Wege aus der Krise
und wie man sie findet
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1. Auflage
© 2019 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Gesetzt aus der Palatino, ITC Franklin Gothic Std
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Lektorat: Maria-Christine Leitgeb
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-7110-0185-6
eISBN 978-3-7110-5249-0
Vorbemerkung
Prolog
Zu viel
Robert und die Stoppuhr
Die Zigarette der Veränderung
Kommt es doch auf die Größe an?
Auswege
Kommt es nur auf die Menge an? – Arbeitsqualität und Arbeitsbedingungen
Wenn guter Rat teuer ist – Herr Dr. Ernst macht ernst
Der Wert des Geldes – die Werte des Menschen
Die wichtigste Maßeinheit – Hirn pro Arbeitsstunde
Auf die Menge kommt es nicht an – Arbeitsqualität
Die falsche Arbeit als Krankmacher
Werte
Glücksspiel – Unglücksspiel
Forever Young
Auswege aus dem falschen Beruf
Bis dass der Tod Euch scheidet – Beziehungen
Du tust eh nix
Weiblichkeit kennt kein Alter
Der Couch-Potato
Was hat es mit unseren Beziehungen auf sich?
Beziehungsgedanken
Krisenherd Privatleben
Der schwarze Hund
Wenn unser Privatleben die größte Belastung wird
Warum tun wir uns das an? – Schlechte Gewohnheiten und Sucht
Bin ich da richtig?
Lebensstil und Sucht als Verhinderer und Veränderer
Wenn Verletzungen zu groß waren – Trauma
Schicht um Schicht in die Tiefe
Lebensgeschichte(n) und Trauma
Krise oder Krankheit?
Zu nah an der Sonne …
Ein Mangel an Zuwendung oder doch an etwas anderem?
Krise oder Krankheit?
Missglückte Veränderung
Gerhard oder »Die anderen sind schuld …«
Martin – Aktionismus statt Entwicklung
Bewegung oder Aktionismus
Ein Hinschmeiß-Führer
Nachbemerkung
Epilog
Appendix
Burnout des Planeten? Oder nachhaltiges Leben in natürlicher Fülle?
Danksagung
Veränderung und Entwicklung kann man nicht nur in der Theorie behandeln, sie wollen auch gelebt werden. Vorbilder und Beispiele der Entwicklungen anderer können die Vielfalt und die vielen Schichten anschaulich machen, um die es dabei oft geht. Die in diesem Buch beschriebenen Fallbeispiele haben alle stattgefunden, jedoch wurden wesentliche Angaben zu den betreffenden Personen (Geschlecht, Alter, Beruf und dergleichen) geändert, manchmal sind auch mehrere Geschichten zu einer verbunden, wo es mir im Sinn des Gesamtbildes stimmig erschien.
Wenn in diesem Buch die maskuline Form verwendet wird, so nur um der besseren Lesbarkeit willen. Ist von Therapeuten, Patienten, Studenten et cetera die Rede, sind damit natürlich immer auch Therapeutinnen, Patientinnen und Studentinnen gemeint, sofern nichts anderes aus dem Kontext hervorgeht.
Alles hinschmeißen! Etwas ganz anderes machen! Endlich die eigenen Träume verwirklichen! Ein wirklich verführerischer Gedanke. Doch warum machen es so wenige Menschen?
Als Bettina Stimeder vom Verlag Ecowin mit der Frage an mich herantrat, ob ich ein Buch schreiben wolle mit dem Titel Der Tag, an dem ich alles hinschmeiße, zweifelte ich daher etwas. So sehr ich ihre Annahme nachvollziehen konnte, dass wohl viele Menschen mit diesem Wunsch im Kopf herumlaufen würden, entsprach die Formulierung doch nicht ganz meinen eigenen Erfahrungen. Denn ich erlebe zwar jeden Tag Menschen in meiner Praxis oder in Unternehmen, die in Krisen sind, in belastenden Situationen, und die vielleicht wirklich alles hinschmeißen möchten, doch sehe ich auch, dass sie dies in den seltensten Fällen auch wirklich tun. Die Formulierung, »alles hinzuschmeißen«, erinnerte mich anfangs auch eher an einen Aktionismus, der an den eigenen Mustern letztlich doch nichts ändert. Die Revolution mag verführerisch sein – doch blicke auf den Tag nach der Revolution!
Eher meiner Haltung und meinen Gedanken entspricht die Aussage eines erfahrenen Kollegen, die ich vor vielen Jahren gehört habe: »Es gibt kein Problem, das nicht durch Entwicklung gelöst werden kann.« Und solche Entwicklungen, die sich in Schritten vollziehen, in einem Wechselspiel zwischen äußerer und innerer Veränderung, oft mit Ambivalenzen, Phasen rascher Veränderung und dann wieder Rückschritten, in einer Mischung aus Hoffnung und Sorge und hoffentlich mit Möglichkeiten der Reflexion des Nachspürens, erlebe ich bei meinen Patienten, bei mir selbst und den mir nächststehenden Menschen. Solche Entwicklungen versuche ich zu fördern. Denn Stabilität ist eine Illusion: Wenn wir uns nicht verändern, werden wir verändert. Wenn wir nicht gestalten, werden wir gestaltet. Wenn wir nicht handeln, werden wir behandelt.
