Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung FinePic®, München
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-40533-2
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40533-2
Tehk it ih-si, sagen sie dir.
Noch dazu auf englisch.
«Nimm’s auf die leichte Schulter!»
Doch, du hast zwei.
Nimm’s auf die leichte.
Ich folgte diesem populären
Humanitären Imperativ.
Und wurde schief.
Weil es die andre Schulter
Auch noch gibt.
Man muß sich also leider doch bequemen,
Es manchmal auf die schwerere zu nehmen.
Mascha Kaléko
Neuerdings hasse ich Aquarien. So richtig dafür interessiert habe ich mich auch vorher nicht, Fische kann man ja nicht streicheln. Doch inzwischen habe ich eine regelrechte Aversion gegen die schuppigen Gesellen entwickelt – zumindest gegen diejenigen, die teilnahmslos im Wartezimmer meines Gynäkologen herumblubbern. Gegen Fische auf meinem Teller oder in der Natur habe ich hingegen nichts, Fisch ist gesund – es sei denn, man ist schwanger, dann sollte man rohen Fisch meiden. Ich bin aber nicht schwanger. Das ist ja das Problem.
Die stupiden Fische gibt es als Dreingabe zur Kinderlosigkeit, in einem hippen, in die Wand eingelassenen Aquarium, das es einem unmöglich macht, ihrem gnadenlos gleichgültigen Glotzen den Rücken zuzukehren. Egal, ob ich mal wieder verzagt auf ein Bluttestergebnis warte oder mich mit dem Mut der Verzweiflung für die nächste Hormonspritze wappne: Den Fischen ist das piepegal. Sie schwimmen von Pflanze zu Fakewrack zu Kunstfelsen; dazwischen kleben sie an der Scheibe und tun so, als würden sie mich wahrnehmen. Anfangs bin ich darauf hereingefallen und habe, wenn niemand außer mir im Wartezimmer saß, den Zeigefinger an die Scheibe gelegt, da, wo auf der anderen Seite das Blubbermäulchen saß. Was tat der Fisch? Schwamm weiter. Null Interesse. Nicht einmal einen Fisch konnte ich für mich begeistern, wie sollte sich da ein Kind für mich erwärmen und zu mir kommen?
Dabei hatte «Mutter der Nation» in meinem Abitur-Jahrbuch gestanden, unter einem freundlich lächelnden, kreuzbraven Bild von mir. Die Mitschüler, die für das Buch verantwortlich zeichneten, hatten jedem Schulabgänger einen Berufstipp verpasst. Bei meiner besten Freundin stand «Tabledancerin», einem politisch engagierten Einserkandidaten wurde eine Karriere als «KPD-Funktionär» prophezeit, ein unfassbar akribischer Abiturient sollte «Steuerberater» werden – ich habe gehört, dass er heute tatsächlich in einer Steuerkanzlei arbeitet. Ob die Schülerin, der «Bundespräsidentin» vorausgesagt wurde, das eines Tages in die Tat umsetzt, wird man noch sehen müssen.
Und bei mir also: «Mutter der Nation». Inzwischen sind fast zwanzig Jahre vergangen, und wenn ich mir den Titel holen will, muss ich vermutlich noch rasch in der Lindenstraße mitspielen, bevor sie eingestellt wird, oder gleich ein SOS-Kinderdorf gründen (Letzteres war übrigens sehr lange ein Berufswunsch von mir, aber dazu später mehr). Als ich begann, dieses Buch zu schreiben, hielt ich zunächst Rückschau. Wann begann er eigentlich, sich Gehör zu verschaffen, dieser Kinderwunsch, der heute so laut in mir brüllt, dass mir manchmal Hören und Sehen vergeht? Warum eigentlich meine ich so unbedingt und dringend, Mutter werden zu müssen? Zum Abi 2001 tauchte das Thema offenbar erstmals auf – meine Mitschüler trauten mir damals wohl durchaus zu, dass ich mal eigene Kinder haben würde.
