Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-24223-6
ISBN E-Book 978-3-688-11621-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11621-8
Den größten Teil der sechziger und siebziger Jahre saß ich in der winzigen Lesenische der Universitätsbibliothek und schrieb meine Doktorarbeit über Darwins Einfluss auf Freud. (Bescheidene Projekte waren nie mein Fall.) Während der Stunden, die ich in dem fensterlosen Kabuff verbrachte, wurden Charles Darwin und Sigmund Freud zunehmend interessanter für mich, und zwar sowohl in theoretischer als auch in persönlicher Hinsicht. Freud hat mehr als zwanzig Bände geschrieben, die Briefe nicht mitgerechnet, und Darwin noch viel mehr. Beim Lesen erschloss sich mir die Persönlichkeit dieser Männer, sie wurde komplexer und gelegentlich widersprüchlich. Mir fielen Diskrepanzen auf, nicht in der Theorie, sondern in den dahinter stehenden Motiven. Ideen wurden plötzlich abgeändert – was hatte Freud bewogen, seine Verführungstheorie zu verwerfen? Dachte er, er habe sich geirrt? Gab es persönliche Gründe? Oder hatte sich seine Theorie verselbständigt? Darwin schrieb erst spät über Sexualität, dabei hatte er den Grundstein seit Jahren gelegt. Warum hat er gewartet?
Um mich nicht in Darwins Insektenwelt und Freuds libidinösen Besetzungen zu verlieren, verlieh ich beiden Männern die Persönlichkeit, die sich mir zwischen den Zeilen enthüllte. Die Charaktere Darwin und Freud, die ich in den Jahren meiner Doktorarbeit schuf, behielt ich mehr als fünfundzwanzig Jahre für mich, bis ich mich gedrängt fühlte, sie in einem Roman zu verarbeiten.
Ich habe zahlreiche historische Einzelheiten aus beider Leben verwendet, aber die Handlung ist nicht Geschichtsbüchern, sondern einzig meiner Vorstellung entsprungen. Wohl habe ich mich getreu an die Charakterzüge von Sigmund Freud, Anna Freud und Charles Darwin gehalten, habe jedoch Aspekte ihres Lebens verändert, damit sie sich in die Romanhandlung fügten. Ich habe nicht nur historische Ereignisse zeitlich versetzt, sondern auch die Lebenszeit von Anna und Sigmund Freud verlängert. Wie bei vielen Romanautoren ist die Fiktion aus wahren Begebenheiten erwachsen, doch die Figuren neben Sigmund Freud, Anna Freud und Charles Darwin wurden einzig und allein zu dem Zweck erfunden, die Romanhandlung voranzutreiben, und sind nicht Abbilder irgendwelcher realer Personen. Die im Roman beschriebenen Machenschaften sind frei erfunden und sollen in keiner Weise Ähnlichkeit mit bestimmten wissenschaftlichen Hypothesen aufweisen.
Ich möchte Freud und Darwin dafür danken, dass sie in meinen fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden Studienjahren und dann wieder im letzten Jahrzehnt, als ich diesen Roman schuf, mein Leben erhellt haben. Jeden Tag aufs Neue weiß ich zu würdigen, was es bedeutet haben muss, ein Genie zu sein, gegen den Strom zu schwimmen in einer Gesellschaft, die die eigenen Ideen verabscheut, und eine Theorie aufzustellen, die eine tief gehende, wenn auch nicht vollständige Erklärung für die Beweggründe der Menschheit liefert.
Catherine Gildiner
Toronto, im August 2004
Jeder Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des Psychotikers in dem oder jenem Stück, in größerem oder geringerem Ausmaß.
Sigmund Freud, «Die endliche und die unendliche Analyse»
Geh in dich, in deine Tiefen und lerne dich erst kennen, dann wirst du verstehen, warum du krank werden mußt, und vielleicht vermeiden, krank zu werden.
Sigmund Freud, «Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse»
Es ist mir wirklich peinlich, aber ich kann mich nicht erinnern, warum ich meinen Mann umgebracht habe.
Die Mehrheit der Menschen bringt ihren Ehepartner nicht um. Ich habe mich damit abgefunden, einer Minderheit anzugehören. Da ich ohnehin eingesperrt bin, habe ich beschlossen rauszukriegen, was mir entgangen ist, was alle anderen anscheinend wissen. In einem früheren Leben habe ich Darwin studiert und untersucht, wie aus Trieb Instinkt wird. Das taugte für die Beobachtung, wie Vögel ihre Nester bauen und nach Süden fliegen, aber es erklärte mir weder, warum ich meinen Mann umgebracht habe, noch wie ich mich verhalten soll, wenn und falls ich je aus dieser Zelle rauskomme. Ich habe versucht, religiöse Schriften zu lesen, bloß dass mich das nicht wirklich interessiert hat. Die Philosophie hingegen war interessant, aber bei der Lektüre fragte ich mich andauernd, warum ich überhaupt existierte.
1974, vor ungefähr acht Jahren – ich bin jetzt neun Jahre in diesem von der eisigen Tundra umgebenen Bunker –, stieß ich auf Freud. Ich fing mit Band eins seiner Gesammelten Werke an – so eine bin ich nun mal – und habe alle dreiundzwanzig gelesen (so eine bin ich eben auch). Freuds Theorie ist ein schlüsselfertiges Verfahren. Man muss sich nur im Unterbewussten einquartieren, und alles andere ergibt sich von selbst. Es ist, wie wenn man in einer Luxussuite logiert: Man mag etwas an der Möblierung auszusetzen haben, aber man bewohnt ein anständiges Quartier.
Mein größtes Interesse galt dem frühen Freud, seinen Erkenntnissen, bevor er berühmt wurde. In seinen Briefen erklärte er, dass er tagsüber Patienten behandelte und dann, allein in seinem kleinen Studierzimmer, die ganze Nacht hindurch arbeitete. Wenn er schlafen ging, träumte er vom Holzhobeln – er feilte noch an seiner Theorie. Freud nannte jenes erste Jahrzehnt seiner ureigensten Erkenntnisse, als er noch keine Anhänger hatte außer einem durchgeknallten Kumpel namens Wilhelm Fließ, seine «splendid isolation» – seine herrliche Einsamkeit.
Ich war ebenfalls isoliert und las Tag und Nacht Freud in der knapp zwei mal drei Meter großen Zelle. Vielleicht lag es an der Ähnlichkeit unserer herrlich einsamen Umstände, aber ich hatte das Gefühl, Freud schrieb an mich. Ich habe sogar auf seine Briefe geantwortet, in einem Notizbuch, das ich in meiner Zelle versteckt hielt. Wenn ich mitten in der Nacht nach zehn lahmen Stunden richtig in Fahrt kam, hatte ich das Gefühl, wir seien Koautoren.
