
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

ISBN Printausgabe 978-3-499-11621-6
ISBN E-Book 978-3-688-11609-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11609-6
homosexuell.
Aasgeier.
Bauernhütten.
Nagetier.
Mann.
«O Berg! O Frühling! O Fluß!»
Dorfgemeinschaft.
Weiberheld.
Unkraut-Leute.
Er schwirrt von einer Hexe zur anderen.
Schulbildung.
Jemand, der Rauschgift vertreibt.
Du bist schön, meine Señora! Schöner als die Sonne. Kann ich diese Nacht unbewaffnet und frei von Furcht bei dir schlafen?
Die Unendlichkeit in deinem Antlitz.
Maissuppe mit Milch.
John Bulls, Engländer.
Lazy Lazarus – Fauler Lazarus.
Dorfzauberer.
Laut sangen die Seelen der lustigen, lustigen Matrosen.
Piccaninnie – Negerkind.
Schamanischer Zauber.
Ich wartete vor der Kirche, und er ließ mich sitzen.
Aus einem Stück bestehendes traditionelles Gewand der Inderinnen.
Ein Farmer auf dem Land wurde zornig und fing Streit an mit seinem Brotfruchtbaum.
Fleischragout mit tropischen Gemüsen.
Ungesetzliche Ehegemeinschaft – «Wilde Ehe».
Bananenmus.
Piccaninny – Negerkind.
Spinat.
Hindu-Zeremonien.
Weise Männer.
Teufels Waldwinkel.
Böser Zauber, Westindien.
Ein Körper ohne Seele.
Heilige Dichtung der Hindus.
Indische Pfannkuchen mit Curryfleisch-Füllung.
Mischling von Inder und Neger.
Geehrtes Papachen.
Indisches Omelett.
Garnierter Reis, Chapatti, frische Früchte und Musik.
Auskehrer, Feger.
Braut.
Sanskrit: Herrscher.
Weisheitslehrer.
Der Weiße hat immer recht.
Illusion.
Knicker, Geizkragen.
Wandernder Asket, Heiliger.
Die vorliegende Ausgabe «Der Juwelenbaum» enthält nicht
den Teil «Limbo oder Besuch aus Berlin»
Für meinen Sohn
Die Karibischen Inseln, sichtbare Gipfel ertrunkener Vulkane, sind so verschiedenartig wie ihre Bewohner. Diese besonnten Antillen über und unter dem Winde, dieser selig-isolierte ozeanische Inselbogen zwischen Puerto Rico und Venezuela besitzt eine alte spanische, französische, holländische, englische und amerikanische Kolonialtradition und -zivilisation, die von der neuen politischen Unabhängigkeit noch nicht ganz weggeschwemmt worden sind. Aber neben den Kolonialvätern aus dem Westen haben viele Inseln ihre eigenen mythischen Vaterfiguren. Die Geister der indianischen Arawaks und Kariben durchstreifen nach Sonnenuntergang Trinidads endlose Regenwälder, Fischerdörfer, Zuckerfelder und Marktflecken, während in Port of Spain Calypsosänger und Limbotänzer die Touristen aus aller Welt unterhalten. Wenn die Limbotänzer sich schlangengleich unter einer brennenden Stange hindurchwinden, ohne sie zu berühren, grenzt das an Zauberei aus Afrika. Auf den Inseln vertragen sich afrikanische, indische und indianische Geister miteinander.
Die Arawaks sind ausgestorben, und die «Insel-Kariben», die ersten Jäger und Fischer der Antillen, haben nur wenige Andenken an ihre Existenz in dieser Welt hinterlassen. Nach ihnen wird zwar der Karibenfisch benannt, der Seeräuber der südamerikanischen Flüsse, der auch Menschen gern angreift und zerreißt; vor allem aber gibt es das friedliche und nahezu unbekannte Erbe der Legenden, der «wahren Geistergeschichten» und der Aphorismen zur karibischen Lebensweisheit.
Zu meinem Glück stieß ich in Venezuela auf keinen hungrigen Karibenfisch, und zu meinem Glück stieß ich in Trinidad auf einen der wenigen Nachkommen der Kariben, der auf gutem Fuß mit Naturgeistern, Zauberern und Juwelenbäumen stand. Selbstverständlich war er ein sehr alter Mann; die westindische Jugend lauscht auch in Arima angelsächsischen Popsängern oder tanzt aus der Sklavenzeit stammende afrikanische Tänze mit einem Schuß spanischer Musik: Conga, Shango und Bongo.
Arima ist eine idyllische Landstadt im «Fruchtgarten von Trinidad». In der spanischen Kolonialzeit war sie die erste Siedlung indischer Mohammedaner. Heute ist Arima ein Zentrum der Kakao-Industrie. Übrigens werden dort im Herbst zu Ehren der Schutzheiligen Santa Rosa Pferderennen abgehalten, aber sonst lebt man geruhsam und nachdenklich unter den Palmen dieser Stadt.
