Über Kristen Roupenian

Kristen Roupenian, Jahrgang 1982, studierte afrikanische Literatur in Harvard, hat für den Friedenscorps in Kenia und als freie Journalistin gearbeitet. Ihre Kurzgeschichte »Cat Person«, im November 2017 im New Yorker veröffentlicht, wurde zur viralen Sensation und gilt als eine der meistgelesenen Stories aller Zeiten. Der Erzählungsband »Cat Person« ist ihr Debüt und erscheint zeitgleich in 23 Ländern.

Nella Beljan hat in Bielefeld, London und Berlin Geschichts- und Literaturwissenschaften sowie Literarisches übersetzen und Philosophie studiert. Sie wurde in Luxemburg und Regensburg in der Germanistik promoviert und arbeitet als freie Kulturjournalistin und übersetzerin in Berlin. Ihre Lieblingsgeschichte in Kristen Roupenians Band ist Nachtläufer.

Informationen zum Buch

Brillant, lakonisch und bitterkomisch: Das Psychogramm unserer Zeit.

Mann und Frau. Mutter und Tochter. Freunde und Freundinnen. In zwölf Stories erkundet Kristen Roupenian das Lebensgefühl von Menschen in einer schönen neuen Welt. Fragile Hierarchien und prekäre Lebenssituationen auf der einen, das Bedürfnis nach Sicherheit und Spaß auf der anderen Seite: Alles ist möglich, aber wer sind wir, wenn wir alles sein können? Mit so viel Einsicht in die Wünsche und Ängste des Einzelnen hat man noch nicht über das Zusammenleben in dieser neuen Zeit gelesen – einer Zeit, in der alles greifbar ist, und es doch immer schwerer wird, auch nur das Geringste davon zu erreichen.

»Einzigartig – zum ersten Mal werden die Befindlichkeiten der Millennials beschrieben.« Washington Post

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Kristen Roupenian

Cat Person

Storys

Aus dem Amerikanischen von
Nella Beljan und Friederike Schilbach

Inhaltsübersicht

Über Kristen Roupenian

Informationen zum Buch

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Böser Junge

Look at Your Game, Girl

Sardinen

Nachtläufer

Der Spiegel, der Eimer und der alte Knochen

Cat Person

Ein netter Typ

Der Junge im Pool

Vernarbt

Matchbox Sign

Todeswunsch

Beißerin

Danksagung

Impressum

Für meine Mutter, Carol Roupenian,
die mir beigebracht hat, zu lieben,
wovor ich mich fürchte

He sez

There is something jerking

in your ribcage

that is not a heart

It is cow-intestine white

& fibrous & gilled

Lara Glenum, Pulchritude

Böser Junge

Unser Freund kam neulich abends bei uns vorbei. Er und seine schreckliche Freundin hatten sich getrennt. Es war bereits das dritte Mal, aber er bestand darauf, dass es dieses Mal endgültig sei. Während er in unserer Küche auf und ab ging, arbeitete er sich durch die zehntausend banalen Demütigungen und Qualen ihrer sechsmonatigen Beziehung, während wir schnaubten und uns grämten und unsere Gesichter teilnahmsvoll verzogen. Als er ins Bad verschwand, um sich zu sammeln, fielen wir uns in die Arme, als brächen wir zusammen, verdrehten die Augen und taten so, als würden wir uns erhängen oder erschießen. Einer von uns sagte, den detaillierten Tiraden unseres Freundes über die Trennung von seiner Freundin zuzuhören wäre so, als müsste man einem Alkoholiker dabei folgen, wie er sich über seinen Kater beschwert: Ja, das Leiden war echt, aber guter Gott, es war wirklich mühsam, Mitgefühl für jemanden aufzubringen, der so wenig Einsicht in die Ursachen seiner Probleme hatte. Wie lange würde sich unser Freund weiter auf schreckliche Menschen einlassen und dann erstaunt sein, wenn sie ihn furchtbar behandelten, fragten wir uns. Dann kam er aus dem Bad, und wir machten ihm seinen vierten Drink und sagten ihm, dass er zu betrunken sei, um nach Hause zu fahren, aber dafür herzlich willkommen, bei uns auf der Couch zu übernachten.

Nachts lagen wir im Bett und redeten über unseren Freund. Wir beschwerten uns darüber, wie klein unsere Wohnung war, darüber, dass wir keinen Sex haben konnten, ohne dass er uns hörte. Vielleicht sollten wir es trotzdem machen, sagten wir – so nah war er dem Ganzen wohl seit Monaten nicht gekommen (Sexentzug war eine der manipulativen Strategien der schrecklichen Freundin). Vielleicht würde es ihm ja sogar gefallen.

Als wir am nächsten Morgen aufstanden, um zur Arbeit zu gehen, schlief unser Freund noch, sein Hemd halb aufgeknöpft. Er war umgeben von zerdrückten Bierdosen, er hatte ganz offensichtlich allein weitergetrunken, nachdem wir zu Bett gegangen waren. Er sah so mitleiderregend aus, wie er dalag, dass wir uns ganz schlecht fühlten, weil wir in der Nacht zuvor so gemeine Witze über ihn gerissen hatten. Wir machten auch für ihn Kaffee, flößten ihm Frühstück ein und sagten, dass er so lange bei uns in der Wohnung bleiben könne, wie er wolle, aber als wir nach Hause kamen, waren wir trotzdem überrascht, ihn immer noch auf dem Sofa vorzufinden.

Wir bewegten ihn dazu, aufzustehen und sich zu duschen, dann luden wir ihn zum Abendessen ein und verboten ihm, im Restaurant über die Trennung zu sprechen. Im Gegenzug waren wir charmant. Wir lachten über seine Witze und bestellten eine zweite Flasche Wein und gaben ihm gute Ratschläge. Du verdienst jemanden, der dich glücklich macht, sagten wir. Eine gesunde Beziehung mit jemandem, der dich liebt, fuhren wir fort, und wir schauten einander an, im Blick die Wertschätzung für den jeweils anderen, bevor wir uns wieder mit ganzer Kraft ihm widmeten. Er hungerte wie ein trauriger kleiner Hund nach Lob und Anerkennung, und es fühlte sich gut an, zu sehen, wie sehr er sich darüber freute; wir wollten seinen samtigen Kopf streicheln, ihn hinter den Ohren kraulen und dabei zusehen, wie er sich vor Wohlbehagen wand.

