofort weiter in die Notaufnahme. Auf dem Weg bin ich immer noch damit beschäftigt, herauszufinden, was eigentlich passiert ist, ob es womöglich etwas mit diesem unbestimmten, bedrohlichen Gefühl zu tun hat, das ich nicht zu fassen bekam, als ich loslief. War es das? Habe ich etwas vorausgeahnt? Einen Sturz beim Joggen? Aber es fühlt sich gravierender an. Ich sitze in der Notaufnahme, das Blut auf meinem Oberteil färbt sich braun, in meiner Hand liegen zerknüllte, rot gesprenkelte Taschentücher, und ich rede mir ein, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Dann werde ich endlich aufgerufen, um mich von der Krankenschwester verarzten zu lassen.
«Also, gebrochen ist nichts», sagt sie. «Sie hatten Glück. Was ist passiert?»
«Ich weiß es nicht genau», antworte ich «Ich war joggen.»
«Ach ja, die Tücken beim Laufen!» Sie lacht. «Das kenne ich nur zu gut.»
Wir lachen gemeinsam, machen uns lustig über uns selbst, aber da ist es wieder, dieses Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Ich nehme mir vor, auf dem Heimweg die Strecke noch mal abzugehen, mich auf die Suche nach einem Riss im Asphalt oder der einen losen Gehwegplatte zu machen, die mir zwar zwei blaue Augen, aber zum Glück keine gebrochenen Knochen beschert hat. Ich bin froh, dass ich im Augenblick Urlaub habe und nicht mit schwarzvioletten Blutergüssen im Gesicht zur Arbeit gehen muss.
Eine Stunde später stehe ich wieder an der Stelle, an der ich gestürzt bin. Durch die roten Blutspritzer ist sie unübersehbar. Ich schaue mich gründlich um, aber es ist nichts zu entdecken, kein Riss im Asphalt, keine hochstehende Gehwegplatte, nichts, worüber man stolpern könnte. Doch was war es dann? Der Nebel in meinem Kopf macht das Enträtseln schwer – da ist rein gar nichts, keinerlei Hinweise –, so was ist mir noch nie passiert. Ich gehe nach Hause, lasse mich in die Sofakissen sinken, bin wieder am gleichen Punkt, wo ich vorhin schon war, nur zerschrammt und zerbeult, und sehe hinaus auf den Fluss, während der Himmel über dem Ouse dunkel wird und das Geheimnis darunter immer tiefer. Ich bin furchtbar müde, so müde wie noch nie in meinem Leben. Es tut weh, die Augen zu schließen, aber diesmal lasse ich es zu, dass die Lethargie mich einhüllt wie eine Decke, und zum allerersten Mal kämpfe ich nicht dagegen an.
Ein paar Tage später habe ich doch einen Termin bei meinem Hausarzt. Hauptsächlich die ständige Müdigkeit hat mich schließlich zu ihm getrieben, dieser völlige Mangel an Energie; damit hat alles angefangen.
Ich sitze in seinem Sprechzimmer. «Ich … ich fühle mich irgendwie langsamer als sonst», sage ich, und er mustert mich ein oder zwei Sekunden lang.
Ich komme mir albern vor. Vielleicht ist es ein Gehirntumor, ist mir kurz durch den Kopf gegangen. Ich beobachte sein Gesicht, um rauszufinden, ob er dasselbe denkt, doch ich kann nichts daraus ablesen. Stattdessen lässt er die Schultern sinken und bemüht sich um einen Gesichtsausdruck, der wohl Empathie signalisieren soll.
«Sie sind fit, Sie treiben Sport, Sie ernähren sich vernünftig, Sie rauchen nicht und sind mit sechsundfünfzig noch relativ jung», sagt er. «Trotzdem kommt für uns alle irgendwann der Zeitpunkt, wo wir uns eingestehen müssen, dass unsere Kräfte nachlassen.»
Er lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und sieht mich abwartend an. «Sie arbeiten sehr viel, Wendy», seufzt er. «Vielleicht sollten Sie sich eine Auszeit gönnen.»
Ich möchte ihm sagen, dass ich genau das gerade tue, dass ich gerade mitten im Urlaub bin und die Vorstellung, sich noch mehr Auszeit zu nehmen, für jemanden wie mich geradezu lächerlich klingt. Ich bin diejenige, die das Dienstplanungssystem für das Pflegepersonal in- und auswendig kennt. Ich bin diejenige, die von ihren Arbeitskollegen insgeheim «Der Guru» genannt wird, weil ich ein glasklares Gedächtnis habe, weil ich Probleme in Sekunden löse, weil ich jedem, der mich danach fragt, immer genau sagen kann, wer am liebsten Nachtschichten arbeitet und wer an welchem Tag frei braucht. Sie kriegen das ohne mich unmöglich hin. Aber er schiebt die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen, und ich spüre, dass unser Gespräch damit beendet ist.
«Das Alter», sagt er achselzuckend, als er den Kopf hebt und merkt, wie ich ihn anstarre.
Ich verlasse sein Sprechzimmer. Ich sollte erleichtert sein. Mein Arzt macht sich offenbar keine Sorgen. Normalerweise würde ich mich jetzt mit Arbeit ablenken, mich Hals über Kopf in meinen geliebten Job stürzen. Stattdessen kehre ich in eine leere Wohnung zurück. Meinen Töchtern Gemma und Sarah erzähle ich nichts von meinem Sturz. Mir selbst rede ich ein, dass der Arzt recht hat und es nur an meinem Alter liegt. Doch die Monate vergehen, und die Schneewehe, die sich in meinem Verstand eingenistet hat, bleibt, wo sie ist, begleitet von einem ständigen Mangel an Energie und einem unbestimmten Unwohlsein, das ich einfach nicht zu fassen kriege. Und da ist noch mehr: eine gewisse Vergesslichkeit.
Ich gehe weiter joggen, komme immer wieder an der Stelle vorbei, an der ich gestürzt bin, untersuche jedes Mal den Untergrund auf der Suche nach dem Warum und weiß tief in mir doch, dass es an mir lag.
