image

MARTIN WEHRLE

DIE
RATTE

KRIMINALROMAN

image

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr.
Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Die Zitate im Innenteil des Buches stammen aus Songtexten von Heinz Rudolf Kunze.
Genauere Angaben dazu am Ende des Bandes.

1. Auflage 2019

Copyright © 2019 by Martin Wehrle

Copyright deutsche Erstausgabe © 2019 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Lektorat: Anja Freckmann

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro, Balance

Umschlaggestaltung: © BÜRO JORGE SCHMIDT, München

Umschlagmotiv: © plainpicture / Goto-Foto / Neville Mountford-Hoare

ISBN:978-3-7109-0054-9

eISBN:978-3-7109-5069-8

Inhalt

ERSTE MÄRZWOCHE

DRITTE APRILWOCHE

Gegendarstellung

Hotel für jedermann: Obdachlosigkeit beruht auf Freiwilligkeit

ERSTE MAIWOCHE

Der Stadtstreicher besucht Sie jeden Morgen!

ZWEITE MAIWOCHE

DRITTE MAIWOCHE

Redakteurin dreht durch: Diebstahl, Körperverletzung, Treibjagd auf Jugendliche!

VIERTE MAIWOCHE

ERSTE JUNIWOCHE

ZWEITE JUNIWOCHE

DRITTE JUNIWOCHE

VIERTE JUNIWOCHE

ERSTE JULIWOCHE

ZWEITE JULIWOCHE

DRITTE JULIWOCHE

VIERTE JULIWOCHE

»Ich muss es wissen: Wo war der Junge?«

»Er hat Indianer gespielt.«

»Ich habe dich gefragt, wo er war!«

»Er ist doch noch ein Kind.«

»Hat er Ohren, oder hat er keine?«

»Er ist erst sechs Jahre alt!«

»Wenn er nichts gehört hat, warum weint er dann?«

»Vielleicht ist er hingefallen.«

»Warum läuft er weg vor mir?«

»Kinder sind eben manchmal komisch.«

»Warum schaut er mich an, als wäre ich ein …«

»Sag es nicht schon wieder!«

»Ich glaube, er war hier im Gebüsch, direkt hinter der Hollywoodschaukel.«

»Er hat nicht verstanden, was du erzählt hast.«

»Du gibst zu, dass er im Gebüsch war!«

»Du hättest es nicht erzählen sollen.«

»Musste er denn lauschen?«

»Beruhige dich doch endlich. Du siehst Gespenster!«

»Ich sehe Tatsachen!«

»Er ist ein Kind.«

»Jetzt ist er ein Zeuge!«

ERSTE MÄRZWOCHE

Reinstadt, 2. März
Aufmacher Tagesbote: »Nahverkehr immer bequemer: Endlich wieder Sitzplätze im Bus!«

Iris hatte mich missverstanden, das merkte ich sofort, als sie mein Büro betrat. Sie rauschte auf mich zu, strahlend und mit diesem wissenden Gesichtsausdruck, den sie aufsetzte, wenn sie in meinen Kopf zu schauen glaubte.

»Gratuliere, Prinzessin!«, rief sie. »Jetzt schießt du ihn endlich ab, stimmt’s?«

Ich saß starr hinter meinem Schreibtisch und quetschte in meiner Faust den Kugelschreiber, mit dem ich das Dokument unterschrieben hatte. Mein Hals war so eng, dass ich kaum Luft bekam. Aus dem Augenwinkel linste ich auf meine Digitaluhr am Handgelenk. Achtundfünfzig Sekunden waren vergangen, seit ich Iris angerufen und zu einem »ernsten Gespräch« gebeten hatte.

Mit federndem Gang, ich zählte acht Schritte, durchmaß sie den Raum und umkurvte meinen Schreibtisch. Kaum war ich aufgesprungen, um sie abzuwehren, hatte sie mich schon in den Arm genommen. Steif wie eine Litfaßsäule stand ich da, während sie mich zärtlich drückte.

Mir wurde klar, dass ich einen Fehler begangen hatte. Ich hätte ihr am Telefon sagen müssen, dass die »ernste« Angelegenheit dienstlicher Natur war. Meine Finger pressten sich noch fester um den Kugelschreiber.

»Wir sollten an den Konferenztisch gehen«, sagte ich und schaute auf meine Uhr. Solange ich die Sekunden im Blick behielt, fühlte sich die Welt geordnet an, Zahl folgte auf Zahl, Sekunde auf Sekunde, auch wenn sich alles in mir überschlug.

Iris ließ sich auf einen Stuhl am Konferenztisch plumpsen. Ihr Modeschmuck am Armgelenk klimperte, und sie wischte sich eine lange Strähne ihres dunklen, zum Pagenkopf geschnittenen Haares von der Nasenwurzel hinters Ohr. »Stimmt’s, Prinzessin, du lässt dich scheiden von dem Scheißkerl? Endlich!«

Mit Scheißkerl war Heiko gemeint, mein getrennt lebender Ehemann, er arbeitete als Polizist und hatte sich bislang mit allen Mitteln gegen eine Scheidung gewehrt. Ich schüttelte den Kopf. »Iris, es geht nicht um mich, es geht um eine dienstliche Angelegenheit.«

Von einer Sekunde auf die nächste verdunkelte sich ihr Blick. Kampfbereit schnellte sie nach vorne. »Vergiss es, Susanne! Ich werde mich nicht bei Gleim entschuldigen. Ich weiß schon, pfui Teufel, wie eklig von mir, was Positives über versiffte Obdachlose zu schreiben! Von mir wird’s keine Gegendarstellung geben!«

»Es geht im Moment nicht darum, was der Verleger zu deiner Reportage gesagt hat, es geht um …«

»Ich bitte dich! Der verflixte Gleim hat doch ’ne Meise hoch zehn. Der dreht schon am Rad, wenn er mit einer Fliege in einem Raum sein muss. Luftverschmutzung! Ansteckungsgefahr! Großalarm! Weißt du noch, wie er die Redaktionskonferenz gecancelt hat, nur weil eine Schmeißfliege immer wieder in seine Richtung geflogen ist? Die wissen halt, wie Scheiße riecht.«

Sie stieß ihr brodelndes Lachen aus, ich zählte sechs hohe Laute in Zweiersalven. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, meine Botschaft loszuwerden, aber sie redete einfach weiter. »Für den Gleim sind Obdachlose doch nur menschlicher Müll. Weg mit den Stinkern! Aber wir sind eine Zeitung, verflixt noch mal. Wir schreiben, wie die Welt ist: wie elend, wie verlogen, wie stinkend, wie …«

»Iris«, fiel ich ihr ins Wort. »Du hast ganz recht, Herr Gleim hat sich über deinen Artikel beschwert. Und wir sind gezwungen, eine Gegendarstellung der Stadtverwaltung abzudrucken. Aber heute geht es nicht um den Artikel. Es geht um dich, persönlich.«

»Persönlich?« Sie zuckte ein Stück zurück, und ihre Augen verengten sich zu Schießscharten. »Jetzt sag bloß nicht, dass du mich rauswerfen willst.« Sie schob ein Lachen nach, das aufgesetzt klang.

»Ich will dich nicht entlassen«, begann ich und merkte, wie mein Hals dichtmachte.

