Die Originalausgabe erscheint 2019 unter dem Titel «A Fatal Game» bei Penguin Random House, UK.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Copyright «A Fatal Game» © 2019 by Nicholas Searle
Redaktion Werner Irro
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Coverabbildung Hayden Verry/Arcangel; Tim Robinson/Trevillion Images
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-30050-7
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-30050-7
Für C, immer
Abu Omar stieg hinten aus dem Lieferwagen, sah sich um, rückte die Baseballmütze zurecht und setzte seinen Weg fort. Die Überwachungsteams registrierten den gehetzten Blick und die angespannte Haltung. Jake eilte zurück zur Einsatzzentrale.
Der taubenblaue Rucksack voller Bücher auf Abu Omars Schultern war gut sichtbar, als er, mit einem Seitenblick auf die gepflegten Reihenhäuser, die von winterlichen Bäumen gesäumte Melwood Avenue entlangging, sich an geparkten Autos vorbeischlängelte und die Straße überquerte, während unsichtbare Kameras schwenkten, zoomten und ihn an die nächste Kamera weiterreichten. Die Überwacher empfanden seine Ruhe als gezwungen, und die Beschatter blieben auf Abstand. Sie nutzten die akribisch einstudierten Schleichwege, hielten sich bereit, falls Abu Omar von der Route abwich. Auch seine Komplizen waren in der Nähe, um sicherzugehen, dass man ihm nicht folgte. Jeder hatte sein eigenes verdecktes Gefolge, das miteinander flüsterte, aufmerksam den Stimmen aus versteckten Ohrhörern lauschte, vermied, dass man sich gegenseitig ins Gehege kam.
Jake beobachtete ihn auf dem Bildschirm, seinen Jungen. Er nahm sich die Sache stärker zu Herzen als sonst. Abu Omar verschwand von einem Bildschirm und tauchte auf dem nächsten auf. Als er in den Park gegenüber dem Bahnhof einbog, konnte Jake sein Gesicht erkennen: gleichgültig, gläserner Blick, wie immer. Träge kaute er auf einem Kaugummi herum. Ein Analyst rief: «Nachricht!», und praktisch im selben Augenblick zog Abu Omar sein Handy aus der Tasche. Der Umstand, dass Abu Omar eigentlich gar kein Handy bei sich haben sollte, tauchte irgendwo am Rand von Jakes Bewusstsein auf, verharrte dort jedoch. Abu Omar blieb stehen, um die Nachricht zu lesen, und alles stand gemeinsam mit ihm still. «Kam über die App», vermeldete der Analyst, was hieß, dass man die Nachricht nicht entschlüsseln konnte. Es folgte eine hastige Besprechung zwischen Jake, George und dem Einsatzleiter.
«Ideen?»
«Null. Müsste er eigentlich melden.»
Doch das tat Abu Omar nicht. Er blieb noch einen Moment stehen – 13,2 Sekunden lang, wie später gestoppt wurde – und ging weiter, ein Lächeln um die Lippen.
«Abblasen?», fragte George.
«Noch nicht», sagte der Einsatzleiter. «Alles unter Kontrolle.»
«Schluss machen», murmelte Jake, wurde aber ignoriert.
Da verschwand Abu Omar vom Bildschirm. Die Kamera zog so schnell das Bild auf, dass Jake ganz flau wurde. Vielleicht auch eine böse Vorahnung, im Nachhinein betrachtet? Nein, unmöglich, denn in diesem Augenblick schluckte er einfach die Galle wieder runter, die ihm hochgekommen war. Vielleicht ein Vorgefühl von Tod. Höchstens. Hinterher war man immer klüger.
Die Totale zeigte, wie Abu Omar die Herrentoilette betrat. Der Überwachungskoordinator brüllte: «Ihm nach! Sofort!», und auf den anderen Bildschirmen eilten Männer auf die Tür zu. Der Kommandant der bewaffneten Einsatzkräfte schickte seine Leute vor, Waffen im Anschlag. Der Hubschrauber wurde herbeigerufen.
Auf einem anderen Bildschirm erschienen wackelige Bilder von der Körperkamera des Chefbeschatters. Bill war sein Name gewesen, wie Jake sich später erinnerte. Er rannte zur Toilettentür, bremste ab und trat gemächlich ein. Seit dem Befehl konnten keine zehn Sekunden vergangen sein. Schnell stellte sich die Kamera auf den dunklen Raum ein, und der Autofokus richtete sich auf Abu Omars Rücken vor einem Pissoir. Man hörte den Strahl in der Schüssel, der blaue Rucksack war deutlich zu sehen. Als der Beschatter sich drei Pissoirs weiter hinstellte, zog Abu Omar gerade den Reißverschluss seiner Jeans zu und verschwand aus dem Bild. «Er wäscht sich die Hände», flüsterte Bill, und man hörte erst den Wasserhahn und kurz darauf den Handtrockner. Wieder ein schwindelerregender Schwenk, dann steuerte auch das Kamerabild den Ausgang an.
Abu Omar ging lässig weiter, und die Überwachung wurde wieder aufgenommen. Die anderen vier hatten sich noch nicht gezeigt, waren aber unter Kontrolle, sie näherten sich dem Bahnhof aus unterschiedlichen Richtungen. Aus der Ferne nahmen die Kameras den Handlungsfaden wieder auf, ganz nach Drehbuch, wie geprobt, und im Einsatzraum kehrte etwas Ruhe ein. Er war noch dreißig Sekunden vom Bahnhof entfernt. Rushhour. Fünfundzwanzig Sekunden. Der 16:58-Zug aus London war eben eingefahren, die Angekommenen kämpften sich durch die Flut der Pendler, die zu den Zügen in die kleinen, wohlhabenden Schlafstädte strömten, das Zuhause vieler Angestellter der Finanzfirmen in den Hochhäusern mit den glänzenden Glasfassaden, hinter denen ein Großteil des Reichtums der Stadt geschaffen wurde. Mit ihrer teuren Kleidung mussten sie sehr fremd wirken auf Abu Omar und die anderen Jungs, die sich in den finsteren, verfallenden, vernachlässigten Vierteln im Osten der Stadt über Wasser hielten. Zehn Sekunden.