Und dann passiert es wieder. Ich bin laufen, überquere eine Straße, der festen Überzeugung, dass ich es vor dem Auto schaffe, das gleich abbiegen und meinen Weg kreuzen wird. Ich sehe den Wagen kommen, beschließe plötzlich, auszuweichen, und etwas geht verloren. Eine Botschaft meines Gehirns findet ihren Weg nicht schnell genug zu meinen Beinen, und ich stolpere, falle wieder flach auf den Bürgersteig und verletze dieses Mal zum Glück nur mein Ego.
In kurzer Folge geschehen drei derartige Stürze. Beim letzten Mal lande ich hart auf meiner Hand, und als ich an diesem Nachmittag meine Laufschuhe in den Schrank räume, ahne ich, dass es das letzte Mal sein wird. Mein Gehirn und meine Beine haben das Gespräch eingestellt; die Kommunikation ist unterbrochen. Ich gehe wieder zum Arzt, und eine Schwester zieht mein Blut auf diverse Ampullen und schickt es ins Labor.
«Es ist alles im grünen Bereich», sagt mein Hausarzt, als ich wiederkomme, um über die Testergebnisse zu sprechen, und bringt erneut mein Alter ins Spiel. Ich sitze vor ihm und weiß nicht, wie ich in Worte fassen soll, dass alles immer langsamer wird, dass mir an schlechten Tagen weder Namen noch Gesichter oder Orte einfallen, die mir eigentlich vertraut sind. Vielleicht hat er recht, und es liegt wirklich am Alter. Trotzdem verlasse ich die Praxis auch diesmal mit dem bedrohlichen Gefühl, dass da etwas ist, das ich nicht zu fassen kriege, etwas, das mein Arzt übersieht. Gleichzeitig bin ich nicht in der Lage, konkret genug zu werden, um ihm einen hilfreichen Hinweis darauf zu geben, was es sein könnte.
Ich erinnere mich gut an die Geschwindigkeit, mit der du die Dinge angepackt hast. Ich habe das insgeheim immer bewundert, obwohl ich es nie laut ausgesprochen hätte. Du bist für deine Arbeit kreuz und quer durchs Land gefahren. Im Urlaub bist du im Lake District meilenweit über die Berge gewandert, mitten hinein ins Nirgendwo, ohne Angst, dich zu verlaufen. Du wusstest dir immer zu helfen – du hast in der Ferne nach Orientierungspunkten Ausschau gehalten, nach Vertrautem, bist einfach der Nase nachgefolgt. Ich könnte das nicht. Nicht mehr.
Wir kämen nicht mehr miteinander zurecht, du und ich. Es ist zu viel Zeit vergangen. Wir sind wie zwei Freundinnen, die einander aus den Augen verloren haben oder die inzwischen nebeneinanderher leben. Wir mögen verschiedene Dinge. Du liebst die Hektik und das Gewusel einer geschäftigen Stadt, während ich mich manchmal stundenlang darin verliere, zum Fenster hinauszusehen. Nur schauen. Ganz still. Und stumm. Du hingegen wolltest immer Dinge erledigen, brauchtest immer etwas zu tun. Einfach nur dasitzen konntest du nie. Wo ich inzwischen lebe, habe ich einen wunderschönen Ausblick. Ich wohne jetzt in einem Dorf unweit von Beverly in East Yorkshire. Vielleicht erinnerst du dich sogar daran – Gemma hat früher hier gelebt. Als wir zum ersten Mal dort waren, hast du dich sofort in das Dorf verliebt, besonders in die hübschen roten Ziegelhäuser, die die Straßen säumen. Du mochtest die freundliche Atmosphäre, den Umstand, dass hier jeder jeden grüßte, ob man sich kannte oder nicht. Weißt du noch, wie Gemma dich durchs Haus führte, von Zimmer zu Zimmer, die Treppen rauf und wieder runter? Du folgtest ihr nach, gehorsam und aufgeregt. Hätte Gemma sich umgedreht, sie hätte das Funkeln in deinen Augen bemerkt, den inneren Drang, die Ärmel hochzukrempeln und loszulegen, Farbtöpfe zu öffnen und auf der Stelle mit dem Verschönern anzufangen. Dich brachte nichts je aus der Fassung.
Ich sitze wieder mal in einem Krankenhaus-Wartezimmer, neben mir eine Tasche mit dem Nötigsten, nur für alle Fälle. Das habe ich zumindest Sarah erzählt, meiner ältesten Tochter, weil ich nicht will, dass sie sich Sorgen macht. Mein Hausarzt bestand darauf, eine meiner Töchter zu informieren, als er mir die Überweisung in die Hand drückte und mich direkt weiter in die Notaufnahme schickte. Also hatte ich Sarah angerufen und beteuert, sie müsse sich keine Sorgen machen, man wolle mich lediglich gründlich durchchecken, es sei nichts Ernstes – ich bin mir allerdings nicht sicher, wen von uns beiden ich eigentlich überzeugen wollte. Das Gefühl, dass mein Kopf zur Hälfte mit Watte gefüllt ist, hält seit Monaten an – seit dem letzten Sturz –, und an diesem Wochenende hat es sich noch einmal verschlimmert. Eine abgrundtiefe Müdigkeit hatte mich im Griff. Beim Abendessen rutschte mir die Gabel aus der Hand und fiel klappernd auf den Teller. Als ich Montag früh zur Arbeit kam, bemerkte eine Kollegin meine verwaschene Sprache und schickte mich zum Arzt. Jetzt war endgültig klar, dass es sich um etwas sehr viel Ernsteres handelte als schlicht um Überarbeitung.
Und so sitzen Sarah und ich Seite an Seite auf den harten Plastikstühlen im Krankenhaus und harren besorgt der Dinge, die uns erwarten.