Als wir das Restaurant verließen, waren wir so guter Dinge, dass wir unseren Freund wieder mit zu uns in die Wohnung einluden. Kaum waren wir da, fragte er, ob er noch einmal bei uns übernachten könne, und als wir nachhakten, gab er zu, dass er zurzeit nicht gern allein in seiner Wohnung sei, weil ihn sein Zuhause an seine schreckliche Freundin erinnere. Wir sagten, natürlich, du kannst so lange bleiben, wie du möchtest, wir haben eine ausziehbare Couch, dafür ist sie ja da. Aber hinter seinem Rücken warfen wir uns vielsagende Blicke zu, denn obwohl wir gut zu ihm sein wollten, wollten wir auf keinen Fall eine weitere Nacht auf Sex verzichten – erstens waren wir betrunken, zweitens hatte uns unsere Charmeoffensive beim Abendessen ziemlich angeturnt. Also gingen wir zu Bett, und sogar die Art, wie wir ihm Gute Nacht sagten, wies ziemlich eindeutig darauf hin, dass wir vögeln würden. Zunächst versuchten wir, nicht so viele Geräusche zu machen, aber es fühlte sich bald so an, als wäre es unsere Pflicht, leise zu sein, woraufhin wir loskicherten und uns gegenseitig ermahnten, was vermutlich lauter war, als es einfach ganz normal miteinander zu machen. Also trieben wir es, wie wir Lust hatten, und wir mussten zugeben, dass uns der Gedanke ganz schön anmachte, dass er da draußen war und uns im Dunkeln zuhörte.

Am nächsten Morgen waren wir ein wenig verlegen, aber wir sagten uns, vielleicht war es das, was er brauchte, den Schubser aus dem Nest, zurück in seine eigene Wohnung, und es könnte ihn sogar motivieren, eine Freundin zu finden, die öfter mit ihm schlief als alle zwei Monate. Aber am selben Nachmittag schickte er uns eine SMS und fragte, was wir später machen würden, und bald schon sollte er an den meisten Abenden der Woche bei uns übernachten.

Wir machten ihm Abendessen, und dann fuhren wir drei mit dem Auto irgendwohin, wir vorne, er auf dem Rücksitz. Wir witzelten, dass wir ihm Taschengeld und Aufgaben im Haushalt zuteilen würden; wir alberten weiter, dass wir unsere Telefonverträge anpassen müssten, um ihn als Familienmitglied in unseren Tarif aufzunehmen, da wir so viel Zeit miteinander verbrachten. Darüber hinaus, sagten wir, könnten wir so besser auf ihn achtgeben und ihn davon abhalten, seiner schrecklichen Ex-Freundin zu schreiben, denn obwohl sie nicht mehr zusammen waren, standen sie noch in Kontakt und er hing die ganze Zeit an seinem Telefon. Er versprach, damit aufzuhören, er schwor, er wisse, wie schlecht es für ihn sei, nur um ihr direkt wieder eine SMS zu schicken. Meist genossen wir aber die Zeit, die wir mit ihm verbrachten. Wir mochten es, ihn zu umsorgen und uns um ihn zu kümmern, wir schimpften mit ihm, wenn er so unverantwortliche Dinge machte, wie seiner schrecklichen Ex-Freundin zu schreiben oder bei der Arbeit zu fehlen, weil er die Nacht zuvor zu lange aufgeblieben war.

Die ganze Zeit über, die er bei uns wohnte, hatten wir weiterhin Sex. Tatsächlich war es der beste Sex, den wir je hatten. Es wurde zum Mittelpunkt unserer Phantasien, wir stellten uns vor, wie er sein Ohr an die Wand presste, total aufgewühlt vor Eifersucht, Erregung und Scham. Wir wussten nicht, ob das stimmte – vielleicht hielt er sich auch mit einem Kissen die Ohren zu und versuchte, uns zu ignorieren; vielleicht waren unsere Wände auch viel schalldichter, als wir dachten – aber wir taten so, als ob es stimmte, wir wagten es sogar, das Schlafzimmer zu verlassen, noch ganz rot im Gesicht und atemlos, um ein Glas Wasser aus der Küche zu holen und nachzusehen, ob er wach war. Wenn er es war (und er war immer wach), wechselten wir ein paar ungezwungene Worte mit ihm und gingen dann zurück ins Bett, um darüber zu lachen und mit noch größerer Lust ein zweites Mal zu ficken.

Wir hatten so viel Spaß an diesem Spiel, dass wir ein bisschen weiter gingen, indem wir halb nackt oder in Handtücher gewickelt herauskamen, die Tür einen Spalt weit offen ließen oder noch ein bisschen mehr. Am Morgen nach einer besonders wilden Nacht ärgerten wir ihn, indem wir ihn fragten, ob er gut geschlafen oder wovon er geträumt habe, und er schaute zu Boden und sagte: Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

Der Gedanke, dass er zu uns ins Bett kommen würde, war nur eine Phantasie, aber seltsamerweise ärgerten wir uns nach einer Weile über unseren Freund, der sich so zierte. Wir wussten, wenn wir wollten, dass etwas liefe, müssten wir den ersten Schritt machen. Wir waren ihm erstens rein zahlenmäßig überlegen, zweitens war es unsere Wohnung, und drittens lief es so unter uns: Wir kommandierten ihn herum, und er tat, was wir ihm auftrugen. Zugleich nahmen wir uns einiges ihm gegenüber heraus. Wir waren ziemlich leicht reizbar, wir hackten auf ihm herum, machten ihn verantwortlich für unsere unerfüllte Begierde und zogen ihn noch mehr auf als zuvor.

Wann findest du endlich eine neue Freundin, fragten wir. Gott, es ist so lange her, das muss dich ja total verrückt machen. Du holst dir auf unserer Couch aber keinen runter, oder? Bevor wir ins Bett gingen, standen wir mit verschränkten Armen da, als wenn wir böse auf ihn wären, und sagten, du solltest dich hier besser benehmen, das ist eine schöne Couch, wir wollen morgen keine Flecken darauf haben. Wir spielten sogar vor anderen Leuten, vor allem vor hübschen Mädchen, indirekt auf diesen Running Gag an. Erzähl’s ihr, sagten wir. Erzähl ihr von der Couch und wie sehr du es genießt, du genießt es doch, nicht wahr? Und er würde sich winden, schließlich nicken und sagen: Ja, ich genieße es.