Wie aus einer nachträglichen Eingebung heraus rief der Koordinator: «Jemand soll sofort das Klo checken. Abriegeln, pronto!» Zwei Beamte wurden zu diesem Nebenschauplatz abkommandiert. Sie würden überleben. Abu Omar hatte inzwischen die Bahnhofshalle betreten. Die Kameras folgten ihm, als er in seinen teuren neuen Turnschuhen den Ticketschalter ansteuerte – seine Komplizen kamen durch andere Eingänge herein. Bewaffnete Polizisten sahen von oben zu und drängten aus requirierten Büros hinaus in den Bahnhof, die Hände an den Waffen, verborgen unter Mänteln und in Taschen. Vorsorglich, für den schlimmsten aller Fälle.
Dann glaubte Jake, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren: Alles lief nach Plan. Das mit der Toilette war bloß die übliche Schrecksekunde kurz vor Schluss gewesen. Abu Omar hatte einfach nur mal pinkeln müssen. Jake durchquerte die Einsatzzentrale, in Gedanken schon ein paar Stunden weiter: bei der Nachbesprechung, der neuerlichen Bestätigung eines optimistischen Blicks in die Zukunft, dem leisen Gelächter beim Pizzaessen. Er gönnte sich eine Millisekunde für ein Lächeln und die Anerkennung, dass der gute alte Bill ganze Arbeit geleistet hatte. In diesem Augenblick geschah es.
«Und wie haben Sie sich da gefühlt, in diesem Moment und danach?»
Dieser Moment. Der, in dem alles still wurde. All die Leute, die bis dahin hektisch beschäftigt waren, laut in Telefone, Mikrophone, Walkie-Talkies, Ohren sprachen, ihre Arbeit machten, Transaktionen hier, da, überall, blitzschnell wie auf dem hektischsten Börsenparkett, Team in Position vier-vier-neun, bereithalten, Hubschrauber startklar, Kamera schwenken, wegzoomen, zackzack, hastige Schritte von hier nach da und dann woandershin, in Stellung gehen, all dieser Trubel. Die Stimmen aus der Zentrale klar und beruhigend, die von draußen durch die Technik gedämpft zu dünnem Näseln, das gut zum gewohnten Grundton beherrschter, betriebsmäßiger Panik passte. Rauschen im Äther. All der aufgesetzte Ernst, der aus TV-Shows abgekupferte Einsatzzentralen-Quatsch, der ihm – im Gegensatz zu vielen anderen – noch nie gefallen hatte. All das war verstummt. Die Schwingungen im Boden und der ferne Donnerschlag vermittelten die wesentliche Nachricht. Auf den Bildschirmen sah er, was er bereits wusste.
Dieser Moment, in dem ihm klar wurde, dass sein Leben vorbei war. So gut wie, zumindest. Vor allem aber waren ihre Leben vorbei, ganz wörtlich und endgültig. Dreiundsechzig Leben. Die Zahl kannte er damals noch nicht; es dauerte einige Tage, bis sie feststand, bis sie diejenigen einschloss, die nicht mehr aus dem Krankenhaus kamen, bis all die Vermissten identifiziert, all die Körperteile gezählt und aufgerechnet waren. Aber dass es schlimm war, das wusste er. Menschen. Nicht Zahlen. Zahlen zählten nicht; sie er-zählten nicht die Wirklichkeit. Wirkliche Leben. Die zählten.
Sie alle waren jetzt bloß noch Tote oder Verletzte, deren «Storys» die Medien nach Belieben fleddern konnten. Erschütternde «persönliche Geschichten», illustriert mit Verwandten abgeschwatzten oder auf Facebook gefundenen Urlaubsfotos, Artikel, die diesen Menschen alles Persönliche wegnahmen und sie als öffentliches Eigentum beanspruchten, vor allem aber als das von Presse, Fernsehen und Social Media. Komplexe Seelen, umgebaut und neu vermarktet als rührselige, eindimensionale Sinnbilder für unsere Sterblichkeit. Als wollte irgendwer damit zugleich beruhigen und verstören.
Schwer zu sagen, für manche Überlebende, ob sie nicht lieber dort gestorben wären, an Ort und Stelle, mehr oder weniger sofort. Was war das Leben, körperlich und seelisch, jetzt noch wert?
Was ihn betraf, war das ganz und gar nicht schwer zu beantworten. Als er vor den Bildschirmen vom kollektiven Schock ergriffen wurde, hätte er sein jämmerliches, selbstgefälliges Leben liebend gern für jedes einzelne der ihren – am liebsten für alle – eingetauscht. Leicht gesagt. Leicht gedacht.
Ausdruckslos starrte er über den Anwalt hinweg an die weiße Wand dahinter, befühlte seine Schlüssel in der Jackentasche, als könnte die vertraute Kühle des Metalls ihn wieder in die Gegenwart zurückholen.
Die in der Nähe versteckten Überwachungskameras hatten noch ein, zwei Augenblicke lang funktioniert, ehe ihr Schicksal sie ereilte – wie Hühner, deren Leben schon erloschen ist, ohne dass sie es merkten. Die weiter entfernten hatten rieselnde Wolken aus Staub und Trümmern gezeigt, die – wäre er ein romantischerer Geist gewesen – der Szene womöglich eine gewisse graziös-groteske Anmut verliehen hätten. Doch romantisch war er nicht. Noch nie gewesen, und auch jetzt nicht.