Und doch glaube ich mittlerweile, dass tatsächlich viele Menschen mit diesem Gedanken im Kopf herumlaufen. Manchmal beginnen die unbewusste innere Entwicklung und die äußere Situation, sich zunehmend aneinander zu reiben und miteinander in Konflikt zu geraten. Innerlich ist dann der Keim der Veränderung in den Menschen, die zu mir kommen, schon angelegt, etwa in Form einer oft unbewussten Sehnsucht, eines Potenzials, das sich entfalten möchte, aber nicht kann. Und so sehe ich die meisten Formen von dem, was oft als Depression, Angststörung oder Burnout bezeichnet wird – und wofür die moderne Medizinwirtschaft sofort eine Vielzahl an Medikamenten bereitstellt –, vielmehr als Entwicklungskrisen. Ganz so, als ob der Kopf des Kindes im Geburtskanal feststeckte und wir wüssten, dass dieses Kind nicht mehr zurückkann, aber noch nicht wüssten, wie es gesund zur Welt kommen kann. Und so finden wir Wege, wie das in die Welt kommen kann, was sich zeigen und entfalten möchte. Manchmal können auch Medikamente vorübergehend hilfreich dabei sein, doch in vielen Fällen würde ich eine medikamentöse Behandlung vielmehr als Körperverletzung empfinden, die – noch dazu mit all ihren Nebenwirkungen – den Menschen nicht näher, sondern weiter weg von seinen Gefühlen und sich selbst bringt. Und so habe ich eine Aufgabe – wie auch andere meiner Kollegen, wie andere Therapeuten und Heiler auf der ganzen Welt und in der ganzen Geschichte der Menschheit –, wie sie schöner nicht sein kann: zu helfen, das Beste ins Leben zu bringen.
Dies wäre wohl schon ein guter Schlusssatz für ein Vorwort. Doch denke ich an die wohl noch viel zahlreicheren Menschen, die sich eine Veränderung dringend ersehnen, aber den Schritt nicht tun. Oder an diejenigen, die sich zum Sklaven ihres eigenen Lebens und ihrer eigenen Ansprüche gemacht haben – im goldenen Käfig von Konsum und schnellem Genuss –, und doch unglücklich sind. Auch dann wird Veränderung schwierig, zum Beispiel aus einer zwar schrecklichen, jedoch hoch bezahlten Arbeit heraus. Und ich denke an diejenigen, die Veränderung am dringendsten bräuchten, weil sie selbst irgendwann beschlossen haben, dies gar nicht mehr zu spüren. Dies ist meine Motivation zu diesem Buch, zu erklären, warum wir manchmal in scheinbar ausweglose Situationen geraten können, und zu zeigen, dass Veränderung möglich ist (manchmal tatsächlich in Form des Hinschmeißens und noch öfter als Entwicklung), und dazu zu ermutigen.
Die wesentlichsten Treiber von Veränderung sind dabei oft auch die größten Hindernisse. Ihnen folgt die Logik dieses Buches: zu viel Arbeit, die uns völlig erschöpft, und gerade dadurch die Kraft für Veränderung nimmt; Arbeit gegen das eigene Gehirn, die uns nicht befriedigt, aber umso mehr anstrengt; Arbeit, die uns aber gleichzeitig die Fähigkeit raubt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden; die falsche Arbeit, die ganz gegen unsere wahre Natur geht, die aber vielleicht sehr gut bezahlt ist oder uns glauben lässt, dass das Aushalten unter allen Umständen doch zur Arbeit (oder zum Leben generell) dazugehört. Und abseits der Arbeit unsere engsten Beziehungen und die hohe Schwelle, gerade an und in ihnen wichtige Dinge anzusprechen, zu gestalten und auch zu verändern. Ferner andere Belastungen, die uns sehr nahegehen, jedoch gleichzeitig als unveränderlich erscheinen. Oder unser eigener Lebensstil, unsere Gewohnheiten und manchmal unsere Süchte, die uns krank machen, aber eben auch abhängig und uns Kraft und Hoffnung auf Veränderung rauben. Und nicht so selten auch Traumatisierungen in frühen Lebensabschnitten, die dringend nach Veränderung und Entwicklung schreien, wo aber gleichzeitig höchste Angst vor der Beschäftigung mit ihnen besteht – sofern wir sie durch Abspaltung nicht überhaupt unzugänglich gemacht haben. Doch leider wirken sie dann im Untergrund nur umso schädlicher.
Immer wieder ist es aber auch wichtig zu erkennen, wenn eine Erkrankung – sei es eine wiederkehrende Depression, eine manisch-depressive Erkrankung oder eine körperliche Erkrankung – hinter einem Zustand steckt, der sich als »Lebenskrise« oder dauernde Erschöpfung tarnt. Denn äußere Ursachen lassen sich immer finden. Jeder hat irgendeine Art von »Stress«. Eine reine Beratung ohne ärztliche Abklärung und Behandlung – sei es eine Psychotherapie, Coaching, Selbsterfahrung oder andere Formen der Beratung – ist in solchen Fällen nicht nur fahrlässig, sondern kann gravierende negative Auswirkungen haben (ebenso wie eine rein medikamentöse »Behandlung« in Fällen, bei denen es eigentlich um eine Entwicklungskrise geht). Und schließlich gibt es diejenigen Situationen, bei denen Menschen Aktionismus mit Entwicklung verwechseln und gerade dadurch stecken bleiben.