Als angehende Krankenschwester lässt Sarah ihren frischgeschulten medizinischen Blick über jeden einzelnen Patienten gleiten: provisorische Armschlingen, blutgetränkte Küchentücher, quengelnde Kleinkinder und Mütter, denen es sichtlich schwerfällt, sich die Sorge nicht anmerken zu lassen. Das Überweisungsschreiben in meinen Händen fühlt sich feucht und klamm an. Als ich mich an der Aufnahme anmeldete, war ich überrascht, dass die Dame meinen Namen kannte. Mein Arzt hatte offensichtlich schon angerufen. Obwohl ich weiß, wie die Mühlen im Krankenhaus mahlen, hatte ich nicht erwartet, dass auch ich mich je darin wiederfinden würde.
Sie wollen mich zur Beobachtung dabehalten. Sie sind sich nicht sicher, welche Ursache das Lallen hat, und falls doch, sagen sie mir nichts. Während ich auf ein freies Bett warte, werde ich zu den Plastikstühlen zurückgeschickt, und es gelingt mir, Sarah davon zu überzeugen, dass es nicht notwendig ist, mit mir zu warten.
«Das kann Stunden dauern», sage ich zu ihr. «Es hat keinen Sinn, dass wir beide hier rumsitzen.»
Ich sehe den Zweifel in ihrem Blick, aber schließlich greift sie doch zu Mantel und Tasche, und ich verspreche anzurufen, sobald es etwas Neues gibt.
Es war die richtige Entscheidung, weil erst Stunden später ein Bett für mich gefunden ist. Draußen ist es bereits dunkel, als man mich endlich auf die Station bringt. Immer noch in die Sachen gekleidet, die ich heute Morgen ins Büro anzog, liege ich auf der Bettdecke. Um mich herum eilen die Schwestern hin und her, hetzen unter permanentem Zeitdruck von einem Patienten zum nächsten, von einem Bett zum anderen. Ihnen fliegt die Zeit davon, während sie für mich quälend langsam verrinnt. Ironischerweise hasse ich Krankenhäuser. Ich weiß, dass ich eine furchtbare Patientin bin. Von meinem Bett aus kann ich den elektronischen Schichtplan auf dem Bildschirm im Stationszimmer sehen, und die Schwestern, die um mich herumwuseln, ahnen nicht, dass ich auf einen Blick erkenne, wie unterbesetzt sie sind, dass ich weiß, wem nach fast geschaffter Tagesschicht die Füße weh tun und wer gerade zur Nachtschicht erschienen ist. Zwischen diversen Untersuchungen habe ich nichts anderes zu tun, als den Bildschirm zu studieren. Dann kommt eine Schwester zu mir, die sich etwas gründlicher mit mir auseinandersetzt.
«Seit wann ist Ihr Sprachvermögen beeinträchtigt?», möchte sie wissen.
«Ich habe es erst heute Morgen gemerkt», antworte ich.
«Können Sie sich zu mir herziehen?», bittet sie mich und hakt meinen schwächeren, linken Arm bei sich unter. Es gelingt mir nicht, dieser einfachen Anweisung Folge zu leisten, und ihr Blick spricht Bände.
«Okay. Und jetzt drücken Sie mich weg», sagt sie. Wieder dasselbe; sie notiert etwas auf meinem Patientenbogen und verlässt das Zimmer. Ich habe Glück. Sie haben mich für die erste Nacht in einen Seitenraum gelegt, hier gibt es außer den verschiedensten Blautönen nichts zu sehen, während draußen im Hauptraum die Schwestern zwischen den Betten herumeilen. Ich schlüpfe in meinen Schlafanzug, aber schlafen kann ich nicht. Die Geräusche der Apparate, an die ich angeschlossen bin, sorgen für eine ungewohnte Geräuschkulisse. Sobald ich spüre, dass mein Körper sich entspannt und ich versuche, mich tiefer in die unnachgiebige Matratze sinken zu lassen, setzt der Alarm ein, weil meine Herzfrequenz abfällt, aber das erschreckt mich nicht. Ich habe einen niedrigen Ruhepuls; ich bin fit und gesund. Oder etwa nicht?
Vergesslich warst du nie. Selbst nach Monaten oder Jahren konntest du dich an Namen von Leuten erinnern, denen du nur einmal begegnet warst. Deine Arbeitskollegen bewunderten dich für dein Gedächtnis: eine bestimmte Fallstudie, eine Akte, ein Meeting. Du wusstest immer eine Antwort, auch wenn Technologie nie deine Stärke war. Du warst gut in deinem Job – Teamleiterin der Verwaltung bei der NHS, dem staatlichen britischen Gesundheitssystem –, und er machte dir Spaß. Deshalb hast du dich mit Haut und Haaren der Arbeit verschrieben, deshalb warst du ein solcher Workaholic. Du hast die Dienstpläne von Hunderten Krankenschwestern verwaltet und dabei sämtliche Informationen in deinem Kopf abgespeichert. Alles war aus dem Gedächtnis abrufbar, jederzeit, und nie hast du irgendetwas durcheinandergebracht.
Heute klingt das wie pure Ironie.
Dein Alltag als alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern war genauso turbulent. Du musstest alle Bälle gleichzeitig in der Luft halten: Job, Haus, zwei Schulkinder. Es ist ein kleines Wunder, dass keiner dieser Bälle irgendwann mal runterfiel.
Alle Häuser, die du gekauft hast, waren renovierungsbedürftig; du warst ständig auf der Suche nach der nächsten Herausforderung. Du bist nie in Panik geraten. Innerhalb weniger Wochen waren Tapeten heruntergerissen, Wände gestrichen und ein verwilderter Garten zurechtgestutzt, um eine lang verborgene Wiese zu enthüllen. Wo du auch hinkamst, sorgtest du in deiner Nachbarschaft ungewollt für Trubel, weil Ehemänner sich von ihren Frauen plötzlich vorhalten lassen mussten, dass sie ihre eigenen Heimwerker-Projekte nicht so schnell auf die Reihe kriegten wie du deine. Egal, wie schwer es gerade auch sein mag, es gibt immer einen Weg; das war dein Motto. Du mochtest Herausforderungen, vor allem, wenn sie andere eines Besseren belehrten, die gedacht hatten, du würdest es nicht hinkriegen.
Vielleicht haben wir beide das immer noch gemeinsam. Es ist ein tröstlicher Gedanke, dass es zwischen uns doch noch Ähnlichkeiten gibt.