»Und ich dachte schon, ich werde die dritte Kerbe in deinem Colt.« Sie klang erleichtert, und mein Hals fühlte sich endgültig wie zugeschnürt an. Ich musste schlucken.

»Iris«, nahm ich wieder Anlauf, »ich will dich nicht entlassen – aber ich muss

Endlich war es raus! Ich hatte schon befürchtet, an dem Satz zu ersticken.

Iris öffnete den Mund ganz langsam, gerade so weit, dass man ein Radiergummi hätte hineinschieben können. Ich hörte kein Atmen mehr, es war völlig still im Raum. Ihre Augäpfel machten sich auf unheimliche Weise selbstständig, flogen wie nervöse Insekten von einer Seite zur anderen – als suchte sie einen Fixpunkt im Raum, wo in dicken Lettern eine Erklärung für das stand, was ihr gerade zustieß.

Dann saugte sie tief Luft ein. Ihre wild gewordenen Pupillen sahen auf einmal wässrig verschleiert aus. Dann nahmen sie mich ins Visier. »Susanne, du bist meine beste Freundin!«

»Ich bin als Ressortleiterin auch deine Vorgesetzte«, antwortete ich und musste mich anstrengen, dass meine Stimme nicht zitterte.

»Wir kennen uns seit einer Ewigkeit. Du kannst mich nicht einfach vor die Tür setzen wie einen verflixten Stapel Altpapier.«

Es stimmte, wir waren schon lange befreundet. Und genau genommen war sie nicht nur meine beste, sondern meine einzige Freundin. Mit Anfang zwanzig hatten wir uns in Hamburg auf der Journalistenschule kennengelernt, eine Wohngemeinschaft gegründet und abends oft zusammen am Elbufer bei Blankenese gehockt und Wein aus der Flasche getrunken. Und egal ob eine von uns in der Liebe einen Höhenflug oder eine Bruchlandung erlebte, immer war die andere mit von der Partie, freute sich mit, litt mit und wusste Bescheid.

Nach dem Studium war ich in Hamburg geblieben, ich hatte als Redakteurin bei einem angesagten Magazin angefangen, und sie war in die Provinz gegangen, wo sie nacheinander bei verschiedenen Regionalzeitungen arbeitete. Vor drei Jahren, fünf Tage vor meinem neununddreißigsten Geburtstag und am vorläufigen Ende meiner Karriere, war ich auf ihre Empfehlung als Leiterin des Lokalressorts zum Tagesboten nach Reinstadt gekommen. Ich war die erste Ressortleiterin überhaupt, ansonsten regierten Männer das Blatt.

Ich beugte mich ein Stück zu ihr vor. »Iris, Gleim hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Die Zeitung steht am Rande des Ruins, wir müssen sparen. Die anderen Kollegen haben Kinder und Familie. Die Sozialauswahl hat dich getroffen. Er wollte das so.«

Iris zog ein angeekeltes Gesicht, und eine ihrer dunklen Haarsträhnen rutschte ihr wieder auf die Nasenwurzel. »Du schießt deine eigene Freundin ab, nur weil es ein Affe im Sakko von dir verlangt? Und dir ist völlig wurscht, ob das richtig ist oder nicht?«

»Hätte ich denn sagen sollen: ›Iris ist unkündbar, denn sie ist meine Freundin!‹ Damit hätte ich mich als Führungskraft ja wohl total disqualifiziert.«

Sie wischte sich die Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ach, daher weht der Wind! Seit ich dich kenne, bist du scharf darauf, Chefredakteurin zu werden. Und am Jahresende hebt Rainer Mehl seinen fetten Arsch vom Chefsessel. Mit meiner Entlassung willst du dich also für den Job empfehlen.«

Es kostete mich einige Anstrengung, mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. »Ich empfehle mich durch journalistische Arbeit für den Job.«

»Du hast jetzt drei Leute rausgeworfen! Wenn das journalistische Arbeit ist, dann ist Atombombenwerfen der reinste Pazifismus. Was hätte wohl dein Vater dazu gesagt?«

Dass sie ihn erwähnte, versetzte mir einen Stich. Ich hatte ihn über alles geliebt. Seit er gestorben war, als gebrochener Mann, lag ein Schatten über meinem Leben. »Und woran ist mein Vater kaputtgegangen? An seiner sozialen Ader! Er war zu weich für diese Welt.«

»Diesen Vorwurf kann dir jedenfalls keiner machen. Aber ich wette meinen Arsch darauf, dass die Kollegen den Aufstand proben. Jeder weiß doch, er kann der Nächste sein. Du wirst verflixten Ärger kriegen. Überleg es dir gut!«

»Iris, es bleibt dabei: Wir können deinen Arbeitsplatz nicht länger erhalten.«

Die Spannung wich aus ihrem Körper, sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Ich stand auf, um zu signalisieren, dass unser Gespräch vorbei war. Sie folgte meinem Beispiel und wandte sich zum Gehen.

»Halt«, rief ich. »Du musst noch deine … ähm, diesen Brief mitnehmen.« Sie trat an meinen Schreibtisch und nahm die Kündigung. Ihr Pagenschnitt ragte leicht über das Kinn hinaus und sah jetzt aus wie ein leicht verrutschter Helm. Mit mechanischem Gang schleppte sie sich zur Tür, diesmal waren es vierzehn Schritte.

Ich schaute auf die Uhr. Sechs Minuten und dreiundzwanzig Sekunden waren seit meinem Anruf vergangen. Meine Finger waren taub und weiß. Ach ja, der Kugelschreiber. Ich ließ ihn los.

Ich hoffte, er würde nicht in seinem Büro sein. Ich hatte Angst vor ihm. Angst, dass er mir wieder zu nahekam. Angst, dass er seine ekligen Geräusche ausstieß. Angst, dass er wieder über mich herfiel, so wie damals. Ich war fünfzehn Jahre alt gewesen und wäre fast verblutet, damals im Wald. Seit dieser Zeit tat ich keinen Schritt mehr ohne mein Pfefferspray in der Handtasche, nicht einmal bei der Arbeit.

Es dauerte achtundsechzig Sekunden, bis ich in den dritten Stock hinaufgestiegen war. Durch die Glasfront im Flur fiel winterlich-schmutziges Licht, schwarze Wolken wucherten am Himmel und senkten sich immer tiefer auf die Stadt. Der Wetterbericht hatte für Anfang März noch mal einen Schneesturm versprochen, und er schien Wort zu halten. Die beiden Birken drüben vorm Rathaus schwankten wie Schiffsmasten auf hoher See. Die Passanten auf dem Gehsteig gingen gebeugt, als wollten sie unter dem Wind hindurchschlüpfen.

Ich warf einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild im Fenster, der dunkelgraue Hosenanzug unterstrich mein geschäftsmäßiges Auftreten und neutralisierte die fraulichen Formen meines schlanken Körpers, für den ich mir dreimal die Woche meine Seele aus dem Hals joggte. Mein hochgestecktes Haar ließ mich größer, strenger und weniger engelsblond als sonst erscheinen. Ganz im Sinne der Erfinderin.