Der wichtigste Antrieb von Menschen, zu mir zu kommen, ist wohl ihr Leidensdruck, der doch oft Ausdruck einer nicht entfalteten Sehnsucht ist. Es gibt sicherlich auch viele Menschen, die Wichtiges in ihrem Leben auch ohne übergroßen Leidensdruck verändern. Ich vermute jedoch, dass diejenigen viel zahlreicher sind, die nichts verändern, obwohl es gut und wichtig wäre. Sei es, dass sie ihren Leidensdruck verdrängen, ertränken oder in eine Ersatzbefriedigung kanalisieren, ständig die anderen als Ursache ihrer Unzufriedenheit zu erkennen meinen, oder schlichtweg keine Hoffnung mehr haben, etwas ändern zu können in ihrem Leben und in der Welt. Zu den wesentlichen Verhinderern zählt vermutlich auch die eigene Lebensgeschichte, in der wir auf Aushalten, Durchtauchen und Funktionieren getrimmt worden sind. Ferner ist da eine Art gesellschaftliches Mindset, das durch einen suggerierten ständigen Konkurrenzdruck, eine gleichzeitige Vereinzelung sowie die Botschaft, dass wir durch Konsum endlich das Lebensglück erreichen können, nach dem wir uns tief drinnen sehnen, wahre Veränderung zu verhindern versucht. Denn dann würde das herrschende (im wahrsten Sinn des Wortes) Modell zur Disposition gestellt. Möge dieses Buch daher dazu beitragen, zu Veränderung zu ermutigen und sich zu fragen: Was kann (m)ich bewegen?
Im Kontakt mit Menschen in Krisen versuche ich meist bereits im ersten Gespräch, eine Formulierung ihrer Sehnsucht, ihrer Vision und ihrer Lösung zu bekommen. Je häufiger dies mehr oder weniger nebenbei gelingt, umso besser. So sagt etwa ein 45-jähriger Außendienstleiter zu mir: »Ich kann nicht mehr in diesem Hamsterrad arbeiten!« Ich frage dann weiter: »Sondern?« Und dann kommt oft spontan ein Satz, den ich mir rasch notiere.
Oder es bricht aus einer 38-jährigen Fondsmanagerin heraus: »Ich bin so verzweifelt, ich muss irgendetwas ändern!«, und ich vervollständige den Satz: »… um was zu erreichen?« Und plötzlich kommt – in der Zeit der größten Krise – der Schatz zutage, die eigentliche Sehnsucht dieser Frau. Auch das notiere ich mir.
In der Folge lernt man einander besser kennen, führt Gespräche, etwa über ein halbes Jahr, ein Jahr oder vielleicht manchmal auch über mehrere Jahre. Und irgendwann blättere ich zurück zum allerersten Gespräch, lese den besagten Satz vor, wir blicken einander in die Augen und sagen: »Haben wir das jetzt nicht erreicht?« Dies geschieht, ohne dass dieser Satz ständig thematisiert wird. Das würde lediglich den Verstand zu sehr ins Spiel bringen. Vielmehr steckt in diesem Satz etwas wie das seelische Grundwasser, das uns sanft, aber beharrlich in diese Richtung lenkt, wenn wir es nicht blockieren, wenn wir nicht ständig den vielen und oft zufälligen Gedanken unseres Geistes lauschen und diese mit unserem Ich verwechseln, sondern auf unsere leise innere Stimme hören.
Nie habe ich es in Hunderten oder vielleicht sogar über Tausend solcher Gespräche erlebt, dass dieser Satz etwas Negatives war, wie etwa: Ich möchte eine bestimmte Person vernichten, ich möchte mehr Macht haben, ich möchte reich werden, indem ich andere ausnutze, oder Ähnliches. Immer ist es etwas Positives. Das Beste ist immer schon da. Hier ein paar Beispielsätze:
–Ich möchte mir meine Zeit einteilen können.
–Ich möchte Grenzen stecken können.
–Ich bin okay, auch wenn jemand enttäuscht ist.
–Ich möchte mich in der Grundsubstanz festigen.
–Ich kann mich selbst akzeptieren.
–Ich möchte trotz meiner Ecken und Kanten zufrieden mit mir sein.
–Ich möchte genießen, was ich tue.
–Ich möchte die Welt mehr spüren.
–Ich möchte in der Sonne stehen.
–Ich möchte mir selbst genug sein.
–Ich möchte stabil und zufrieden im Leben stehen.
–Ich möchte auf mich schauen, Lust erlauben und Angst ablegen.
–Ich möchte ein unbeschwertes Leben haben.
–Es ist okay, wie ich bin.
–Ich möchte das, was ich verstehe, ins Herz bringen.
–Ich möchte Kontakt mit meiner Welt.
–Ich möchte die Dinge selbst in die Hand nehmen und Veränderung bewirken.
–Ich möchte positiv an das Leben herantreten.
–Ich wünsche mir mehr Selbstliebe und Erfüllung.
Ich bin nämlich eigentlich ganz anders,
aber ich komme nur so selten dazu.
Blutdruck 220, Puls 120 – nicht beim Patienten, sondern beim Arzt, der gerade im Laufschritt den Patienten, der gerade mit der Rettung eingeliefert wurde, durch die langen Gänge der Klinik schiebt, um möglichst rasch ein MRT durchführen zu können. Wieder einmal war kein Träger verfügbar, in der Notaufnahme warten noch sieben andere Patienten, doch der Arzt weiß, dass es bei diesem Patienten um Minuten geht. Bei einem schweren Schlaganfall verringert jede Minute Verzögerung die Heilungschancen des Patienten – time is brain. Gott sei Dank hat gerade ein Kollege der Röntgenabteilung Dienst, der mit Schlaganfällen und der damit einhergehenden Dringlichkeit vertraut ist. Ansonsten hätte vielleicht schon das Telefonat, in dem man um ein MRT betteln musste, eine Viertelstunde gedauert.
