
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «Nos adorables belles-filles» bei Éditions Michel Lafon, Paris.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Nos adorables belles-filles» Copyright © 2016 by Éditions Michel Lafon
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ISBN Printausgabe 978-3-499-27602-6 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-40578-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40578-3
Für Jules und Gaspard
und für meine zukünftigen
Schwiegertöchter …
Angeblich trennt sich eines von drei Paaren
wegen der Schwiegereltern.
Aber wie viele Schwiegereltern zerstreiten sich
wegen der Schwiegertöchter?
Jacques war schon immer jemand gewesen, der gern mal übers Ziel hinausschoss. Als sie sich am Heiligen Abend im Badezimmer fertig machten, hielt Martine es deshalb für angebracht, ihren Mann daran zu erinnern, dass dies kein Weihnachten wie jedes andere sei und die Familienharmonie von seinem mustergültigen Verhalten abhänge.
«Heute Abend hältst du dich bitte zurück. Das heißt kein Streit mit den Kindern und keine unangemessenen Bemerkungen zu den Schwiegertöchtern. Verschreck die Neue nicht», bläute Martine ihm ein, während sie mit halb geöffnetem Mund eine weitere Schicht Mascara auf ihre Wimpern auftrug.
Anschließend betrachtete sie prüfend den Sitz ihres Kleids im Spiegel. Sie und ihr Mann gaben ein adrettes Paar ab, dem man nach wie vor ansah, wie schön es einst gewesen war. Auf ihr Alter wiesen lediglich Jacques’ grau meliertes Haar und einige Falten in ihren Gesichtern hin. Es waren wohl Spuren von Müdigkeit und kleinen häuslichen Sorgen, aber sie zeugten auch von einer Familie, in der viel gelacht wurde.
«Wenn sie doch nur endlich die Richtige für Nicolas wäre», fuhr Martine fort. «Wie heißt sie noch gleich? Jeanne? Es ist so anstrengend, sich jedes Mal einen neuen Namen merken zu müssen! Ich habe dauernd Angst, mich zu vertun. Und außerdem wäre ich froh, nicht mehr jedes Jahr einen neuen Serviettenring gravieren lassen zu müssen. Hörst zu mir überhaupt zu, Jacques?»
«Bist du dir sicher mit der Farbe?», fragte dieser daraufhin und verzog angesichts des leuchtend gelben Kleids seiner Frau das Gesicht.
«In Modefragen hältst du dich auch lieber zurück!», beschied Martine ihn mit abschätzigem Blick.
Jacques beschäftigte sich unterdessen damit, seinen Bauch in das neue, schmal geschnittene Hemd zu zwängen. Am Heiligen Abend war er immer besonders leicht reizbar, denn wenn ihm eins wichtig war, dann waren es Traditionen. Und in der Familie Le Guennec war es Tradition, dass es zu Weihnachten Rehbraten gab. Diesen bei niedriger Temperatur im Ofen zuzubereiten, stellte seit jeher Jacques’ Aufgabe dar. Das Fleisch durfte jedoch auf keinen Fall zu lange gegart werden, sonst würde es ihm – und damit allen Anwesenden – den gesamten Abend verderben. Angefangen hatte der Stress bereits beim Metzger, als er sich zwischen zwei Fleischstücken hatte entscheiden müssen. Eins war ein bisschen zu klein gewesen, das andere ein wenig zu groß. Den richtigen Wein für die Soße auszuwählen, war auch nicht viel einfacher. Und nun ließ Jacques seit geraumer Zeit die Uhr nicht mehr aus den Augen und erkundigte sich immer wieder bei Martine: «Und du glaubst nicht, dass der Braten zu trocken wird, wenn ich ihn vier Stunden im Ofen lasse?»
Seine Frau, die in vierzig Jahren an der Seite ihres Mannes gelernt hatte, geduldig zu bleiben, antwortete gelassen, während Jacques gerade gegen einen nicht zu bändigenden Wirbel kämpfte: «Du solltest dich vielleicht in der Küche weiterkämmen, wo du den Ofen im Blick hast. Dann wärst du ruhiger und ich auch. Erinnerst du dich nicht an letztes Jahr? Der Braten war genau richtig. Vier Stunden sind bei dem Gewicht sehr gut. Und außerdem hast du ein Bratenthermometer. Kannst du mir mal den Reißverschluss hinten am Kleid zumachen?», bat sie dann und begann, leise den Refrain eines Lieds zu singen, das sie gern mochte. Only youuuuu!