Das Büro von Hans-Otto Gleim hatte eine tote Tür, die sich nur von innen öffnen ließ. Ich musste das Vorzimmer überwinden, genauer: seine Sekretärin »Grisu«. Sie war kein kleiner Drache, wie der Spitzname vermuten ließ, sondern ein ausgesprochen großer. Frau Ziepert war rothaarig, 1,60 Meter und zierlich, aber führte sich auf wie ein zwei Meter großes Muskelpaket an der Tür einer Edeldisco. Wer zu ihrem Chef wollte, wurde als potenzieller Zeitdieb gefilzt.

Ich hatte Glück, Grisu war ausgeflogen. Ich huschte vorbei an der weinroten Ledergarnitur und an sechs großen Zeitungskollagen an der Wand, die bis Adenauer zurückreichten und Gleim eine lange Tradition andichten sollten. Dabei hatte er den Verlag erst vor neun Jahren von seinem Vater übernommen, da war er schon über fünfzig gewesen.

Heinrich Gleim hatte seine Firma bis ins siebenundachtzigste Lebensjahr geführt. Erst als seine Demenz so schlimm geworden war, dass er sich ein Farbband aus seiner Schreibmaschine wie einen schwarz-roten Schal um den Hals gewickelt hatte und bald darauf starb, war sein Sohn ans Ruder gekommen. Der hatte die Schreibmaschine im Sperrmüll entsorgt. Nur eine kostbare Münzsammlung in einer Vitrine des Chefbüros wies noch auf den Altverleger hin.

Heinrich Gleim hatte seinen ältesten Sohn für einen Hallodri gehalten, der sich als Berufssoldat zwar knapp über Wasser hielt, aber ein Leben weit unter dem Niveau der Familie führte. Eigentlich hätte Friedemann den Verlag übernehmen sollen, der fünf Jahre jüngere Bruder von Hans-Otto. Schon mit neunundzwanzig hatte er in Jura promoviert. Er saß im Stadtrat, wirkte magisch auf Menschen und konnte mit einem Händedruck mehr erreichen als andere mit langen Reden. Deshalb hatte man ihn in Reinstadt auch den Kleinen Kennedy genannt. Diesem Spitznamen wurde er auf unheimliche Weise gerecht: Mit Anfang dreißig war er bei einem tragischen Verkehrsunfall in der Steigenhof-Kurve ums Leben gekommen.

Vor der Cheftür drückte ich meine Handtasche mit dem Pfefferspray fest an mich. Würde er schon auf mich lauern? Ich atmete tief durch. Von drin hörte ich ein gepresstes Stöhnen: »Oah, oah, oah.« Ich ahnte, was der Chef da trieb, aber davon ließ ich mich nicht abhalten.

Ich klopfte an. Aus dem Raum drang ein metallischer Schlag. »Heiliger Strohsack, Frau Ziepert, ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will!«

Langsam schob ich die Tür auf. Ein beißender Geruch nach Männerschweiß stieg mir in die Nase, ich musste an die Turnhalle meiner alten Schule denken. Mein Blick wanderte über den edlen Teppich des weitläufigen Büros, um die Gefahr zu orten.

Hans-Otto Gleim lag neben seinem Schreibtisch auf dem Rücken, die dicken Beine angewinkelt, den Kopf ein winziges Stück gehoben. Sein Jackett hing über dem Schreibtischstuhl, sein kariertes Hemd war bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt.

»Frau Mikula, reinspaziert! Reitende Boten von der Front stören nie. Wie ist Ihr Gefecht gelaufen? Treffer versenkt?«

Er machte keine Anstalten, zur Begrüßung aufzustehen. Ich ging auf ihn zu, sechzehn Schritte, und schaute zu ihm runter. Sein kahler Schädel spiegelte das Licht der Deckenscheinwerfer, sein Doppelkinn sah aus wie eine geballte Faust, die unter dem Kiefer hervorwuchs. Ihn von oben zu betrachten fühlte sich seltsam an. Heute Morgen hatte ich Sebastian so im Bett gesehen, er hatte den Wecker überhört, um bloß nicht pünktlich in der Schule zu erscheinen.

»Ich kann mir schönere Aufgaben vorstellen, als meine beste Freundin vor die Tür zu setzen. Aber ich hab’s gemacht.«

Gleim nickte anerkennend. »Hut ab, Frau Mikula! Unsere Führungsetage ist voll mit Weicheiern. Sie wissen jedenfalls, wie man scharf schießt. Aus Ihnen wird noch mal was.«

Er griff zu einem schneeweißen Handtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Aber eines müssen Sie mir jetzt unbedingt noch verraten: Warum haben Sie ausgerechnet Ihre Freundin für die Entlassung vorgeschlagen?«

Was sollte ich ihm antworten? Dass es der einzige Weg war, ihm zu beweisen, dass meine Ellbogen hart genug waren, dass ich auch vor solchen Aufgaben nicht zurückschreckte? Um es mir selbst zu beweisen, seit ich mir nach meiner schweren Niederlage damals in Hamburg geschworen hatte, nicht mehr den Kürzeren zu ziehen? Oder opferte ich Iris, um selbst keinen Schaden zu nehmen? Immerhin hatte ich ihre Reportage über die Obdachlosen durchgewinkt und damit Bürgermeister Volker Kleinjohann, einen alten Spezi des Verlegers, schwer erzürnt.

»Ich habe Iris gewählt, weil ich Ihnen nicht den bequemsten, sondern den besten Vorschlag machen wollte«, hörte ich mich antworten. »Sentimentalität hat im Geschäftsleben nichts verloren. Wo gekegelt wird, fallen nun mal Hütchen.«

Mir blieb der Atem weg. Hatte ich das mit den Hütchen wirklich gesagt? Mein Gott, wenn Iris das gehört hätte!

Gleim lachte herzhaft: »Sie gefallen mir immer besser, Frau Mikula! Mit Ihnen kann man Schlachten gewinnen.«

Diese Militärsprache war typisch für ihn. Wahrscheinlich trug er zu Hause lieber seine alte Offiziersuniform statt der englischen Sakkos, in denen er hier im Verlag immer herumstolzierte.

»Ich glaube, jetzt haben wir die richtige Personalstärke«, sagte ich vorsichtig. »Wenn wir noch mehr kürzen, bluten wir aus.«

Er schüttelte den Kopf: »Man kann mit einer kleinen Truppenstärke verdammt viel erreichen. Rommel hat es doch vorgemacht, dort unten in Afrika.«

»Wir sind in Reinstadt«, erinnerte ich ihn. »95 126 Einwohner, mitten in Deutschland, nicht mitten in Afrika und nicht mitten im Krieg.«

»Das ganze Leben ist ein Krieg, Frau Mikula. ›Krieg‹ kommt von ›kriegen‹. Wenn Sie was erreichen wollen, müssen Sie marschieren und kämpfen. Ohne Rücksicht auf andere.«

Er war bekannt für seine harten Bandagen. Sogar mit Jan, seinem einzigen Kind, hatte er sich pünktlich zu dessen Abitur so überworfen, dass der seit über einem Jahrzehnt keinen Fuß mehr in diese Stadt gesetzt hatte.

Gleim ließ seinen Kopf auf die gepolsterte Ablage sinken, und seine Stimme klang auf einmal weicher: »Unser Verlag ist ein kranker Mann. Die Anzeigenkunden desertieren scharenweise, die Abozahlen rauschen in den Keller, und das Internet wirft keinen Cent ab. Wir müssen sparen, sonst kriegen wir die Kurve nicht – sehen Sie, da ist es wieder: ›kriegen‹ wie ›Krieg‹.«

»Ich habe doch schon drei Mitarbeiter freigestellt«, sagte ich.