Das MRT zeigt rasch: Fast die gesamte linke Hälfte des Gehirns ist vom Blutstrom abgeschnitten, und im oberen Teil der Halsschlagader steckt ein Blutpfropf, der das Gefäß verschließt. Es ist klar, dass nur ein sofortiger Kathetereingriff den Patienten retten kann. Doch dafür braucht man einen Anästhesisten, der den Patienten sedieren und intubieren kann. Nach drei weiteren Telefonaten, in denen er ständig weiterverwiesen wird, kommt der Arzt an einen Kollegen von der Anästhesieabteilung, der immer nur wiederholt: »Ich bin nicht zuständig, ich kann auch nichts dafür …« Nach mehreren inständigen Überredungsversuchen erklärt sich der Kollege bereit, zumindest vorbeizukommen, um sich »die Sache einmal anzusehen«. Währenddessen liegt der Patient halb bewusstlos, mit gelähmter rechter Körperhälfte und unfähig zu sprechen in seinem Bett. Und der Arzt weiß: In jeder Minute sterben Tausende Gehirnzellen ab …
Wieder wird der Patient eigenhändig in den Eingriffsraum geschoben, viele Dinge sind zu überwinden, der Aufzug voller anderer Patienten und deren Besucher. Nach einer weiteren halben Stunde – der Anästhesist war mittlerweile da, hat den Patienten sediert und intubiert, ist dann aber mit den Worten »Ich habe ja auch noch etwas anderes zu tun« weggegangen – können der Arzt und sein Kollege von der Radiologie den Eingriff beginnen. Doch plötzlich hat der Patient einen Krampfanfall. Kein Anästhesist und kein Notfallmediziner weit und breit, denn es ist ja keiner zuständig. Wie das kommen kann in einer Zeit, in der in Schlaganfallzentren weltweit die gesamte Versorgungskette lückenlos funktioniert? In einer Zeit, in der evidenzbasierte Medizin von den Ärzten gefordert wird, aber das Fehlen einer zeitgemäßen Organisation für die Behandlung einer der häufigsten und schwersten akuten Erkrankungen keine Folgen für die Verantwortlichen hat? Doch lassen wir diese Fragen beiseite, denn unser Patient hat mittlerweile mehrere Krampfanfälle gehabt, der Kathetereingriff musste abgebrochen werden, und der Arzt und sein Kollege von der Radiologie müssen miterleben, wie der Patient, ein 44-jähriger Mann, in ihren Händen stirbt.
Um Atem zu holen, geschweige denn für das Zulassen der menschlichsten Gefühle, ist keine Zeit, denn mittlerweile warten zwölf andere Patienten in der Notaufnahme. Wer weiß, welche dringlichen Fälle dabei sind?
Hätte unser Arzt es noch vermocht, hätte er sich wohl gedacht: »Am liebsten würde ich alles hinschmeißen!« Doch selbst dafür war an diesem Tag, der einer von vielen war, an denen sich ähnlich Schreckliches wiederholt, keine Kraft mehr.
Wenn wir alles hinschmeißen wollen oder bereits von Burnout die Rede ist, dann geht es oft nicht unbedingt darum, dass wir den falschen Job haben, sondern darum, dass die Belastung einfach zu hoch ist. Ein Faktum, das uns in einen Strudel von Erschöpfung bringen und einen Berg an Problemen anhäufen kann, die nicht mehr bewältigbar zu sein scheinen. Alles hinschmeißen zu wollen aus einer Not oder einem momentanen Impuls heraus, wäre dann eine durchaus verständliche Reaktion. Aber was dann?
»Ich kann nicht mehr!« Der schlanke, groß gewachsene und durchtrainierte 55-jährige Mann saß mit erschöpftem Gesicht vor mir und schien kaum die Kraft zu haben, das Glas Wasser zum Mund zu führen. Hatte er mich beim ersten Händeschütteln noch angelächelt, blickte ich nun in müde, traurige Augen in hängenden Gesichtszügen. Er sei seit einer Woche im Krankenstand, irgendetwas mit seinem Energiehaushalt scheine nicht zu stimmen. Er sprach von einer längerfristigen Überbelastung, er sei schon vor einem halben Jahr an seinen Grenzen gewesen. Was war geschehen?
Mein Patient Robert hatte die letzten 15 Jahre als Manager in einem Automobilkonzern gearbeitet. Sein Alltag war geprägt gewesen von zahlreichen Meetings, einer Flut von E-Mails, ständigen Zusatzprojekten, Umstrukturierungen und anstrengenden Verhandlungen mit Großkunden, deren Umsatz für den Konzern sehr bedeutsam war. Und wenn dann am Jahresende alle Ziele erfüllt waren, wurde dies nur zum Anlass genommen, diese für das kommende Jahr noch deutlich höher zu stecken. Eigentlich stand Robert kurz davor, in den Vorstand berufen zu werden, doch irgendwie interessierte ihn all dies nicht mehr.