Es heißt, das Gefängnis sei die Hölle, und ich nehme an, dass es das auf eine äußerst konventionelle Art ist, obwohl ich es als asketischen Ort ansehe, wo man von jeglicher Ablenkung gnädig befreit ist. Nicht viele Menschen teilen fast ein Jahrzehnt lang eine Zelle mit einem der größten Genies aller Zeiten. Natürlich habe ich meinem Gefängnispsychiater nichts davon gesagt – er hätte mich für verrückt gehalten –, aber ich habe das Gefühl, das Eingesperrtsein mit Freud hat mich vor dem Wahnsinn bewahrt.
Fünfzig Prozent der weiblichen Gefängnisinsassen haben höchstens Volksschulbildung; vierzig Prozent sind Analphabeten; die Mehrzahl war zur Zeit ihres Verbrechens arbeitslos. Obwohl die Eingeborenen nur zwei Prozent der Nationalbevölkerung ausmachen, bilden sie achtunddreißig Prozent der kanadischen Gefängnisinsassen. Zwei Drittel der weiblichen Häftlinge sind ledige Mütter. Achtzig Prozent sind sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt worden. Weniger als ein Prozent der Frauen sitzt wegen Gewaltverbrechen im Gefängnis. In den seltenen Fällen, wo sie Gewaltverbrechen begehen, richtet sich die Aggression fast immer gegen einen Ehemann, der sie wiederholt misshandelt hat.
Keine dieser Statistiken trifft auf mich zu. Und ich war immer ein Statistikfan, weil sich mit Zahlen immer gut malen lässt.
Ich habe nur eins mit meinen Mithäftlingen gemeinsam – und mein Psychiater erinnert mich immer wieder gern daran: Wir haben allesamt Verbrechen begangen. Irgendwie finde ich nicht, dass damit das Eis gebrochen ist.
Freud war ein Biologe, der zum Psychologen wurde, so wie ich. Tatsächlich beschrieb er sich so: «Ich bin nämlich gar kein Mann der Wissenschaft, kein Beobachter, kein Experimentator, kein Denker. Ich bin nichts als ein Conquistadorentemperament – ein Abenteurer, wenn Du es übersetzt willst, mit der Neugierde, der Kühnheit und der Zähigkeit eines solchen.» Über solche Züge verfüge auch ich zur Genüge. Was Neugierde betrifft, habe ich von Kind an alles untersucht, was mir in die Hände fiel. Wenn Sie von Kühnheit reden wollen, bitte sehr, ich habe meinen Mann umgebracht. Wenn das die Eigenschaften eines Konquistadors sind, dann war Freud ein großer solcher, und ich bin auch einer, pathologisch oder nicht. Kein Wunder, dass ich ihm verfallen bin.
Ich war entschlossen, alles zu lesen, was mir erklärte, warum ich so «ungewöhnlich» war. Je nachdem, welche psychologische Beurteilung man über mich liest, kann «psychopathisch» oder «paranoid» das Wort «ungewöhnlich» ersetzen. Ich war nie allzu erbost über diese Bezeichnungen, denn, seien wir ehrlich, Psychiater werden dafür bezahlt, Menschen mit einem Etikett zu versehen.
Vor der Gefängniszeit war ich den Naturwissenschaften verfallen – ich überprüfte Hypothesen und kam zu physikalischen oder numerischen Ergebnissen. Man spricht von «exakter Wissenschaft», wenn es etwas Exaktes oder Physikalisches zu messen gilt. Es ist ungeheuer tröstlich, etwas zu messen, was man sehen kann. Obwohl Freud Mediziner war, war die Physiologie mitsamt der damit einhergehenden biologischen Forschung seine große Leidenschaft. Als er mit vierzig Jahren nicht den gewünschten akademischen Forschungsauftrag bekam, qualifizierte er sich als Neurologe und machte eine Privatpraxis auf. Damals, als die Psychiatrie offiziell noch kein Wissenschaftszweig war, landeten Psychotiker in Irrenanstalten, die von so genannten Nervenärzten geführt wurden. Soweit ich das beurteilen kann, haben diese ihre Patienten eher in die Irre geführt. Ihre Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass die Türen zugesperrt waren und die Verrückten Stroh in ihren Zellen hatten. Die Neurotiker des 19. Jahrhunderts hatten keinen Ort, wohin sie gehen konnten, und in ihrer Verzweiflung schleppten sie ihre Angst, Hysterie und Nerventics in die Praxen der Neurologen. Freud, einer der wenigen Neurologen, die sich mit der Erforschung von Hysterie befassten, verbrachte Stunde um Stunde damit, Patienten zu empfangen, hauptsächlich Frauen, die alle möglichen Symptome ohne erkennbare physische Ursache hatten. Weil er strikt der wissenschaftlichen Tradition folgen wollte, war er in einer Zwickmühle; er musste den Geist untersuchen, um seinen Patienten zu helfen, doch die exakte Wissenschaft verfügte über keine adäquate Methode. Man kann geistige Phänomene nicht messen und bestimmen. Also musste Freud seine eigene Methode ersinnen, die als Psychoanalyse bekannt wurde.
Laut Freud wird jeder Mensch mit zwei Trieben geboren, dem Geschlechts- und dem Aggressionstrieb. Der Mensch braucht den Geschlechtstrieb, um sich fortzupflanzen, und den Aggressionstrieb zum Kampf um Nahrung und Revier und zur Beschützung seiner Brut. (Jeder, der meint, Frauen seien nicht aggressiv, soll mal versuchen, ihnen die Brut wegzunehmen.) Freud interessiert, was in einer zivilisierten Gesellschaft passiert, wenn Sexualität und Aggressivität beschnitten werden. Man kann nicht nach Lust und Laune Sex haben oder morden; es gibt Gesetze, die das verbieten. Wer seinen Trieben freien Lauf lässt, landet auf meiner Seite der Gitter und guckt von drinnen nach draußen.
Freud sagt, der Kessel mit Sexualität und Aggression brodele in unser aller Unterbewusstsein. Um nicht nach diesen Trieben zu handeln, haben wir Abwehrmechanismen zur Verfügung – diverse Methoden, um unsere Triebe zu mäßigen oder abzuschwächen, um nicht unmittelbar von ihnen bestimmt zu sein. Er machte mehrere solcher Abwehrmechanismen aus. Der meistverbreitete ist Verdrängung: Ich bin nicht wütend auf meinen Ehemann. Dann das Leugnen: Welchen Ehemann? (Das ist ziemlich primitiv, gefällt mir aber.) Dann die Intellektualisierung: Über die Ermordung eines Ehemannes schreiben. Und schließlich Ersatzbefriedigung: Ich habe Lust, meinen Mann umzubringen, stattdessen kauf ich mir was Schönes.
Was passiert, wenn die Abwehrmechanismen versagen? Freud sagt, dann schreite die Gesellschaft ein und führe Religion oder nacktes Schuldbewusstsein ins Feld. Wenn diese versagen, fährt man größere Geschütze auf und versucht es mit Schamgefühl und sogar Tabu. (Die großen Tabus verbieten Geschlechtsverkehr innerhalb der Familie und Töten.)