»Eins«, sagte er und drückte seine Langhantel nach oben. Sein fülliges Gesicht verzerrt sich, ein Stöhnen entfuhr seinem Mund. »Zwei«, keuchte er, stemmte das Gewicht erneut und wiederholte das Spiel: »Drei«.

»Und wie soll’s jetzt weitergehen?«, fragte ich.

Er holte tief Luft und drückte die Langhantel erneut nach oben: »Vier!«

Ich glaubte, seine Botschaft zu verstehen. Und sie gefiel mir nicht. »Sie haben mir versprochen, dass die dritte Entlassung die letzte ist.«

»Und ich habe mir versprochen, dass heute die Sonne scheint«, sagte er. »Aber das Wetter richtet sich nicht nach mir – ich muss mich nach dem Wetter richten.«

Ich schaute aus dem Fenster. Viel zu früh war die Dämmerung vom Himmel gefallen. Der Wind hatte weiter aufgedreht, rüttelte an den Scheiben und peitschte Schnee durch die Luft.

Ich spürte, dass es klug gewesen wäre, ihm jetzt volle Unterstützung zu versichern. Aber vor meinem inneren Auge sah ich die Gesichter meiner Redakteure. Welcher Kopf sollte als nächster rollen?

Gleim schien meine Gedanken zu erraten. »Heiliger Strohsack, Frau Mikula, wir handeln doch im Sinne der Mitarbeiter! Wir sind Ärzte in einem Lazarett. Sollen wir den Patienten verrecken lassen, nur weil ein Glied entzündet ist? Oder amputieren wir, um den ganzen Körper zu retten?«

Der Wind schleuderte eine Portion Hagelkörner ans Fenster. Das Prasseln tat weh in meinen Ohren. »Da bin ich ganz bei Ihnen«, behauptete ich. »Aber Entlassungen im Tagesrhythmus sind eine ganz schlechte Motivation für die verbleibenden Redakteure.«

Er nickte grinsend. »Warten Sie ein paar Wochen, dann herrscht wieder Ruhe an der Front. Dann können Sie das Feuer neu eröffnen.«

Er begann, die Langhantel wieder zu stemmen. Damit war unser Termin beendet. Der dicke Teppich schluckte meine Schritte. Als ich schon fast an der Tür war, rief Gleim: »Ach ja, eines noch: Wenn Sie so weitermachen, sind Sie eine ganz heiße Anwärterin für die oberste Redaktions-Heeresleitung.«

Der Chefredakteursposten. Dafür tat ich das hier schließlich alles. Ich hätte jubeln können, bemühte mich aber um einen routinierten Tonfall: »Vielen Dank, Herr Gleim.«

»Und Ihr ekliges Hobby soll dabei kein Hindernis sein.«

Er konnte es nicht lassen, mich damit aufzuziehen, dass ich in meiner Freizeit gerne Angeln ging. Schon als kleines Mädchen war ich mit meinem Vater draußen gewesen. Es beruhigte mich, am Wasser zu sitzen, immer noch. Für Gleim dagegen eine Beschäftigung des Grauens.

»Es ist gar nicht so eklig, wenn man sich daran gewöhnt hat«, antwortete ich. »Außerdem angelt man nicht alle Fische mit Maden …«

Er stieß einen durchdringenden Laut aus. Seine Insektenphobie war legendär. Immer wieder musste Frau Ziepert in seinem Büro als Kammerjägerin anrücken, um sein Leben zu retten vor Marienkäfern, Motten oder ähnlichen Ungeheuern, die durchs offene Fenster eingefallen waren. Eine Schwäche, über die die Kollegen hinter seinem Rücken nicht selten herzogen.

»Kein Wort mehr von dem Ekelzeug«, rief er und schüttelte sich. »Und jetzt: Abmarsch!«

Erst draußen wurde mir klar, welches Glück ich gehabt hatte: Gleim war allein in seinem Büro gewesen. Ohne die Bestie.

image

»Eine Fahrkarte bitte.«

»Macht sechs Euro.«

»Ich will nicht den ganzen Bus kaufen, junger Mann – nur eine einfache Fahrt.«

»Macht sechs Euro.«

»Aber beim letzten Mal habe ich noch zwei Euro bezahlt.«

»Dann sind Sie wohl schon länger nicht mehr Bus gefahren!«

»Der Preis kann sich doch nicht in ein paar Monaten verdreifacht haben!«

»Ich habe gesagt: sechs Euro.«

»Sind die Benzinkosten denn so gestiegen?«

»Ich bin kein Tankwart, sondern Busfahrer.«

»Hat sich Ihr Gehalt denn verdreifacht?«

»Scheich bin ich auch nicht, nur Busfahrer.«

»Warum dann dieser Preis?«

»Ich schließe gleich die Tür. Wollen Sie nun mit oder nicht?«

»Ich habe nur fünf Euro dabei.«

»Dann treten Sie bitte zurück!«

image

Ich schlug ihm mit einem Kantholz auf den Kopf, einmal, zweimal, dreimal. Das Krachen der Schläge hallte gespenstisch über den See. Ich war gründlich bei allem, was ich tat, auch beim Töten. Ich zielte auf den Hinterkopf und schlug mit voller Wucht zu, das hatte ich von meinem Vater gelernt.

Der Körper vor mir im Schnee zuckte ein letztes Mal, bevor er erschlaffte. Blut sickerte vom Kopf in den Schnee, bildete einen roten Kreis auf weißem Grund. Sorgsam wusch ich das Holz im eiskalten Wasser ab und rieb meine Hände mit einem Handtuch sauber. Ich spürte eine tiefe Zufriedenheit in mir aufsteigen. Dieser Morgen lief gut.

Mein Vater wäre stolz auf mich gewesen. Früher war mir das Töten nie gelungen. Dabei hatte er es mir wieder und wieder vorgemacht. »Das ist der Lauf der Natur«, hatte er gesagt. »Der Starke frisst den Schwachen.« Mittlerweile war er selbst gefressen worden, dieser Narr.

Vielleicht tat ich, was er immer getan hatte, um ihm nahe zu sein. So wie andere im Fotoalbum blätterten, besuchte ich seinen liebsten Ort, den See. Dann spürte ich ihn an meiner Seite. Nie hätte ich es übers Herz gebracht, seine Sachen wegzuwerfen, nicht mal das alte Kantholz.

»Mama, was machst du bloß?«, sagte Sebastian. Mit knirschenden Schritten war er neben mich getreten, angelockt vom Krachen der Schläge. Seine Baseballkappe trug er verkehrt herum, ein paar blonde Strähnen schauten hervor, er wirkte immer noch verschlafen, obwohl wir seit zwei Stunden am Wasser waren. Die Kälte hatte seinen Ohren einen roten Anstrich verpasst.