Doch Jacques hastete, ohne ihr zu helfen, aus dem Raum und lief eilig die Treppe hinunter, um im Ofen nach dem Braten zu sehen. Als er wieder heraufkam, wirkte er noch angespannter als zuvor, was seine Frau jedoch geflissentlich überging. Sie war wild entschlossen, heute einen schönen Abend zu verbringen – und das ab sofort.
Sie zupfte sich ihren Pony zurecht. Seit Jahrzehnten trug sie die gleiche Frisur – einen braunen, halblangen Bob, der ihr etwas Schelmisches verlieh. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch ihre Stupsnase und die runden Augen. Je älter sie wurde, desto mehr ähnelte sie der amerikanischen Schauspielerin Sally Field, die in Mrs. Doubtfire die Rolle der Mutter spielte.
Mit sicherem Pinselstrich trug sie ein wenig Rouge auf und zog ihre Lippen nach, die sie zu schmal fand. Als sie halb fertig war, drehte sie sich zu ihrem Mann um.
«Ich mache mir trotzdem Sorgen. Unser Nicolas ist wirklich nicht einfach. Er hatte immer schon einen Dickschädel. Keine Ahnung, von wem.» Sie warf Jacques einen bedeutungsvollen Seitenblick zu. «Vielleicht hätte er doch noch warten sollen, ehe er sie uns vorstellt? Sohn und Vater gleichzeitig ertragen zu müssen, könnte Jeanne vielleicht ein wenig überfordern. Hörst du mir überhaupt zu? Lass es endlich bleiben, dich wegen des Bratens verrückt zu machen. Wenn du nicht alle zehn Minuten die Ofentür aufreißt, wird er garantiert so zart, wie du ihn magst. Mach mir jetzt lieber das Kleid zu!»
«Es gefällt mir, wenn du mich so herumkommandierst», scherzte Jacques und zog den Reißverschluss am Rücken seiner Frau hoch. «Du bist sehr schön heute Abend!», sagte er dann und begann, sich mit ihr in einem improvisierten Walzer zu drehen.
«Findest du? Ich habe gerade das Gefühl, an mir hängt alles, und man sieht nur meinen Bauch», erwiderte Martine und blieb stehen, um sich erneut im Spiegel zu betrachten.
Jacques hielt sie an der Hand und musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie war klein und zierlich und hatte sich eine Figur bewahrt, um die viele Frauen jenseits der 60 sie beneideten. «Unsinn. Du siehst toll aus, Chérie, sei nicht so kritisch mit dir selbst! Und außerdem riechst du phantastisch.» Jacques drückte die Nase in ihren Nacken. «Trägst du eigentlich eine Strumpfhose, oder sind das Strümpfe?», erkundigte er sich anschließend und strich ihr mit der Hand über den Oberschenkel.
«Jetzt nicht! Ich würde ja gern, aber dann werden wir nicht rechtzeitig fertig», erinnerte sie ihn. «Sie kommen in weniger als einer Stunde, und wir haben nach wie vor einiges zu erledigen. Zum Beispiel müssen die Geschenke für die Enkel vorher noch versteckt werden. Ich kann es kaum erwarten, die beiden Schlawiner zu sehen. Wahrscheinlich sind sie schon wieder größer geworden.»
«Ich würde es entschieden bevorzugen, dir das Kleid wieder auszuziehen …», ließ Jacques nicht locker und begann leidenschaftlich, Martines Hals zu küssen, bis sie gluckste wie ein junges Mädchen.
«Und ich würde es bevorzugen, dass du dich deinen Söhnen gegenüber mustergültig benimmst, dich freundlich mit deinen Schwiegertöchtern unterhältst und nicht die ganze Zeit am Handy verbringst. Okay?», erwiderte sie so rigoros, wie es ihr irgend möglich war. «Und wenn das gut klappt, können wir heute Abend nach dem Essen –»
«Gönnen wir uns doch schon mal einen kleinen Aperitif», schlug Jacques vor und setzte sein charmantestes Lächeln auf.
Die beiden zogen sich ins Schlafzimmer zurück, von wo kurz darauf Lachen und ein «Pass auf, meine Haare» zu hören waren. Schuhe fielen zu Boden. Die Zeit war vergessen, bis es plötzlich an der Tür klingelte.