Dann kam eine Nacht, in der wir alle betrunken waren, so richtig betrunken, und wir trieben unsere Witzeleien auf die Spitze und bestanden darauf, dass er es zugab: Komm schon, du machst es die ganze Zeit, richtig, du treibst es hier so richtig wild, du hörst uns zu, du Perverser, du denkst, wir wüssten das nicht? Und dann erstarrten wir für einen Augenblick, denn es war das erste Mal, dass wir es laut aussprachen: dass wir wussten, er konnte uns hören, dabei wollten wir das eigentlich noch gar nicht herauslassen. Er sagte nichts, also gingen wir ihn noch härter an – wir können dich hören, sagten wir und prosteten ihm zu, wir hören deinen schweren Atem und wie die Couch quietscht, du stehst vermutlich die halbe Nacht an der Tür und beobachtest uns, wir meinen, das ist okay, es macht uns nichts aus, wir wissen, du bist verzweifelt, aber Gott, bitte hör auf zu lügen. Dann lachten wir, eine Spur zu laut, tranken noch ein paar Shots, und dann fingen wir mit etwas Neuem an. Der Spaß bestand darin, da er uns ja ohnehin schon zigmal zugesehen hatte, dass es nur fair wäre, wenn nun wir an der Reihe wären, ihm zuzusehen. Er solle uns das einfach mal zeigen, er solle uns zeigen, was er da auf der Couch trieb, unserer Couch, wenn wir nicht dabei waren. Stundenlang, zumindest fühlte es sich so an, machten wir uns über ihn lustig, wir piesackten ihn, stichelten, hackten auf ihm herum, und er schien immer mehr die Fassung zu verlieren – aber er ging nicht, sondern blieb wie angewurzelt auf der Couch sitzen, und als er endlich den Reißverschluss seiner Jeans öffnete, fühlten wir uns wie in einem Rausch, der mit nichts zu vergleichen war. Wir schauten ihm so lange zu, wie wir es nur aushielten, taumelten dann ins Schlafzimmer und trieben es bei offener Tür, aber wir luden ihn nicht ein, näher zu kommen bei diesem ersten Mal; wir wollten, dass er uns einfach nur von draußen zusah.

Der nächste Morgen war ein bisschen peinlich, aber wir behaupteten einfach, dass wir unfassbar betrunken gewesen seien, Gott, kompletter Filmriss. Er ging nach dem Frühstück und verschwand für drei ganze Tage. Am vierten Abend schrieben wir ihm eine SMS und gingen alle zusammen ins Kino, und am fünften Abend kam er wieder mit zu uns. Wir erwähnten unsere Albereien nicht, oder was zwischen uns geschehen war, aber allein die Tatsache, dass wir erneut miteinander tranken, schien wie eine Übereinkunft, dass es wieder passieren würde. Wir tranken kontinuierlich, mit gebotenem Ernst, und Stunde um Stunde steigerte sich die Spannung wie auch unsere Gewissheit, dass er es wollte, bis wir endlich sagten: Geh ins Schlafzimmer und warte da auf uns. Als er das tat, ließen wir uns ziemlich lange Zeit, um unsere Drinks zu leeren, genossen jeden Schluck, bevor wir unsere Gläser abstellten und ihm ins Schlafzimmer folgten.

Wir stellten die Regeln auf, sagten, was er durfte und was nicht, was er berühren durfte und was nicht. Meist durfte er gar nichts: Er schaute uns zu, und manchmal erlaubten wir ihm nicht einmal das. Wir waren Tyrannen; wir fanden am meisten Gefallen daran, die Regeln aufzustellen und seine Reaktion darauf zu beobachten. Zuerst war es noch etwas seltsam Unausgesprochenes, was während dieser Nächte passierte, eine Blase, die an den Rändern des echten Lebens haftete; aber dann, ungefähr eine Woche später, stellten wir auch für tagsüber Regeln auf, die er zu befolgen hatte, und plötzlich zerbarst die Welt, wie sie war, mit einem großen Krachen, und heraus quollen lauter neue Möglichkeiten.

Am Anfang trugen wir ihm das auf, was wir ihm ohnehin schon die ganze Zeit über gesagt hatten: Steh auf, geh unter die Dusche, rasier dich, hör auf, diesem schrecklichen Mädchen zu schreiben. Aber jetzt war jede Anweisung von einem elektrisierten Knistern begleitet, einem Flimmern in der Luft. Wir stellten noch mehr Regeln auf: Er sollte shoppen gehen und schönere Kleidung kaufen, die wir ihm ausgesucht hatten. Er sollte sich die Haare schneiden. Er sollte uns Frühstück zubereiten. Er sollte den Bereich um die Couch, wo er schlief, sauber machen. Wir stellten einen genauen Tagesplan auf und unterteilten ihn in immer detailliertere Abschnitte, bis er nur noch schlief, aß oder pissen ging, wenn wir es ihm erlaubten. Das hört sich grausam an, wenn man das so liest, und vielleicht war es das auch, aber er fügte sich alldem, ohne sich zu beschweren, und für eine Weile blühte er in unserer Obhut richtig auf.

Wir liebten ihn, seinen Eifer, uns zu gefallen, und dann fing es langsam an, uns unter die Haut zu gehen. Sexuell gesehen war sein unfehlbarer Instinkt zu gehorchen frustrierend; als wir uns erst mal an dieses neue Muster gewöhnt hatten, war von der Aufregung oder Unsicherheit der ersten schwindelerregenden Nacht nichts mehr zu spüren. Bald schon begannen wir wieder, ihn aufzuziehen; wir alberten herum, dass wir wie seine Eltern seien, darüber, dass er sich wie ein Baby benahm, darüber, was ihm erlaubt war auf der Couch und was nicht. Wir fingen an, Regeln aufzustellen, die er unmöglich einhalten konnte, und verhängten kleine Strafen, wenn er diese Regeln brach. Böser Junge, zogen wir ihn auf. Sieh nur, was du angerichtet hast. Das beschäftigte uns für eine Weile. Wir waren so teuflisch kreativ mit unseren Strafen, und dann begannen auch die Strafen zu eskalieren.

Wir ertappten ihn dabei, wie er dem schrecklichen Mädchen schrieb, und dann konfiszierten wir sein Telefon. Wir stellten fest, dass er die ganze Zeit mit ihr gesimst hatte, nachdem er doch versprochen – nein, geschworen! – hatte, sie wären nicht mehr zusammen. Es war überhaupt nicht witzig, wir waren sauer, wir fühlten uns hintergangen. Wir setzten ihn an den Tisch, uns gegenüber. Sieh mal, sagten wir, du musst nicht bei uns bleiben, wir halten dich hier nicht fest, geh zurück in deine Wohnung, wenn du möchtest, ernsthaft, uns ist das verdammt noch mal scheißegal.