Mir gefiel Freuds Theorie insofern, als sie mir klar machte, dass ich mich nicht maßgeblich von allen Übrigen unterschied. Ich meine, unser aller Hirn rast mit denselben Trieben, nur dass meins im vierten Gang fuhr. Das Problem war schlicht, dass ich nach meinem Aggressionstrieb handelte und vergaß, in einen Abwehrmechanismus zu schalten.
Freud ersann etliche geniale Methoden zur Bestimmung des Unbewussten. In manchen Situationen, sagte er, sickert das Unbewusste heraus. Wenn man beispielsweise in Träume hineinsieht, gleiten die Zunge und die Symptome der Geisteskranken hervor.
Wer von uns hatte noch nie einen sexuellen oder gewalttätigen Traum? Freud lernte diese Träume zu analysieren. Er konnte rückblickend feststellen, welchen unbewussten Trieb oder Konflikt ein Traum verschleierte. Die Träume nannte er den «Königsweg zum Unbewussten». Zu schade, dass ich nicht träumte, ich hätte meinen Mann umgebracht.
Bei der Betrachtung der Symptome von Geisteskranken kann man erkennen, warum Freud das Unbewusste heraussickern sah. Freud nahm an, dass alle Symptome eine Ursache hatten, was bedeutet, dass nichts zufällig ist. Er ersann eine Methode namens «freies Assoziieren», eine Art Schmieröl für den Geist. Hierbei wird der Patientin geraten, ihre Abwehrmechanismen fallen zu lassen, keinerlei Gedanken herauszufiltern und alles auszusprechen, was ihr durch den Kopf schießt. Die berühmte Anna O., die Versuchsperson seiner ersten Fallstudien, nannte diese Methode «Kaminfegen» für den Geist.
Freuds erstaunlichste Leistung besteht darin, dass es ihm gelang, sich selbst zu analysieren. Ein Genie zu sein ist eine Sache, aber es ist fast übermenschlich, in das Gebiet jenseits der eigenen Abwehrmechanismen vorzustoßen. Es ist, als würde man auf beiden Seiten des Netzes Tennis spielen. Jeder, der etwas Unbewusstes abwehrt, hat gewöhnlich guten Grund, nicht wissen zu wollen, wogegen sein Unbewusstes sich wehrt.
Abwehrmechanismen verstehen es, unbewusstes Material in Gewölben zu verschließen, damit die Tür nicht auffliegt und das gefährliche Material außer Kontrolle gerät. Ich zum Beispiel konnte mit der Wut, die ich für meinen Mann empfand, nicht fertig werden. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich dagegen zu wehren.
Und hier liegt der Hund begraben. Ich kann selbständig Freud lesen, ich bin ja nicht blöd. Trotzdem brauche ich einen Psychiater, der mich analysiert. Ich kann sagen, wo ich auf Abwege geraten bin. Es war auf dem Gebiet der Abwehrmechanismen. Entweder haben sie mich im Stich gelassen, oder ich habe sie im Stich gelassen. Ich weiß aber nicht, aus welchem Grund. Dafür muss ich meine Persönlichkeitsstruktur verstehen, das heißt alle Faktoren, die auf die Entscheidungen, die ich in meinem schäbigen Leben getroffen habe, eingewirkt haben. Ich verlange nicht nach Freud, um Himmels willen. Aber wäre es nur nicht Dr. Gardonne, dieser Dummkopf, dem ich anvertraut würde.
Gefängnispsychiater sind der Abschaum eines ohnehin schon suspekten Berufsstandes. Keiner will Psychopathen behandeln, weil bei ihnen keine Aussicht auf Besserung besteht, und Gefängnisinsassen haben kein Geld, deshalb sind es die faulen oder unfähigen Psychiater, denen diese Aufgabe zufällt. Sie bestimmen ihre Arbeitszeit selbst, und Verantwortung kennen sie nicht. Wenn eine Patientin über schlechte Behandlung klagt, wird sie als Psychopathin abgestempelt, die permanent unzufrieden ist. Man geht davon aus, dass ihre Unzufriedenheit Teil ihres Problems ist.
Die gemäßigt Unfähigen werden in die Stadtgefängnisse geschickt; hier oben nördlich der Baumgrenze aber waltet der Abschaum der Menschheit. Man muss das Flugzeug nehmen und dann mit Hundeschlitten oder Tundra-Buggy zu meinem Gefängnis fahren. Es gibt in Kanada so wenige weibliche Häftlinge, dass wir in einer alten psychiatrischen Abteilung in einem Männergefängnis untergebracht sind. Auf dem Schild an der Tür steht P4W, Prison for Women, und so nennen es alle. Vor etwa zehn Jahren gab die Regierung ihm einen Eingeborenennamen, den ich vergessen habe. Den benutzt ohnehin niemand, nicht mal die Indianer.
In dem verzweifelten Versuch, Ärzte fort vom Golfplatz in die Nähe des nördlichen Polarkreises zu locken, bot die kanadische Regierung Geldprämien. Dr. Gardonne muss sehr verzweifelt gewesen sein, dass er einmal die Woche hier heraufkommt, via Churchill, Manitoba, zu den nordwestlichen Territorien an der Hudson Bay. Ich vermute, das ist eine Möglichkeit, die Trennungszulage abzukassieren. Normalerweise nehmen diesen Job nur Leute an, die woanders keinen kriegen, oder solche, die ihre Einkünfte verdoppeln wollen. Habgier und Inkompetenz sind eine schlechte Kombination.
Wenn er herkommt, hat er einen ganz gemütlichen Tag. Er besucht nur die Patientinnen, die entweder durch ihren familiären Hintergrund oder durch ein schlimmes Verbrechen, das sie begangen haben, gezeichnet sind. Die selbstverstümmelten Wiederholungstäterinnen überlässt er den Sozialarbeiterinnen, die aus fremden Ländern gekommen sind und kaum Englisch sprechen. Den Rest der Woche treibt er sich in Toronto herum und psychoanalysiert reiche Hausfrauen. Es gibt nur zwei Gruppen von Menschen, bei denen selten eine Besserung eintritt: neurotische reiche Hausfrauen und Psychopathen. Denen will niemand zuhören.
Ich musste vom ersten Moment an vor diesem Seelenklempner auf der Hut sein. Er ist nicht klug, aber hinterlistig. Er ist zu dusslig, um sich selbst zu analysieren; aber er versteht sich auf Straßenkämpfe, verwendet analytisches Werkzeug als Schlagring. Ich musste mich wirklich vorsehen, um nicht auf seine Analysen hereinzufallen. Ich weiß, ich bin anfällig für autoritäre Männer. Mein Vater war der erste. Ich hatte nicht die Absicht, nochmal hineinzutappen.