«Jetzt schon? Sie sind viel zu früh!», rief Martine und blickte auf den Radiowecker, der 20:10 Uhr zeigte. «Merde …!»
«Pass bloß mit den Schimpfwörtern auf», sagte Jacques. «Die Kleinen spielen sicher wieder Polizei, und dann kostet uns der Abend noch mal 30 Euro! Rein oder raus, das Hemd?»
«Raus, sonst siehst du aus wie eine Wurst in der Pelle. Hast du meinen linken Schuh gesehen? Wo ist er nur?»
«Eine Wurst in der Pelle? Sehr freundlich!»
Martine und Jacques eilten die Treppe hinunter. Nachdem sie kurz vor dem Spiegel an der Garderobe Frisur und Kleidung gerichtet hatten, holten sie mit roten Wangen tief Luft und sahen sich verschwörerisch an. «Also, ich wiederhole», flüsterte Martine. «Keine unangemessenen Bemerkungen zu deinen Schwiegertöchtern, kein Handy, und du achtest auf dein Cholesterin. Nachschlag ist für dich tabu, verstanden?»
«Verstanden, Chefin», antwortete Jacques und küsste seine Frau auf den Mund. «Ich bin bereit! Das Fest möge beginnen!»
Hinter der Tür zeichnete sich nur eine einzige Silhouette ab, noch dazu eine sehr kleine und zarte. Antoinette.
«Mama? Was machst du denn schon hier?», fragte Jacques. «Hatten wir nicht neun Uhr gesagt? Und wie bist du überhaupt durchs Tor gekommen? Warte, gib mir deinen Mantel.»
Die alte Dame war unter ihrem großen Hut, den sie nur zu besonderen Anlässen trug, kaum zu sehen, und in ihrem Wintermantel verschwand sie fast. Vor ihren Füßen standen zwei riesige Taschen mit sorgfältig eingepackten Geschenken.
«Das Tor stand offen, und jetzt nimm mir lieber erst mal die Sachen für die Kleinen ab. Spielzeug wird auch immer schwerer.» Dann wandte sich die neunzigjährige Antoinette an ihre Schwiegertochter und umarmte sie. «Aber du strahlst ja, Martine! Gelb steht dir ausgezeichnet.»
«Das ist sehr lieb von dir, Antoinette. Wie geht es dir?», erkundigte sich Martine und nahm den Mantel ihrer Schwiegermutter entgegen.
«Sprechen wir lieber nicht darüber. Ist das Kleid neu?»
«Ja, es ist tatsächlich neu. Wie nett, dass es dir auffällt», antwortete Martine und warf ihrem Mann einen strafenden Blick zu.
Antoinette ging weiter in das große Haus hinein, das ihr Sohn Jacques seit mehr als 35 Jahren mit seiner Frau Martine bewohnte. Die drei Söhne hatten hier eine glückliche Kindheit verbracht, ehe sie vor einigen Jahren das elterliche Nest verließen. Sie selbst hatte mit ihrem Mann, der leider bereits seit mehr als zehn Jahren tot war, schon immer hier in Dinan, unweit der bretonischen Nordküste, gelebt und war hocherfreut gewesen, als ihr Sohn damals beschloss, sich mit seiner Frau ganz in der Nähe niederzulassen.
Das Zuhause der Familie Le Guennec war ein großzügiges und sehr schönes, fast schon großbürgerliches Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert. Jacques, der von Beruf Bauingenieur war, hatte die Renovierungsarbeiten selbst geleitet. Die drei Geschosse waren im typischen Stil der nördlichen Bretagne erbaut – aus Natursteinen, mit weißen Fensterläden und einem sattgrünen Garten dahinter, in dem Jacques selbst Gemüse zog. Er war stolz auf jede einzelne Pflanze, die dort wuchs. In den beiden oberen Etagen gab es vier Schlafzimmer und ein kleines Büro – ausreichend Platz also für eine große Familie. Im Erdgeschoss befanden sich ein großes Wohnzimmer mit Kamin sowie eine voll ausgestattete Küche. In dem einzigen und noch dazu kleinen Badezimmer des Hauses waren lange Zeit Wasserschlachten in der Badewanne ausgetragen und Ellbogenhiebe über dem Waschbecken verteilt worden.