Die nächsten Tage stehen ganz im Zeichen von Tests und Untersuchungen. Man schiebt mich im Rollstuhl durch vertraute Korridore, in denen auch ich mal gearbeitet habe, und ich schließe die Augen und bete, dass niemand mich erkennt. In verschiedensten Untersuchungsräumen wird mir Blut abgenommen, ich sehe zu, wie Ärzte die Ergebnisse bewerten, die Nasen krausziehen und die Augen zusammenkneifen, als läge in dem Glasröhrchen in ihrer Hand die Antwort auf alle Fragen. Immer wieder fällt das Wort «Schlaganfall», aber noch ist nichts bestätigt, und deshalb werde ich immer wieder in mein Bett auf der Schlaganfall-Station zurückgebracht, umgeben von Patienten, die flach auf dem Rücken liegen, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen, als Aussicht nur die nackte Zimmerdecke. Ich beobachte, wie die Frau im Bett gegenüber versucht, mit dem kräftigeren Arm nach einem Getränk zu greifen; die Hand zittert vor lauter Anstrengung, der Tremor übermannt sie. Ich sehe mich um, aber sämtliche Schwestern sind mit anderen Patienten beschäftigt, und ich gehe zu ihr, um ihr den Becher zu reichen. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich einen Moment lang nicht mehr ganz so hilflos. Gleichzeitig überkommt mich das überwältigende Gefühl, dass ich nicht hierhergehöre, sondern auf die andere Seite des Klemmbretts.
Ich will nach Hause. Ich will endlich nach Hause, mich ordentlich anziehen und wieder zurück ins Büro, anstatt hier festzusitzen, der Gnade von Fachärzten ausgeliefert, die zu beschäftigt sind, um mir mehr als fünf Minuten ihrer kostbaren Zeit zu widmen. Das Leben, wie wir es kennen, hat hier drin wenig Bedeutung; was wir unter Zukunft verstehen, verliert an Gewissheit, während wir hier liegen und warten: auf eine Schwester, einen Arzt, einen Scan, einen Test. Man hat jede Menge Zeit, nachzudenken, zu vergleichen, gegenüberzustellen. Bei der Arbeit dreht sich das Leben um das Herbeisehnen des Wochenendes, man wünscht sich, die Zeit von Montag bis Freitag würde schneller vergehen. Hier besteht das Leben aus Beobachten und Warten, aus Grübeln und Sorgen, während man sich die vielen Wochen zurückwünscht, die einfach so verflogen sind, die vielen Wochen, in denen man fit und gesund war und sich die Zukunft bis in weite Ferne erstreckte.
Ich beobachte, wie die Schwestern die Frau im Bett gegenüber umlagern, und frage mich, ob sie ihr Schicksal wirklich einfach so akzeptiert, wie es scheint, oder ob sie sich bloß fügt, während sie darauf wartet, wieder ihrem alten, vertrauten Leben übergeben zu werden, von dem sie sich unbewusst bereits verabschiedet hat. Ich schließe die Augen und sehne die Besuchszeit herbei, in der man endlich wieder normale Gespräche führen darf, in der man erfährt, was in der Außenwelt passiert, in der Routine für Unabhängigkeit und ein prallvolles Leben steht, auch wenn die, die uns besuchen, es meist nicht zu schätzen wissen. Uns selbst ging es nicht anders. Ich sehe Töchter ihre ans Bett gefesselten Mütter oder Väter anstarren, Schatten jener Menschen, die sie einst im Arm hielten und ihre Tränen trockneten, und ich fürchte mich vor dem Tag, an dem meine Töchter mich so ansehen werden.
Später erscheint ein junger Assistenzarzt und beschäftigt sich etwas genauer mit meiner Patientenakte. Er steht an meinem Bett, sieht mich an und fragt, wie es mir geht. Er ist noch nicht in das enge Zeitkorsett gezwängt, dem seine Vorgesetzten unterworfen sind. Er hat Zeit für ein Gespräch, Zeit, mir die Untersuchungsergebnisse zu erklären, mit mir darüber zu spekulieren, weshalb immer noch kein Arzt in der Lage war, die Diagnose zu bestätigen, und als er geht, fühle ich mich wieder ein bisschen menschlicher.
Heute steht als Ultima Ratio eine Ultraschalluntersuchung des Herzens an.
«Sind Sie damit einverstanden, dass die Untersuchung von einem Medizinstudenten durchgeführt wird?», werde ich gefragt. «Selbstverständlich unter gründlicher Aufsicht eines Facharztes.»
Ich habe nichts dagegen und bin bald froh, eingewilligt zu haben, denn während der Student den Schallkopf über meinen Brustkorb gleiten lässt, flüstert er seinem Vorgesetzten zu, was er sieht.
«Loch im Herzen. Weit verbreitet; möglicherweise ursächlich für den Schlaganfall», sagt er. Sie sind offensichtlich erleichtert, endlich eine Erklärung gefunden zu haben. Man überlegt, mich zu entlassen, und ich werde zwar mit einem Loch im Herzen, aber mit der freudigen Aussicht, endlich nach Hause zu kommen, auf die Station zurückgebracht.
Spätnachmittags erscheint ein Physiotherapeut an meinem Bett. Man möchte sichergehen, dass ich mit meinem schlappen linken Arm, der zu träge ist, die Befehle meines Gehirns zu befolgen, allein zurechtkommen werde. Ich werde in eine Übungsküche gebracht und muss mich sehr zusammenreißen, um nicht mit den Augen zu rollen, während wir in allen Einzelheiten üben, mir «eine Tasse Tee zu kochen». Danach geht der Therapeut mit mir die Treppe rauf und runter, während sich in mir alles sträubt, und danach heißt es, ich sei so weit. Ich darf nach Hause.
«Es tut mir leid, dass wir immer noch keine Klarheit darüber haben, was genau den Schlaganfall verursacht hat», sagt der Arzt, der mir meine Entlassungspapiere aushändigt. «Wir haben einen Termin in der neurologischen Ambulanz angefragt, um dort der Sache vielleicht auf den Grund zu kommen.»