Manchmal wirft mich Dr. Gardonne wie alle latenten Narzissten aus der Spur, und dann frage ich mich, ob ich nicht wirklich verrückt bin (er verwendet den Fachausdruck «paranoid»), weil ich nicht an ihn glaube. Tatsächlich scheuche ich ihn fort, als wäre er eine Fledermaus, aber manchmal kommt er an mich heran, und dann dreht sich mein Kopf wie bei dem Mädchen in Der Exorzist.
Letzten Monat ist er mit was angekommen, das mich zum ersten Mal in neun Jahren komplett aus der Fassung gebracht hat. Bevor er vor ein paar Wochen in Urlaub ging, hat er für mich eine Strafaussetzung, die so genannte Temporäre Abwesenheit (kurz TA) beantragt, in Kombination mit einem Arbeitsschema. Es ist ein außergewöhnlicher Urlaub, der vier bis sechs Wochen dauert. Man muss einen besonderen Grund angeben, und ein hohes Tier muss einen empfehlen. Läuft die TA gut, ist man eine aussichtsreiche Kandidatin für eine Haftentlassung.
Gardonne sagt, er sei bereit, dem Nordamerikanischen Psychoanalytikerverband vorzuschlagen, mich zur Untersuchung eines merkwürdigen Vorfalls anzuheuern, der sich in der Freud-Gemeinde ereignet hat. Anders Konzak, der Direktor der Freud-Akademie, hat ein Jahr nach seiner prestigeträchtigen Ernennung einen Aufsatz veröffentlicht, worin er Freud geißelt. Kürzlich hat er, der selber Psychoanalytiker ist, sich an die Medien gewandt und gesagt, Freud sei ein Schwindler gewesen und die Psychoanalyse von jeher Betrug. Die wichtigen internationalen Zeitungen haben dieser Story Schlagzeilen gewidmet. Konzak trat sogar in der Sendung 60Minutes auf.
Dr. Gardonne ist der Chef des Komitees für Öffentlichkeitsarbeit eines Psychoanalytikerverbandes mit circa zwanzigtausend Mitgliedern. (Er liefert gerne Details, die der Zuhörerin vermitteln, dass er kein kleiner Fisch ist.) Der Psychoanalytikerverband befürchtet, dass Konzak Hetzlügen verbreitet, die den Ruf Freuds und der gesamten Psychoanalyse schädigen. Was, sofern die Öffentlichkeit Konzak Glauben schenkt, darauf hinausläuft, dass Seelenklempner wie Gardonne und Co. ihren Job verlieren und ihre Fifth-Avenue-Wohnungen kündigen müssen. Wie immer steckt Eigennutz hinter seiner Besorgnis.
Vermutlich will Gardonne, dass ich aus Konzak herauskitzele, woher er seine Informationen bezieht und was seinen plötzlichen Sinneswandel verursacht hat. Sollte Konzak nicht mitteilsam sein, müsste ich selbst versuchen, hinter seine Quellen und sein Motiv zu kommen. Konzak und ich haben genau das gleiche Interesse am frühen Freud, und die Aufgabe würde mir vermutlich Spaß machen; ich weiß aber auch, dass Gardonne geheime Pläne hat.
Ich stehe vor einem Dilemma. Mein Antrag auf Haftentlassung ist zweimal abgelehnt worden. Es gibt nur einen Menschen, dessen Meinung für den Entlassungsausschuss ausschlaggebend ist – den Psychologen. Wenn er nein sagt, wird mein Antrag wieder abgelehnt, und ich muss fünf Jahre warten, bis ich einen neuen stellen kann. Wenn ich diese Aufgabe übernehme und etwas schief geht, könnte man mich für den Rest meines Lebens wieder in den Knast sperren. Wenn man einmal wegen Mord sitzt, reagiert kein Mensch gnädig auf ein weiteres Vergehen irgendeiner Art.
Ich habe keine Ahnung, was er bei diesem mysteriösen Freud-Projekt von mir will. Vermutlich muss ich die Psychoanalyse in den rosigsten Farben schildern, andernfalls lande ich schneller wieder hier, als ich «Freud ist dein Metier» sagen kann. Eigentlich hab ich nichts dagegen, die Wahrheit herauszufinden, die mutmaßlich weder Konzaks noch Gardonnes Wahrheit ist, da Freuds IQ bekanntlich so hoch war wie Gardonnes und Konzaks zusammen.
Um nachzudenken, trat ich an mein Fenster, von wo aus ich einen großartigen Blick auf die Hudson Bay hatte. Die Bucht war zugefroren, so weit das Auge reichte. Zusammen mit den Eisbären, die in Küstennähe hin und her schritten, wartete ich ungeduldig auf die Frühjahrsschmelze, die sich dieses Jahr in der Bucht verspätete. Im Frühsommer sah ich gerne den Bärenjungen zu, die in Ufernähe tollten und ganz aufgeregt wurden, wenn ihre Mütter angeschwommen kamen und Seehunde zum Mittagessen brachten. Manchmal machten sie auf einer Eisscholle Picknick.
Der Norden ist dermaßen weiß und grell, dass er einen zu bestimmten Zeiten blendet. Ich habe in der Eintönigkeit einen gewissen Frieden gefunden. Doch durch die aufgezwungene Ruhe habe ich mit jedem Jahr, das ich hier verbrachte, einen Teil von mir verloren. Ich habe es so weit durchgestanden, doch die Frühjahrsschmelze scheint mit den Jahren immer später einzusetzen. Wer weiß, was in weiteren fünf Jahren von mir noch übrig ist?
Bei dem Massel, den ich habe, wird Gardonne auch in fünf Jahren noch derjenige sein, der entscheidet, ob ich entlassen werde. Es gibt keine Garantie, dass er dann ja sagen wird. Gardonne hat auf meine «Paranoia» angespielt, aber er weiß nicht, dass ich alle seine Berichte gelesen habe. Mein Gefängnisjob ist es, den Computer zu beaufsichtigen. P4W hat einen gigantischen alten Rechner, der in den Eingeweiden des Gebäudes brummt und den ein Programmierer bedienen soll. Dem ist es gelungen, einige einfache Programme zu schreiben. Ich brauchte nur ein neues Programm zu schreiben, um zu all seinen Dateien Zugang zu haben. Ich hatte meine eigenen Lochkarten, und mag ich auch nicht die Sprache der emotionalen Intelligenz gelernt haben und auch nicht, wie man seinen Mann nicht umbringt, so kenne ich doch BASIC und FORTRAN, das sind zwei Sprachen mehr, als der Computertechniker beherrscht. Ich kann an jeden Terminal in der Bücherei gehen, Gardonnes Kontonummer eingeben und jede Beurteilung aufrufen, die er geschrieben hat. Gardonne hat keine Ahnung, dass ich weiß, dass er meine letzte Bemühung um Entlassung abgeschmettert hat.