»Du meinst: Was mach ich bloß besser als du? Ich füttere auf den Punkt. Ich verwende einen leichteren Schwimmer. Und ich konzentriere mich auf meinen Futterplatz, statt um den ganzen See zu wandern.«

Sebastian rollte mit den Augen. »Ich meine: Was machst du bloß für einen Lärm? Du haust auf dieser Regenbogenforelle rum, als wäre sie Moby Dick.« Er schaute auf den schwarz gepunkteten Fisch, der silbrig schimmernd im Schnee lag, mit einem roten Streifen auf der Flanke. Der Blutkreis war jetzt noch größer geworden, ich schätzte seinen Durchmesser auf acht bis neun Zentimeter. Der Köder, eine glasige Fleischmade, war im Maul der Forelle gequollen.

Typisch mein Sohn! Er wünschte mir nicht »Petri Heil« zu meinem Fang, er mäkelte herum.

»Hat dir Opa nicht beigebracht, dass man als Angler seine Fische weidgerecht töten muss? Wenn ich halbherzig zuschlage, muss das Tier lange leiden. Willst du das?«

Sebastian wandte den Blick ab und sah auf den See hinaus, wo gerade ein Schwanenpaar durch den dampfenden Winternebel glitt.

»Lena muss auch leiden«, sagte er. »Und das ist deine Schuld!«

Ging das schon wieder los! Ich war extra vor der Arbeit zum Angeln gefahren, um mich abzulenken, aber mein eigener Sohn brachte das Thema wieder auf.

»Ich habe Lena nichts getan«, sagte ich.

»Du hast ihren Vater entlassen!«

»Er wurde freigestellt.«

»Freigestellt«, äffte er mich nach, riss die Baseballkappe vom Kopf und holte damit aus. »Lena ist voll sauer und will mit mir nichts mehr zu tun haben. Ist doch klar! Soll sie zu Hause etwa sagen: Papa, seine Mutter hat dich zwar rausgeworfen, aber er ist trotzdem ein netter Kerl!«

Wenn er sich aufregte, wurde seine Stimme ganz hoch, fast so, als wäre er noch im Stimmbruch. Was wollte er von mir? Tom Harris war ein Macho, der es verdient hatte, von einer Frau in die Schranken verwiesen zu werden. Daran änderte auch ein Flirt zwischen unseren Kindern nichts. Sein Nachname »Harris« stammte von seinem Vater, einem US-Soldaten, der sich seine Langeweile in Deutschland offenbar mit Frauen vertrieben hatte.

»Sebastian«, antwortete ich, »mein Beruf ist nicht nur, Mitarbeiter einzustellen, sondern auch, sie zu entlassen, wenn das nötig ist.« Das klang immerhin freundlicher als die Formulierung mit den Kegelhütchen.

»Aber du hast doch selbst mal gesagt, dass Lenas Vater dein bester Reporter ist! Er hat damals die Sache mit den Bauplätzen aufgedeckt.«

»Er wurde nicht entlassen, weil er ein schlechter Reporter ist. Er wurde entlassen, weil die Finanzlage schlecht ist. Wir müssen sparen, sonst ist der ganze Verlag futsch. Und übrigens …« – Ich zögerte und suchte nach Worten – »… musste ich gestern auch Iris freistellen.«

»Tante Iris? Du hast Tante Iris gefeuert? Ich glaub, jetzt hakt’s!«

Seit er in die Pubertät gekommen war, vergriff er sich immer öfter im Ton. Aber da ich wusste, wie sehr er an Iris hing, ließ ich mildernde Umstände gelten.

Trotzig starrte er mich an: »Lena hasst mich! Wenn euer Verlag kein Geld mehr hat, dann entlass nicht immer andere, sondern dich selbst!«

»Und wer bezahlt dann deine Sportklamotten? Wer finanziert dein Taschengeld? Und wer tilgt den Kredit für unser Haus? Dein Vater bezahlt nur noch Miete für seine eigene Wohnung.«

Sebastian schleuderte seine Kappe in den Schnee, fast hätte er die Forelle getroffen. »Das ist es doch!«, rief er. »Seit Papa weg ist, knüppelst du auf alle ein. Aber das sind keine Fische, Mama, das sind Menschen.«

Ich spürte, dass meine rechte Hand das dringende Bedürfnis meldete, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Er stand immer noch auf der Seite seines Vaters, trotz allem. Aber ich hatte ihn als Kind nie geschlagen, und ich würde es auch jetzt nicht tun.

»Sebastian, pack dein Zeug, wir fahren.«

Meine Digitaluhr zeigte 8.27 Uhr und 24 Sekunden. Es waren 148 Schritte bis zum Auto, dort wechselte ich meine Kleidung: raus aus den Angelklamotten – rein in den Hosenanzug und den Kaschmirmantel. Der Motor meines Geländewagens heulte auf, im Rückspiegel sah ich schwarzen Dreck in den Schnee spritzen. Damit das Schweigen nicht zu laut wurde, schaltete ich das Radio ein. Am Fenster flog eine Zuckergusslandschaft vorbei, dann waren wir wieder in der Stadt.

Die Schule, ein klotziger Flachbau, lag in einer engen Tempo-30-Zone zwischen Einfamilienhäusern. Ich hielt am Straßenrand. Eine Gruppe Jugendlicher kam uns munter plaudernd durch die verschneite Straße entgegen. Offenbar Mitschüler von Sebastian, er hatte heute die ersten beiden Stunden freigehabt.

»Auch das noch«, murmelte Sebastian – er hatte Lena in der Gruppe entdeckt. Ihr schwarzer Zopf machte beim Gehen kleine Sprünge. Sie war ein hübsches Ding mit hellem Schneewittchenteint, ihre üppigen geschwungenen Lippen verliehen ihr einen leicht schmollenden Grundzug.

Der Blick, den sie uns zuwarf, war kälter als der Schnee. Sie ging in die Hocke und machte eine schnelle Bewegung. Sekunden später knallte etwas gegen unsere Windschutzscheibe, ich zuckte zusammen. Eine kleine Lawine aus Schneekristallen rieselte die Windschutzscheibe hinab.

»Die hat meinen Vater entlassen«, rief Lena. Ein paar Jungen um sie herum verstanden das Kommando und grölten los. Von allen Seiten prasselten Schneebälle auf unsere Scheibe, ich zählte drei, fünf, sieben, neun. Mir war, als ob die Scheibe zitterte.

Sebastian funkelte mir einen bösen Blick zu. »Jetzt siehst du es. Alle hassen mich. Wegen dir!« Er riss die Beifahrertür auf, duckte sich dahinter weg und spurtete auf den Schulhof.

»Jetzt ist die Tür offen!«, hörte ich Lena rufen. Ich beugte mich über den Beifahrersitz, streckte mich, um die Tür schnell zuzuziehen, doch mein Arm war zu kurz. Zwei pubertäre Bengel hatten das Auto schon umrundet und wollten mich nun direkt mit ihren Schneebällen bombardieren.

Da zückte ich mein Handy und tat so, als würde ich filmen. Augenblicklich drehten die Jugendlichen ab, ließen die Schneebälle fallen und verwandelten sich von einer marodierenden Horde in Musterschüler.

»Ich habe alles gefilmt«, rief ich. »Das geht heute noch an den Direktor. Ihr fliegt von der Schule!« Am liebsten hätte ich noch hinzugefügt: »Frag mal deinen Vater, Lena, wie das ist, wenn man rausfliegt!«

Aber das konnte ich mir gerade noch verkneifen. Der Schultag, der vor Sebastian lag, würde schwer genug werden. Und mein Tag in der Redaktion ebenso.