»Und der größte Druck kommt von mir selbst«, sagte er, »ich bin nie mit mir selbst zufrieden. Ständig versuche ich, die Prozesse neu zu definieren, damit sie noch besser laufen.« Schon diese Worte schienen ihn anzustrengen, und so saß er wieder schweigend vor mir. Erst allmählich breitete sich in unserem ersten Gespräch die Geschichte vor mir aus. Vor acht Jahren sei Darmkrebs bei Robert festgestellt worden, und es war lange Zeit nicht sicher gewesen, ob er wirklich eine Chance auf Heilung hätte. Für mehrere Monate sei er mit einem künstlichen Darmausgang unter seinem Manageranzug weiterhin tagtäglich ins Büro gegangen, denn: »Ohne mich hätten die es hier nicht geschafft!« Ja, die Krebserkrankung habe ihn schon belastet, aber das müsse man aushalten. Schon wegen seiner zwei Kinder.
Bei der Gelegenheit erfuhr ich von seinen anderen Sorgen: Bei der Geburt seiner zweiten Tochter war Roberts Frau verstorben, und er war mit einer vierjährigen und einer neugeborenen Tochter alleine zurückgeblieben. Dies war nun 24 Jahre her. Er sei damals noch selbstständig mit einer kleinen Firma gewesen und habe sich dann entschieden, bei dem Konzern eine Anstellung anzunehmen, um für seine beiden Kinder mehr Sicherheit zu haben. Neben der intensiven Arbeit, die er mit Ehrgeiz betrieben und oft auch nachts weitergearbeitet hatte, hatte er also auch zwei Kinder aufgezogen, was einiges an Verpflichtungen und Sorgen mit sich gebracht hatte: Kinderkrankheiten, alle Arten von schulischen Themen, die Herausforderungen der Pubertät. Bei all dem hatte er sich ständig darum bemüht, Ihnen ein guter Vater zu sein. Und dies war ihm auch gelungen; zu beiden Töchtern, die mittlerweile erwachsen waren, hatte er einen ausgezeichneten Kontakt.
In seiner Herkunftsfamilie hatte sein Großvater Selbstmord begangen. (Selbstmorde in der Herkunftsfamilie sind aus ärztlicher Sicht immer ein Warnsignal, dass man besonders gut auf einen Patienten aufpassen muss. Auch Robert hatte ich nach Selbstmordgedanken gefragt: »Ja, manchmal wünsche er sich, einfach nicht mehr aufzuwachen, aber er würde sich nie das Leben nehmen wegen seiner Kinder«, hatte er geantwortet.) Roberts eigener Vater hatte sehr hohe Leistungsansprüche gehabt, ausgezeichnete Schulnoten seien maximal mit einem Nicken zur Kenntnis genommen worden, etwas anderes sei ohnehin nicht infrage gekommen.
Durchschlafen könne er schon seit Jahren nicht mehr, sein Nachtanzug sei meistens durchgeschwitzt, oft habe er nachts starkes Herzklopfen und Beklemmungsgefühle. Die Stimmungslage sei schwankend, vor allem sein Antrieb sei stark herabgesetzt, er könne sich nur mit Mühe dazu aufraffen, morgens aufzustehen. Trotz alledem hatte Robert bis vor einer Woche noch einen Managementjob geschafft, immerhin hatte es eine Ressource in seinem Leben gegeben: Er ging seit vielen Jahren jeden zweiten Tag eine Stunde laufen. Dass er oft erst in der Nacht dazukam, störte ihn dabei nicht, es war ihm zur Gewohnheit geworden. Seit die Kinder erwachsen waren, konnte er auch gelegentlich wieder Freunde treffen und etwas unternehmen. So erzählte er auch, dass eine Skitour vor zwei Wochen ein »Wendepunkt« gewesen sei.
Nun fragte ich Robert, was er sich von mir erhoffte. Er sagte, er würde sich Ausgeglichenheit wünschen, vielleicht auch wieder eine Partnerschaft und den Kontakt mit der Natur. Und im Nachsinnen ergänzte er noch: »Eigentlich möchte ich etwas wirklich Sinnvolles tun.« Robert stellte damit nicht den grundsätzlichen Sinn seiner Arbeit in diesem Konzern infrage, doch viel zu lange, sagte er, hätte er ständige Changeprozesse erlebt, deren Sinn sich ihm nicht erschlossen hätte und die nur mehr Aufwand bedeutet hätten, etwa konzernweite Umfragen, die zu keinen umsetzbaren Ergebnissen geführt hätten, Meetings, im Verlauf derer alle nur ihre E-Mails checken würden, und Tage, an denen er müde nach Hause gekommen wäre und sich gefragt hätte: »Was habe ich heute eigentlich erledigt?«
»Angenommen, wir gehen ein Stück des Weges gemeinsam, und Sie sagen danach zu sich selbst: ›Gut, dass ich das gemacht habe!‹ Woran werden Sie das erkennen?«, fragte ich Robert. »Daran, dass ich einen Weg gefunden habe, der mir wirklich entspricht!«, platzte es aus ihm heraus. Ganz so, als hätte ihm diese Frage, die ihn gedanklich ein Stückchen in die Zukunft mitnahm, einen Energiestoß versetzt, saß er plötzlich aufrecht vor mir da, die Gesichtszüge waren straffer, und ein leichter Glanz war in seine Augen gekommen.
Einige Fragmente aus Roberts Aufzeichnungen aus dieser Zeit:
–Eine Woche nach dem Erstgespräch: starker Druck im Brustbereich; das Einschlafen fällt sehr schwer; der Motor läuft auf Hochtouren weiter; pflanzliche Mittel helfen nicht mehr.
–Drei Tage später: Ich habe eine Reise begonnen, und weiß nicht, wo sie hingeht; habe ein gutes Buch gefunden zur Sinnfindung des Lebens: Das Café am Rande der Welt.