Ich weiß, er würde sagen, es sei meine Entscheidung, diesen Job anzunehmen. Ich kann jedoch genau voraussagen, was er über die Möglichkeit einer Haftentlassung schreiben wird, wenn ich mich weigere, den Freud-Köder zu schlucken.
KURZE PSYCHOLOGISCHE BEURTEILUNG ZUR ENTLASSUNG
Bedauerlicherweise hat Kate Fitzgerald nach nochmaligem Test nur ihre vorhergehenden Testergebnisse ohne signifikanten statistischen Unterschied wiederholt. Sie hat einen erhöhten Befund beim MMPI-Lügendetektor. Sie sieht beim Rorschachtest nach wie vor abgetrennte Körperteile, und ihr Verhalten lässt sich nur als psychopathisch bezeichnen. Psychologisch ist sie dem Begreifen, warum sie ein brutales Verbrechen beging, nicht näher als vor neun Jahren. Leider kann ich sie nicht mit gutem Gewissen zur Haftentlassung empfehlen. Sie ist eine Gefahr für sich und andere.
Oder wie wär’s mit dieser netten Version, die er verfassen würde, nachdem ich mich auf seine Kampagne gegen Konzak eingelassen habe:
Kate Fitzgerald hat sich einer langwierigen Therapie unterzogen und ist auf dem Weg, ihre bewussten und unbewussten Konflikte zu erkennen. Ihr schizoides Verhalten, bei dem sich das Rationale vom Emotionalen löst, wurde in unseren Sitzungen erfolgreich behandelt. Sie hat sich auf eine aufrichtige therapeutische Zusammenarbeit eingelassen. Diese optimistische Diagnose ist durch ihren psychologischen Test bestärkt worden. Sie hat ihren Aggressionstrieb gemeistert und gelernt, destruktive Impulse mit Hilfe ihrer Ratio zu kanalisieren.
Ich würde die Insassin für eine Entlassung innerhalb einer strukturierten Beschäftigungssituation empfehlen, wo sie sich ihre außerordentlichen intellektuellen Fähigkeiten zunutze machen kann, um ihr bei der Ego-Integration zu helfen.
i. A. …
Als ich mich zu den Gittern meines kleinen Fensters hochzog, meine Klimmzüge machte und das Minenfeld betrachtete, das sich meine Zukunft nannte, hörte ich plötzlich den Ruf «Mann im Block». Ich ließ mich runter und begegnete Daltons Blick. In seiner Uniform mit den Dauerbügelfalten und dem P4W-Abzeichen um den Hals schritt er zielstrebig zu meiner Zelle. Er protzte mit neuen Velcro-Laufschuhen.
«Und wo ist der Mann?», fragte ich.
Er nickte mit seinem à la Jerry Lee Lewis frisierten Kopf, um mir klar zu machen, dass er das schon mal gehört hatte.
«Dalton, wo kriegen Sie heutzutage noch Bryl-Creme her?»
«Mach dich nur lustig über mich, Miss Hochnäsig. Ich bin wenigstens nicht auf Gefängnisware angewiesen. Ich lauf draußen rum und such mir meine Haarpomade selbst aus.»
«Tja, es gibt ihn eben doch, den freien Willen», sagte ich.
Als meine Gitter aufglitten und in die Halterung knallten, sagte er: «Zeit für deinen Termin bei Dr. Gardonne. Ich hab bei der Lagebesprechung von den Obermackern was läuten hören, dass bei dir große Veränderungen im Anmarsch sind.»
Während ich den Zellenblock entlangschlurfte, antwortete ich ihm über die Schulter: «Dalton, bis das Läuten bei Ihnen ankommt, ist es nur noch ein Echo.»
«Ja», sagte er. «Ich geh mit dir jede Wette ein, der Doktor kann’s gar nicht erwarten, dir zu sagen, was für ’ne paranoide Schlampe du bist und dass es mit dir immer weiter bergab geht.» Als er mich in dem Flügel ablieferte, wo der Sozialdienst untergebracht ist, setzte er hinzu: «Nicht vergessen, das hast du aus meinem Mund gehört.»
Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen: aus allen Poren dringt ihm der Verrat.
Sigmund Freud, «Seelenbehandlung»
Im Wartezimmer drängten sich vergrämte Frauen, denen nicht mehr zu helfen war, vor allem nicht seitens des Sozialdienstes. Ich saß da und las eine sechs Jahre alte Ausgabe von Field & Stream. Wir waren aus einem einzigen Grund in dem jämmerlichen Zimmer – um auf den Freudentag hinzuarbeiten, an dem wir auf unser Entlassungsformular einen roten Stempel bekommen würden, der besagte: mit Behandlung einverstanden. Die «Behandlungsoptionen» reichen von Krankenschwester bis Psychiater.
Um die Hierarchie der psychiatrischen Behandlung im Gefängnis zu verstehen, müssen Sie sich eine Zeichnung à la Escher vorstellen, die den Querschnitt eines Turms mit vielen Stockwerken darstellt. Sie sind miteinander verbunden durch Falltüren, die zu Rutschen führen, auf denen es steil nach unten geht. Das Sprechzimmer des Psychiaters ist im obersten Stock. Wenn die Patientin ihr Problem geschildert hat, sagt der Psychiater: «Bedaure, Sie sind zu durchgeknallt für eine Therapie.» Jetzt stellen Sie sich vor, wie die Hand des Psychiaters nach einem Hebel an seiner Armlehne greift, der mit einer Falltür unter dem Stuhl der Patientin verbunden ist. Die Tür geht auf. Stellen Sie sich darunter eine Grube vor, wohin Patientinnen, die zu debil sind, um ihren Verstand einzuschalten, oder zu argwöhnisch, um das «einsichtsorientierte Spiel» zu spielen, die Rutsche hinuntergeschubst werden. Sie landen in der Zudurchgeknallt-für-eine-Therapie-Grube, wo sie mit Pillen vollgestopft werden. Patientinnen, die zu durchgeknallt für eine Therapie und für Medikamente sind, fallen in eine noch tiefere Grube, in die Ich-bin-zu-blöd-um-an-meine-Pillen-zu-denken-Grube – in Psychiatersprache schlicht die «Grube für resistente Patienten». Hier wird den Patientinnen einmal monatlich von einem bulligen Pfleger eine Dosis Modicate gespritzt, wonach er die Falltürklappe schnell wieder schließt.
Mein Tagtraum wurde unterbrochen, als Dr. Gardonnes echte Sprechzimmertür pünktlich auf die Minute aufging und er mir kaum merklich zunickte. Ich schlenderte hinein, er zog sein Jackett aus und hängte es über die Stuhllehne. Ich betrachtete das Familienportät auf seinem Schreibtisch, das so aufgestellt war, dass es ganz knapp zu den Patienten hinsah. Es erinnerte ihn wohl daran, dass er nicht zu den Eingesperrten gehörte.