»Was macht das mit Ihnen, dass Sie Mitarbeiter entlassen müssen? Wie gehen Sie mit diesem emotionalen Ausnahmezustand um?« Markus Hanser saß mir schräg gegenüber im Sitzungsraum und tat wieder einmal, was er am besten konnte: in emotionalen Wunden bohren. Er hielt seinen sanften Blick aus den braunen Augen wohl für einen Dosenöffner, mit dem er im Nullkommanichts direkt an mein Innerstes kam. Darin sah er als Business-Coach und gelernter Psychologe seinen Job. Doch ich stand nicht so auf Seelen-Striptease, auch wenn Gleim diese Beratungsgespräche für alle leitenden Redakteure zum Pflichtprogramm erklärt hatte. Was genau ihn dazu bewogen hatte, war mir ein Rätsel, vielleicht wollte er uns so auf Spur halten.

Ich hatte meine Beine überkreuzt. Heimlich schielte ich auf meine Digitaluhr. Fünf Sekunden waren seit der Frage vergangen, sieben Sekunden, zehn Sekunden.

Hanser gab nicht auf, er nickte mir aufmunternd zu. Erst nach 21 Sekunden startete er einen neuen Anlauf. »Mal angenommen, ich könnte einen Menschen befragen, der Ihnen sehr nahesteht, zum Beispiel Ihren Sohn. Was würde er mir sagen, wie es seiner Mutter mit diesen Entlassungen geht?«

»Er würde sagen: ›Ich glaub, jetzt hakt’s!‹«

Hanser glotzte verständnislos. »Und wenn ich ihn bitten würde, diesen Satz näher zu erläutern?«

»Er würde Ihnen seine Baseballkappe vor die Füße schleudern.«

Der Coach schüttelte den Kopf und legte sein Kinn in den Handteller. »Mal angenommen, ein Kamerateam hätte Sie begleitet, als Sie heute Morgen im Großraumbüro die Entlassung von Iris Bader verkündet haben. Was genau wäre auf dem Film zu sehen?«

Das war eine seiner typischen Fragen, sie begannen alle mit »Mal angenommen« und sollten mich zum Sprechen verlocken. Tatsächlich versetzte mich die Frage in den heutigen Morgen zurück. Ich sah, wie ich das Großraumbüro betrat, wie eine Leichenhalle, still und leblos. Als ich »Guten Morgen« sagte, versanken die Köpfe der Redakteure noch etwas tiefer hinter den Bildschirmen. Ich musste die Entlassung vom späten Abend des Vortages nicht mehr verkünden; sie war längst bekannt.

Iris hatte ihren Schreibtisch, sonst eine Trümmerlandschaft, mit einer geradezu provokanten Gründlichkeit geräumt. Zwischen all den mit Papier beladenen Tischen wirkte er nun wie ein nacktes Mahnmal. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch zwölf dunkelrote Rosen, einen Geburtstagsstrauß aus der letzten Woche, den sie auf dem Tisch hatte stehen lassen. Fehlte nur noch, dass jemand eine Kerze anzündete, um an die Verblichene wie an das Opfer eines Verbrechens zu erinnern.

»Ich sehe schon, hier herrscht Feierstimmung«, rief ich in den Raum hinein. »Also, was ist los? Kritisiert mich! Stellt mir Fragen! Aber verkriecht euch nicht einfach so hinter euren Bildschirmen!«

Es war, als hätte ich tonlos gesprochen. Niemand schaute auf. Ich überlegte mir, wie ich diese Leute aus ihrer Starre holen konnte.

»Ihr trauert um Iris? Also gut, ich mache euch einen Vorschlag: Ich stelle Iris wieder ein. Wie wäre das?«

Auf einmal hoben sich die Köpfe. Christian Niggert, der Chef vom Dienst, ein junger Soziologe mit einer grotesk dicken Brille und buschigen Augenbrauen, legte seine Stirn in Falten. Er stammte aus einer Malerfamilie, hatte mit Stipendium studiert, und wenn er zwei Artikel schrieb, forderten drei davon mehr soziale Gerechtigkeit. Er sah mich skeptisch an. »Meinst du das wirklich ernst, Susanne?«

»Iris kommt zurück, ja. Aber nur unter einer Bedingung.«

»Die Redaktion erklärt sich solidarisch mit Iris. Und ich bin sicher, dass wir jede Bedingung erfüllen werden.« Seine nervösen Pupillen hinter der dicken Brille erinnerten mich an Kaulquappen, die ich als Kind durch den Boden dicker Einweckgläser unter Wasser beobachtet hatte. Merkwürdig, woran mich Pupillen in letzter Zeit denken ließen.

Ich wartete einen Moment, um die Spannung zu erhöhen. Dann sagte ich ganz ruhig: »Ist einer von euch bereit, seinen eigenen Arbeitsplatz für Iris zu räumen? Also, Freiwillige vor – wer meldet sich?«

Christian Niggert senkte den Kopf, die neun Kollegen und sechs Kolleginnen taten es ihm gleich. Keiner gab ein Zeichen, jeder verhielt sich unauffällig und suchte Deckung hinter seinem Bildschirm. Von wegen Solidarität.

»Das ist ja merkwürdig«, sagte ich. »Mich schaut ihr nicht mehr an, weil ich Iris entlassen habe. Dabei war meine Wahl genau dieselbe wie jetzt eure: sie entlassen – oder einen von euch. So war das auch schon bei den Entlassungen zuvor. Offenbar habe ich richtig entschieden.«

Julia Klein, die Redakteurin für den lokalen Sport, die in jedem Artikel mindestens zweimal das Wort »Spitzenleistung« verwendete, zwirbelte nervös eine blonde Haarsträhne. »War das denn jetzt die letzte Entlassung?«

»Herr Gleim hat mir das vor einiger Zeit versichert«, antwortete ich wahrheitsgetreu, ohne den aktuellen Stand zu erwähnen.

Ben Steiner, der freche Volontär mit seiner gebleichten Igelfigur, der die Kommas nach dem Streuprinzip immer an den falschen Stellen verteilte, zog ein spitzes Mausgesicht. Ich schloss nicht aus, dass diese Grimasse mir gewidmet war. Ich würde ihn mir später vorknöpfen.

In der Mittagspause, als alle beim Essen waren, hatte ich den Grabschmuck unauffällig von Iris’ Schreibtisch in meinen Papierkorb verfrachtet.

»Was ist nun, Frau Mikula?«, riss mich Markus Hanser aus meinen Gedanken. Ich fasste den Ablauf des Vormittags für ihn zusammen.

»Dann haben Sie also gar kein schlechtes Gewissen?«, fragte er mich.