Und warum auch nicht – ich bin heute 37 und gesund und munter, auch geistig. Ich habe keinen Vogel, dafür aber einen Klammeraffen – diesen Kinderwunsch, der an mir klebt, egal, was ich tue, ob ich Single bin oder einen Partner habe, ob ich weine oder ein trotziges Gesicht mache. Aber verdammt noch mal, das ist ja auch völlig normal. Ich bin eine Frau, die Mutter werden möchte, und ich möchte darüber sprechen dürfen – vor allem, wenn ich die Hoffnung mal wieder begraben musste und kein Trost helfen kann. Was häufiger bei mir vorkommt.
Es ist sehr anstrengend, dazu zu stehen, dass ich keine Kinder habe, das aber liebend gern ändern würde. Denn ich wünsche mir Mitgefühl und Verständnis für meine Traurigkeit, keine hilflosen Schulterklopfer oder Pauschalempfehlungen à la «Dann leg dir doch einen Hund zu» oder sonst einen Totschlagsatz von der Stange. Und wenn ich abends wie jeder normale Mensch ausgehe, dann zischt mir mein kleiner Kinderwunsch im Ohr zu: «Erzähl bloß niemandem davon, sonst sagen alle: ‹Siehst du, wie viele Freiheiten du ohne Kinder hast! Freu dich doch!› Oder: ‹Super, dass du dich wenigstens ablenkst.›» Dann halte ich wirklich den Mund, fühle mich aber trotzdem unwohl, und schon ist der Abend wieder im Eimer.
Wir Frauen, die wir uns erfolglos Kinder wünschen, haben keine Lobby. Wir sind die Spaßbremsen jeder Party, zusammen mit den unfreiwilligen Singles. Denn alle anderen fühlen sich augenscheinlich verpflichtet, uns von unserer Sehnsucht abzulenken, uns Tipps zu geben, wie es doch noch klappen könnte, oder mit einfühlsamer Stimme von Frauen zu erzählen, die auch keine Kinder haben, aber ja so zufrieden und glücklich sind. Vielleicht darf man offiziell keine Sehnsucht haben und sollte sich den ganzen Tag heimlich, still und leise freuen, dass man überhaupt lebt … Aber ganz ehrlich: Unsereins will manchmal einfach auch nur traurig sein dürfen. Ich brauche niemanden, der mir nach der dritten Fehlgeburt sagt, dass das Wetter draußen doch so schön ist. Ich brauche eine – Achtung, Ironie! – mütterliche Freundin, die mich in den Arm nimmt, meinen Kummer aushält und sich meine Wut anhört. Einen Mann, der meine Verzweiflung mitträgt. Was ich nicht brauche: gute Ratschläge.
In diesem Buch erzähle ich, was ich unternommen habe, um diese Sehnsucht hinter mir zu lassen. Ich erzähle von allem, was ich ausprobiert habe, damit ich endlich «mein» Kind zur Welt bringe, und von den Möglichkeiten, die sich eventuell noch bieten. Ich berichte aber auch davon, wie niederschmetternd es sein kann, Patentante zu werden (das klassische «Gnadenbrot» für die kinderlose Freundin Ende dreißig). Ich rege mich über Wartezimmer voller Kinderbilder auf und darüber, dass unsereins die Traurigkeit überall findet, selbst wenn wir uns vorsorglich im schönsten kinderfreien Hotel verkrochen haben.
Dieses Buch habe ich für betroffene Frauen geschrieben. Für ihre Männer. Für Großeltern, die keine werden. Und für alle anderen Angehörigen und Wegbegleiter. Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch sollten Schmerz und Wehmut artikulieren dürfen, ohne dass sich jemand aus lauter Hilflosigkeit genötigt fühlt, ihnen «Patentrezepte», die keine sind, um die Ohren zu klatschen. Und Partner, Verwandte und Freunde sollten erfahren, wie es ist, mit der Sehnsucht nach Kindern zu leben – dass es sich damit sogar ganz gut leben lässt, zumindest zwischen dem letzten Traurigkeitsanfall und dem nächsten. Wenn der Klapperstorch sich ständig verfliegt, darf frau ruhig wütend, traurig und verzweifelt sein. Das ist okay.