Aber mir ist es egal, dass die Ursache immer noch nicht gefunden ist. Jegliche Probleme, die ich in Bezug auf mein Gedächtnis erwähnt hatte, sind offensichtlich unter einem Berg von Unterlagen verschwunden. Ich will nur noch raus hier, in mein normales Leben zurück, und mir die Gewissheit zurückerobern, dass mit mir alles in Ordnung ist.
Ich bin es nicht gewohnt, krankgeschrieben zu sein, und um damit zurechtzukommen, bleibt mir nur der kreative Umgang mit meiner Genesung. Der Regen vor dem Fenster inspiriert mich zu einer selbsterdachten Übung zur Stärkung des linken Arms. Ich schnappe mir einen Regenschirm und versuche mehrmals täglich, ihn zu öffnen. Am Anfang kriecht der Schieber furchtbar langsam den Stock hinauf, weil mein Arm sich weigert, die Befehle meines Gehirns zu befolgen, aber im Laufe der Tage gelangt der Verschluss immer höher, bis er – klick – endlich einrastet. Ich stehe da, allein, mitten in meinem Wohnzimmer, unter einem aufgespannten Regenschirm, und frage mich, wann ich wieder fit genug sein werde, um zurück an die Arbeit zu gehen.
Die nächsten beiden Monate zu Hause ziehen sich in die Länge. Ich muss mir jeden Tag aufs Neue die Frage stellen, wie viel Fernsehen ich ertragen kann, ohne den nächsten Schlaganfall zu riskieren. Der Post-it-Block neben meinem Bett bleibt unbenutzt, eine Erinnerung an mein unterfordertes Gehirn. Als ich noch jeden Tag zur Arbeit ging, wachte ich nachts oft auf, notierte mir etwas auf einem der gelben Zettel, ließ ihn zu Boden flattern und schlief weiter. Auf diese Weise konnte ich sichergehen, dass ich ihn am nächsten Morgen unter den Füßen spürte, sobald ich die Beine aus dem Bett schwang. Ich brauchte nur noch den Zettel vom Fuß zu lösen und wusste wieder, was zu erledigen war, wenn ich ins Büro kam.
Wenn ich jetzt beim Aufwachen über die Bettkante spähe, blickt mir nur der leere blassgrüne Teppichboden entgegen. Früher habe ich über die Unmenge gelber Zettel geflucht, die jeden Morgen als Symbol des übervollen Tags, der auf mich wartete, auf dem Boden verstreut lagen. Jetzt sehne ich mich nach wenigstens einem einzigen kleinen gelben Quadrat, denn es wäre der Beweis dafür, dass ich noch eine Aufgabe habe.
Ich weiß, dass draußen das pralle Leben weitergeht: Ich bin nur kein Teil mehr davon. Ich vermisse die Kollegialität in meinem Team. Ich vermisse die Geschäftigkeit und das Hinarbeiten auf eine Frist, die früher meine Tage füllten. Ich habe mich immer wieder mal gefragt, wie es sein würde, in Rente zu sein und all die Dinge zu tun, zu denen mir immer die Zeit fehlte – und jetzt? Jetzt fehlen mir die Energie und die Lust dazu. Und noch etwas fällt mir auf: Als der Zeitpunkt meiner Rückkehr ins Büro näher rückt, beginne ich, in einer Weise an mir zu zweifeln, die ich sonst nicht von mir kenne. Was, wenn ich nicht mehr weiß, was ich tun muss? Dieser Gedanke bricht sich mehrmals täglich Bahn, und ich verdränge ihn, sobald er mir bewusst wird.
Tage vergehen, der Gedanke kehrt wieder, und jeden Morgen gesellen sich neue Sorgen dazu. Es ist, als würde mein Unterbewusstsein sie nachts ausbrüten. Was, wenn sich inzwischen zu viel verändert hat? Was, wenn ich mich nicht mehr an das System erinnern kann? Was, wenn ich den Anschluss verloren habe und das ganze Team aufhalte?
Ich gehe zu meinem Hausarzt und schildere ihm meine Sorgen, und er beruhigt mich und sagt mir, das sei alles völlig normal.
«Gönnen Sie sich noch ein paar Wochen Auszeit, um sicherzugehen, dass Sie wirklich wieder fit sind», sagt er. Und ich bin erstaunt, wie bereitwillig sich meine Hand um den Zettel mit der Krankschreibung schließt.
Im Mai 2013 – seit dem Schlaganfall sind drei Monate vergangen – kehre ich ins Büro zurück. Heute ist mein erster Arbeitstag, und während ich mich wieder mit meinem Schreibtisch vertraut mache, sehe ich zwischendurch auf und fange den Blick eines Kollegen ein. Er lächelt mich an und sieht dann schnell weg. Ich wende mich wieder meinem Schreibtisch zu und fange noch mal von vorne an. Bestimmt fragt er sich, ob ich es noch kann. Schließlich stelle ich mir dieselbe Frage. Ich schalte den Computer an, und der Bildschirm erwacht zum Leben. Im ersten Augenblick sagt der Desktop mir rein gar nichts. Auf der Suche nach einem Anhaltspunkt mustere ich die diversen Dokumente und Ordner, und während die Sekunden verstreichen, klopft mein Herz immer schneller. Dann habe ich es gefunden: das Dienstplansystem. Mit einem Doppelklick öffne ich das Programm, und plötzlich ist alles wieder da. Natürlich kann ich das.
Die Tage vergehen wie früher, und obwohl ich eher schleiche, statt vor Tatendrang zu springen, kehrt im Laufe der Wochen allmählich meine Zuversicht zurück. Es ist kein Wunder, dass ich Dinge vergessen habe – Namen und Nummern, Orte, Menschen. Schließlich war ich fast drei Monate weg. Zumindest führen das alle um mich herum als Erklärung ins Feld – und ich fange an, es selbst zu glauben. Fast.