Es tut mir leid, sagte er, ich weiß, sie tut mir nicht gut, sie ist nicht das, was ich will. Er weinte. Es tut mir leid, sagte er erneut, bitte, schickt mich nicht weg.

Okay, sagten wir, aber was wir dann in dieser Nacht mit ihm machten, war selbst für uns zu viel, und am nächsten Morgen waren wir von uns selbst angeekelt und fühlten uns bei seinem Anblick elend. Wir sagten ihm, er solle nach Hause gehen und wir würden ihn wissen lassen, wenn wir wieder mit ihm reden wollten.

Sobald er gegangen war, langweilten wir uns aber so sehr, dass wir es kaum aushielten. Ganze zwei Tage verbrachten wir so. Aber ohne ihn, der uns zuschaute, fühlten wir uns so sinnlos und leer, es war fast, als würden wir gar nicht existieren. Wir verbrachten die meiste Zeit damit, über ihn zu sprechen, wir spekulierten darüber, was wohl nicht mit ihm stimmte, über all die Dinge, deretwegen er so kaputt war, und dann versprachen wir einander, wenn wir das jetzt durchziehen würden, wie auch immer das aussah, würden wir es respektvoll angehen, mit regelmäßigen Gesprächen und Safewords und polyamourösen Treffen. Und am dritten Tag sagten wir ihm, dass er wieder zu uns kommen solle. Wir hatten nichts als gute Absichten, aber wir waren so lächerlich höflich miteinander und fühlten uns dermaßen unwohl, dass schließlich der einzige Weg, diese Spannung aufzulösen, darin bestand, ins Schlafzimmer zu gehen und all die Dinge zu wiederholen, die uns drei Tage zuvor so angewidert hatten.

Danach benahmen wir uns noch schlimmer. Er war wie ein glitschiges Etwas, das wir in unseren Händen gefangen hielten, und je fester wir zudrückten, desto mehr davon quoll uns durch die Finger. Wir jagten nach etwas in ihm, das uns aufputschte, aber wie Hunde wurden wir ganz verrückt von dem Geruch. Wir experimentierten ein wenig – mit Schmerzen und blauen Flecken, Fesseln und Sexspielzeug – und danach brachen wir in einem Durcheinander von feuchten Gliedmaßen zusammen, alle ineinanderverschlungen wie der Müll, der nach einem Sturm an den Strand geschwemmt wird. Ein eigentümlicher Frieden herrschte in diesen Momenten, das Schlafzimmer still bis auf unseren sich verlangsamenden überlappenden Atem. Aber dann verbannten wir ihn aus dem Zimmer, damit wir allein sein konnten, und schon bald kam der dringliche Wunsch, ihn erneut zu brechen, wieder in uns auf. Egal, was wir taten, er würde uns nicht davon abhalten, er würde niemals, niemals Nein sagen.

Aus Selbstschutz schoben wir ihn, so weit es ging, in die hinterste Ecke unseres Lebens, so weit weg, wie wir nur konnten. Wir hörten auf, mit ihm auszugehen, hörten auf, mit ihm zu Abend zu essen, hörten auf, mit ihm zu sprechen. Wir gaben ihm sein Telefon zurück und zitierten ihn lediglich zum Sex zu uns, brutale drei-, vier-, fünfstündige Sessions, bevor wir ihn wieder nach Hause schickten. Wir bestanden darauf, dass er uns zur Verfügung stand, jederzeit, und wir spielten mit ihm wie mit einem Jo-Jo: Geh, komm, geh, komm. Unsere Freunde hatten seit Ewigkeiten nichts mehr von uns gehört; die Arbeit war ein Paralleluniversum, ein Ort, an dem wir uns ausklinkten und kurz ausruhten. Wenn er nicht bei uns zu Hause war, starrten wir einander an, völlig ausgelaugt, im Kopf immer denselben ausgelutschten Pornofilm in Endlosschleife.

Bis zu dem Tag, an dem er aufhörte, sofort auf unsere Nachrichten zu antworten. Erst vergingen fünf Minuten, dann zehn, dann eine Stunde, und dann, zuletzt, schrieb er: Ich weiß nicht, ob ich es heute Abend schaffe, sorry, ich bin gerade ziemlich durcheinander.

Wir rasteten komplett aus. Wir drehten am Rad. Wir rannten in der Wohnung herum und zertrümmerten Gläser, wir schrien, was zum Teufel denkt der sich eigentlich, fuck, das kann er nicht mit uns machen. Wir fanden nicht mehr in unser altes Leben zurück, wir zwei, mit harmlosem Blümchensex in unserem Schlafzimmer, bei dem uns niemand zusah, niemand, an dem wir zerren und reißen konnten, außer uns selbst. Wir wüteten umher, riefen ihn zwanzig Mal hintereinander an, aber er ging nicht ans Telefon, und zuletzt entschieden wir: Nein, das ist vollkommen inakzeptabel, wir gehen da jetzt hin, er kann sich ja nicht vor uns verstecken, wir finden jetzt heraus, was da los ist, verdammte Scheiße. Wir waren völlig außer uns, aber in die Wut mischte sich auch eine Art wilde Aufregung, ein Nervenkitzel fast wie bei einer Jagd: das Wissen darum, dass etwas Hochexplosives und Unwiderrufliches in Gang gesetzt wurde.

Wir sahen, dass sein Auto vor dem Haus, in dem er wohnte, parkte und das Licht in seinem Zimmer an war. Von der Straße aus riefen wir ihn erneut an, aber er nahm wieder nicht ab, und weil wir den Ersatzschlüssel von seiner Wohnung hatten, noch aus der Zeit, als wir uns gegenseitig die Blumen gossen und den Briefkasten leerten, öffneten wir uns selbst die Tür.

Sie waren da, im Schlafzimmer, unser Freund und das schreckliche Mädchen. Sie waren nackt, er war auf ihr drauf und vögelte sie. Es sah so lächerlich normal aus im Vergleich zu dem, was wir gemacht hatten, dass unsere erste Reaktion aus Lachen bestand.