Dieses Buch wird wütend und traurig und witzig sein, und ich hoffe, dass es trotzdem oder vielleicht auch gerade dadurch sensibilisiert. Es soll eine Diskussion anstoßen, Verständnis dafür schaffen, dass wir Frauen mit Kinderwunsch ernst genommen werden möchten, dass wir ein gleichwertiger Teil der Gesellschaft sind wie Mütter auch. Wir möchten, dass man uns auf Augenhöhe und ohne leicht genervten Mitleidsblick begegnet – und nicht einfach stillschweigend abwartet, bis sich bei uns das Problem von selbst erledigt, weil das eingebaute Verfallsdatum überschritten ist.
Anna Schatz
Hamburg, im Frühjahr 2019
Als ich noch ganz klein war, so knapp über Esstischhöhe, wollte ich unbedingt ein Junge sein. Vielleicht, weil ich meinen großen Bruder glühend verehrte oder weil ich einfach ein wenig emotionales, mädchenaffines Zuhause hatte. Ich spielte zwar mit Puppen, aber nie die klassische Mutter-und-Kind-Version; meine armen Puppen mussten stattdessen ständig in die Schule gehen. Der Wandkalender in meinem Kinderzimmer zeigte keine Tierbabys oder Trickfilmhelden, sondern Bilder von Kindern aus fremden Kulturen.
Da ich sehr früh lesen konnte, blieb mir nicht verborgen, dass Kinder in anderen Kulturen oft in sehr schlimmen Situationen aufwuchsen. Mein bester Freund zu Kindergartenzeiten war in Thailand geboren und zur Adoption freigegeben worden, und ich stellte mir oft vor, wie es wäre, ein Kind wie ihn aus dem Heim zu retten. Die Kalender von Terre des Hommes oder Brot für die Welt taten ihr Übriges, dazu saugte ich Zeitungsartikel über Kinderarbeit regelrecht auf – ich malte mir oft aus, wie es wohl war, in diesen fremden Welten zu leben, versuchte nachzuempfinden, was ein Kind brauchte, um wieder Vertrauen zu fassen zu den Erwachsenen.
Daran, selbst Mutter zu werden, dachte ich damals noch gar nicht. In meiner Phantasie war ich entweder ein aus der Teppichfabrik geflohenes Kind oder unterrichtete als Erwachsene gerettete Kinder. Ich liebte meine Puppen und Kuscheltiere und dichtete ihnen Charaktereigenschaften an, als wären sie Menschen – und je älter ich wurde, desto wichtiger wurde es in meinen Spielen, sie zu beschützen vor Gefahren, die ich selbst nicht benennen konnte. Daraus reifte nach und nach der Wunsch, später einmal SOS-Kinderdorf-Mutter zu werden. Darüber sprach ich mit niemandem – ich befürchtete, mein Umfeld könnte diesen Wunsch nicht ernst nehmen oder als Hirngespinst abtun. Und kaum etwas verletzte mich in meiner kindlichen Seelenwelt mehr als Spott oder Herablassung in Bezug auf die Dinge, die mich wirklich beschäftigten.
Konkreter wurde mein «exotischer» Berufswunsch, als mein Frauenarzt mir erklärte, ich könne keine Kinder bekommen. Nun ja, so eine Information kann man, wenn man sechzehn ist, nicht wirklich in ihrer ganzen Tragweite erfassen. Ich nahm sie zur Kenntnis, zumal ich wusste, dass man dieselbe Diagnose auch meiner Mutter gestellt hatte. Daran, dass ich ihre Tochter bin, merkt der aufmerksame Leser, dass derlei Auskünfte allerdings nicht unbedingt in Stein gemeißelt sind.
Mit siebzehn Jahren wurde bei mir Brustkrebs vermutet – ein Verdacht, der sich zwar glücklicherweise nicht bestätigte, den Wunsch, Mutter zu werden, aber auch nicht gerade befeuerte. Ohnehin wurden jetzt andere Dinge wichtiger – ich zog zu Hause aus und bei meinem Freund ein und führte plötzlich ein «Doppelleben» als Schülerin und Hausfrau.