Zwei Monate später habe ich den Termin bei der Neurologin, und ich sitze vor ihr und bemühe mich, ihr die Verschwommenheit zu beschreiben, die ich seit Monaten verspüre. Würde es Sinn für sie ergeben, wenn ich ihr sagte, wie der morgendliche Haufen gelber Post-it-Zettel auf meinem Teppich immer größer wird, weil ich nachts mehrmals aufwache, um alles zu notieren? Damit ja kein einziger Gedanke entwischt, damit mir nur bitte alles im Gedächtnis bleibt, was ich brauche, um einen Tag im Büro zu überstehen?
«Mein Verstand fühlt sich … unscharf an.» Mehr bringe ich nicht heraus, und die Fachärztin nickt mir zu und macht sich Notizen. Sie hakt nach, aber meine Antworten bleiben ungenau und vage.
«Ich würde Sie gerne zum Neuropsychologen überweisen», sagt sie schließlich. «Dort können noch gründlichere Gedächtnistests durchgeführt werden.»
Ich nicke mit einer Mischung aus Erleichterung und Besorgnis, weil dieser Aspekt nun endlich Beachtung bekommt. Auch hier wird mir Blut abgenommen, wieder ohne Ergebnis.
Einen Monat später sitze ich vor der Neuropsychologin, Jo ist ihr Name. Sie reicht mir drei Wörter auf Karten über den Tisch, die ich mir einprägen, merken und am Ende der Sitzung wiederholen soll.
«Okay», sage ich. Das klingt einfach.
Wie zuvor schon die Neurologin bittet auch sie mich, die nebligen Gedanken zu beschreiben, die ich erlebe, versucht, so gut wie möglich den Anfang dieses Zustands zu bestimmen, will wissen, seit wann das schon so geht, ob das geschilderte Empfinden eher in Wellen kommt oder ständig vorhanden ist. Ich erzähle ihr von dem wachsenden Haufen Post-its, für den Fall, dass es wichtig ist; sie nickt, als ich die Zettel erwähne, macht sich Notizen, und ich habe plötzlich das Gefühl, als sei das tatsächlich wichtig, als habe es eine bestimmte Relevanz. Am Ende der Sitzung schließt sie ihr Notizbuch und faltet die Arme vor der Brust.
«Können Sie mir die drei Wörter nennen, die Sie sich zu Beginn unserer Sitzung einprägen sollten?», fragt sie mich.
Ich zögere, blicke angestrengt nach oben, als wollte ich in meinem inneren Archiv danach suchen, und scheitere kläglich an dem Versuch, etwas daraus hervorzukramen.
«Ich …» Ich schüttle den Kopf. «Es tut mir leid.»
Sie lächelt mich an. «Das ist in Ordnung, keine Sorge, wir haben uns ja auch über so viele verschiedene Dinge unterhalten.» Sie räuspert sich. «Sie sind eine intelligente Frau mit guten Ressourcen, Wendy, und mir ist klar, dass dieser Zustand der Verwirrung sehr frustrierend für Sie ist.»
«Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?», frage ich. «Ich meine … wenn mein Verstand sich besonders … verschwommen anfühlt?»
«Vor allem nicht in Panik geraten», sagt sie. «Es kann passieren, dass Sie manchmal plötzlich die Orientierung verlieren, als würde ein Nebel sich niedersenken, und Ihre Umgebung dadurch fremd auf Sie wirkt. Dann ist das Allerwichtigste, sich an eines zu erinnern: Es gibt keinen Grund zur Panik. Geben Sie dem Nebel Zeit, sich zu lichten, warten Sie ab, bis die Welt wieder klar ist. Es geht vorbei.»
«Okay», sage ich. «Das klingt vernünftig.»
«Ich schlage vor, wir sehen uns in zwölf Monaten wieder, um zu sehen, wie die Dinge sich entwickelt haben», sagt sie mit einem beruhigenden Lächeln, greift zum Kalender und schlägt einen Termin vor. Ich stehe auf, wende mich zum Gehen und versuche auf dem Weg zur Tür immer noch verzweifelt, mich an die drei Worte zu erinnern. Als ich die Tür hinter mir zuziehe, sehe ich, dass Jo meine Akte noch einmal aufgeschlagen hat und sich Notizen macht.
Auf dem Nachhauseweg gehe ich in Gedanken noch mal die absolvierten Tests durch, als käme ich gerade von einer Prüfung und wollte versuchen, herauszufinden, ob ich bestanden habe oder durchgefallen bin. Habe ich die richtigen Punkte verbunden, die richtigen Formen kombiniert, die richtigen Linien gezogen, die richtigen Worte gefunden? Oder hat das Gehirn, das ich schon mein ganzes Leben lang kenne, mich im Stich gelassen?
Ich sitze Sarah gegenüber. Sie hält einen Brief in der Hand, es ist ein Brief von Jo, der sich auf unseren Termin bezieht. Ich lese forschend in ihrem Gesicht, während sie dasselbe mit dem Brief tut, Zeile für Zeile, ihr entgeht kein einziges Wort. Sie ist inzwischen gut vertraut mit der medizinischen Fachsprache. Ich kann ihr ansehen, bei welchem Absatz sie ist. Gerade liest sie die Stelle, an der Jo ausführt, wie selbständig ich bin, wie gut ich zu Hause zurechtkomme, wie organisiert ich bin. Doch dann blättert Sarah um, ich sehe die gerunzelten Augenbrauen und erinnere mich an den Moment, in dem es mir genauso ging. Es geht um die Zeile unter der dick gedruckten Überschrift «Befund». Sie hebt den Blick, und ich sehe sie an.
«Demenz?», fragt sie.
Doch die Formulierung lautet anders. Ich weiß genau, was da steht. Die Worte haben sich mir eingebrannt. Die Symptome lassen möglicherweise auf das Frühstadium eines demenziellen Prozesses schließen.
Sarah legt den Brief beiseite. «Das kann nicht sein!», sagt sie. «Du bist fit und gesund. Das ist nicht fair.»
Ich weiß. Seit ich den Umschlag geöffnet habe, gehen mir dieselben Gedanken durch den Kopf.