Man spürte, dass in diesem Haus gelebt worden war. Auch wenn die Kinder inzwischen nicht mehr dort wohnten, hatte es seine Seele behalten – vom Geruch nach Kaminfeuer und dem Wachs der gebohnerten Holzdielen bis hin zu den inzwischen schon leicht schäbigen Wänden mit den Familienfotos, die nostalgisch an vergangene Zeiten erinnerten. Auf einigen Bildern waren die Kinder noch sehr jung, auf anderen schon ein wenig älter. In Matthieu, dem Ältesten mit dem strahlenden Lächeln, erkannte man sofort den guten Schüler und braven Sohn. Sein Bruder Alexandre war eindeutig der Spaßvogel der Familie, der die unmöglichsten Grimassen zog und damit jedes Bild verdorben hätte, wenn dies nicht schon dem Jüngsten gelungen wäre, der ausnahmslos finster schmollte und bockig die Arme vor der Brust verschränkte.
Trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere hatten die Brüder stets wie Pech und Schwefel zusammengehalten und lebten heute nicht zufällig alle drei in demselben Vorort von Paris. Es war ihnen wichtig, sich regelmäßig sehen zu können.
Angesichts des verlockenden Geruchs, der das Haus erfüllte, meldete sich prompt Antoinettes Magen. «Gehen wir in die Küche, Martine, ich helfe dir. Und du, Jacques, sei doch bitte so lieb und fahr eben die Flaschen entsorgen, die noch in meinem Kofferraum liegen. Aus unerfindlichen Gründen wurde bei mir diese Woche das Altglas nicht abgeholt. Übermorgen gehe ich gleich aufs Gemeindeamt, um denen die Leviten zu lesen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie so was mit mir versuchen!»
In der Küche begab sie sich schnurstracks zum Ofen, um nach dem Rehbraten zu sehen. Da sie die Klappe kommentarlos wieder schloss, konnte man davon ausgehen, dass das gute Stück zu ihrer Zufriedenheit vor sich hin schmorte, ganz so, wie sie es ihrem Sohn beigebracht hatte.
Martine platzierte ihre Schwiegermutter am Küchentisch und servierte ihr ein kleines Glas Sauternes, während sie, wie jedes Jahr, die Foie gras auf kleinen Toastdreiecken anrichtete.
«Nutzen wir die Zeit, solange Jacques nicht da ist», begann Antoinette wenig später und trank einen Schluck von dem süßen Aperitifwein. «Wie geht es ihm?»
Martine ließ von den Toastscheiben ab, die sie gerade zurechtschnitt, und beugte sich zu ihrer Schwiegermutter vor. «Wenn du ihn fragst, wird er dir antworten, dass es ihm gut geht, ihm die Leute auf den Baustellen aber keine freie Minute lassen. In Wirklichkeit haben seine Chefs ihn quasi in den Vorruhestand versetzt und bereits einen jungen Nachfolger für ihn eingestellt, einen Ingenieur, frisch von der Uni. Jacques hat kaum noch etwas zu tun.»
«Mit 62 aufs Abstellgleis geschoben. Der Arme! Das wird doch hoffentlich kein Burnout sein?», rief Antoinette.
Martine warf einen kurzen Blick durchs Fenster, um sicherzugehen, dass Jacques noch nicht im Anmarsch war. «Ein Burnout ist es nicht, glaube ich», erwiderte sie dann und nahm ihre Essensvorbereitungen wieder auf. «Aber er schläft schlecht und schaut dauernd auf sein Handy in der Hoffnung, dass seine Kollegen anrufen und ihm sagen, dass sie ihn brauchen.»
«Er hat abgenommen, oder?»
«Ja, fünf Kilo.»
«Das ist nicht wenig. Aber sag mal, und wie geht es dir? Passt du auch auf, dass du dich nicht übernimmst? Was macht dein Blutdruck?»
Martines labile Gesundheit war von jeher ein Thema gewesen, und seit einigen Jahren musste sie noch mehr darauf achten, sich zu schonen. Sie neigte dazu, ohnmächtig zu werden. Vor einigen Monaten hatte sie in der Buchhandlung, in der sie arbeitete, einen Schwächeanfall erlitten und war so unglücklich vornüber auf die Kasse gekippt, dass sie sich die Rippen geprellt hatte. Während die Familie Jacques wegen seines zu hohen Cholesterinwerts gern aufzog, war man um Martine stets ernsthaft besorgt, zumal sie sich zu Hause nach wie vor um alles kümmerte.