Er wartete, dass ich anfangen würde, aber im Laufe von neun Jahren hatte ich schon alles gesagt, was mir auf der Seele brannte, und hatte kein Problem damit, die Stunde schweigend abzusitzen. Er beugte sich vor, die Ellenbogen auf die Armlehnen gestützt, und legte die Finger aneinander, sodass sie fünf kleine himmelwärts zeigende Spitztürme bildeten. Dann wartete er. Und wartete. Ich wusste, er war gespannt, zu hören, wie ich mich in puncto temporäre Abwesenheit entschieden hatte. Tatsächlich war er so gespannt, dass er mich zur Abwechslung mal pünktlich reingerufen hatte. Er wollte mich nötigen, das Gespräch zu eröffnen, um mich in die Rolle der Bedürftigen und ihn in die Rolle des wohlwollenden Despoten zu versetzen. Es war lediglich eine Variation seines Bestrebens, mir zu zeigen, wer hier die Hosen anhatte und wer Penisneid haben sollte.
Aber zu diesem Spiel gehören zwei Personen. Ich beschloss, das Angebot der Freud-Akademie nicht zu erwähnen und ihn davon anfangen zu lassen, um ihn ein wenig aus der Fassung zu bringen. Schließlich sagte er: «Kate, wie läuft’s denn so?»
«Geht so.»
«Die letzte Sitzung dürfte Ihnen zu denken gegeben haben. Wir sprachen darüber, dass Sie das Gefängnis verlassen, wenn auch nur vorübergehend. Meine Rolle in Ihrem Leben würde vom Psychiater zum Auftraggeber wechseln. Sie würden mich nach neun Jahren als Ihren Therapeuten verlieren. Das wäre ein entscheidender Einschnitt. Möchten Sie über das Ende von neun Jahren wichtiger Arbeit diskutieren?»
«Entscheidend? Warum versuchen Sie jede Woche von neuem, mir zu suggerieren, dass Sie wichtig für mich sind?»
«Interessante These. Und wie habe ich das Ihrer Meinung nach gemacht?»
«Ein klassisches Beispiel war, als Sie mich fragten, ob ich Sie anziehend finde. Ich hab nein gesagt, und da haben Sie mich gefragt, ob ich lesbisch bin. So viel zum Thema Größenwahn», sagte ich kopfschüttelnd und lachte.
«Wenn das so ist, Kate, dann ist Größenwahn uns beiden gemeinsam. Sie wurden bezeichnet als» – er hielt inne und blickte auf meine aufgeschlagene Akte – «psychopathische Unruhestifterin, die sich über das System hinwegsetzt und nichts mit den Gepflogenheiten des Gefängnislebens zu tun haben will.»
Er hatte den alten Zwischenbericht der Beschäftigungstherapeutin ausgegraben, die beleidigt war, weil ich nicht an ihrem Kochkurs für Feiertage teilnehmen wollte. (Ich dachte, es gehöre zu den Vorrechten des Gefängnislebens, dass das Weihnachtsessen für einen gekocht wird.) Wieso hat er nicht den Bericht des Praktikanten angeführt, der mir bescheinigte, ich sei zum Hundeschlittenfahren geboren – diese Tätigkeit habe ich voll und ganz genossen, sie ist auch so ungefähr der einzige Vorteil, wenn man in dieser nördlichen Einöde eingesperrt ist. Er sagte, ich sei die beste Sportlerin, die er je gesehen habe, und absolut teamfähig. Okay, das war mit Hunden, aber mit Menschen ist es nichts anderes.
Er blickte auf und sah mir in die Augen: «Dann war da noch die ‹niederträchtige› Auseinandersetzung mit Veronica Firedancer in der Wäscheabteilung.» Als er den Abscheu in meinem Gesicht bemerkte, fügte er hinzu: «Ich hoffe, ich habe Ihnen jetzt nicht unrecht getan.»
«Ich bin seit neun Jahren hier, und sie haben schließlich herausgefunden, dass ich in der Wäscherei nicht gelernt habe, wie man Flecken entfernt. Tut mir unendlich Leid, dass ich zwölf Stunden am Tag Freud und Darwin studiert und am Computer die Systeme installiert habe, die der Abstauber, den Sie so großzügig bezahlt haben, nicht programmieren konnte.»
«Von einer Frau Doktor in Philosophie erwarte ich, dass sie ein etwas qualifizierteres Argument parat hat», erwiderte Dr. Gardonne.
«Wenn ich das vorbringe, unterstellen Sie mir wieder Intellektualisierung.»
«Kate», sagte er und stieß einen aufgebrachten Seufzer aus, «ich wünschte, Sie würden mir helfen, Ihre Probleme zu lösen, anstatt sich dagegen zu wehren.»
«Okay. Aber schauen wir uns doch mal den Doktor an, der bis jetzt nicht eine einzige Einsicht zu meinem Heilungsprozess beigesteuert hat.»
«Es ist bedauerlich, dass jemand, von dem Sie eine so geringe Meinung haben, einen so großen Einfluss auf Ihr Leben hat.»
«Das war schon immer so.»
«Kate, ich bin es, der alle diese Informationen sammeln und eine Empfehlung für eine TA abgeben muss. Sie machen es uns nicht eben leicht, wenn Ihre Akte mit negativen Berichten gespickt ist. Ich kann Sie unterstützen, aber nur begrenzt.»
Das ist seine Überleitung zu der Begründung, warum ich dieses einmalige Jobangebot annehmen soll. Was er nicht ausspricht, ist, dass er mir einen guten Abschlussbericht schreiben wird, wenn ich, und nur dann, seinen Job annehme.
«Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?»
«Ich hatte sehr viele Erledigungen zu machen und gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzugehen, aber ich habe es mir durch den Kopf gehen lassen.»
Er sah auf die Uhr, womit er mir zu verstehen gab, dass er viel zu tun hatte und jetzt eine Entscheidung erwartete. «Kate, es tut mir Leid, wenn ich Sie drängen muss, aber die jüngsten Entwicklungen zwingen mich, die Sache voranzutreiben. Die Ermittlungen müssen sofort beginnen, bevor Konzak wieder zuschlägt.»
«Klar bin ich dabei. Ich werde auf dem elektrischen Stuhl landen, wenn ich nicht annehme», sagte ich und schlug die Beine übereinander.
Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück und sagte: «Schon wieder hat Ihr Mangel an Vertrauen auf unsere Beziehung abgefärbt. Ich habe Ihnen den Job angeboten, weil ich glaube, dass Intellektualisierung Ihre erfolgreichste Abwehr ist. Will heißen, Ihr schizoides Verhalten lässt nach, wenn Sie mit einer intellektuellen Aufgabe befasst sind. Ich könnte Ihre TA damit rechtfertigen, dass Sie eine Aufgabe zu bewältigen haben, die Ihnen helfen wird, Ihre am höchsten entwickelte Abwehr zu bewahren.»