Später. Der Bilderreigen im Fernsehen war angelaufen, so wie immer: das endlose, sinnlose Gejaule von Alarmanlagen in der gesamten Stadt; spurtende, stolpernde Menschen, in wackelige Handyvideos gebannt von denen, die das Ganze rechtzeitig als Medienereignis wahrgenommen hatten; Rettungsfahrzeuge, die zielstrebig durchs Bild rasten, mit heulenden Sirenen und Blaulicht, das eisig den Abend zerriss. Dann das gelbe POLICE-Absperrband, vor dem die Reporter nur immer wieder dieselben Nichtigkeiten wiederholen konnten wie in Nizza, London, Brüssel, Barcelona und Berlin; das Gedränge der Reporter und Kameraleute, die um die besten Positionen rangelten und um jede kleine Neuigkeit wetteiferten. Mit einem Mal war alles in denselben Abstand gerutscht: den der Fiktion. Die grauenhafte Wirklichkeit wurde unterjocht von Social-Media-Klicks und Einschaltquoten, die sich aus den von ihr ausgelösten Emotionen quetschen ließen.
Dieser Moment, in dem sein Magen sich weniger umdrehte, als komplett verschwand, die Galle erst in ein Vakuum saugte, um sie dann mit trockenem Würgereiz bitter in den Mund zu drücken. Manche in der Einsatzzentrale hatten sich tatsächlich auf ihre Tische übergeben, wovon der stille, dezent beleuchtete und klimatisierte Raum, in dem sonst so kühl gelenkt und protokolliert wurde, sauer roch.
Der Sinn, den er in alledem einmal gesehen hatte, war bis auf den letzten Rest verdunstet, und er wusste, dass das keine Rolle spielte. Nichts spielte noch eine Rolle. Auch er nicht. Sein Leben, seine Lieben, seine Karriere, seine Marotten, Stärken und Schwächen spielten keine Rolle.
Weil es sein Fehler gewesen war. Weil diese dreiundsechzig Toten und die zahllosen zum Leben Verdammten sich nichtsahnend auf ihn verlassen hatten. Ihm vertraut hatten. Er hatte sie betrogen und im Stich gelassen.
Er zog die Hand wieder aus der Tasche. Außer seinem Inquisitor, dem Vorsitzenden und den übrigen Juristen konnte er niemand im Saal sehen. Aber sie waren da, die echten Menschen, das wusste er, dort hinter den Sichtschutztafeln.
Geradezu mathematisch teilte sich die ganze Welt in davor und danach. Davor war er ein heiterer Mensch gewesen, beinahe unerbittlich positiv. Gut, womöglich war sein Gedächtnis ebenso verdreht und verwirrt wie alles andere in seinem Kopf. Eine Bemerkung aus einer jährlichen Arbeitsbewertung von vor längerer Zeit ließ ihn nicht los: «Was Jake Winter an Charisma vermissen lässt, macht er durch Fleiß und Leidenschaft wett.» Das hatte ihn getroffen – dass sein sauertöpfischer Vorgesetzter es vielleicht nur gut gemeint hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen.
Als Kind einer Engländerin und eines Maori, halb aufgewachsen in einem Fünfzehn-Hütten-Dorf im ländlichen Neuseeland, halb hier in dieser Stadt, die er sein Zuhause nannte, war er gewiss ein ungewöhnliches Mitglied der geheimen Schildwacht Ihrer Majestät. Und doch hatte er irgendwie hierhergefunden, zu seiner Niederlage.
Doch er schweifte ab, und die Zeit blieb nicht stehen. Erneut griff er in die Tasche und betastete die vertraute Form des Haustürschlüssels. Sachte pikte er sich die Spitze in die Hand: ein schräges Vergnügen, eine kleine Flucht aus seiner Dumpfheit. Nur mit Mühe fand er zurück in den klimatisierten Rathaussaal, wo die Befragung stattfand.
Fassungslos. So hatte er sich gefühlt. Gepaart mit dem Bewusstsein, dass immer klar gewesen war, dass die Geschichte in einem Saal wie diesem hier enden würde, trotz allen Draufgängertums.
Die Stille drückte noch ein, zwei Augenblicke länger.
«Lassen Sie sich ruhig Zeit.» Mr Kerr, der Anwalt der Opfer und ihrer Familien, kräuselte die Lippen.
«Könnten Sie die Frage bitte noch mal wiederholen?», sagte Jake Winter.
Mr Kerr sah ihn gereizt an. «Wir haben geklärt, dass Sie zum Zeitpunkt der Explosion in der Einsatzzentrale waren. Wie haben Sie sich gefühlt, als es passierte?»
«Gefühlt?», fragte er.
«Ja. Gefühlt.»
Die Angehörigen des Ausschusses, der Vorsitzende, die Untersuchungsanwältin, die Rechtsberater des Geheimdienstes und Jakes Anwalt blickten ihn ebenso aufmerksam an wie Mr Kerr. Der Sichtschutz verbarg ihn vor den anderen, vor den Angehörigen und den Überlebenden. Wirklich überleben konnte so was ohnehin niemand. Zu gern hätte er – endlich – alles gesagt. Ihm wäre es recht gewesen, dass man ihn sah. Aber er war zuverlässig. Er würde seine Pflicht tun, so wie immer.
«Schrecklich habe ich mich gefühlt», erklärte er schließlich. «Schrecklich. Wie auch sonst?»
«Natürlich», sagte Mr Kerr. Und dann, nach kurzem Nachdenken: «Könnten Sie das näher ausführen?»
«Ich weiß nicht. Wie soll man sich in so einem Moment schon fühlen?»
«Wie man sich in so einem Moment fühlen soll, interessiert uns hier nicht, Mr, ähm …»
Bestimmt nicht leicht, dachte Jake, einen Zeugen mit einer Nummer anstelle eines Namens zu befragen. Ohne die kleinen Pausen, die das Wiederholen des Namens einem bot, in denen man den nächsten Satz formulieren konnte.
«Uns interessiert nur, wie Sie sich gefühlt haben.»
«Am Boden zerstört. Wie gelähmt. Und gleichzeitig wusste ich, dass es darauf gar nicht ankam.»
«Inwiefern?»
«Wie man sich fühlte, war unwichtig. Wichtig war, was da passiert war. Daneben verblasste alles andere.»
«Fühlten Sie sich schuldig?»