«Ach, es geht», antwortete sie auf Antoinettes Fragen. «Ich trete in der Buchhandlung schon kürzer, und Ende nächsten Jahres werde ich ganz aufhören und in Rente gehen. Das habe ich mit meinem Kollegen schon besprochen. Ich hoffe nur, Jacques hat sich bis dahin auch damit abgefunden, dass es Zeit ist, den Staffelstab zu übergeben. Er wird immer reizbarer und ist im Moment wirklich nur schwer erträglich.»
«Noch reizbarer als sonst, geht das überhaupt? Das klingt ja vielversprechend für heute Abend. Da wir gerade beim Thema sind, wisst ihr eigentlich schon, dass Laura jetzt doch vorhat zu kommen? Hat dein Sohn dir Bescheid gesagt?»
Martines mittlerer Sohn, Alexandre, war seit fast drei Jahren mit Laura liiert. Das erste Weihnachtsfest mit ihr vor einem Jahr war alles andere als harmonisch verlaufen, weshalb in beiderseitigem Einverständnis beschlossen worden war, dass Laura in diesem Jahr nicht mit von der Partie sein würde.
«Was?! Nein, das wusste ich nicht! Alexandre hat mir nichts gesagt», ereiferte sich Martine und griff nach ihrem Handy, auf dem sie eine ungelesene Nachricht entdeckte. «Merde …! Die isst doch kaum irgendwas!»
«Achte auf deine Wortwahl, Martine», tadelte Antoinette. «Deine Enkel sind bei Schimpfwörtern sehr streng! Und? Laura kommt heute Abend, hatte ich recht?»
«Ja, aber das weiß ich erst seit gerade eben, und ich habe gar kein Geschenk für sie. Meine Schwiegertochter wird mich hassen …»
«Apropos, deine andere Schwiegertochter, Stéphanie …»
«Sag mir nicht, dass es mit ihr auch ein Problem gibt!»
«Nein, sie ist nur wieder schwanger, auch wenn sie versucht, es zu verbergen, aber sie kriegt keinen Bissen runter. Also, was gibt’s zu essen?»
«Foie gras, Räucherlachs, Austern und Rehbraten … Himmel, nein! Meine beiden Schwiegertöchter werden mich hassen», stellte Martine bestürzt fest.
Das Menü war in der Tat nicht ideal für eine Schwangere. Aber wie hätte Martine das ahnen sollen? Matthieu, ihr Ältester, hätte ihr wirklich einen Tipp geben können. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, öffnete den Küchenschrank und seufzte ratlos. «Glaubst du, dass die Zeit reicht, um noch eben zu Monoprix zu fahren? Es ist erst kurz nach halb neun, und wenn ich mich beeile –»
Martine blieb nicht einmal Zeit, den Satz zu beenden, weil in dem Moment das Rauschen der Gegensprechanlage am Tor zu hören war.
«Merde …! So ein Mist!», fluchte sie und spürte Panik in sich aufsteigen.
Martine bemühte sich, locker zu klingen, als sie in den Lautsprecher sprach: «Ja? Wer ist da?»
«Ich bin’s, mach mir mal auf! Ich habe das Tor beim Rausfahren zugemacht, wie es sich gehört, aber nun finde ich die blöde Fernbedienung nicht mehr», ertönte die wenig freundliche Stimme ihres Gatten, der vom Altglascontainer zurückgekehrt war.
Martine seufzte erleichtert auf und beschloss, ihre Schwiegermutter einen Moment lang Jacques’ Obhut zu überlassen, um tatsächlich noch schnell zum Supermarkt zu fahren. Sie zog sich den Mantel über die Schürze und erläuterte Jacques kurz die Situation, als sie ihm vor der Tür begegnete.
«Das ist doch lächerlich», hielt er sie zurück. «Du gehst jetzt nicht mehr einkaufen. Sie sind nämlich schon da, parken gerade.»
«O nein! Und was servieren wir jetzt Stéphanie und Laura?»
«Was hast du denn für die Kinder vorgesehen?», erkundigte sich Jacques.