Mittlerweile wusste ich, dass man als SOS-Kinderdorf-Mutter mindestens 35 Jahre alt sein musste – bis dahin war es also noch ewig. Doch je länger ich mit meinem Freund zusammenlebte, desto stärker wurde der Traum, später Kinder zu adoptieren. In der Schule sprach ich oft davon, dass ich mindestens fünf Kindern ein Zuhause geben wollte, daher vermutlich auch der Berufstipp «Mutter der Nation» im Abi-Jahrbuch. Zudem mutierte ich durch meine doch recht erwachsene Wohnsituation zu einer Art Frau Dr. Sommer für viele Mitschüler – sie vertrauten sich mir an oder wollten hören, wie das denn so sei, nicht mehr bei den Eltern zu leben. Bestimmt ging ich einigen von ihnen mit meinem altersunüblichen Hausfrauenleben auch gehörig auf die Nerven. Nichtsdestotrotz stand auch in den Jahrbuch-Rubriken «als Erste verheiratet» und «als Erste schwanger» mein Name – und ich träumte immer öfter von einem Haus, einem Garten und Kindern verschiedenster Nationen, die bei mir behütet aufwachsen sollten.
In diese Zeit fiel auch meine erste Konfrontation mit dem Thema Abtreibung. «Wie kann die nur so bescheuert sein und es nicht wegmachen lassen?», fragte mein Bruder, als eine Kommilitonin mitten im sechsten Semester mit Zwillingen schwanger wurde. Noch dazu von einem namenlosen One-Night-Stand – sie würde also bald alleinerziehende Mutter von zwei Kindern sein, und das ohne Studienabschluss. Ganz gegen meine Gewohnheit, meinem geliebten Bruder in allem zuzustimmen, erwiderte ich nichts. Doch sein Satz gab mir zu denken. Wie leichtfertig er mit Abtreibungen umging! Wieso war es «bescheuert», sich für ein Kind zu entscheiden, Studium hin oder her? Warum brauchte frau in unserer Gesellschaft eine Rechtfertigung, wenn sie ihr Kind zur Welt bringen wollte? Ich konnte meinen Bruder verstehen, aber innerlich ergriff ich Partei für die Studentin. Sie wollte Mutter werden, das war ihr gutes Recht, und es war ebenfalls ihr gutes Recht, Prioritäten zu setzen. Mir ging die Einstellung auf die Nerven, mit Kind sei auf einmal alles vorbei: Studium, Karriere, ein eigenes Leben. Nichts ist vorbei – es fängt etwas Neues an, es geht eben nur anders weiter als bisher.
Es musste doch möglich sein, zu einem Kind ja oder nein zu sagen, ohne sich dafür vor anderen rechtfertigen zu müssen! Schon bald wurde ich mit einem anderen Beispiel konfrontiert. Unsere Nachbarn hatten Jahre zuvor zwei Jungen aus Mexiko adoptiert – damit standen sie in unserer bürgerlich-beschaulichen Straße ganz oben auf dem Gutmenschen-Treppchen. Außerdem blieb die Mutter zu Hause, der Mann ging arbeiten, die Kinder wurden größer, und es kam noch ein leibliches Kind dazu. Als der ältere Adoptivsohn mit achtzehn Jahren Vater eines kleinen Jungen wurde, hing dann der Haussegen schief. Denn die Gutmenschen-Eltern kritisierten nun, dass die junge Mutter zu lange gewartet habe und eine Abtreibung nicht mehr möglich gewesen sei. Ich konnte es nicht fassen: Ausgerechnet diesen Nachbarn, die Kinder adoptiert hatten, denen spät ein eigenes Kind geschenkt worden war und die nun Großeltern wurden – ausgerechnet ihnen wäre eine Abtreibung lieber gewesen? Meine Mutter und ich waren in unserer Bestürzung vereint, und ich begriff, dass ich selbst einen Schwangerschaftsabbruch niemals über mich brächte. Zumindest hoffte ich das, wohl wissend, dass Situationen Menschen zu Dingen zwingen können, die sie nie für möglich gehalten hätten. Ich hoffte weiter, mich niemals in einer derartigen Situation wiederfinden zu müssen. Zur Ehrenrettung meiner Nachbarn muss ich sagen, dass sie offenbar ganz zauberhafte Großeltern geworden sind und mittlerweile schon zwei Enkelkinder haben. Aber ich wusste nun, dass die Entscheidung für oder gegen ein Kind oft aus Sachzwängen heraus nicht leicht zu treffen war.