Duncan Blakeley, Jakes Anwalt, wurde unruhig. «Mir ist nicht klar, worauf diese Fragen hinaussollen», erklärte er. «Der Zeuge hat zu jenem Zeitpunkt zweifellos eine ganze Reihe Dinge empfunden, die für den tatsächlichen Sachverhalt möglicherweise alle vollkommen irrelevant sind.»
Die Untersuchungsanwältin blickte den Vorsitzenden an und hob die Brauen.
«So subjektiv das auch sein mag», sagte der Vorsitzende, «wir sind hier nicht bei Gericht. Uns geht es nicht um individuelle Schuldzuweisungen. Wir wollen nur den genauen Ablauf rekonstruieren und ermitteln, was womöglich hätte besser gemacht werden können. Ich halte die Frage daher für zulässig. Außer natürlich, Sie wollen nicht, dass Ihr Klient antwortet, damit er sich im Hinblick auf mögliche weitere Verfahren nicht selbst belastet?»
Blakeley schüttelte den Kopf.
«Dann bitte weiter, Mr Kerr.»
«Gut», fuhr Kerr fort. «Wie war das mit der Schuld?»
«Ich fühlte mich … verantwortlich.»
«Verantwortlich. Das will ich meinen. Aber würden Sie uns das genauer erklären?»
«Ist das nicht offensichtlich?», erwiderte Jake stumpf.
«Nun, für meine Klienten ist kaum noch etwas offensichtlich. Sie versuchen, das hier zu verstehen, so wie die meisten von uns. Wir sind dankbar für jeden Einblick, den Sie uns gewähren.»
«Entschuldigung. Ich fühle mich verantwortlich, weil Abu Omar mein Agent war.»
«Abu Omar, der Selbstmordattentäter.»
«Soweit ich weiß, ist das nicht erwiesen. Die kriminaltechnischen Untersuchungen konnten nicht genau feststellen, ob der Sprengsatz von ihm oder jemand anderem gezündet wurde, ob es einen Zeitzünder gab, von dem er nichts wusste, oder ob die Ladung nur aus Versehen hochging. Die Wucht der Explosion …»
«Gut, gut. Nehmen wir es ruhig genau. Genauigkeit ist wichtig. Aber Ihr … Agent … trug jedenfalls den Rucksack?»
«Ja.»
«Bitte weiter.»
«Wir wollten den geplanten Anschlag verhindern. Abu Omar arbeitete für uns.»
«Was heißt das, er ‹arbeitete für uns›?»
«Als Verbindungsperson, um den Fachbegriff zu verwenden. Als V-Mann.»
«Und wie kam der Kontakt zustande?»
War es heiß hier im Saal, fragte sich Jake Winter. Nein, die Klimaanlage lief, trotzdem war ihm viel zu warm.
«Abu Omar war britischer Staatsbürger. Er ist hier aufgewachsen und mit achtzehn nach London gezogen, um zu studieren. Mit zwanzig hat er sein Studium abgebrochen. Er hat geheiratet, seine Frau hat einen Sohn geboren, dann zogen die drei wieder hierher und bei seinen Eltern ein. In diesen Zeitraum fiel auch seine Radikalisierung. Die Familie war immer schon religiös gewesen, muslimisch, aber jetzt besuchte er private Gebetskreise bei einer Gruppe, über die sich der Imam seiner Gemeinde besorgt geäußert hatte. Die Gruppe vertrat extreme, salafistische Positionen und stiftete Unfrieden in der Moschee. Mehrere Mitglieder, darunter auch Abu Omar, gingen ins Ausland, um gegen die ‹Kafirn› zu kämpfen, wie sie sagten. Vor etwa einem halben Jahr kam er nach England zurück, und da bin ich ihm begegnet.»
«Wie würden Sie seine familiären Umstände beschreiben?»
«Als chaotisch. Seine Eltern lebten am Rande der Armut. Genau genommen tun sie das noch immer. Er war ein rebellischer Teenager und hatte Ärger in der Schule. Aber seine Eltern ließen nicht locker und kratzten genügend Geld zusammen, um ihn an die Universität zu schicken. Abgesehen von gewissen Verhaltensauffälligkeiten, wie die Schule das nannte, war er hochintelligent. Seine Eltern waren schwer enttäuscht, als er das Studium abbrach und mit Frau und Kind wieder bei ihnen einzog. Und dann ließ er sie alle zurück, um in den Krieg zu ziehen. Seine Eltern sahen es als ihre Pflicht an, die Familie zusammenzuhalten.»
«Haben Sie ihn gezielt angesprochen, oder kam er von sich aus auf Sie zu?»
«Weder noch. Wir wurden einander vorgestellt …»
«Von wem?»
«Darüber darf ich leider nichts sagen. Wahrscheinlich tut das aber sowieso nichts zur Sache.»
«Das lassen wir doch lieber den Ausschuss entscheiden.»
Jake Winter sah, wie der Anwalt des Geheimdienstes dem Ausschusssekretär etwas zuflüsterte.
«Ich darf darüber nichts sagen», wiederholte er. «Ich dachte … da besteht eine Vereinbarung.»
Kerr dachte darüber einen Augenblick nach, er sah den Sekretär von der Seite an. «In Ordnung. Vielleicht kommen wir später darauf zurück. Sie wollen dem Ausschuss ja sicher nicht den Eindruck vermitteln, Sie seien unkooperativ.»
«Bestimmt nicht.»
«Bleiben wir zunächst bei Ihrer Beziehung zu Abu Omar. Kennengelernt haben Sie ihn also etwa ein halbes Jahr vorher.»
«Genau. Er sagte, er sei desillusioniert von der ‹Sache›, wie er es nannte.»
«Von welcher ‹Sache›?»
«Da fing es ja schon an. Er meinte, er wisse gar nicht mehr, was die Sache überhaupt sei. Was man eigentlich erreichen wolle, abgesehen von unaussprechlichem Leid für viele, viele Menschen. Er war entsetzt über einiges, was er im Ausland erlebt hatte.»