«Habe ich etwa auch noch meine Enkel vergessen? Es war einfach alles zu viel für mich!», jammerte Martine und trottete mit ihrem Mann zurück ins Haus.
Antoinette dirigierte die beiden in die Küche und schenkte ihnen ein Glas Sauternes ein. «Trinkt erst einmal einen Schluck, ihr zwei, das wird euch guttun!»
Martine zitterte am ganzen Leib, und ihr Herz pochte wie verrückt. Immerhin wärmte der süße Wein.
Jacques, der zumindest nach außen wesentlich ruhiger wirkte, wusch sich die Hände, um anschließend mit dem Bratenthermometer den Garzustand des Rehs zu überprüfen. «Mama, mir geht’s wunderbar», versicherte er lächelnd. «Martine ist diejenige, die hier aus einer Mücke einen Elefanten macht. Ein paar Cashewnüsse und eine Dose Spargel für unsere Schwiegertöchter werden wir ja wohl noch irgendwo finden. Es wäre ohnehin gut, wenn etwas aus unseren Schränken rauskommt. Sie sind viel zu voll. Hoffen wir nur, dass das Zeug noch nicht abgelaufen ist.»
«Dosenspargel am Heiligen Abend? Sie werden uns wirklich hassen. Warum tischst du ihnen nicht gleich Katzenfutter auf?» Martine kletterte auf einen Hocker und holte zwei Dosen aus dem Schrank, die sie ihrem Mann hinhielt «Jacques, du hast die besseren Augen. Kannst du mal eben das Haltbarkeitsdatum prüfen?»
Während Jacques mit einer Hand seine Frau festhielt, zog er mit der anderen die Lesebrille aus der Hemdtasche und setzte sie sich auf. «2008. Aber kann Kaviar mit Auberginen überhaupt schlecht werden?»
Jacques, der selbst kein Problem damit hatte, einen Joghurt zu essen, der seit über zwei Monaten abgelaufen war, hätte sich liebend gern des Inhalts der beiden Dosen angenommen, doch Martine hatte sie bereits in den Müll befördert, bevor ihr Kopf wieder im Schrank verschwand.
Antoinette, deren Glas inzwischen leer war, wurde langsam langweilig, weshalb sie beschloss, das Thema zu wechseln. «Nicht, dass mich nicht interessieren würde, worüber ihr euch unterhaltet, aber … Jacques, wie läuft es eigentlich bei der Arbeit? Hast du auf deinen Baustellen mal wieder ein neues Team unter deiner Aufsicht?», fragte sie, weil sie glaubte, wenn sie ihm möglichst viel Honig um den Mund schmierte, würde sie am ehesten die Wahrheit zu erfahren.
«Ich sag nur eins», antwortete er. «Es ist der reinste Wahnsinn! Permanent rufen die Jungs mich an. Man sollte meinen, sie würden auch mal einen Moment ohne mich zurechtkommen, aber ich muss schon froh sein, dass ich die zwei Weihnachtstage freihabe. Und dann brummen sie mir auch noch diesen Neuen auf, den ich ausbilden soll und der obendrein leider nicht besonders helle ist. Aber gut, besser so als andersherum.»
Pikiert verzog Antoinette den Mund. Ihr Sohn war mit einem überzogenen Stolz auf die Welt gekommen und verstand sich meisterhaft darauf, für ihn unvorteilhafte Informationen unter den Tisch fallen zu lassen. Doch sie hakte nicht weiter nach und begann stattdessen, mit dem Finger die Schüssel auszukratzen, in der ihre Schwiegertochter die Foie gras zubereitet hatte.
Jacques ließ unterdessen den Ofen nicht aus den Augen, während er gleichzeitig weiter seine Frau festhielt, damit diese auf dem Hocker nicht das Gleichgewicht verlor. Als der Toaster dann plötzlich einen Toast ausspuckte, mit dem niemand mehr gerechnet hatte, fuhr er allerdings so stark zusammen, dass er Martine um Haaresbreite zum Fallen gebracht hätte.
Antoinette war als Erste unter dem Tisch, um den Toast aufzuheben. «Ein schwaches Herz darf man bei euch aber nicht haben», stellte sie trocken fest.
«Was machen die da draußen eigentlich so lange?», wunderte sich Jacques ungeduldig. «Sie sind doch schon vor zehn Minuten angekommen, und drei Tage braucht man nicht bis zur Haustür! Findest du noch was, Martine?»