«Es gibt einen Grund, warum Sie wollen, dass ich diesen Job mache, und ich bezweifle sehr, dass es dabei ausschließlich um mein Wohl geht. Sparen Sie sich das Gelaber für Ihre Wohltätigkeitsveranstaltungen auf. Wenn Sie nicht gerade ausnahmweise von Ihrem üblichen Leitmotiv namens Eigennutz abweichen, steht hier auch für Sie was auf dem Spiel.»
«Kate, es ist üblich, dass das Gefängnis sich als Arbeitsvermittlung für die Insassen betätigt. Wir bringen ein Drittel der Frauen unter, die das P4W verlassen.»
«Sagen Sie mir doch einmal etwas, was ich noch nicht weiß.»
Warum bemühte er sich, mir diesen Job zu verschaffen? Oder versuchte er tatsächlich, mir zu helfen? Falls das stimmte, hatte ich jahrelang nichts anderes getan, als meine Therapie zu untergraben. Wenn ich ihm aber vertraute und er sich als der Schleimscheißer erwies, für den ich ihn hielt, dann war es aus mit mir.
Ich stand auf, trat ans Fenster, stützte die Arme an die Gitterstäbe und dehnte die Waden. Ich machte eine isometrische Übung, die meiner Verfassung entsprach. Ich wollte ihm glauben und dann auch wieder nicht. Er war vermutlich verärgert über meinen Mangel an Dankbarkeit.
«Ich sage Ihnen gerne alles, was Sie über den Job wissen wollen, wenn es Ihnen hilft, mit Ihren Ängsten fertig zu werden», sagte er.
«Na toll – jetzt sind es meine Ängste und nicht Ihr Eigennutz.»
«Kate, ich kann mir meinen Eigennutz eingestehen. Können Sie sich Ihre Ängste eingestehen?»
«Ich würde das nicht Angst nennen, sondern den Wunsch nach Aufklärung. Das hier ist wie der berühmte letzte Satz bei einem Einstellungsgespräch: ‹So, Miss Fitzgerald, gibt es noch etwas, das Sie mich fragen möchten?›»
«Sie haben natürlich Recht», erwiderte er und hob ruckartig die Arme. «Ich will versuchen, Ihnen Rede und Antwort zu stehen.»
«Warum eine Strafgefangene auf TA anheuern? Warum beruft der Psychologenverband nicht einen Unterausschuss ein, um der Sache nachzugehen?»
«Daran haben wir auch schon gedacht. Es gibt durchaus Psychoanalytiker und andere Wissenschaftler, die dazu in der Lage wären, aber Konzak würde vermutlich nicht mit ihnen sprechen, geschweige denn sich ihnen anvertrauen. Er hat den Berufszweig der Psychoanalytiker schon zur Genüge in dem ausführlichen Interview von Dvorah Little, das in Metropolitan Life abgedruckt wurde, diskreditiert.» Dr. Gardonne wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und las ein Zitat von Konzak vor: «‹Die meisten Psychoanalytiker sind langweilige, besessene Depressive, die sich so sehr in die Gedankenwelt ihrer Patienten vertiefen, dass sie schließlich von deren Gefühlen leben.› Er beschreibt ihre Moral folgendermaßen – ich zitiere aus der Times: ‹Sie sind doppelzüngige Opportunisten, die wissen, dass die Psychoanalyse noch nie jemandem geholfen hat. Sie wollen einzig und allein ihre Sprechzimmer voll bekommen. Und Freud-Spezialisten, die in der Forschung sind, wollen möglichst viel veröffentlichen, bis sie eine unkündbare Professur haben oder in Pension gehen können. Warum sollten sie auf mich hören, geschweige denn mir Recht geben?›»
Er blickte von der Akte hoch und fragte: «Kate, warum sollte Konzak sich denen anvertrauen? Er würde den Braten sofort riechen. Wir brauchen jemanden, der von außen kommt, jemanden, dem nichts daran liegt, dass Freuds Ruf möglicherweise ruiniert wird.» Dr. Gardonne stützte sich auf seinen Schreibtisch und sah mich offen an. «Konzak weiß, dass Sie sich mit Freud auskennen. Das Wichtigste ist, dass er ein Interesse daran hat, sich mit Ihnen auszutauschen. Die Vorträge, die Sie gehalten haben, und alle Artikel, die Sie von der Zelle aus einreichten, haben im Laufe der Jahre einen bleibenden Eindruck hinterlassen.»
Das war mir neu. Ich ließ es mir jedoch nicht anmerken.
Gardonne faselte weiter: «Im Psychoanalytic Monitor hat Konzak Sie zu den kenntnisreichsten Freudianern gezählt.»
«Dieser Waschlappen?»
«Kate, wir brauchen jemanden, mit dem Konzak reden und dem er sich anvertrauen mag und der seinerseits gewillt ist, uns zu berichten, was er gesagt hat.»
Aufrichtig verblüfft bemerkte ich: «Aber Sie trauen mir doch gar nicht über den Weg, Sie können mich ja nicht mal richtig leiden.»
«Das ist Ihre Auslegung, Kate. Ich habe Ihrer versehrten Psyche in neun sehr schwierigen Therapiejahren beigestanden, und dies ist unsere letzte Sitzung. Ich habe Sie immer als das Opfer gesehen, das Sie in Ihrer Familie waren. Ich weiß, Sie sträuben sich gegen mich, weil Sie mir nicht vertrauen können – das Risiko ist noch zu groß. Unsere Therapie war insofern erfolgreich, als wir einige von Ihren Konflikten gelöst und Sie mir Ihre Träume anvertraut haben.»
«Sie haben mir die Träume abgenommen?» Ich hasste es, wenn sich Zweifel einschlichen. Solange ich Gardonne einordnen konnte, war mein Leben in einigermaßen sicheren Bahnen. Zugegeben, es ging im Schneckentempo voran, aber es war immerhin nicht im Treibsand des Verrats stecken geblieben. Das durfte nie wieder passieren.
«Kate …» Er zögerte. «Sie kennen Freud wie Ihre Westentasche. Außerdem haben Sie einen sehr scharfen Verstand. Das Wichtigste aber ist, dass Konzak sich jemandem anvertraut, den er mag und anziehend findet.»
Seinen Plan umstülpend, sagte ich: «Ach, ich soll mit Anders Konzak ins Bett gehen?»
«Kate, Sie haben das Bedürfnis, alles ins grellste Licht zu rücken. Natürlich muss Konzak Sie gewinnend finden, um sich Ihnen anzuvertrauen.»
Gewinnend?
«Er wird alles daransetzen, um sein Playboy-Image zu nähren. Ich brauche eine standhafte Freudianerin, die den frühen Freud kennt, die Konzak gefällt und die dem Komitee gegenüber loyal ist. Ich weiß, dass Sie nicht frei von Fehlern sind, aber angesichts der Dimension dieser Aufgabe sind Sie die beste Kandidatin. Kate, dies ist die wirkliche Welt. Hinsichtlich Eigennutz, der im Großen und Ganzen das eigentliche Interesse der Psychoanalytiker bildet, habe ich alle Karten auf den Tisch gelegt. Können wir jetzt fortfahren?»