«Sagte er zumindest.»
«Richtig.»
«Und Sie glaubten ihm.»
Jake stockte. «Das habe ich nicht zu entscheiden.»
«Ach nein?»
«Nein. Meine Aufgabe ist: genau zuhören, exakt berichten und dann analysieren, ob das Gehörte zu den bekannten Tatsachen passt.»
«Aber Sie bilden sich doch wohl eine Meinung? Als Mensch, meine ich?»
«Sicher. Ich muss die wahrscheinliche Verlässlichkeit der Leute einschätzen, mit denen ich spreche.»
«Das ist bestimmt nicht immer leicht.»
«Nein. Die Leute erzählen einem nicht immer unbedingt die Wahrheit.»
«Das versteht sich wohl von selbst. Und wenn Sie diese Verlässlichkeit einschätzen, dann verlassen Sie sich auf Ihren gesunden Menschenverstand?»
«Teilweise.»
«Klingt eher, als hielten Sie einfach den Finger in den Wind.»
«Nicht ganz. Ich verlasse mich nicht bloß auf mein Gefühl, trotz aller Ausbildung und Erfahrung. Die Berichte werden kritisch durchgesehen und beurteilt. Manchmal ziehen wir Psychologen hinzu. Aus alldem machen wir uns ein Bild von der Verlässlichkeit einer Person. Entscheidend ist nicht nur meine persönliche Meinung. Ich glaube, ein paar Unterlagen aus unserem System liegen hier auch vor.»
«Habe ich gelesen, danke. Setzen Sie Lügendetektoren ein?»
«Nicht grundsätzlich, nein.»
«Nicht grundsätzlich. Verstehe. Und wenn Sie jemand für unzuverlässig halten, brechen Sie ab?»
«Nicht unbedingt. Aber man behandelt alle Aussagen mit größter Vorsicht.»
«Und Abu Omar? Wie haben Sie den eingeschätzt?»
«Er galt als bestätigt verlässlicher V-Mann.»
«Ach? Und wie kam es zu dieser Einschätzung?»
«Genaueres darf ich dazu nicht sagen.»
Kerr schien Jake noch eindringlicher anzublicken als zuvor, ließ die Frage jedoch auf sich beruhen. «Na schön. Halten wir also fest: Sie und Ihre Kollegen haben Abu Omar nach gründlicher Prüfung als bestätigt verlässlich eingestuft.»
Jake dachte an den Jungen, denn ein solcher war Abu Omar immer noch gewesen, trotz seines zweijährigen Sohns. Er dachte an die ängstlichen braunen Augen und die bange Miene, die hin und wieder den stolzen, herausfordernden Blick verdrängten. An die dünnen Arme, den spärlichen Bartflaum. Ein Mann wollte er sein, war aber unbestreitbar noch ein Junge. «Ja», antwortete Jake.
«Und halten Sie Ihren V-Mann auch jetzt noch für verlässlich?»
«Ich weiß es einfach nicht.»
«Sie wissen es nicht? Angesichts von allem, was passiert ist? Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber diese Einschätzung war doch wohl eindeutig vorschnell. Und jetzt wollen Sie aller Beweislage zum Trotz nicht davon ablassen?»
«Wir wissen nicht, ob –»
«Ja, ja. Vorerst können Sie meinetwegen noch nach diesem Strohhalm greifen. Dennoch. Ihr bestätigt verlässlicher V-Mann betrat zur Rushhour einen Hauptbahnhof mit einem Rucksack voller Sprengstoff, der daraufhin explodierte und dreiundsechzig Menschen in den Tod riss. Wann genau haben Sie ihn zuletzt getroffen?»
«Siebenunddreißig Minuten vor der Explosion.»
Hörbares Einatmen von jenseits des Sichtschutzes.
«Und da hatte er den Rucksack bei sich?»
«Er hatte einen Rucksack bei sich.»
«Beschreiben Sie ihn.»
«Klein, hellblau, brandneu. Ein Tagesrucksack.»
«Ein Tagesrucksack also. Und wie unterschied der sich von dem, mit dem Ihr V-Mann den Bahnhof betrat?»
«Es war kein Sprengstoff darin. Ansonsten war er identisch, wenigstens soweit sich das auf den Kamerabildern erkennen ließ. Und aus den Ergebnissen der Kriminaltechnik.»
«Worum ging es bei diesem Treffen?»
«Eben darum, uns zu vergewissern, dass er nichts dabeihatte, was zur Gefahr für die öffentliche Sicherheit werden könnte. Wir wussten, dass die Gruppe den Bahnhof als Anschlagsziel auskundschaften wollte. Das hatte uns Abu Omar gesagt, und auch, dass der Anschlag nicht unmittelbar bevorstand. Wir mussten trotzdem auf Nummer sicher gehen.»
«Natürlich. Sie haben den Rucksack also überprüft. Und?»
«Er enthielt Bücher. Sonst nichts. Er wurde von einem Polizeiexperten durchsucht und auf Sprengmittel überprüft. Der Rucksack war neu. Es fanden sich keine Spuren von Sprengstoff.»
«Und dann?»
«Abu Omar sollte direkt zum Bahnhof gehen. Er wurde kontinuierlich überwacht. Er empfing eine Nachricht auf seinem Handy, blieb stehen und las sie.»
«Was stand drin?»
«Das weiß ich nicht. Er betrat eine öffentliche Toilette. Das Überwachungsteam folgte ihm. Als der Beamte hereinkam, stand Abu Omar am Pissoir.»
«Und der Rucksack?»
«Den hatte er noch immer auf dem Rücken. Aber …»
«Ja?»
«Offenbar hatte er ihn ausgetauscht, mit einem identischen Rucksack, der den Sprengsatz enthielt. Der erste Rucksack wurde später im Mülleimer der Toilette gefunden.»
«War das so abgesprochen?»
«Natürlich nicht.»
«So viel zur bestätigten Verlässlichkeit. Befand sich noch jemand in der Toilette?»