Der Nachkomme der Kariben saß in einem Kreis halbnackter brauner Kinder unter einem Flammenbaum und ignorierte meine westindischen Freunde und mich. Ich aber sah ihn mir ziemlich genau an. Ein verwaschener seegrüner Turban krönte ein indianisches Gesicht mit spanischem Pfeffer in den schrägen schwarzen Augen. Arima ist die letzte Spanierstadt in Trinidad. Die scharlachroten Blüten des Flamboyán-Baumes zwischen zartgrünem Laub bildeten ein phantastisches Dach über der seltsamen undzufriedenen kleinen Gruppe. Der alte Mann erzählte irgend etwas in einem eintönigen Singsang, und ein Knirps, der hauptsächlich mit Palmenblättern bekleidet war, schlürfte geräuschvoll Kokosmilch aus einer geöffneten Nuß, die sein Gesicht vor unseren Blicken schützte. In Trinidad glaubt man nämlich an den Dollar, an den Reader’s Digest, den Bösen Blick und die soucouyants der alten Kariben – dämonische Störenfriede in der harmlosen Gestalt von Familienfreunden, Liebhabern oder Touristen aus Europa.
Später, bei einem kreolisch-westindischen Mittagessen, berichteten mir meine Freunde, was der grüne Turban erzählt hatte, und fragten mich mehrmals besorgt, ob ich auch alles richtig hörte und verstände. Diese Frage wurde mir sehr oft in den Antillen gestellt. Man hält Ausländer dort offenbar für schwerhörig oder ungewöhnlich begriffsstutzig. Ich berichte nun, was ich damals hörte und hoffentlich verstanden habe:
«In den ersten Tagen der Welt gab es nur die Karibische See und einen riesigen Baum auf einem toten Vulkan. Der Baum trug viele Früchte: sie leuchteten sonnengelb, scharlachrot, grün und himmelblau. Sie glichen Juwelen oder waren welche. Das weiß niemand ganz genau. Eines Tages tobte ein wilder, wilder Wirbelsturm. Der große Baum bog sich hin und her, aber nur die Früchte fielen ins Meer. Haben Sie das verstanden, Madame?»
«Ich habe es verstanden.»
«Gut so! Also die Früchte schwammen in der See herum, und eines Tages waren sie Inseln geworden: Trinidad, Tobago, Dominica, Martinique, Grenada, Sankt Thomas, Bonaire, Antigua und alle anderen Inseln. Hören Sie, Madame? Es gab Berge und Wälder, und dann kamen Menschen mit ihren Kanus. Das waren die Arawaks und die Kariben, und sie kämpften und töteten sich gegenseitig. Haben Sie auch das verstanden, Madame?
Die Kariben jagten in den Wäldern und fischten in der reichen See und hatten kleine Felder, wo es nicht zu steinig war. Wir sagen auf den Inseln: ‹Auf Felsen wächst kein Zuckerrohr.› Die Kariben erzählten sich Geschichten, die viel Angst machen, und Geschichten, bei denen das Herz vor Lachen tanzt. Sie waren noch wilde Indianer, und einmal schlachteten sie dominikanische Mönche. Aber mit der Zeit wurden sie sanfter und satter und liebten den großen Baum, weil er Sonnen-Inseln in die See geschüttet hatte. Haben Sie alles richtig gehört und verstanden, Madame?»
«Ich hoffe.»
«Ich danke für Ihre gnädige Aufmerksamkeit, Madame!»
«Ich danke für Ihren schönen Bericht. Nun weiß ich, wo ich bin.»
Ich blieb viele Monate auf den Antillen, und je länger ich mich auf verschiedenen Inseln aufhielt, desto fester glaubte ich an den Juwelenbaum.
Dies also war die Heimat der vielen Westindier in England. Nach meiner Rückkehr von den Antillen konnte ich mir keinen Reim auf die stille Schönheit der Inseln und die trübselige Existenz dieser Kinder des Commonwealth in London machen. Gelegentlich erfuhr ich etwas über ihre Probleme, und auch sie fragten mich zweifelnd und besorgt, ob ich auch alles hörte und verstände.
Der Kreis schließt sich. Grundverschiedene Welten prallen aufeinander, nachdem die Kolonialväter die Antillen verlassen haben. Nur die bleiche Karawane der Touristen zieht in immer größerem Maße auf die Inseln und erlebt ihrerseits eine durch falsche Romantik bewirkte Daseinsverwirrung. Aber im Gegensatz zu den vielen enttäuschten Westindiern in London können sie jederzeit zurückfliegen in ihre eigene Welt.
Ich habe die helle und dunkle Seite des karibischen Mondes gesehen: auf den Inseln, in Venezuela, in London und Liverpool. Und ich habe überall den tragischen und komischen Zusammenprall von Temperamenten und Verhaltensweisen erlebt. Eines Tages stand mein Entschluß fest, von der Welt diesseits und jenseits des Juwelenbaums zu erzählen.
Mai 1968
Alice Ekert-Rotholz