Sie sah uns noch vor ihm und stieß einen kleinen überraschten Schrei aus. Er rollte von ihr herunter, und sein Mund öffnete sich, aber es kam kein Wort heraus. Sein angsterfülltes Gesicht besänftigte uns etwas, aber es war nur der winzige Tropfen in einer riesigen Feuersbrunst. Die Freundin versuchte umständlich, sich zu bedecken, und ihr schockiertes Blöken verwandelte sich in eine Salve von Anschuldigungen. Was zur Hölle macht ihr hier, kreischte sie, was für eine verdammte Scheiße ist das, warum seid ihr hier aufgekreuzt, ihr seid so verdammt krank, er hat mir alles über euch erzählt, von dem Kram, den ihr macht, das ist so krank, sofort raus hier, verdammte Scheiße, ihr habt hier nichts zu suchen, ihr Freaks, raus, raus, raus hier.

Halt den Mund, sagten wir, aber sie ignorierte uns.

Bitte, bettelte unser Freund sie an, bitte, hör auf damit. Ich kann nicht nachdenken, bitte.

Aber sie hörte nicht auf. Sie redete weiter, sagte Dinge über ihn, über uns, über alles, was geschehen war. Sogar als er bei uns über sie sprach, hatte er ihr von uns erzählt; und jetzt wusste sie alles, inklusive der Dinge, über die wir aus Scham nicht mal untereinander gesprochen hatten. Wir dachten, wir hätten ihn komplett bloßgestellt, aber er hatte uns angelogen, das hier vor uns verheimlicht, die ganze Zeit über, und am Ende waren wir diejenigen, die bloßgestellt wurden.

Mach, dass sie aufhört, schrien wir, wir spürten richtig, wie die Panik in uns aufstieg; mach, dass sie aufhört, das zu sagen, bring sie zum Schweigen, bring sie sofort zum Schweigen. Wir ballten unsere Fäuste und starrten ihn an, und er zitterte, seine Augen ganz wässrig, und dann verpuffte die Wut, die uns verzehrt hatte, von selbst, und irgendetwas anderes rastete ein.

Mach, dass sie aufhört, sagten wir erneut –

Und er tat es.

Er fiel mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf sie hinab, sie kämpften, schlugen wild um sich und rangen miteinander, bis das Bett bebte und die Lampe auf dem Nachttisch wackelte, dann beruhigten sie sich und fanden in einer Stellung zusammen, seine Brust gegen ihren Rücken, sein Arm umschlang ihren Hals, ihr Gesicht in der Matratze vergraben.

Gut, sagten wir. Jetzt mach weiter. Mach weiter mit dem von eben. Lass dich nicht von uns stören. Du willst das, nicht wahr? Du weißt, dass du das willst. Also mach weiter. Bring es zu Ende. Bring zu Ende, was du angefangen hast.

Er fluchte, blickte auf das schreckliche Mädchen unter ihm, das aufgehört hatte, sich zu wehren, sein Haar ein Nest aus mattem Gold.

Bitte zwingt mich nicht dazu, sagte er.

Am Ende doch: dieser letzte Rest Widerstand. Aber eigentlich war es enttäuschend, weil so erbärmlich – wie er dalag, so klein, und uns, uns gehörte die Welt. Wir hätten in dem Augenblick gehen können, wir hatten es herausgefunden, wir wussten, wir könnten damit brechen, ihn brechen – aber wir gingen nicht. Wir blieben, und er machte, was wir ihm sagten. Bald war die Haut des schrecklichen Mädchens weiß wie Pergamentpapier, bis auf den riesigen Bluterguss, der sich auf ihren Oberschenkeln ausbreitete, und sie bewegte sich nicht mehr, außer wenn er sie bewegte, und ihre fest verschlossene Hand lockerte sich, ihre bleichen Finger öffneten sich. Dennoch machte er weiter; als es dunkel im Raum wurde und das Licht wieder hereinfiel und die Luft dick wurde von den Gerüchen im Raum, hielten wir ihn dort fest, und er tat, was wir ihm sagten. Zu dem Zeitpunkt, als wir ihm befahlen aufzuhören, waren ihre Augen zwei blaue Murmeln, und ihre trockenen Lippen wölbten sich weit über die Zähne. Er rollte von ihr herunter und stöhnte, er versuchte sich von ihr wegzuwühlen, weg vor uns, aber wir legten unsere Hände auf seine Schultern und glätteten sein verschwitztes Haar, strichen die Tränen von seinen Wangen. Wir küssten ihn, legten seine Arme um sie herum und drückten sein Gesicht gegen ihres. Böser Junge, sagten wir sanft zu ihm, als wir gingen.

Sieh nur, was du angerichtet hast.

Look at Your Game, Girl

Im September 1993 war Jessica zwölf Jahre alt – 24 Jahre nach den Manson-Morden, fünf Jahre nachdem Hillel Slovak an einer Überdosis Heroin gestorben war, sieben Monate, bevor sich Kurt Cobain in den Kopf schoss und drei Wochen, bevor ein Mann mit einem Messer Polly Klaas von einer Übernachtungsparty mit Freunden in Petaluma, Kalifornien, entführte.

Jessicas Familie war von San Jose, wo sie das beliebteste Mädchen ihres Jahrgangs, der 6. Klasse, gewesen war, nach Santa Rosa gezogen, wo sie sich unglücklich zwischen verschiedenen Freundeskreisen hin und her bewegte: zwischen ihren beliebten Freunden, die sie nicht sonderlich beachteten; ihren Bandfreunden, die nett waren, aber langweilig; und denjenigen, die sie heimlich die fiesen Freunde nannte, die die faszinierendsten waren, aber auch die gemeinsten, deren Witze sich wie kleine Nägel in die Haut gruben. Mit den fiesen Freunden konnte sie lediglich in kleinen aufregenden Etappen ihre Zeit verbringen, bevor sie sich ganz ausgelaugt und wund fühlte und sich erholen musste in der tröstlichen Gegenwart ihrer Bandfreunde.