«Das Überwachungsteam hat niemanden gesehen.»
«Die haben doch sicher alles überprüft?»
«Sie mussten Abu Omar weiter verfolgen. Ein paar Minuten später haben andere Kollegen nachgesehen.»
«Ein paar Minuten später.»
«Genau.»
«Und Sie? Was haben Sie gemacht?»
«Ich war inzwischen zurück in der Einsatzzentrale.»
«Und das Schicksal von dreiundsechzig Menschen war bereits so gut wie besiegelt. Hätten Sie ihn aufhalten können, rein theoretisch? Wenn er so verlässlich gewesen wäre, wie Sie glaubten?»
«Ich hätte ihn anrufen können, ja.»
«Bestimmt hätte auch Abu Omar Sie kontaktieren können, nachdem er den Rucksack ausgetauscht hatte. Wenn er wirklich so verlässlich gewesen wäre.»
«Ja.»
«Hat er aber nicht. Wie erklären Sie sich das?»
«Ich weiß es nicht.»
«Sie hätten ihn jedenfalls kontaktieren können?»
«Ja, aber wir nahmen an, er habe sich nur erleichtert. Die VG hatte die taktische Leitung dem Einsatzleiter übertragen, und der traf eine Entscheidung.»
«Die VG?»
«Ja. Die Verbindungsgruppe. Ein Komitee aller betroffenen Parteien, unter Vorsitz der Polizei, zuständig für sämtliche strategische Entscheidungen. Darüber müssten Sie doch Unterlagen haben.»
«Ja. Aber es ist hilfreich, das alles von Ihnen zu hören. Zurück zur Entscheidung des Einsatzleiters. Die basierte auf Ihrer Einschätzung des Informanten als verlässlich?»
«Teilweise, ja.»
«Mir scheint, hier beißt die Katze sich in den Schwanz. Ist Ihnen bewusst, dass es im Islam strenge Vorschriften hinsichtlich Hygiene und Moral beim Toilettengang gibt?»
Jake hustete. «Ja.»
«Aber es hat Sie nicht gewundert, dass Abu Omar das Pissoir benutzte statt einer abschließbaren Kabine?»
Jake stockte. Eine Kleinigkeit, doch der Anwalt hatte recht. Das war tatsächlich merkwürdig gewesen, ein weiteres Detail, das ihm entgangen war. «Ich glaube», antwortete er schließlich, «das ist niemandem wirklich aufgefallen.»
Mr Kerr hob die Brauen. «Zu viel auf einmal, hm?»
«Nein, Sie haben recht. Das hätte uns auffallen müssen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob Abu Omar in dieser Situation so viel Wert auf Frömmigkeit legte. Soweit ich weiß, darf man sein Geschäft im Beisein anderer Männer verrichten, solange man nicht miteinander spricht und einander nicht ansieht.»
«Aber wenn möglich, zieht man sich zurück.»
«Ja.»
«Und diese Vorschrift soll er missachtet haben, kurz bevor er die wichtigste Tat seines Lebens begehen wollte?»
«Wir haben doch bereits geklärt, dass er den Sprengsatz vielleicht gar nicht ausgelöst hat. Bei unseren Treffen wirkte er auch nie besonders fromm.»
«Ich beuge mich Ihrer Expertise und Ihrem Wissen über Abu Omar. Obwohl die Beweise dagegen sprechen. Obwohl er einer Gruppe extremistischer Dschihadisten angehörte. Sie kamen also in der Einsatzzentrale an. Sie hörten den Knall.»
«Wir waren keine achthundert Meter entfernt, also ja. Wir hörten ihn. Wir spürten ihn. Wir sahen ihn auf den Bildschirmen. Es war …»
«Ja, sicher», unterbrach Mr Kerr, und Jake erkannte am Gesichtsausdruck des Vorsitzenden, dass die heutige Sitzung – von Formalitäten einmal abgesehen – beendet war.
«Ich bitte um Entschuldigung für diesen Treffpunkt», sagte Stuart Calloway. «Ich dachte, wir kommen besser etwas informeller zusammen.»
«Sie und Ihresgleichen scheinen ja mittlerweile richtig süchtig nach informellen Treffen zu sein.»
«Ich wollte nur Missverständnisse vermeiden, um unser beider willen. Offizielle Meetings trüben das Wasser manchmal eher, als die Dinge zu klären.»
«Wobei wir aber dennoch beide transparente Verfahren einzuhalten haben.»
«Natürlich. Keiner soll mir nachsagen können, ich stelle mich rechtsstaatlichen Prinzipien in den Weg. Zumindest, solange die Sicherheit gewährleistet ist.»
Stuart Calloways derzeitige Position war wohl als heikel zu bezeichnen. Frühreif und hochbegabt – wenigstens ihm selbst zufolge –, war er geradezu lächerlich jung zum Director of Operations aufgestiegen und sah sich nun einer Reihen von Herausforderungen gegenüber, oder besser: Chancen, wie er Schwierigkeiten zu nennen gelernt hatte. Eine neue Regierung, skeptisch, und das nicht zu knapp; ein neuer Behördenchef, dicke mit dem Premier, vermutlich mit einer ganz konkreten Aufgabe auf diesen Platz gesetzt, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen; und der dünne, asketische George, der ihm als Oberhaupt der regionalen Einheit unterstand. George hatte bereits so ziemlich alles erlebt, und er besaß die Narben und das T-Shirt, um es zu beweisen. Entsprechend hörig war er den zwielichtigen Gestalten draußen im Feld, denen Stuart all die Risiken verdankte. Stuart Calloway stand jedenfalls entweder kurz vor dem Durchbruch oder am Abgrund.
«Wo ist denn Ihr Boss?», fragte der Innenminister.
Stuart seufzte. «Ich denke, ein gewisser Abstand zwischen diesem Gespräch und unseren Vorgesetzten kann nicht schaden. Ich muss meinen Direktor aus der Schusslinie halten, und Sie werden den Premierminister sicher auch nicht involvieren wollen.»