Ich hole Luft. «Du hast recht», sage ich. «Ich bin mir sicher, dass da nichts dran ist. Wahrscheinlich müssen sie einfach alle Eventualitäten abdecken.» Doch die Sorge hat sich bereits unauslöschlich auf Sarahs Gesicht gelegt, als wären ihre Augen Fenster zu den Bildern, die in meinem Kopf herumgeistern, wenn ich an Demenzpatienten denke: alte Menschen mit wirren weißen Haaren, bettlägerig, die ihre Kinder nicht wiedererkennen und nicht mehr wissen, wie sie heißen.
«Es könnte alles Mögliche dahinterstecken», sage ich und stecke den Brief in den Umschlag zurück. Genau darauf konzentriere ich mich: Das Wort lautet «möglicherweise», und darin liegt unendlicher Raum für Zweifel.
Ein paar Wochen später kommt der nächste Brief, und zwar von der Neurologin. Diesmal sind beide Töchter bei mir, um ihn zu lesen. Zur Bestätigung {dass es sich um eine frühe Form von Demenz handelt} müsste sich in etwa sechs bis zwölf Monaten eine messbare Verschlechterung auf kognitivem Gebiet nachweisen lassen. Ist zu diesem Zeitpunkt keine Veränderung festzustellen, würde ich eine leichte kognitive Beeinträchtigung diagnostizieren, schreibt die Neurologin. Sollte jedoch eine eindeutige Verschlechterung sichtbar werden, würde die Diagnose Demenz lauten.
Stumm sitzen wir zu dritt in meinem Wohnzimmer, ich sehe meine Töchter an. Auch wenn sie beide inzwischen erwachsen sind, bleiben sie in meinen Augen immer meine zwei kleinen Mädchen. Das hat nichts mit meinem Gedächtnis zu tun oder was auch sonst mein Gehirn durcheinanderbringt. Es ist die Brille, durch die eine Mutter ihre Kinder sieht. Egal, wie alt sie sind, egal, um wie viele Zentimeter sie uns überragen, der Drang, sie zu beschützen, ebbt niemals ab. Ich kenne diese zwei Gesichter so gut wie mein eigenes. Und ich kenne die verräterischen Anzeichen ihrer Besorgnis, die heimlichen Hinweise, die sich in ihren Gesichtszügen widerspiegeln: den ausweichenden Blick meiner Jüngeren, der schon immer ihre Angst verraten hat, auch wenn sie es nie zugeben würde, so war sie als Kind schon. Ein leichtes Stirnrunzeln und das kaum merkliche Zittern in der Stimme meiner Großen, die ihre Ängste noch nie sehr gut verbergen konnte. Ich wage nicht zu blinzeln, damit mir nur ja keines dieser Zeichen entgeht, und da sind sie auch schon, bei beiden, unverkennbar. Ich verdränge die aufsteigenden Schuldgefühle in mir.
«Es hat keinen Sinn, sich Sorgen zu machen», sage ich betont fröhlich und stehe auf, um Tee zu kochen. «Uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis im Sommer die nächsten Untersuchungen an der Reihe sind. Wozu sich Sorgen machen, ehe es tatsächlich einen Grund zur Sorge gibt?»
Ich habe das Gefühl, ich würde mit meinen Worten versuchen, von etwas abzulenken, und als ich aus dem Zimmer gehe, wird mir klar, was es ist: Angst.
Deine Töchter sollten sich niemals Sorgen machen. Hat die Tatsache, dass außer dir niemand da war, der sich um sie kümmerte, dir das Gefühl gegeben, verletzbarer zu sein? Das hättest du allerdings niemals laut ausgesprochen; du hast deine Ängste für dich behalten. Ich sehe dich noch wie heute auf Station, frisch operiert, aufrecht im Bett, in dem OP-Hemd, das man dir zwei Stunden früher eilig um die Schultern gelegt hatte, die braunen Jodspuren deutlich sichtbar auf der Haut. Schon am Morgen hattest du dich nicht gut gefühlt, doch du warst trotzdem zur Arbeit gegangen; andere im Stich zu lassen ging dir schon immer gegen den Strich. Die Mädchen waren damals bereits auf der Oberschule, und du hattest dir die stechenden Bauchschmerzen nicht anmerken lassen, bis du die beiden in ihren frischgebügelten Schuluniformen auf den Weg gebracht hattest. Dich bei der Arbeit zu verstellen war dir nicht mehr so leichtgefallen, der Schweißfilm auf der Stirn ließ sich nicht verbergen. Du saßest an deinem Arbeitsplatz, damals im Krankenhaus an der Anmeldung, gabst dem Befinden der Patienten Vorrang vor deinem eigenen und redetest dir selbst und allen, die dich fragten, ein, dass es dir gutginge. Doch im Laufe des Tages bahnte sich der Schmerz in deiner linken Seite seinen Weg bis hinauf ins Gesicht, wo er für jeden sichtbar wurde. Es war drei Uhr nachmittags, der Schultag war gerade zu Ende, als der Assistenzarzt aus der Notaufnahme kam, um einen Blick auf dich zu werfen. Er sagte etwas von höchster Dringlichkeit und Notoperation; er wollte nichts davon hören, als du ihm sagtest, es ginge dir gut, und du müsstest nach Hause, weil die Mädchen aus der Schule kämen. Doch dein Blinddarm konnte nicht mehr länger warten. Als der Anästhesist dich bat, rückwärtszuzählen, warst du in Gedanken immer noch bei deiner Freundin, die in eurer Nähe wohnte, der Notnagel für den Fall der Fälle. Und ignoriertest dabei die Tatsache, dass du es warst, die in Gefahr schwebte.
Du wachtest ohne den entzündeten Blinddarm wieder auf, versuchtest, dich zu bewegen, und krümmtest dich vor Schmerzen. Du dachtest an deine Mädchen, und das schlechte Gewissen, weil die beiden außer dir niemanden hatten, verursachte dir solchen Herzschmerz, dass er sogar den der frischen Operationswunde in den Schatten stellte. Du nahmst all deine Kraft zusammen, um dich aus dem Bett zu hieven und dich durch den Gang zum Münztelefon zu schleppen, die Hand fest um die 10-Pence-Münzen geballt, die du glücklicherweise im Geldbeutel hattest. Der Mutterinstinkt war stärker als die letzten Reste des Narkosemittels in deinen Blutbahnen. Du setztest deine fröhlichste Stimme auf, und die Erleichterung, ihre Stimmen zu hören, wurde nur von dem schmerzhaften Pochen unter deinem Flügelhemd übertroffen, das dich eilig ins Bett zurücktrieb. Lächelnd lagst du da. Aus ihren Stimmen hattest du keine Angst herausgehört, sondern nur Aufregung und das Gefühl von dem Abenteuer, für sich selbst zu sorgen. Und hattest du sie nicht genau dazu auch erzogen? Allein zurechtzukommen, so wie du?