Wenn ich nicht voranmachte, würde es so aussehen, als suhlte ich mich in Paranoia. Außerdem klang das, was er sagte, einigermaßen vernünftig. Ich nickte, um zu verstehen zu geben, dass ich bereit war, fortzufahren und die Details zu besprechen.
Dr. Gardonne lehnte sich zurück, und würde ich ihn nicht seit neun Jahren kennen, hätte ich das kaum merkliche Lächeln übersehen, das über sein ernstes Mr.-Deeds-geht-in-den-Knast-Gesicht huschte. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und marschierte zielstrebig zu seinem Aktenschrank. Dort blieb er kurz stehen, weil er offensichtlich den Nummerncode für die Schublade vergessen hatte. Ich hätte ihm sagen können, dass es 347 war, die ersten drei Ziffern seines Autokennzeichens, aber ich beschloss, ihn seinen Schlüssel benutzen zu lassen.
Er zog einen blitzsauberen Schnellhefter heraus, kehrte an seinen Platz zurück und sagte: «Was kann nach dem, was Konzak bereits gesagt hat, getan werden? Wir müssen alles daransetzen, den Schaden zu begrenzen. Er hat den Namen Freuds und den der Psychoanalyse in den Schmutz gezogen.»
«Na und? Freud ist tot. Tote kann man nicht verleumden.» Ich stand auf und ging vor seinem Schreibtisch auf und ab. Während ich den Gefängnisgürtel um meinen Overall enger schnallte, sagte ich: «Konzentrieren wir uns auf die Zukunft. Wir müssen rausfinden, was er als Nächstes tun wird. Wir können ihn nur bekämpfen, wenn wir ihm einen Schritt voraus sind.»
«Konzak sagt, er habe Beweise gefunden, die belegten, dass Freud ein Schwindler gewesen sei und die Psychoanalyse auf einer Lüge basiere.» Er las aus einem Ordner mit Zeitungsausschnitten vor, was Konzak gesagt hatte: «‹Meine Erkenntnisse werden die Philosophie erschüttern und die Psychoanalyse überflüssig machen.›»
«Das ist eine hochtrabende Wortwahl. Ich habe Freuds sämtliche Briefe gelesen. Sie enthalten nichts, was Freud besudeln könnte. Ich weiß, dass Anna Freud, so wie Konzak es in dem Artikel in Metropolitan Life gesagt hat, ihm letztes Jahr einen Packen Briefe überlassen hat, die als persönlich gekennzeichnet waren. Aber sie würde niemals jemandem, schon gar nicht jemandem wie Konzak, den sie kaum kennt, Dokumente aushändigen, die Freuds Namen in den Schmutz ziehen würden. Ich glaube nicht an die Existenz dieser so genannten Beweise. Wir werden es bald wissen, sagt er doch, die Briefe würden demnächst in der neuen, ungekürzten Ausgabe der Korrespondenz zwischen Freud und Fließ veröffentlicht.»
«Wir müssen auch in Erfahrung bringen, ob Konzak für jemand anderen arbeitet oder allein. Sie beide müssen herausfinden, woher er seine Informationen bezieht.»
Ich witterte den bekannten Bratengeruch und fragte: «Haben Sie ‹beide› gesagt?» Er hatte sich stichpunktartig Notizen in seinem Ordner gemacht. Jetzt sah er auf, als könnte er mir nicht ganz folgen. Nur einen Bruchteil meiner Beklommenheit preisgebend, fragte ich: «Ich würde allein arbeiten und nur Ihnen berichten, oder?»
«Sie haben halb Recht. Ja, Sie werden nur mir Rede und Antwort stehen, aber Sie werden mit jemand zusammenarbeiten. War früher im Knast, lebt jetzt in Toronto.»
Ich wusste, dass es einen Haken gab. «Wahrscheinlich so eine dumme Gans, die ihrem Freund zuliebe ungedeckte Schecks für seine Autoraten ausgestellt hat, stimmt’s?»
«Nein. Er wurde vor fünfzehn Jahren entlassen. Er heißt Jackie Lawton und ist Privatermittler.» Da ich schwieg, fuhr Gardonne fort: «Er ist in Heimen und Anstalten gewesen, seit er sieben war. Gewalttätig. Hat alles gemacht, von Heroin-Deal bis schwerer Diebstahl. Sein letzter Streich war bewaffneter Bankraub, und das brachte ihn für fünfzehn Jahre hinter Gitter.»
In der anschließenden Stille hörte ich die Lüftung an- und ausgehen, ehe endlich der Groschen fiel. Er verschaffte mir wirklich temporäre Abwesenheit, plante es aber gleichzeitig so, dass mir nie Haftentlassung gewährt werden würde. Ich würde mit einem Idioten aneinander gekettet sein, vermutlich einem mit XYY-Chromosom (die Gefängnisse sind voll davon, groß, gewalttätig, niedriger IQ), und wir sollten den Job zusammen erledigen. Doch wenn ich versagte, wäre ich länger wieder drin als der Gefangene von Alcatraz. Ich kniff die Augen zusammen, womit ich Dr. Gardonne zu verstehen gab, dass er sich seine TA sonst wohin schieben konnte.
Ich schob meinen Stuhl zurück, um zu gehen, als Dr. Gardonne, der gerne mit seiner Beute spielte, bevor er sie verschlang, sagte: «Trotz seines Freiheitsentzugs muss Jackie sich seine Intelligenz und seine robuste Konstitution erhalten haben. Nach seiner Entlassung ging er aus freien Stücken auf die Uni, schaffte seinen B.A. in Internationalen Beziehungen und bekam einen Vertrag beim CIA – bis sie eine Meinungsverschiedenheit hatten.»
«Hey, vielleicht war er Deep Throat.»
«Wie ich gehört habe, muss er erstaunlich gut gewesen sein. Er hat vorwiegend in Europa Aufträge ausgeführt, an die sich kein anderer gewagt hatte. Aber es wäre nicht fair, wenn ich Ihnen verschweigen würde, dass es ihm schwer fällt zu kooperieren. Er kann sehr sympathisch sein, doch manchmal überkommen ihn unerklärliche Wutausbrüche. Er hat länger in Einzelhaft gesessen als jeder andere Häftling.»
«Zwei, die nicht mit anderen zusammenarbeiten können – das kann ja heiter werden.»
«Wie ich gehört habe, hat er in Sachen Selbstverwirklichung und Buddhismus schwer an sich gearbeitet und es geschafft, seine Kanten abzuschleifen.»
«Ein Bankräuber mit Mantra – kann es noch schlimmer kommen?»