«Sie meinen, wir beide können notfalls als Prügelknaben herhalten?»
Stuart spürte, wie sein Gegenüber die Stacheln aufstellte – offenbar hatte er sich doch nicht vorsichtig genug ausgedrückt. Das Wesentliche sollte aber klar sein: Der Premier und der Direktor waren dicke Freunde, während Stuart und der Innenminister sich miteinander arrangieren mussten. «Keineswegs. Ich mag ja entbehrlich sein, aber … gute Güte, nein. Ich wollte uns nicht auf dieselbe Stufe stellen. Der Staatssekretär und ich waren nur der Ansicht, dieses Gespräch bliebe besser unter uns. Ich denke, wir verstehen uns. Herr Innenminister, ich muss Ihnen mitteilen, dass man sich große Sorgen macht …»
Er wartete einen Moment auf einen abwiegelnden oder nachfragenden Einwurf, doch es kam keiner.
«… Sorgen über die Richtung, die diese Untersuchung einschlägt. Vielleicht haben Sie ja von der letzten Sitzung schon gehört.»
«Ja. Ihr Mann scheint sich ein immer tieferes Grab zu schaufeln.»
«Da muss er selbst wieder herausklettern. Der Punkt ist aber, dass sich daraus viel größerer Schaden ergeben könnte. Für den Ruf dieser und voriger Regierungen. Für den des MI5. Schaden, der in keinem Verhältnis zu den möglichen Vorteilen steht.»
«Wir müssen der Untersuchung freie Hand lassen.»
«Natürlich. Lassen Sie mich Ihnen dennoch unsere anfänglichen Bedenken in Erinnerung rufen, hinsichtlich der Auswahl des Vorsitzenden, diverser Anwälte und der Hast, mit der die Untersuchung eingeleitet wurde.»
«Der Premier wünscht ausdrücklich eine schnelle, rückhaltlose Aufklärung, unter angemessener Beteiligung der Familien. Das unterstütze ich aus tiefster Überzeugung. Das wurde doch schon x-mal vorher so gemacht. Auch wenn Ihr Verein noch nie so im Rampenlicht gestanden hat.»
«Zweifellos. Allerdings war die Ernennung eines Vorsitzenden, der sich sowohl als Anwalt wie auch als Richter offen feindselig gegenüber Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden gezeigt hat, ein Garant für Schwierigkeiten.»
«Denen Sie und Ihre Kollegen sich jetzt eben stellen müssen.»
«Selbstverständlich. Aber es ist doch bedenklich, wenn ein Anwalt sich derart in Zeugen verbeißt.»
«Jetzt übertreiben Sie mal nicht, Stuart. Das ist ja kein Gericht. Da muss man schon ein wenig Spielraum zugestehen, besonders wenn die Öffentlichkeit sehen soll, dass wir die Vertreter der Opfer kritisch nachbohren lassen. Die ganze Sache ist emotional recht aufgeladen, wissen Sie.»
«Ja», sagte Stuart. «Noch Kaffee?»
«Nein, danke.»
«Dann gibt es also keine Möglichkeit, die Untersuchung wieder in die Spur zu bringen? Wie Sie wissen, sind wir nur zu gern bereit, echte Verbesserungsmaßnahmen umzusetzen, wie immer die auch aussehen. Aber es kann doch niemandem nutzen, wenn unsere Leute so durch den Schmutz gezogen werden.»
«Was glauben Sie denn? Selbst wenn wir uns Sorgen machen würden – was wir nicht tun, nicht im Geringsten –, könnten wir uns nicht einmischen. Der Vorsitzende lässt sich nicht reinreden und würde eher allergisch auf Einflüsterungen reagieren. Wir stehen voll und ganz hinter der Untersuchung, und das sollten Sie ebenfalls.»
«Tue ich auch. Andere sind allerdings in Sorge.»
«Andere?»
«Ja. Ich tanze hier gewissermaßen auf dem Drahtseil.»
«Tun wir das nicht alle? Ihre Behörde hat die Untersuchung in einer öffentlichen Stellungnahme begrüßt und hundertprozentige Unterstützung zugesagt. Ich kann nicht glauben, dass der Direktor dagegen sein soll. Falls irgendwelche Ihrer Kollegen in den Fleischwolf geraten, müssen die eben die Zähne zusammenbeißen. Ich nehme an, Sie haben Vorbereitungen für Ihre Zeugen getroffen, falls die Sache schiefgeht?»
Meine Güte. Das war wohl kaum der rechte Moment, um beiläufig zu erwähnen, dass gerade ein neuer Einsatz in die heiße Phase ging, unter Leitung desselben zuständigen Beamten. Elegant mal eben so dazwischenschieben ließ sich das jedenfalls nicht.
«Ja. Falls nötig haben sie alle eigene Anwälte. Einerseits macht das die Sache schwieriger, andererseits könnte man im Zweifel leichter getrennte Wege gehen.»
«Ich bin froh, dass Sie dieses Meeting organisiert haben, Stuart. So können wir offen miteinander sprechen.»
«Ja.»
«Sie gehen offenbar davon aus, dass wir auf Ihrer Seite sind. Dass ich auf Ihrer Seite bin. Aber täuschen Sie sich nicht: Falls nötig, werden wir über Sie hinwegwalzen. Die alten Regeln gelten nicht mehr. Es ist durchaus vorstellbar, dass wir einfach alles in Stücke hauen und von vorne anfangen, mit … verlässlicherer Führung. Sie sind alles andere als unantastbar, weder individuell noch als Behörde. Das ist nichts Persönliches und bleibt uns hoffentlich erspart. Aber so ist die Welt heute nun mal. Wenn etwas schiefgeht, findet sich ein Sündenbock. Immer. Man muss nur richtig suchen. Gut möglich, dass diesmal Ihr Verein an der Reihe ist.»