Als sie dich am nächsten Tag besuchen kamen, verbanntest du sämtliche Schmerzen gründlich aus deinem Gesicht. Aufgeregt erzählten sie dir, wie sie ohne dich zurechtgekommen waren, und du hattest genickt und gelächelt, dankbar für die Unterstützung von Freunden. Obwohl die beiden damals erst elf und vierzehn waren, wollten sie erst wieder gehen, nachdem sie vom Arzt mit eigenen Ohren gehört hatten, dass wirklich alles wieder gut war und du bald wieder nach Hause kommen würdest. Vielleicht hat es auch in deinem Gesicht schon immer verräterische Anzeichen für deine Angst gegeben. Vielleicht hast du deshalb Verständnis für ihr Bedürfnis, jetzt ebenfalls alles genau wissen zu wollen.
Seit zwanzig Minuten starre ich den Bildschirm an, ohne in dem, was ich sehe, irgendeinen Sinn zu erkennen. Zögerlich habe ich es mit diversen Tasten versucht, aber nichts ist passiert, zumindest nicht das, was ich wollte. Ich habe zwei Fenster geöffnet, das alte System, das ich in- und auswendig kenne, und daneben das neue System, mit dem wir uns vertraut machen müssen. Aber der Groschen will einfach nicht fallen. Genauso gut könnte ich einen Text in fremder Sprache anstarren. Frustriert schließe ich das Fenster und sage mir, dass ich es morgen wieder in Angriff nehmen werde, aber dasselbe habe ich mir gestern auch schon gesagt. Stattdessen werde ich tun, was ich gestern Abend auch schon getan habe, und es zu Hause über den externen Zugang weiter versuchen, damit niemand mitbekommt, wie viele Überstunden ich inzwischen heimlich investiere, um mitzuhalten. Der Termin bei der Neuropsychologin liegt inzwischen ein halbes Jahr zurück, und meine Welt ist seitdem kein bisschen klarer geworden. Heute findet ein Meeting zu unserer neuen Dienstplansoftware statt. Ich habe die Aufgabe, Oberschwestern und Abteilungsleiter über die Strategie zur Einführung zu informieren, doch das System bleibt mir ein Rätsel. Früher hätte ich mir das im Handumdrehen angeeignet, und jetzt bin ausgerechnet ich diejenige, die Verzögerungen verursacht, die nicht sein dürften.
Ein paar Stunden später bin ich im Besprechungsraum, ich sitze an einem Konferenztisch, erwartungsvolle Gesichter sehen mich an. Ich werde meinen Kollegen jetzt das neue System und seine Vorteile erklären, obwohl ich es selbst immer noch nicht verstanden habe. Ich werfe einen Blick in die Runde. Ich weiß, dass ich die Gesichter kenne, trotzdem kann ich mich an keinen einzigen Namen erinnern, und der winzige innere Sorgensame fängt stetig an zu wachsen, bis ich nervös mit meinen Papieren raschle, unsicher, wo ich anfangen soll. Dann bin ich an der Reihe. Ich sehe auf.
«Wir wollen in zwei Monaten mit der Einführung des neuen Systems beginnen …» Ich gerate ins Stocken, alle Blicke sind auf mich gerichtet, aber mir fällt das Wort, das ich als nächstes brauche, nicht ein. Dort, wo es eigentlich sein sollte, ist in meinem Kopf eine Leerstelle. Die Stille hängt im Raum, und kurz meine ich, die Fragen hinter ihren Blicken zu sehen, ob ich wirklich noch fit bin für diesen Job, warum es mir nicht gelingt, einen simplen Satz zu beenden. Ich komme mir dumm vor. Dumm, frustriert, verwirrt, gedemütigt. Der Moment fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Vielleicht war es nur eine Sekunde, aber das Wort, das ich brauche, entzieht sich beharrlich, und ich schaue auf der Suche nach Inspiration in meine Unterlagen und greife irgendeinen anderen Faden auf, in der Hoffnung, die gravierende Pause überbrückt zu haben.
«Wir – wir hatten ein paar Pannen, aber der Transfer der meisten Daten funktioniert reibungslos.»
Eine Stunde später ist die Besprechung vorbei, und die Leute verlassen langsam den Raum. Ich bleibe zurück, sammle meine Unterlagen ein, und dann ist es plötzlich wieder da – das Wort, das ich vorhin so verzweifelt gesucht habe. Ich sehe mich eilig um, ob mir jemand den Schreck im Moment des Erkennens angesehen hat, und schlucke gleichzeitig die Scham hinunter, denn das Wort, nach dem ich panisch mein ganzes Gehirn durchforstet habe, ist winzig und so einfach. Das Wort, das ich gesucht habe, lautet «und».
Im April 2014 findet die SPECT-Untersuchung statt. Mit Hilfe dieser Computertomographie wird ein 3D-Bild meines Gehirns erstellt, das laut Neurologin mehr Aufschluss geben kann als ein MRT.
«Wir spritzen Ihnen ein Kontrastmittel in die Vene und können dann seinen Weg durch Ihr Gehirn verfolgen», erklärt mir der Radiologe.
Ich liege allein mit meinen Gedanken in einem dämmrigen Raum, während sich das Kontrastmittel seinen Weg durch mein Gehirn bahnt, auch wenn ich nichts davon spüre. Die Schwester sagt, ich könne gerne schlafen, während ich hier liege, aber ich bin fest entschlossen, absolut wach und aufmerksam zu bleiben, als könnten mein Hirn und ich den Apparat so dazu