–Einen Monat später: Die letzten vierzehn Tage waren nicht gut, Schweißausbrüche in der Nacht; Angst, mich in eine Sackgasse hineinzumanövrieren, aus der ich nicht mehr herauskomme; ich habe den Eindruck, auf der Stelle zu treten; komme im Hinblick auf die Zielfindung im Leben und Beruf keinen Schritt weiter; Furcht, dass mir die Zeit davonläuft! Was mir fehlt: Selbstvertrauen, Optimismus, Zielstrebigkeit, positives Denken, Lebensfreude. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich in ein bis zwei Monaten wieder arbeiten soll. Ist Jobänderung eine Lösung oder Flucht? Hilft es, oder wird es noch schlimmer? Auf der einen Seite halte ich es für die einzige Lösung, auf der anderen Seite habe ich große Angst davor.
Diese Ausschnitte zeigen Roberts Schwanken, seine Ängste und Sorgen sowie seine starken Beschwerden in diesen Monaten nach unserem ersten Gespräch. Die körperliche Abklärung hatte Gott sei Dank keine Auffälligkeiten ergeben – ein Druckgefühl im Brustbereich bei einem 55-jährigen Mann sollte immer Anlass zu einem sorgfältigen medizinischen Vorgehen sein –, jedoch war die psychische Belastung extrem groß. Einzig der mittlerweile täglich ausgeübte Sport, in dem Robert versuchte, seine Laufzeiten zu verbessern, brachte etwas Halt in seinen Alltag (Robert war mittlerweile in einem längeren Krankenstand). Daneben versuchte er, Meditationsübungen zu machen, gelegentlich Freunde zu treffen, und konnte sich manchmal wenigstens mit Büchern über Softwareprogramme ablenken.
Robert und ich hatten in ein- bis zweiwöchigen Abständen Gespräche, im Zuge derer sich durch genaues Hinhören und Nachfrage immer wieder Gelegenheiten ergaben, Schritt für Schritt herauszuarbeiten, was für ihn wichtig und hilfreich war. Hier einige seiner Formulierungen:
–Einfach unterwegs sein, das kommt mir sehr nahe.
–Ich habe Angst, Gefühle wie Freude, Mitgefühl und Lust wiederzuentdecken.
–Ich möchte unabhängiger von der Meinung anderer sein und leichter und lockerer an Dinge herangehen.
–Ich möchte im Frieden mit mir selbst sein. (Der Krankenstand bedeutete für Robert wie für viele andere leistungsorientierte Menschen auch einen Bruch in seinem Leben, der starke Versagensgefühle sich selbst gegenüber und Schuldgefühle seinem Arbeitgeber gegenüber auslöste.)
–Ich möchte glücklich sein und eine erfüllende Aufgabe haben.
Immer wieder arbeiteten wir auch mit Aufstellungsmethoden, in denen Robert seinen Weg visualisieren konnte: Die Karte Mein Platz in der Zukunft lag nahe einem Fenster, das den Blick auf einen wunderschönen Baum freigibt, der vor meinem Behandlungsraum steht. Roberts gegenwärtige Lebensposition befand sich hingegen seinem Gefühl nach in dieser Aufstellung direkt unter meinem Schreibtisch.
Eines Tages schließlich, nach einer Reihe intensiver Gespräche, die auch für mich nicht einfach waren, da ich mir um Roberts Zustand Sorgen machte und keineswegs sicher war, dass wir ohne die Hilfe von Medikamenten auskommen würden, und ich gelegentlich auch daran zweifelte, dass ich überhaupt der geeignete Begleiter für ihn war, saß Robert wieder einmal vor mir und erzählte mir von seinem jüngsten Erlebnis: »Ich bin vor ein paar Tagen meine übliche Laufrunde versehentlich einmal ohne Stoppuhr gelaufen und da habe ich lauter neue Wege entdeckt. Ohne Zeitmessung war es ja nicht mehr nötig, immer die gleiche Runde zu laufen.«
Dieses Gespräch ist nun Jahre her, und rückblickend würde ich sagen – natürlich aufbauend auf der vorangegangenen Entwicklung –, war dies der eigentliche Wendepunkt. Allmählich – mittlerweile war Robert seit fünf Monaten im Krankenstand – erschien er etwas stabiler bei unseren Gesprächen, der Schlaf war besser geworden, seine Haut hatte eine gesündere Farbe, und auch sein Blick war heller. Immer mehr beschäftigte ihn die Frage nach dem Sinn. So bemerkte Robert, dass er in letzter Zeit Artikel über Entwicklungshilfe plötzlich interessant fand, früher war das nicht der Fall gewesen, denn dafür war weder Zeit noch Energie dagewesen. Er hatte sogar bei einem, am Ende eines dieser Artikel angegebenen Kontakt spontan angerufen und einen Termin vereinbart. Er hatte mit einer Organisation für Entwicklungshilfe, die Hilfsprojekte für Kinder in der Welt machte, Kontakt aufgenommen. In den nächsten beiden Monaten führte er mit Menschen dieser Organisation immer wieder Gespräche, ging schließlich regelmäßig zu den Treffen, und allmählich reifte ein Plan in ihm heran.