Jessicas Familie lebte in einem hellgelben viktorianischen Haus in Lomita Heights, und jeden Tag, wenn sie von ihrem Feldhockey-Training heimkam, schüttete sie ihre Schulhefte über dem Bett aus, füllte ihre Tasche mit ihrem Discman, ihrer schwarzen CD-Mappe und den Büchern, die sie aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, sowie einem Apfel und drei Scheiben Käse als Snack. Dann lief sie die drei Blocks von ihrem Haus zum Park, wo die Skateboarder abhingen. Wenn sie den Park erreicht hatte, setzte sie sich ans untere Ende der gewundenen Rutsche und suchte sich ihre Musik und ein Buch aus. Sie besaß 17 CDs, hörte aber nur drei davon: Blood Sugar Sex Magik, Use Your Illusion I und Nevermind. Die Bücher waren meist Taschenbücher mit ganz abgenutztem Buchrücken aus dem Science-Fiction- oder Fantasy-Regal über Jungs, die Superkräfte entwickelten.

Die Skateboarder im Park waren älter als sie, 13 oder vielleicht 14, sie unterhielten sich laut und fuhren mit ihren Skateboards die Betonbrüstung hinab, was ein schreckliches Kratzgeräusch machte. Manchmal hoben sie ihre T-Shirts an, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, und entblößten dabei ihre flachen, braun gebrannten Bäuche. Und immer mal wieder blieb einer der Jungs mit seinem Skateboard hängen, landete auf Knien und Händen und hinterließ vier leuchtend rote Streifen Blut auf dem Boden. Keiner von ihnen sprach jemals mit ihr. Jessica sah ihnen etwa eine Stunde lang zu, hörte ihre Musik, tat so, als würde sie ihr Buch lesen, und ging dann heim.

Das erste Mal, als sie ihn sah, war sie gerade dabei, eine neue Guns-N’-Roses-CD zu öffnen. Sie hatte ihre Fingernägel an der Zellophanfolie entlangstreifen lassen und wollte sie gerade mit den Zähnen aufreißen, als sie ihn dabei erwischte, wie er sie von der anderen Seite des Spielplatzes beobachtete. Sie dachte, er wäre einer von den Skateboardern. Er war etwa so groß wie sie, von derselben schlaksigen Statur, aber seine Haare waren länger, gingen bis über die Schultern, und als er zur Seite trat, so dass er nicht mehr in der gleißenden Spätnachmittagssonne stand, erkannte sie, dass er mindestens um die zwanzig war – ein junger, aber erwachsener Mann. Als er bemerkte, dass sie ihn ansah, winkte er ihr zu, richtete seinen Daumen und seine Finger wie eine Waffe auf sie und feuerte ab.

Drei Tage später hörte sie gerade ihr neues Album, als derselbe Mann aus dem Nichts auf sie zukam und sich neben sie setzte, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf den Kies vor ihrer Rutsche. »Hey, Mädchen«, sagte er. »Was hörst du da?«

Sie war zu überrascht, um mit ihm zu sprechen, also öffnete sie ihren CD-Player und zeigte ihm die CD.

»Oh, ja klar, du magst ihn?«

Er hätte sagen müssen, Du magst sie, weil Guns N’ Roses eine Band war, nicht nur ein Sänger, aber sie nickte.

Die Augen des Mannes waren ausdruckslos und blau und wurden ganz schmal, als er lachte. »Ja«, sagte er, »ich wette, du liebst ihn.«

Die Art, wie er das sagte, ließ sie plötzlich denken, dass er es vielleicht doch wusste – nicht, wie sie über die Band dachte, sondern über Axl: wie er seine Rippshirts trug, sein schimmerndes rötlich goldenes Haar.

»Er hat eine gute Stimme«, sagte sie.

Der Mann runzelte die Stirn und dachte darüber nach. »Das hat er«, sagte er. Dann fragte er: »Wie ist das Album?«

»Es ist okay«, sagte sie. »Es besteht fast nur aus Coversongs.«

»Findest du das schlecht?«

Sie zuckte mit den Schultern. Er sah sie an, als ob er noch etwas erwartete, aber sie hatte dem nichts hinzuzufügen. Sie öffnete den Mund, um so etwas zu sagen wie: Bist du nicht zu alt, um dich mit mir zu unterhalten, oder: Weißt du nicht, dass das hier ein Ort für Kinder ist?, aber stattdessen hörte sie sich antworten: »Es gibt einen Hidden Track darauf.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Oh, wirklich?«

»Jap.«

Sie wartete darauf, dass er fragte, ob er ihn mal hören dürfe oder sogar, was ein Hidden Track sei, aber das tat er nicht. Er blieb einfach sitzen, auf eine Art, bei der sie sich komisch vorkam. Sie setzte die Kopfhörer wieder auf, skippte zum letzten Track und ließ ihn schneller weiter durch die Stille laufen, bis die Musik wieder losging. Sie bot ihm die Kopfhörer an, und er nickte. Als sie sie ihm reichte, streichelten seine Fingerspitzen ihre. Sie zog ihre Hand weg, als hätte sie ein Stromschlag getroffen, und er lächelte sie traurig an. Er stülpte die Kopfhörer fest über seine Ohren, und sie verschwanden in seinen unordentlichen Haaren.

»Bist du bereit?«, fragte sie.

»Leg los.«

Sie drückte auf Play. Er schloss seine Augen, hielt mit seinen Händen die Kopfhörer fest umschlossen und begann sich mit der Musik zu wiegen. Er leckte seine Lippen und fing an, den Song mitzuhauchen, wobei er seine Finger in der Luft bewegte, als würde er Gitarre spielen. Es war ziemlich peinlich, wie intensiv er sich der Musik hingab, und nach einer Weile konnte sie nicht mehr in sein Gesicht blicken, also schaute sie auf seine Füße. Er war barfuß, und die zarten Stellen zwischen seinen Zehen waren schmutzverkrustet. Seine Zehennägel waren lang und gelb.

Als das Lied zu Ende war, gab er ihr die Kopfhörer zurück, klopfte zweimal auf ihren Discman und sagte: »Ich finde das Original besser.«

Er beobachtete sie, während er das sagte, und als sie nicht sofort antwortete, ging er zum Angriff über. »Du weißt, wovon ich spreche, oder?«

»Es steht nicht im Booklet«, gab sie zu.

»Das heißt, du hast sie noch nie gehört? Die Originalversion von dem Song?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mann, Mädchen«, sagte er langsam, »Mann, Mädchen, du verpasst echt was!«

Sie begann ihre Sachen zusammenzupacken.

»Sei nicht sauer«, sagte er.

»Ich bin nicht sauer.«

»Ich glaube doch. Ich glaube, du bist sauer auf mich.«

»Bin ich nicht. Ich muss jetzt gehen.«

»Geh, na geh schon.« Er winkte ihr zu. »Es tut mir leid, wenn ich dich verärgert habe. Ich mach’s wieder gut, ich versprech’s. Das nächste Mal, wenn wir uns sehen, bringe ich dir ein Geschenk mit.«

»Ich will kein Geschenk.«

»Dieses schon«, sagte er.