»Wenn Sie noch länger danach fragen, bekomme ich eines.«

»In einer früheren Sitzung haben Sie mir von Ihrer Erfahrung in Hamburg erzählt. In diesem Gespräch habe ich Sie als feinfühlig und empathisch wahrgenommen. Deshalb mache ich mir Sorgen.«

»Sie sorgen sich, dass ich ein grober Klotz geworden bin?«

»Ein Mensch kann seine Werte nicht einfach ablegen wie Kleidungsstücke. Wenn Sie ein sozialer und empathischer Mensch sind, dann bleiben Sie es.«

»Ich bin so sozial und empathisch, dass ich gerade meine beste Freundin entlassen habe.«

»Vielleicht stehen Sie ja unter Schock.«

Ich sah ihn fassungslos an. »Unter Schock? Warum sollte ich?«

Er stand auf und ging zum Flipchart, ich zählte vier Schritte. Er schrieb: Phasen des Schockverlaufs. Darunter zeichnete er eine Kurve, die ein Stück nach oben verlief. »Dieser Kurvenanstieg markiert eine Verleugnung«, kommentierte er. »Nach einem Schock wollen die Leute nicht wahrhaben, was geschehen ist. Im Gegenteil, sie treten übertrieben stark und selbstbewusst auf.«

Ich musste daran denken, wie patzig und kämpferisch Iris zunächst auf ihre Entlassung reagiert hatte.

»Aber nach einiger Zeit setzt sich die Einsicht in die Tatsachen durch – und die Gefühlskurve stürzt steil ab.« Der Stift auf dem Papier quietschte, er ließ den Strich abwärts sausen.

Wieder dachte ich an Iris. Wie es ihr jetzt wohl ging? Ob sie schon die Kraft hatte, sich über einen neuen Job Gedanken zu machen? Oder ob sie als Häufchen Elend in ihrer Dachgeschosswohnung kauerte?

»Warum sollte ich einen Schock haben? Mir ist doch nichts passiert.«

»Weil nicht nur Schmerz wehtut, den wir erleiden, sondern auch solcher, den wir zufügen. Ich glaube, dass Sie sich in einem Wertekonflikt befinden. Ihre Gerechtigkeitsliebe und die Entlassungen …«

»Kapieren Sie doch endlich: Ich bin an meiner Erfahrung gewachsen. Ich habe gelernt, dass ich andere Menschen nicht immer wichtiger nehmen darf als mich selbst. Bei einem Mann wäre das ganz normal. Aber bei mir machen alle ein Drama daraus.«

Ich bereute, dass ich so emotional geworden war. Wahrscheinlich war genau das sein Plan gewesen. »Wer macht denn ein Drama daraus?«, hakte Hanser nach.

Ich erzählte ihm, wie Sebastian heute Morgen reagiert hatte, von dem Streit am Wasser und von dem Schneeballhagel vor der Schule.

Er atmete so tief durch seine leicht schiefen Zähne ein, dass es wie ein Schlürfen klang. »Sie haben Ihre beste Freundin entlassen. Sie haben dem Vater der Freundin Ihres Sohnes gekündigt. Und Ihr Sohn wird jetzt über den Schulhof gejagt. Und das alles, wollen Sie mir weismachen, berührt Sie kein bisschen?«

Allmählich wurde ich wütend. »Sind Sie erst zufrieden, wenn ich in Tränen ausbreche, einen Zitterkrampf bekomme und hysterisch kreische?«

»Sie waren in der Vergangenheit sehr offen zu mir. Sie haben mir sogar von der traumatischen Erfahrung als Jugendliche im Wald erzählt.«

Wie schade, dass es noch keine Software gab, um ein Gedächtnis zu löschen! Außer ihm und Iris wusste im Verlag niemand, was damals geschehen war.

»Ich war naiv, nicht offen. Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Ich wäre schon zufrieden, wenn Sie einfach mal über Ihre Gefühle reden könnten.«

»Mein Gefühl sagt mir, ich sollte jetzt gehen.«

Ich stand auf, ging in Richtung Tür und warf noch einen Blick über meine Schulter. »Was macht das jetzt mit Ihnen?«, sagte ich. »Wie gehen Sie mit diesem emotionalen Ausnahmezustand um?«

Er sah mich wortlos mit großen Augen an.

Ich brauchte sieben Schritte, um aus dem Raum herauszukommen.

»Er ist mir im Weg und euch auch.«

»Damit müssen wir leben.«

»Müssen wir das?«

»Er wird sich nicht einfach in Luft auflösen.«

»Was tust du, wenn ein Hindernis im Weg liegt?«

»Ihn beseitigen? Bist du irre? Du kennst meine Stellung! Ich kann das nicht riskieren.«

»Du weißt, wie das Spiel funktioniert.«

»Ich bin kein Killer!«

»Hast du Angst, es zu tun? Oder nur, erwischt zu werden? Damals hast du auch nicht mit der Wimper gezuckt.«

»Wir sind angesehene Bürger dieser Stadt!«

»Wie lange noch? Wir geraten allmählich ins Hintertreffen.«

»Besser im Hintertreffen als hinter Gittern! Das Risiko ist zu groß!«

»Welches Risiko? Wenn der noch mehr rumschnüffelt, fliegt am Ende noch alles auf – vielleicht sogar die Sache von damals. Ich habe einen Schlachtplan, es wird keine Spuren geben, die auf uns zurückführen.«

»Kein Verbrechen ist perfekt. Ich weiß, wovon ich spreche.«

»Habe ich gesagt, dass wir ein Verbrechen begehen?«

»Du hast gesagt, dass wir ihn beseitigen.«

»Nicht wir: einer, der später nicht auspacken wird.«

»Alle können singen. Ich hör das jeden Tag.«

»Glaub mir: Eine tote Kehle singt nicht mehr.«

DRITTE APRILWOCHE

Reinstadt, 16. April
Aufmacher Tagesbote: »Hotel für jedermann: Obdachlosigkeit beruht auf Freiwilligkeit.«

Ich lehnte mich über die Brücke und starrte in die Tiefe. Was ich sah, faszinierte mich: eine Welt, in der alles in geordneten Bahnen verlief. Ein donnerndes Geräusch brandete auf und schwoll wieder ab. Ein Zittern fuhr durch meine Beine. Mit den Händen umklammerte ich das schmutzige Geländer. Ich genoss es, hier zu stehen. Die benzinhaltige Luft schien meinen inneren Tank zu befüllen.

Mittlerweile hatte ich 423 Autos gezählt, 159 davon mit Reinstädter Kennzeichen, 24 aus dem Ausland und drei mit so schmutzigen Nummernschildern, dass ich sie zu meinem Ärger nicht zuordnen konnte. Wenn ich es richtig erfasst hatte – was angesichts des Tempos nicht einfach war –, hatten sich in 234 Autos mindestens zwei Menschen befunden. In der gleichen Zeit waren 36 Laster vorbeigedonnert, neun davon mit ausländischem Kennzeichen, exakt ein Drittel aus Polen.

Diese Autobahn war für mich großes Kino, ich wurde beim Schauen einfach nicht satt. Es gab Hunderte Möglichkeiten, die Fahrzeuge zu zählen, nach Marken, nach Typen, nach Fahrbahnen, nach Städten, nach Farben, nach Formen, nach Antennen, nach Dachgepäckträgern, nach Anhängern, nach Häkelklopapierrollen, nach Tempo, nach Fahrweise, nach Altersklasse, nach Überholvorgängen oder nach Abstand zum Vordermann. Und wenn der Verkehr zähfließend tröpfelte, wie oft nach Feierabend, konnte ich sogar gewaschene und ungewaschene, verbeulte und unverbeulte Fahrzeuge unterscheiden.