Als ich im zweiten Semester Medizin studierte, wurde dann eine Kommilitonin und Freundin von mir schwanger – obwohl sie die Pille nahm und nur noch einen Eierstock hatte. Sie war mit dem Vater nicht zusammen, neunzehn Jahre alt und eher der unstete Typ, hatte einen wachen Verstand und ein träumerisches Wesen. Ihre Vorlesungsmitschriften waren voller kunstfertiger Kritzeleien, und manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie über ein enzyklopädisches Wissen verfügte. Wie ein Schwamm saugte sie alles auf, nicht nur den Lernstoff. Sie war leicht abzulenken, und Erwachsenwerden stand bei ihr eigentlich noch nicht auf der Agenda.
Und jetzt würde sie also selbst Mutter werden. Die einhellige Meinung der Mitstudenten und Freunde lautete: «Das schafft sie nicht, die Marie-Christin, sie ist doch schon mit Pünktlichkeit überfordert …» Am Anfang des Studiums ein Kind bekommen? Quatsch! Lieber schön der Reihe nach: erst abtreiben, dann fertig studieren und anschließend Kinder auf die Welt bringen. Alle setzten sie unter Druck, mischten sich ein – alle, bis auf ihre Eltern und mich. Ich war überzeugt, dass sie es schaffen, ihr Leben umplanen und glücklich werden könnte. Ich glaubte fest daran, dass in ihr eine liebevolle Mama steckte. Das Studium beenden konnte sie später auch noch.
Da kam ein Kind, das war doch ein Grund zur Freude. Und wer konnte schon wissen, ob es mit dem Mutterwerden klappen würde, später, wenn es lebensplantechnisch dann endlich passte? Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie schlimm es wäre, ein Kind abzutreiben und Jahre später vergeblich zu versuchen, eines zu bekommen. Würde man dann nicht die Kinderlosigkeit als Strafe für die vergebene Chance empfinden? Ich sagte Marie-Christin, dass ich sie unterstützen würde, und ließ sie ansonsten in Ruhe. Als die Schwangerschaft schon fortgeschritten war, lernte ich ihre Mutter kennen. Sie begrüßte mich mit den Worten: «Du bist also die Einzige außer uns, die sich freut. Aber warum soll man sich nicht freuen, wenn neues Leben entsteht?»
Mit Mitte zwanzig – ich hatte nun bereits mehrfach mit Schwangerschaften und den unterschiedlichen Reaktionen darauf zu tun gehabt – kam ich erstmalig mit einem Mann zusammen, der ein Kind hatte. Ich selbst konnte ja aus medizinischer Sicht überhaupt nicht schwanger werden. Entsprechend richtete ich mein Leben ein und genoss die Beziehung mit einem Mann, der bereits Vater war – so konnte ich an den Wochenenden eine Art «Zweitmami» sein und war glücklich, als der Junge mich als solche auch seinen Freunden vorstellte. Mehr Mutterschaft würde es in meinem Leben nicht geben, dachte ich. Mir war bewusst, dass ich vermutlich irgendwann traurig darüber sein würde, keine eigenen Kinder haben zu können, aber ich freundete mich eben mit dem Gedanken, kinderlos zu sein, an, so gut es ging.
Bis ich mit unklaren Blutungen beim Frauenarzt saß: Ich hatte eine Fehlgeburt gehabt – natürlich ohne die Schwangerschaft geahnt zu haben. Meine Periode kam immer wieder unregelmäßig, und ich verschwendete nicht viele Gedanken auf Verhütung. Die Tage nach der Diagnose funktionierte ich wie ferngesteuert, wartete wie betäubt auf die Ausschabung. Innerlich wie tot, schlug ich im Aufwachraum die Augen auf und verschwieg meinen namenlosen Kummer tagelang dem Rest der Welt. Das Gefühl, versagt zu haben, lastete wie Blei auf mir.
Aber nun hatte ich ihn: den Beweis, dass ich schwanger werden konnte. Das änderte alles. Die Sehnsucht nach einem Kind war geboren.