Sie sah ihn die ganze Woche über nicht mehr. Am Wochenende besuchte sie ihre fiese Freundin Courtney und trank das erste Mal in ihrem Leben Alkohol, drei brennende Schlucke Wodka mit O-Saft, und ihre Gliedmaßen fühlten sich extrem schwer an. Am nächsten Mittwoch tauchte er wieder auf und hielt etwas in der Hand.

»Ich hab das Geschenk für dich dabei«, sagte er.

»Ich will’s nicht.«

Er wackelte mit dem Kopf, als ob ihm ihre ruppige Art gefiele. Er öffnete die Hand und zeigte ihr eine Kassette. Durch die durchsichtige Kassettenhülle konnte sie die mit dunkler Tinte handgeschriebene Playlist erkennen.

»Ich kann mir das nicht anhören«, sagte sie. »Ich habe keinen Kassettenrekorder.«

»Nein, hier nicht«, sagte er. »Aber vielleicht zu Hause?«

»Zu Hause auch nicht.«

»Dann bring ich dir einen mit.«

Sein Hemd war dreckiger als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, und er hatte sein Haar mit einem zerrissenen Schnürsenkel lose zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie fragte sich, woher er die Schnürsenkel hatte, denn er trug ja keine Schuhe. Vielleicht war er obdachlos.

»Mach das nicht, bring mir nichts mit.«

Er lachte. Seine Augen waren sehr, sehr blau. »Ich bring ihn dir morgen.«

Sie überlegte, zu Hause zu bleiben, aber dann dachte sie, warum sollte ich, es ist auch mein Park. Außerdem war der Park tagsüber voller Menschen; wenn er etwas versuchen sollte, würde sie um Hilfe schreien, und die Skateboarder würden kommen, um sie zu retten. Sie dachte nicht, dass er etwas anstellen würde, nicht wirklich. Also ging sie hin, aber obwohl sie bis fast halb sieben an der Rutsche blieb, tauchte er nicht auf.

Eine weitere Woche verging, bevor er wieder zu ihr kam. »Sorry«, sagte er. »Ich hab dir versprochen, ich finde einen Kassettenrekorder für dich, aber ich hab länger gebraucht, als ich dachte.« Er hielt einen gelben, batteriebetriebenen Walkman in den Händen, der aussah, als hätte er ihn aus dem Müll gefischt. Die meisten Knöpfe fehlten, und der untere Teil war klebrig und rot verschmiert.

»Darauf möchte ich mir nichts anhören«, sagte sie. »Das ist ekelhaft.«

Er setzte sich wieder vor der Rutsche auf den Boden. »Ich muss mir deine Kopfhörer leihen«, sagte er. »Ich konnte keine finden.«

»Wer bist du?«, fragte sie. »Warum redest du mit mir?«

Er grinste. Seine Zähne waren gerade und weiß. »Wer bist du?«, fragte er. »Warum redest du mit mir

Sie verdrehte die Augen. Ihre Kopfhörer lagen in ihrem Schoß, und er nahm sie und steckte sie an den Walkman. Er griff in seiner Tasche nach der Kassette, die Jessica in der Vorwoche nicht von ihm hatte annehmen wollen, öffnete das Fach und steckte sie hinein.

»Bist du bereit?«, fragte er.

»Nein«, sagte sie. »Ich hab dir gesagt, ich möchte dein blödes Tape nicht hören.«

»Doch, willst du«, sagte er. »Du weißt es nur noch nicht.« Er richtete sich auf und stülpte ihr die Kopfhörer über die Ohren. Sie nahm seinen strengen Körpergeruch wahr, eine Mischung aus Zigarettenrauch, Schweiß und abgestandenem Atem. Sie wollte gerade die Kopfhörer herunterreißen, als sie das staubige Knistern hörte, wie das Rauschen am Anfang einer Platte, und dann einen Mann, der sang, begleitet von den rauen Akkorden einer Akustikgitarre. Seine Stimme war hoch und melancholisch und ein bisschen schief. Es erinnerte sie daran, wie sie sich gefühlt hatte, nachdem sie den Wodka getrunken hatte, als würde ein ganzer Planet auf ihr lasten, sie nach unten drücken.

Als das Lied zu Ende war, nahm sie die Kopfhörer ab und ließ sie an ihrem Nacken baumeln.

»Warst du das?«, fragte sie. »Hast du das gesungen?«

Der Mann sah hocherfreut aus. »Mädchen, das bin nicht ich. Das ist Charlie.«

»Wer?«

»Charlie. Charles Manson. Kennst du Charlie nicht?«

»Ist das ein Sänger?«

»Er war Sänger. Bevor er eine ganze Menge Leute umbrachte, draußen in Benedict Canyon.«

Sie starrte ihn zornig an. »Versuchst du, mir Angst einzujagen?«

»Auf keinen Fall«, sagte er. Er legte seine Hände auf ihre Schultern. »Charlie war ein Sänger, und er hätte ein Star sein können. Alle Mädchen beteten ihn an. Sie liebten ihn sogar noch mehr, als du Axl liebst, und er liebte sie genauso zurück. Sie folgten ihm überallhin, Mary und Susan und Linda und der ganze Rest. Aber dann brachten sie diese Frau und ihr Baby und eine Menge andere Leute um, und nun ist er eingesperrt, und die Mädchen sind auch eingesperrt, und die ganze Familie ist verstreut in alle Winde, aber sie haben nie aufgehört, einander zu lieben, nicht für eine einzige Minute, und darum geht es in all diesen Liedern.«

»Das ist ganz schön krank«, sagte Jessica und drehte sich weg. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, aber ich denke, du solltest jetzt besser gehen.«

»Aber du mochtest das Lied doch«, sagte er. Seine Stimme wurde ganz jungenhaft, fast bettelnd. »Ich wusste, du würdest es mögen. Darum habe ich es dir mitgebracht.«

»Ich wusste nicht, dass er ein Mörder ist!«

»Entschuldige bitte«, sagte er. »Du hast recht. Ich hätte dir das von Charlie nicht erzählen sollen. Ich wollte dir keine Angst machen, versprochen.«

Sie blickte ihn an, ganz durcheinander. Seine Arme waren gebräunt und muskulös, mit dicken schwarz gelockten Haaren darauf, aber seine Wimpern hatten eine andere Farbe – rotgolden, so wie Axls.