Auf dieser Brücke musste ich nichts tun, hier kam die Welt auf mich zugegrollt, ich war nur eine Registrierkasse, die Eingänge zählte, statt das Geschäft des Lebens selbst zu betreiben. Dies war meine Art der Meditation, begleitet vom Rauschen der Verkehrsbrandung. Auf der Brücke war ich fast immer allein, sie war nur über einen einsamen Forstweg zu erreichen.

Jetzt hatte ich aufgehört zu zählen, schloss die Augen und hing meinen Gedanken nach. Mein Handy hatte etwas dagegen und klingelte.

»Mikula.«

»Springen Sie bloß nicht runter!«

»Herr Gleim?«

»Gerade vorbeigefahren.«

Sein Arbeitsweg führte über die Autobahn, schon mehrfach hatte er mich auf der Brücke erkannt und später darauf angesprochen. Alle wussten, dass das Zählen auf der Brücke mein Lieblingsport war, keiner verstand es.

Warum rief Gleim mich vor der Arbeit an?

»Es ist jetzt sechs Wochen her, dass wir Frau Bader aus unserem Regiment verabschiedet haben.«

Mir war sofort klar, worauf er hinauswollte.

»Ich soll wieder jemanden entlassen?«

»Wäre doch schade, wenn Sie aus der Übung kämen.« Unten donnerte ein Lkw mit holländischem Kennzeichen vorbei, ein Geflügeltransporter, schon der dritte an diesem Morgen. »An wen denken Sie?«

»Ich bin ein toleranter Befehlshaber.«

»Ich soll also selbst einen Redakteur auswählen?«

»Besser gleich zwei.«

Wenn er dachte, ich würde protestieren, täuschte er sich. Ich hatte Iris entlassen, meine beste Freundin, dagegen war alles andere ein Klacks. Nach dem Coaching mit Markus Hanser hatte ich beschlossen, mich für die Entlassungen nicht zu schämen. Ich tat, was getan werden musste, das nannte man Management. Ich duckte mich nicht weg, wie die feigen Redakteure hinter ihren Bildschirmen, sondern übernahm Verantwortung.

Mir fiel wieder ein, was Gleim gesagt hatte: Ich war eine Chirurgin und setzte mein Messer an, um noch größeres Leid zu verhindern. Wohin zu viel Weichheit führte, konnte ich jeden Tag an Sebastian sehen. Er litt wie ein Tier, nur weil diese dumme Göre Lena durch ihn hindurchsah und er seit dem Schneeballangriff ein paar Kumpels verloren hatte. Man nahm ihn in Sippenhaft.

Ich hatte ihm mehrfach erklärt, dass man auf diese Weise nur falsche Freunde verliert, aber er wollte einfach nicht auf mich hören. Er wollte nie auf mich hören. Darum ging er beim Angeln meistens leer aus. Hoffentlich würde es ihm im Leben nicht genauso ergehen.

»Zwei – geht in Ordnung«, sagte ich. Das klang beiläufig, als hätte ich eine Kaffeebestellung aufgenommen. Gleim sollte merken, dass die Brücke, auf der ich gerade stand, eine Kapitänsbrücke war – die seiner künftigen Chefredaktion.

Eine halbe Stunde später war ich im Büro, bat Christian Niggert zu einem »ernsten Gespräch« und stieß ihm die schlechte Nachricht ohne Umschweife vor den Kopf. Diese Direktheit hatte ich aus dem Missverständnis mit Iris gelernt. Fasziniert sah ich zu, wie sich sein Gesicht zu einer Maske entstellte, die Mundwinkel verloren ihren Halt, die Brille schien mir wie zwei Vergrößerungsgläser, die seine weit aufgerissenen Augen herauspräparierten. Kurz begehrte er auf und schimpfte, ich hätte doch weitere Kündigungen ausgeschlossen. Ich nahm das nicht persönlich, sondern wertete es als Phase eins nach dem Schock, die Verleugnung; so hatte mein Coaching mit Hanser doch noch einen Nutzen gehabt.

Und schließlich zählte ich, wie lange Niggert bis zur Tür brauchte. Es waren zwölf Schritte, zwei weniger als Iris. Beim Betreten meines Büros hatten ihm noch zehn Schritte gereicht. Offenbar hatte die Kündigung einen deutlichen Energieverlust für ihn bedeutet, sein Gang hatte Antrieb und Reichweite eingebüßt.

Danach rief ich Julia Klein zu mir. Das Entlassungsgespräch kam mir vor wie die Wiederholung eines Films, sie reagierte ähnlich wie Christian. Fast ein Routinefall. Nur brauchte sie am Ende dreizehn Schritte bis zur Tür, einen mehr als Christian. Beide wurden sofort freigestellt, damit auch keiner auf die Idee kam, die Geschichte seiner eigenen Entlassung ins Blatt zu schmuggeln.

Es war gar nicht so schwer, jemanden abzuservieren. Es war sogar überraschend leicht. Bei jeder Tätigkeit kam man früher oder später an einen Punkt, an dem man sie ohne Nachdenken ausführen konnte. Als Kind lernte man das Gehen, in der Schule das Schreiben und in einer Führungsposition eben das Entlassen. Ich spürte, ich hatte den Punkt der Automatisierung bereits erreicht.

Dass ich diese rasche Abhärtung ausgerechnet meiner besten Freundin zu verdanken hatte, kam mir wie blanke Ironie vor. Nachdem ich es bei ihr geschafft hatte, konnte ich es bei allen. Aber war Iris überhaupt noch mit mir befreundet? Oder war für sie die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gleichzeitig die Kündigung unserer Freundschaft?

Ich spielte mit dem Gedanken, sie anzurufen.

Die Gegendarstellung der Stadtverwaltung sollte auf der ersten Seite des Lokalteils erscheinen, ganz oben, so wollte es Hans-Otto Gleim. Viel zu spät war der Text eingegangen, 48 Tage nach der Reportage von Iris. Aber so war das oft, wenn Anwälte ins Spiel kamen und an jeder Formulierung herumschraubten. Ohnehin handelte es sich dabei nur um ein Scheingefecht, das Neutralität vorgaukeln sollte, denn auch ohne Anwälte fand der Standpunkt des Bürgermeisters täglich seinen Weg in unser Blatt.

Ich saß vor meinem Bildschirm, dort flimmerte der Artikel. Es waren genau 200 Wörter. Damit musste die Zahl der Zeichen etwa bei 1500 liegen, inklusive Leerzeichen. Die Gegendarstellung war mit einem aktuellen Foto des Rathauses aufgemacht. Draußen war der April schon in die zweite Halbzeit gegangen, die beiden Birken glänzten im Sonnenlicht, von Sturm und Schnee keine Spur mehr. Die Bildunterschrift hatte Gleim selbst getextet: »Unser Rathaus – ein Platz an der Sonne, auch für Obdachlose.« Ich gab den Druckbefehl.

Als Journalistin hätte ich Gleims Bildunterschrift gern umgetextet: »Ein sonniger Ort für Verwaltungsmitarbeiter – Obdachlose bleiben im Regen stehen«. Aber ich saß hier als leitende Redakteurin. Und Volker Kleinjohann stand bei unserem Verleger unter Artenschutz. Ich hätte alles im Lokalteil veröffentlichen und sogar die Bundesregierung stürzen dürfen, aber eben nicht den Bürgermeister.