Etwa ein Jahr später – unsere Gespräche hatten mittlerweile einen guten Abschluss gefunden, Robert fühlte sich wieder stabil und hatte sich im Konzern eine unbezahlte Auszeit genommen –, fand ich in meinem E-Mail-Postfach eine Nachricht von ihm: »Ich bin nun wirklich dort angekommen, wo ich hingehöre.« Robert hatte den Schritt gewagt und war als Entwicklungshelfer in ein afrikanisches Land gegangen. »Ich bringe den Kindern dort Deutsch bei, und die Buchhaltung mache ich ihnen auch, denn das kann dort niemand.«
Mittlerweile sind Jahre vergangen, gelegentlich bekomme ich eine Nachricht und ein paar Fotos von Robert, und die Grundbotschaft ist immer noch die gleiche: »Ich bin nun wirklich am richtigen Platz!« Begonnen hat alles damit, dass er einmal die gewohnte Laufrunde ohne Stoppuhr gelaufen ist und dabei lauter neue Wege entdeckt hat …
»Kann ich Ihnen meinen Mann schicken? Ich mache mir solche Sorgen um ihn!« Die Frau am anderen Ende der Leitung schien sehr besorgt. Ich willigte ein, und bald darauf saß Klaus vor mir, ein 43-jähriger Abteilungsleiter in einem Konzern. »Ich kann mich an nichts mehr freuen, und selbst wenn ich es tun könnte, wüsste ich nicht, woran ich mich erfreuen könnte.« Jahrelang litt Klaus schon an Depressionen, hatte diverse Therapien gemacht und schluckte Antidepressiva. Nichts hatte geholfen. Irgendwann im Lauf dieses ersten Gesprächs erzählte ich Klaus von einem Bild unserer wesentlichen Lebensbereiche (Beruf; Soziales mit Familie und Freunden; Ich für mich selbst) und bat ihn, in einem Kreis, der 100 Prozent seines Lebens symbolisieren sollte, einzuzeichnen, wie viel Platz jeder dieser Bereiche seinem Gefühl nach einnahm.
Der berufliche Bereich nahm in der Skizze von Klaus etwa 75 Prozent ein, der Rest stand für Familie. Auf die Idee, einen Ich-Bereich einzuzeichnen, kam Klaus gar nicht. Ich fragte vorerst nicht weiter nach. Klaus betrachtete die Skizze, nahm sie mir dann nochmals aus der Hand und sagte: »Es stimmt nicht ganz, so ist es.« Danach hatte der berufliche Bereich gute 80 Prozent. Als ich fragte, wie lange dies schon so sei, antwortete Klaus: »Seit 10 bis 15 Jahren!«
Nun konnte ich schon besser nachvollziehen, warum Klaus nichts mehr hatte, was ihm Freude machte, aber ich ließ es einmal so stehen. Wir hatten in den nächsten drei bis vier Monaten einige Gespräche, und Klaus ging es etwas besser, aber der richtige Durchbruch war noch nicht gelungen. Eines Tages kam Klaus wieder zu mir, und ich bemerkte, dass irgendetwas anders war. Er hatte straffere Schultern, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, und sah mir eine Spur länger als sonst in die Augen. Dann setzte er sich hin und sagte, er wolle mir etwas erzählen. Klaus war Gelegenheitsraucher, rauchte drei bis vier Zigaretten pro Woche, und dies immer heimlich, da er wusste, dass dies seine Frau störte. »Ich habe eine Zigarette vor meiner Frau geraucht!«, sagte er mir nun lächelnd.
Die Veränderung, die in ihm vorgegangen war, war evident. Was war geschehen? Klaus hatte ein, wenn auch noch so kleines, Ich-Standbein in sein Leben eingezogen. Es folgten größere, ernsthafte Schritte: Klaus zog klarere Grenzen seinem eigenen, sehr fordernden Chef gegenüber, er ließ sich auch von unangenehmen Kunden nicht mehr bis spät in die Nacht am Telefon verfolgen, und auch privat kam es zu sehr wichtigen, guten Entwicklungen. Klaus hatte eine uneheliche zehnjährige Tochter, von der seine Frau wusste, die er aber nie besucht hatte, weil er befürchtet hatte, es würde zu einem Konflikt mit seiner Frau kommen. Nun hatte er damit begonnen, sein Kind regelmäßig zu besuchen – und seine Frau freute sich darüber. Sie hatte ihn jahrelang für einen schlechten Vater gehalten, jedoch nie darüber gesprochen, da es bislang ein Tabuthema gewesen war.
Warum erzähle ich diese Episode? Nun, welcher noch so renommierte Burnout-Experte wäre auf die Idee gekommen, Klaus zu sagen: »Als ersten Schritt rauchen Sie eine Zigarette vor Ihrer Frau.« Dies zeigt uns die unermessliche Vielfalt von Situationen und vor allem von Lösungswegen, die das Leben schreibt und die meine Klienten und Patienten finden. Eine Vielfalt, die weit über meine Vorstellungsgabe hinausgeht und angesichts derer man sich davor hüten muss, allzu eilig seine eigene Meinung kundzutun, denn: Jeder Ratschlag ist auch ein Schlag. Eigene Lösungsansätze sind, anders als Ratschläge von außen, meist wirklich auf die betroffene Person maßgeschneidert – wer kennt die Situation schon so gut, wie der Betroffene selbst –, demnach hat derjenige, der selbst eine Lösung gefunden hat, dann auch wirklich das Gefühl, dies selbst geschafft zu haben, ganz ohne die Hilfe von außen. Das schafft Selbstvertrauen, und dieses ist eines der Vitamine, die wir in belastenden Situationen am besten gebrauchen können.