Zwei Jahre nach der Fehlgeburt besuchte ich meine Tante. Ihr Haus ist für mich immer ein Stück Heimat gewesen. Es schien mich zu umarmen, wenn ich durch die Tür ins Wohnzimmer kam, hieß mich willkommen und versprach mir ein schönes Wochenende, nach dem man sich verabschiedet und denkt, man sollte viel öfter zu Besuch kommen.
Die Küche war ganz in Orange gehalten. In einem Siebzigerjahre-Orange, aber das störte mich nicht. Die Kaffeemaschine gluckerte immer verheißungsvoll, und welches Unwetter draußen auch tobte – drinnen war es stets angenehm warm. Wir standen an die Anrichte gelehnt, und meine Tante erzählte mir von meiner Großmutter, an die ich leider keine Erinnerung mehr habe, weil sie starb, als ich drei Wochen alt war. Meine Großmutter hat sich so über jedes Kind gefreut, das auf die Welt kam. Meine Tante wurde selbst gerade zum ersten Mal Großmutter, und ihre Begeisterung darüber war so herzerwärmend, dass ich im Stillen das ungeborene Kind zu den fabelhaften Großeltern beglückwünschte, das es haben würde. Natürlich sprachen wir darüber, warum ich, mittlerweile geschieden und Anfang dreißig, noch keine Kinder hatte. Es sei doch so schade, wenn man die eigenen Talente nicht weiterreiche, und ich hätte einem Kind so vieles mit auf den Weg zu geben. Und selbständig denkende Menschen in die Welt zu setzen, sei ja auch irgendwie eine Verantwortung, eine Pflicht gegenüber allen Mitbürgern.
Dieses innere Verantwortungsgefühl spürte ich zuweilen ebenfalls. Mein Einwand, dass Kinder leider nicht vom Himmel fielen, verhallte zwar nicht ungehört, aber die Mahnung, nicht die Hoffnung aufzugeben, kam wie aus der Pistole hinterhergeschossen. Ein Lebensziel, nein, das Lebensziel schlechthin war meiner Tante zufolge nicht etwa ein Beruf, der einen ernährte und erfüllte, sondern die Familiengründung. Meine Tante ist sehr verständnisvoll und warmherzig, aber ich hörte nur eine Botschaft heraus: «Du vergeudest deine Zeit, wenn du nicht Mutter wirst.»
Da stand ich nun in dieser Küche, starrte auf das Muster des PVC-Bodens und wartete darauf, dass es vor meinen Augen nicht mehr verschwamm. Küchenfußböden sind treue und belastbare Begleiter. Und sie erzählen mit jedem Riss, jedem Brandfleck die Geschichten, die sich dort zugetragen haben. Egal, in welcher Küche man sich streitet oder anlacht, man wird auf dem Boden immer irgendetwas finden, was sich zu fixieren lohnt. Auch in einer reinweißen Küche sieht man auf dem Boden diesen einen schwarzen Riss in der Fliese, über den sich der Küchenbewohner immer wieder ärgert. Ich für mein Teil hätte liebend gern einen Küchenfußboden mit Fliesen voller Macken, die von den Bobbycars und Wutausbrüchen meiner Kinder stammen. Stattdessen bin ich selbst drei Tage, nachdem ich mein erstes Kind verloren hatte, weinend auf dem Küchenfußboden zusammengebrochen.
In der Küche meiner Tante blickte ich auf einen anderen Fußboden und spürte dennoch einen vertrauten Schmerz. Ich widerstand der Versuchung, mich auf den Boden sinken zu lassen, bis ich allein im Haus war. Dann probierte ich aus, ob diese Küche auch eine so beruhigende Wirkung hatte wie meine. Während ich so dasaß, wanderte mein Blick die orangefarbenen Schrankwände entlang. Kein Jahr mehr, dann würden in dieser Küche kleine bunte Beißringe von der Arbeitsfläche fallen und Fläschchen umgedreht in der Spüle trocknen und …
Ich unterbrach die Gedankenspirale abwärts und rief mich zur Ordnung. Eigentlich war mein Leben doch schön, ich hatte die uneingeschränkte Kontrolle darüber, anders als jede Mutter mit Kindern. In meinem Leben bestimmte niemand außer mir, wann ich schlafen ging oder aufwachte. Es gab keinen krabbelnden Wecker, der mir den Tagesablauf diktierte und alle meine Pläne krähend durcheinanderwirbelte. Mein Leben hatte eine Menge Vorzüge, die Eltern nur noch aus der Ferne kennen. Du hast Freiheiten, sagte ich mir, also genieße sie! Sei stark, sei klug, nutze deine Talente! Und geh laufen. Laufen hilft.