«Nichts! Überhaupt nichts! Es ist deprimierend!»
«Dann lass es. Wenn sie uns vorher nicht Bescheid geben, ist es ihr Problem. Sag mir lieber, wie lange ich den Braten noch drinlassen soll.»
«Du hast doch den Timer gestellt, oder? So lange, bis er sich meldet also», antwortete Martine verzweifelt.
In dem Moment schrillte die Türklingel. Alle drei zuckten zusammen. «Endlich, zu früh sind sie jedenfalls nicht», konnte sich Jacques nicht verkneifen.
Dicht aneinandergedrängt schnitten die drei Söhne hinter dem Küchenfenster Grimassen und malten zweideutige Bildchen auf die gefrorene Scheibe. Martine, die inzwischen sicher vom Stuhl geklettert war, lächelte, während sie murmelnd und beinahe ohne die Lippen zu bewegen, ihren Mann anwies: «Lauras Geschenk! Könntest du bitte schnell nach oben laufen? Da liegen ein paar Dinge, die ich noch nicht mit Namen beschriftet habe. Nimm irgendeins und komm damit wieder runter.»
«Keine Sorge, ich habe etwas für sie besorgt, das ich ihr eigentlich beim nächsten Mal geben wollte. Ich hole es nur kurz und lege es unter den Baum, dann bin ich gleich wieder bei euch.»
«Soll ich ihnen schon mal aufmachen, oder wollt ihr vielleicht, dass sie den Heiligen Abend zähneklappernd im Freien verbringen?», fragte Antoinette und wackelte in Richtung Eingang. «Gut, dass ich früher gekommen bin.»
Vor der Tür standen acht Personen – in der Kälte schlotternd, aber lächelnd. Die Le Guennecs waren vollzählig: Matthieu mit seiner Lebensgefährtin Stéphanie und den beiden Kindern Paul und Jules, fünf und drei Jahre alt. Alexandre, der entgegen allen Erwartungen tatsächlich mit Laura gekommen war. Und schließlich Nicolas, der die Gelegenheit nutzte, um seine neue Freundin Jeanne vorzustellen.
Gemeinsam waren die Brüder seit mehreren Monaten nicht zu Hause gewesen, sodass Martine unwillkürlich warm ums Herz wurde, als sie die drei vor der Tür stehen sah. Die jungen Männer umarmten und küssten zunächst ihre Mutter und Großmutter herzlich, ehe sie auch ihren Vater kurz in die Arme nahmen, der von seinem Ausflug ins obere Stockwerk noch ein wenig außer Atem war.
Anschließend begrüßte Nicolas’ neue Freundin Jeanne Martine, Jacques und Antoinette höflich. Sie war um die dreißig, rothaarig und lächelte äußerst freundlich um den großen Blumenstrauß herum, den sie mitgebracht hatte. Als sie ihn überreichte und sich für die Einladung bedankte, erkannten die Gastgeber den leicht singenden Dialekt, der ihre Herkunft aus Marseille verriet.
Nicolas hielt seinen Eltern eine Flasche hin. «Die hat unsere Sommelière Jeanne für euch ausgesucht. Dazu musste ich sie leider vorher einweihen, was heute auf dem Speiseplan steht, aber ich glaube, der Wein ist genau der richtige.»
Als Nicolas mit der Flasche in die Küche ging, um den Inhalt in eine Karaffe umzufüllen, nahm auch er den köstlichen Duft wahr: «Hmm, hier riecht es phantastisch, Mama. Ich bekomme sofort Hunger! Kann ich dir irgendwie helfen?»
«Nein danke, Herr Chefkoch. Darf ich dich darauf hinweisen, dass du heute frei hast? Genieß die Zeit mit deinen Brüdern. Außerdem ist sowieso alles fertig. Gehen wir rüber ins Wohnzimmer.»
«Und ich darf dich darauf hinweisen, dass das, was du riechst, der Rehbraten ist, mein Sohn», meldete sich Jacques zu Wort, der sich ein wenig übergangen fühlte und insgeheim hoffte, ebenfalls ein Lob einzuheimsen. «Ein Rehbraten, mit dem ich, zumindest im Moment, hochauf zufrieden bin, muss ich sagen. Er ist genau so zart und weich, wie er sein sollte. Was gibt es Neues bei dir?»