»Du kannst dir das Tape ausleihen, wenn du möchtest«, sagte er, als er aufstand. »Hör dir alle Lieder an. Ich denke, ›Look at Your Game, Girl‹ ist das beste, aber ich mag auch ›Cease to Exist‹ und ›Sick City‹. Vielleicht stimmst du mir zu. Oder auch nicht. Das wäre auch okay. Aber ich finde, alle Lieder sind wirklich gut.« Er öffnete den Rekorder und steckte die Kassette zurück in die Hülle, übergab sie ihr und starrte dabei auf den Boden, als wäre es ihm zu peinlich, ihr dabei ins Gesicht zu sehen.

Sie nahm die Kassette und steckte sie in ihre Tasche. »Danke«, sagte sie.

»Wirst du sie dir anhören?«

»Klar.«

»Das ist super. Vielleicht findest du irgendwo einen Kassettenrekorder. Ich würde dir den hier geben, wenn es ginge, aber es geht leider nicht, tut mir leid.«

»Das ist völlig okay, ich finde schon einen.«

Sie dachte, er würde jetzt gehen, aber dann beugte er sich über sie und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. Seine Hände waren riesengroß und warm, und ihr Gesicht fühlte sich in ihnen ganz klein an, wie ein Puppengesicht. Sie dachte, er würde sie jetzt küssen, aber er strich mit den Daumen über ihren Mund. Sie öffnete ihre Lippen, und sein Daumen glitt dazwischen. Sie fühlte die raue Fingerspitze, die auf ihre Zunge drückte, der Dreck unter seinem Daumennagel schmeckte bitter. Er sagte: »Natürlich musst du sie mir zurückgeben. Die Kassette, meine ich. Du gibst sie mir zurück, nicht wahr? Versprochen?«

Ihre Antwort wurde von seiner Hand gedämpft.

»Wann?«, fragte er. »Heute Abend?«

Sie schüttelte den Kopf. Er machte seinen Daumen frei, und sie konnte sehen, wie ihre Spucke darauf glänzte. »Ich kann nicht«, sagte sie atemlos. »Ich kann heute Abend nicht.«

»Warum nicht?«

»Meine Freundin – bei meiner Freundin ist heute Abend eine Übernachtungsparty. Ich muss da hin.«

Er lachte, als wenn es das Witzigste wäre, das er jemals gehört hatte. »Deine Freundin interessiert mich einen Dreck«, sagte er. »Wir treffen uns hier, nachdem du dir die Kassette angehört hast, und du erzählst mir, welches Lied du am besten findest.«

»Ich hab’s dir doch schon gesagt, ich kann nicht.«

»Mann, Mädchen«, sagte er. Er wuschelte ihr durch die Haare. »Natürlich kannst du. Sollen wir 10 Uhr sagen? Oder nein, wie wäre es mit Mitternacht?«

»Ich komme nicht um Mitternacht her. Ich bin zwölf. Bist du verrückt?«

»Also um Mitternacht«, sagte er und packte sie am Kinn. »Bis später.«

Natürlich würde sie nicht rausgehen und einen schmutzigen fremden Mann um Mitternacht im Park treffen. Das war eine dumme Idee; es war dumm, auch nur darüber nachzudenken. Sie konnte nicht anders, als ihn für sich Charlie zu nennen, auch wenn sie wusste, dass das nicht sein Name war, und sie dachte weiter über seinen Daumen nach, darüber, wie knochig und schmierig er gewesen war und wie sein Nagel das kleine Ding gekratzt hatte, das ihren Mundraum vom Rachen abgrenzte. Sie rannte immer wieder ins Bad, um den Mund weit aufzumachen und sicherzugehen, dass sie nicht blutete. Sie hätte ihn beißen sollen. Sie hätte seinen fürchterlichen Daumen direkt von seiner Hand abbeißen sollen, damit er schrie und seine Hand aus ihrem Mund herausriss und mit nichts als einem heftig blutenden Stumpen zurückblieb, der den Spielplatz vollblutete.

Natürlich würde sie den schrecklich gruseligen Charlie nicht um Mitternacht im Park treffen, aber dennoch, als ihre Bandfreunde sie anriefen und darum baten, dass sie die Videokassette von Bodyguard zur Übernachtungsparty mitbrachte, sagte sie, dass sie nicht kommen könne, weil sie Bauchschmerzen habe. Der Gedanke daran, dass sie ihre Bandfreunde kichern hören und sehen würde, wie sie mit ihren Teddybären kuschelten und Leicht wie eine Feder, steif wie ein Brett spielten, rief bei ihr den Wunsch hervor, jemanden zu treten, aber irgendwie tat ihr Bauch tatsächlich weh. Später dachte sie, vermutlich wäre sie besser zu der Übernachtungsparty gegangen, weil ihre Mutter, ihren Vater und ihren kleinen Bruder am Küchentisch sitzen zu sehen, wie sie Lasagne aßen, sie noch wütender machte.

»Mama, Papa«, sagte sie. »Ich habe eine Frage. Hat einer von euch schon mal von Charles Manson gehört?«

Ihre Mutter und ihr Vater hatten von Charles Manson gehört, aber sie wollten beim Abendessen nicht über ihn sprechen. Sie dachte daran, Courtney und Shannon anzurufen, um zu hören, was sie so vorhatten, aber dann stellte sie sich vor, wie die beiden sich unbedingt hinausschleichen wollten, um eine Zigarette zu rauchen, und der letzte Ort, an dem sie sein wollte, war draußen, in der Nacht, wo Charlie sie womöglich finden könnte. Wahrscheinlich sollte sie am besten einfach zu Hause bleiben. Zu Hause war der sicherste Ort für sie, weil Charlie nicht wusste, wo sie wohnte, und auch wenn er ihr irgendwann nach Hause gefolgt wäre, was er ganz sicher nicht getan hatte, hatten sie eine super einbruchsichere Alarmanlage, die ihr Vater installiert hatte, als sie eingezogen waren, ganz zu schweigen von ihrem Hund, Bosco, der ein Schäferhund-Mischling war und niemanden mochte, den er nicht schon als Welpe kennengelernt hatte. Sie war sicher. Ihr ging es gut. Auf keinen Fall würde sie Charlie um Mitternacht im Park treffen.