Also ging ich laufen. Und was sah ich, kaum dass ich den ersten Frustkilometer heruntergerissen hatte? Eine rauchende Mutti mit Säugling und Kleinkind. Da war es wieder, dieses Gefühl der Ungerechtigkeit. Dieses Wissen, dass dort jemand zwei Kinder hat, und ich, ich habe Fähigkeiten, und das war’s. Zu allem Überfluss rauchte diese Mutter und schadete damit nicht nur ihrer eigenen Gesundheit, was Privatsache gewesen wäre, sondern auch noch der ihrer eingenebelten Kinder. Und wenn ich sie gefragt hätte, warum sie das tat, hätte sie sagen können, dass es mich nichts angehe.
Ich kam ins Grübeln. Ging es mich wirklich nichts an? Wie konnte mir meine Tante mehr oder weniger knallhart zu verstehen geben, meine Kinderlosigkeit sei ein verdammenswerter Verrat an der Gesellschaft, und fremde Mütter durften ungerügt die Gesundheit ihrer Brut schädigen? Es wird einem immer suggeriert, man dürfe sich nicht in die Kindererziehung anderer Leute einmischen, schon gar nicht, wenn man selbst keine Kinder habe. Todsünde! Dann darf man weder die Erziehung noch die Ernährung oder das elterliche Verhalten kritisieren – denn: «Das kannst du doch gar nicht beurteilen. Du hast ja keine Kinder.»
Umgekehrt, so dachte ich weiter, während ich mir die Lunge aus dem Leib lief, darf jeder seinen Senf dazugeben, wenn jemand keine Kinder hat, und darf sagen, was der Betreffende falsch macht. Kinderlose darf man nach Herzenslust kritisieren und beurteilen, immer gern frei von der Leber weg. Eltern nicht. Mütter sind für Nichtmütter sakrosankt: Finger weg!
Hatte ich trotz meiner Begabungen und Fähigkeiten weniger in die Waagschale zu werfen als diese rauchende Mutti, die in meinen Augen verantwortungslos handelte? Sicher nicht. Warum fühlte ich mich trotzdem kleiner und wertloser als sie? Und warum spürte ich Trauer, wenn ich an meine Tante dachte, die Babymützchen in Erdbeerform strickte, und Schuldgefühle, weil ich meiner Mutter nicht dasselbe Vergnügen bieten konnte? Zur Entlastung meiner Mutter sei gesagt, dass sie vermutlich die Letzte ist, die mir das vorwerfen würde. Ich würde es ihr nur eben so sehr gönnen, Enkelkinder zu haben.
Nach dem Laufen stand ich tränenblind unter der Dusche, aber das Gedankenkarussell wollte nicht aufhören, sich zu drehen. Mein kinderloser Cousin hat einmal gesagt, es wundere ihn nicht, dass seine Mutter ihn seltener besuche als seinen kinderreichen Bruder, er habe – so ganz allein mit seiner Frau – ja auch weniger zu bieten. Mal abgesehen davon, dass er recht hatte: Was soll das eigentlich, bitte schön, heißen? Werden Familienbesuche nach einer Art Ranking zugeteilt, das nach Anzahl der Kinder in der Zielfamilie ermittelt wird? Müssen die Kinderlosen sich ganz selbstverständlich hinten anstellen, wenn es um die Planung gemeinsam verbrachter Quality Time geht? Weil sie, zugespitzt formuliert, nämlich weniger wert sind?
Dabei will ich nicht alle über einen Kamm scheren. Ein anderer Zweig meiner Familie wiederum sieht das Ausbleiben von Nachwuchs nämlich eher pragmatisch: Kinderlos zu bleiben, sei durchaus vernünftig, weil so etwaige familiäre Erbkrankheiten nicht weitergegeben würden. Keine Kinder zu haben, bedeutet also nicht nur, der Gesellschaft nützliche Fähigkeiten vorzuenthalten, sondern eben auch Makel.