In allen Städten gibt es zahlreiche geheime Orte. Selbst wenn die Behörden glauben, sie hätten alles im Blick. Dort unten, wo Chaos, Hitze, Bomben und Kugelhagel die Leute aus ihren Häusern getrieben hatten, war es leicht gewesen, eine stille, dunkle Ecke zu finden – ein Keller vielleicht, ein verlassenes Haus, die oberen Stockwerke ausgebombt und ohne Dach, ein verrammelter Laden, dessen Rollgitter jemand mit dem Dosenöffner aufgeschnitten hatte. Dort waren sie Könige gewesen, mit ihren Säbeln, Halstüchern, MGs und Patronengurten, konnten nach Herzenslust herumstolzieren und Befehle brüllen. Der Staat waren sie selbst gewesen. Jeder hatte seine Kriegerqualitäten an irgendeinem Ungläubigen unter Beweis gestellt. Von denen gab es mehr als genug, und wenn man es einmal getan hatte, wurde es zur Sucht.
Hier, in Adnans trostloser, schmutziger nordenglischer Geburtsstadt, gab es solche Orte natürlich auch. Lachhaft, ihn und seine Brüder überwachen zu wollen. Sie waren unsichtbar und unbesiegbar. Erst wenn die Zeit reif war, würden sie sich zeigen. Diese Leute hatten nicht einmal das Land unter Kontrolle, das angeblich das ihre war. Dort unten, da kannten seine Leute jeden Zentimeter, jede Mauernische. Sie allein wussten um all die geheimen Orte, und einfach nur zum Spaß stöberten sie Feinde und Verschwörer auf. Sie tanzten voll rechtschaffener, freudiger Inbrunst, wenn sie die Verbrecher ins Lager gebracht hatten – mit dem uralten, staubigen Mercedes, in dem die Ungläubigen eingezwängt zwischen zwei Brüdern durchgeschaukelt wurden und erste Blutstropfen auf die Messer an ihren Kehlen vergossen. Ein Riesenspaß war das gewesen. Dann der Hof und das Unvermeidliche. Kinderspiel. Diese Leute hier, die kamen da nicht ran, konnten dem niemals das Wasser reichen, und deshalb würden sie besiegt werden. Echte Hingebung war nötig, die Preisgabe eines Lebens in einem Wimpernschlag, ohne Vorbehalt.
Er war unterwegs zu dem Ort, den sie als den geheimsten von allen ansahen, noch geheimer als der private Gebetsraum, den sie einmal benutzt hatten. Nur er wusste, dass es einen noch geheimeren gab, an dem man ihnen ihr Schicksal offenbaren würde. Einen geheimen und heiligen Ort. Nicht einmal er wusste, wo er war.
Immer noch strömte der Regen vom Nachthimmel, und er zog den Kragen weiter hoch. Seine Haare waren klitschnass, von seiner Nase tropfte Wasser. Aber das Wetter war egal. Es war fast Zeit. Den Weg war er im Kopf durchgegangen, was aber kaum nötig war; er kannte seine Stadt.
Sie alle waren in der Kunst ausgebildet worden, etwaige Verfolger abzuschütteln. Auch vieles andere hatten sie gelernt. Bilal und er kannten sich schon seit ihrer Kindheit, sie hatten gegenüber voneinander gewohnt und zusammen Fußball gespielt, waren auf dieselben Partys gegangen. Gute Freunde waren sie nicht gewesen, nicht vor ihrem gemeinsamen Flug in die Türkei. Dass sie im selben Flugzeug saßen, hatten sie vorher nicht gewusst, sie trafen sich erst am Flughafen in Istanbul. Natürlich hatte er Bilal schon beim Check-in bemerkt, ihn aber vor der Ankunft wohlweislich nicht angesprochen. Offenbar hatte Bilal denselben Gedanken gehabt, und sie stellten sich erst an der Gepäckausgabe nebeneinander. Koffer hatten sie nicht; man hatte sie aber angewiesen, nicht als Erste durch die Passkontrolle zu gehen, sondern sich an eine Gruppe von vier oder fünf anderen zu hängen. Sie sprachen leise miteinander. Damals genügte das noch als Vorsichtsmaßnahme. Seit ihrer Rückkehr hatten sie – von diesen Treffen einmal abgesehen – nicht ein einziges Wort miteinander gewechselt.
Die anderen beiden hatten sie dort unten zum ersten Mal gesehen. Sie alle hatten Seite an Seite gekämpft und sich aufeinander verlassen. So prägte einen der Kampf für die Sache, man verließ sich ausschließlich und unwiderruflich auf seine Brüder. Allerdings durfte man nicht zu vertraut werden. Die Lebenserwartung war gering – für Freiwillige aus dem Ausland lag sie deutlich unter einem Jahr –, und man musste akzeptieren, dass der Bruder neben einem jederzeit fallen konnte. Adnan, Bilal und die anderen beiden hatten Glück gehabt. Mehrere Jungs aus ihrer Stadt lagen dort nun unbestattet unter Staub und Trümmern, und ihre Leichen verwesten in der Hitze.
Schon vor ihrer Rückkehr hatten sie ihr Wiedersehen geplant. Den Ort hatte man ihnen vorgegeben. Sie sollten sich nicht miteinander sehen lassen – selbst Bilal und er hatten allem äußeren Anschein nach getrennte Freundeskreise –,
Stopp. In den Hauseingang. Er blickte zurück, hörte seine Atmung. Niemand. Weiter, Mann! Noch schneller; fast wie dort unten, wo er sich wirklich zu Hause gefühlt hatte, obgleich er hier geboren wurde. Fast wie dort, abgesehen vom Regen und von der Kälte. Man konnte seinen Beitrag auch anders leisten. Anders, als von Angesicht zu Angesicht zu töten. Anders als im offenen Gefecht. Sein großer Tag würde bald kommen. Ihr großer Tag.
Durch den langen, engen Flur in das fensterlose Zimmer mit den weißen Wänden. Es gab Strom, Heizung und fließend Wasser. Vor allem aber gab es Internet, wie von Zauberhand hierhergeleitet.