Warum ist Quantität überhaupt ein Problem? Versuchen Sie einmal, in ein Glas, das 0,25 Liter fasst, einen halben Liter hineinzuschütten. Was wird passieren? Es gehen eben nicht mehr als 0,25 Liter hinein, und Sie werden eine Überschwemmung produzieren.
Was würden Sie sagen, wenn ein Gewichtheber versucht, 500 Kilogramm zu heben? Sie würden berechtigterweise vermuten, dass das nur mit Doping möglich sein kann. Außerdem würden vermutlich seine Muskeln reißen und seine Knochen brechen.
In Amerika gibt es ein Restaurant, in dem Sie ein Steak von eineinhalb Kilo bekommen. Es kostet 69 US-Dollar. Wenn Sie es aufessen können, bekommen Sie es umsonst. Eigentlich ein wunderbares Angebot, oder? Doch in Wahrheit führt es zur Selbstausbeutung bei den meisten Menschen, die es aus Gier heraus bestellen, es natürlich nicht schaffen, das ganze Steak zu essen und den vollen Preis zahlen.
In Amerika gibt es auch die Hamburger Clinic. Dort gibt es kein Gericht unter 8000 Kilokalorien. Die Angestellten sind gekleidet wie medizinisches Personal. Die Menschen, die dorthin essen gehen, gehen oft nicht mehr auf eigenen Beinen, denn sie schaffen es nicht mehr. Sie wiegen in der Regel über 200 Kilogramm und werden in speziellen Rollstühlen hingebracht. Dort bekommen sie einen zehnstöckigen Hamburger, der vor dem Servieren noch mit Butter übergossen wird.
Was zeigen uns diese Beispiele? Sie zeigen, dass die Wurzel nach zu viel schon in uns liegt, denn tief in unserem Gehirn liegt das Zentrum, in dem die Gier regiert. Es hat sich vor etwa 300 Millionen Jahren entwickelt, als die ersten Reptilien und Amphibien nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip (Maximalprinzip) lebten, nach dem Motto: Friss alles Essbare, was du siehst. Ein Frosch braucht auch keine Hemmung, denn in der Natur gibt es nie Nahrung im Überfluss. Wenn Sie einen Frosch in einen Käfig mit tausend Fliegen setzen, versucht er wirklich, alle aufzufressen, solange, bis er sich nicht mehr rühren kann. Dann erst kann er keine Fliege mehr fangen. Sie kennen dieses Verhalten vom kalten Büfett? Natürlich immer nur bei den anderen …
Im Gehirn eines Frosches gibt es übrigens auch Zentren für Aggression und Angriff sowie für Fortpflanzung, also Sexualität. Auch diese sind nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip geregelt. Das heißt, er ist dazu konditioniert, jeden, der sich ihm in den Weg stellt, zu beseitigen. Nur wenn sein Gegenüber viel zu groß ist, wie das beispielsweise bei einem Storch der Fall ist, hat er den Impuls, wegzulaufen. Kann er beides nicht tun, stellt er sich tot. Ähnliches kennen wir vielleicht aus dem Büro. Bei der Sexualität erübrigt es sich wohl, das Alles-oder-nichts-Prinzip näher zu erläutern …
Warum ist es wichtig, zu erkennen, dass die Wurzel dieses Übels namens »zu viel« schon in uns selbst liegt? Es ist nötig, um die Mechanismen der heutigen Gesellschaft und vor allem die Mechanismen des Kapitalismus zu verstehen. Denn diese Gier nach mehr und das Diktat des freien Marktes mit dem angeblich notwendigen ständigen Wachstum liegen tief in unserer eigenen Psyche verankert. Und klassischerweise rationalisieren wir mit unserem mächtigen Intellekt, was letztlich doch tief in uns angelegt ist. Daher finden Ökonomen in aller Welt immer gute Begründungen dafür, weshalb neues Wachstum angeblich notwendig ist, anstatt über alternative Modelle einer qualitativen Entwicklung nachzudenken.
Diese Rationalisierung von unbewussten Trieben, Instinkten, Begierden und anderen Emotionen ist eine große Falle an vielen Stellen in unserem Leben. Wir sind zum Beispiel wütend, weil in unserem Unterbewusstsein mehr oder weniger zufällig irgendeine längst vergangene Situation hochkommt, die uns wütend gemacht hat. Dann projizieren wir unsere Wut auf denjenigen, der gerade neben uns steht. Oder wir sind traurig, weil in unserem Unterbewusstsein eine alte Geschichte hochsteigt, die uns traurig gemacht hat, und mit einem Mal finden wir alles rundherum bedrückend, können aber keine Ursache dafür im Hier und Jetzt finden. Oft ist es der Partner, der dann als Projektionsfläche für diese in uns auftauchenden Gefühle herhalten muss. Natürlich würden wir uns auch schlecht fühlen, wären wir in einer solchen Situation alleine, die Projektion auf den Partner ist lediglich der rationale Erklärungsversuch für unser emotionales Aufgewühltsein.
Was die Gier angeht, ist sie eine der sichtbarsten Ausdrucksformen dieses Triebes nach mehr, man denke etwa an die inzwischen beinahe allgegenwärtigen SUVs auf unseren Straßen, riesige fahrende Monster, zwei oder drei Tonnen schwer, meist nur zum Transport einer einzigen Person genutzt, mit 300 PS unter der Haube und einem ökologischen Fußabdruck, der dem von drei Kleinwagen entspricht. Sie sind geradezu ein Sinnbild für jene Gier, die, in gesellschaftliche und globale Dimensionen gegossen, ein die Erde verschlingendes Monster ist.