Und nun? Unterm Strich sagen die einen also, ich solle meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Gesellschaft gegenüber tun und mich vermehren. Die anderen halten dagegen, ich solle vorsichtshalber die Büchse der Pandora zulassen und meine Gene lieber nicht weitergeben.
Und ich? Ich sage: «Ihr könnt das nicht beurteilen, ihr habt schließlich Kinder.»
Lange bevor mein Kinderwunsch konkret wurde, sah ich eine etwas krude Familienkomödie, die vermutlich in den Neunzigern gedreht war. Uschi Glas spielte eine Tante, die beim Kaffeetrinken mit der Familie die Kinderlosigkeit der Nichte kommentiert: «Wenn beim Mann alles in Ordnung ist, dann kommen die Kinder von selbst. Es liegt immer am Mann.»
Mich beeindruckte das damals sehr – weil es falsch war und ich trotzdem wusste, dass es die Meinung einer ganzen Generation widerspiegelte. Der Mann wird als der Schuldige hingestellt, vor allen Anwesenden. So ein Unsinn! Klar, es kann am Mann liegen. Genauso gut kann es aber auch an der Frau liegen, an allen beiden oder an keinem. Das Einzige, woran der Mann wirklich «schuld» ist, ist das Geschlecht des Kindes.
In die gleiche Kerbe schlug ein paar Jahre später die Begegnung mit einem Paar, das sich Kinder wünschte. Sie hatten bereits alle natürlichen Möglichkeiten ausgeschöpft und sahen gerade einer künstlichen Befruchtung entgegen. Der Kommentar der Frau: «Es geht eben nicht anders, weil Torbens Spermien null Beweglichkeit haben.» Ich hatte sofort Mitleid mit Torben und wurde ärgerlich auf die Frau an seiner Seite. Wie konnte sie so emotionslos und flapsig herausposaunen, was sie beide sicherlich schon sehr lange umtrieb und für manche durchtrauerte Nacht gesorgt haben mochte? Ich fand es ihm gegenüber sehr unfair und respektlos, und es kam mir so vor, als würde er ihre Worte mit einer schuldbewussten Resignation hinnehmen – so, als wagte er nicht zu protestieren, weil er ja wusste, dass sie recht hatte. Schlimmer noch, weil er dankbar sein musste, dass sie, deren Fruchtbarkeit anscheinend über jeden Zweifel erhaben war, trotzdem von ihm ein Kind wollte, bei ihm blieb, die Kinderwunschklinik besuchte. Glaubte sie ernsthaft, nur weil das Baby in uns Frauen heranwächst, wären die Männer vor Scham, Traurigkeit und Sehnsucht im Angesicht der Kinderfrage gefeit?
Der Weg zum Kind ist eine Einbahnstraße, die Paare gemeinsam nehmen, die Frauen und die Männer. Wenn sich nur einer von beiden darin festfährt, dann bleibt der andere doch nicht vorn an der Abzweigung stehen, sondern ist an der Seite des Partners. Dann hält er dessen Verzweiflung und Traurigkeit aus und trägt sie mit. Denn wer liebt, will den anderen nicht leiden sehen.
Was sich dennoch oft nicht vermeiden lässt, gerade wenn sich die Erfüllung des Kinderwunsches schwierig gestaltet. Wenn ich zum Beispiel mit dem Bus zu meiner Mutter fahre, bietet sich mir an einer ganz bestimmten Haltestelle oft ein herzzerreißendes Bild – genauer gesagt an der Bushaltestelle Kinderwunschklinik. Natürlich heißt diese Haltestelle nicht wirklich so, sondern ist nach der Straße benannt. Aber jeder, der hier aussteigt, verbindet die Haltestelle mit dem großen weißen, modern-sterilen Gebäude an der Ecke. Im Erdgeschoss liegen eine Apotheke, ein Bäcker und ein Juwelier. Zwischen der Apotheke und dem Bäcker befindet sich eine große Schiebetür, die in das Herz des Hauses führt, und in Großbuchstaben steht darüber: GYNÄKOLOGISCHE TAGESKLINIK.