Über Han Kang

Han Kang ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, seitdem erschienen zahlreiche Romane. Seit sie für »Die Vegetarierin« gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize erhielt, haben ihre Bücher auch international großen Erfolg. Zuletzt erschien von ihr bei Aufbau der Roman »Menschenwerk«, der mit dem renommierten italienischen Malaparte-Preis ausgezeichnet wurde. Derzeit lehrt sie kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul.

Die Übersetzerin Kyong-Hae Flügel, geboren 1972 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul und Jena. Sie lebt seit 1996 in Jena.

Informationen zum Buch

Ein großer Roman über die Einsamkeit der menschlichen Existenz

Eines Tages verschwindet der Bildhauer Jang Unhyong beinahe spurlos. Er hinterlässt seine faszinierenden Gipsabdrücke von Händen und Körpern – und ein bewegendes Tagebuch, das seine lebenslange Suche nach Nähe und Wahrhaftigkeit in aller Welt voller Masken schildert.

»Han Kang erzählt zugleich mit großer Brutalität und großer Poesie – eine Mischung, die nur wenigen Schriftstellern gelingt.« Stern

»Man kann sich dieser Stimme nicht entziehen.« Independent

Von der Autorin des internationalen Bestsellers »Die Vegetarierin«

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Han Kang

Deine kalten Hände

Roman

Aus dem Koreanischen
von Kyong-Hae Flügel

Inhaltsübersicht

Über Han Kang

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

Ihre kalten Hände

Vorwort

Erster Teil: Die Finger

Der Onkel

Das Lächeln

Das Schweigen

Die Wahrheit

Der Mut

Mein Lachen

Seine Finger

Zweiter Teil: Die heilige Hand

Trauriges Gesicht

Was Schönheit bedeutet

Die Offenbarung

Außerirdischer

Das Monster

Die frierenden Lippen

Der Sarg

Ihre Augen

Die Zeit

Die Narbe

Das Geheimnis

Der Beweis

Hasenaugen

Bruchstücke

Das Laufband

Glück

Liebe

Lachen

Schweigen

Theater

Das zerdrückte Gesicht

Dritter Teil: Maskenball

Die Lippen

Die Frau im Spiegel

Der Albtraum

Das Miniaturenhaus

Die Stimme

Echt und falsch

Schmutz

Das Paradies

Die sehenden Augen

Totenmaske

Das Wiedersehen

Die warmen Hände

Dünnes Häutchen

Dragee

Erschöpfung

Hülle und Schale

Häutung

Was du willst

Hinter der Maske

Meine Finger

Epilog

1

2

3

4

Nachwort der Autorin

Impressum

Prolog

1

Bevor ich ihn persönlich kennenlernte, hatte ich seine Werke schon dreimal zufällig gesehen. Wenn man bedenkt, dass er kein bekannter Bildhauer war und ich mich nicht besonders für Bildhauerei interessierte, kann man das durchaus als außergewöhnlich bezeichnen.

Das erste Mal begegnete ich seinen Arbeiten vor fünf Jahren in der Stadt Gwangju, an einem Tag im Frühsommer. Damals besuchte ich meine Tante, die ältere Schwester meiner Mutter, die wegen einer halbseitigen Lähmung im Krankenhaus lag. Während wir uns unterhielten, sah ich die ganze Zeit nur das linke Auge an, die linke Seite der Lippen und die linke Wange, die unverändert schienen. Ich wollte gerade gehen, da fing sie an zu weinen. Auch aus dem halb geschlossenen rechten Auge flossen Tränen über die verzerrten Lippen. Sie hat sie wahrscheinlich nicht gespürt. Meine Cousine begleitete mich zum Aufzug.

»Ich danke dir, dass du den langen Weg hierher auf dich genommen hast.«

»Keine Ursache. Wir sind doch eine Familie.« Ich lächelte matt.

»Dieses Jahr ist wirklich wie verhext. Auch die kleine Tante ist so überraschend von uns gegangen.«

Sie sprach von meiner Mutter.

Wir fassten uns bei den Händen und standen uns eine Weile wortlos gegenüber. Als sich die Türen des Aufzugs mit einem Läuten öffneten, ließ meine Cousine mich los und trat einen Schritt zurück.

»Komm gut nach Hause.«

»Iss ordentlich. Gerade jetzt musst du gesund bleiben.«

»Keine Sorge. Ich bin topfit.« Sie beugte ihren Arm und tat so, als würde sie ihren Bizeps spielen lassen. Ein gezwungenes Lächeln huschte über ihr rundliches Gesicht.

Im Aufzug schob ich mich zwischen einige Besucher und einen Mann im Rollstuhl, dessen Infusionsflasche von einer Frau gehalten wurde. Noch bevor sich die Türen zwischen uns ganz geschlossen hatten, drehte sich meine Cousine um und ging in Richtung Krankenzimmer, anstatt die wenigen Sekunden des Abschieds auszuharren. In dem kurzen Augenblick, in dem sie ihren Kopf zur Seite wandte, sah ich ihren abwesenden Blick. Über ihren Augen lag ein wehmütiger Schatten, den sie mir gegenüber nicht gezeigt hatte.

Eigentlich hätte ich ein Taxi zum Busbahnhof nehmen müssen, stattdessen setzte ich mich auf eine Bank in der Eingangshalle des Krankenhauses, von wo aus der Taxistand zu sehen war, und beobachtete die Sonnenstrahlen. Die Nachricht von der Einlieferung meiner Tante hatte mich nachts erreicht, als ich gerade am Schreibtisch saß. Ich war dann am frühen Morgen sofort mit dem Expressbus losgefahren, und meine Müdigkeit jetzt überraschte mich nicht.

Ich war wohl mit offenen Augen eingeschlafen. Als ich zu mir kam, fiel mir ein Plakat auf, das an einer der Säulen der Eingangshalle klebte. »Ausstellung neuer Kunst aus Gwangju«, stand dort. In der Mitte war ein längliches Ei abgebildet, eine nicht sonderlich ansprechende Marmorskulptur. Darunter waren in chinesischen Schriftzeichen die Namen der acht teilnehmenden Künstler abgedruckt. Der etwas unzeitgemäße Eindruck, der von der einfachen Aufmachung des Plakats herrührte, wurde noch dadurch verstärkt, dass neben den unten aufgeführten Sponsoren auch der Name des Krankenhauses stand.

Ich musste bis neunzehn Uhr bei einer Monatszeitschrift einen Text abgeben. Die Abgabefrist war schon drei Tage zuvor abgelaufen und auf meinem Anrufbeantworter hatte der zuständige Redakteur mehrmals, erst drängend, dann flehend, schließlich vorwurfsvoll, die Nachricht hinterlassen, dass man nur noch auf meinen Artikel wartete − was absolut unglaubwürdig war. Ob ich den Text noch am selben Abend oder am nächsten Morgen abschicken würde, machte auch keinen großen Unterschied mehr.

Ich fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen und blickte auf die vor mir liegende Stadt Gwangju, in der ich mich nun so unerwartet aufhielt. War ich übermüdet, erschienen mir die Umrisse der Dinge häufig seltsam verschoben. Mein Gehirn arbeitete verlangsamt, irgendeine Gehirnregion jedoch schien besonders aktiv zu sein. In solchen Momenten hatte ich manchmal starke Sinneswahrnehmungen. Vielleicht rührte daher das plötzliche Verlangen, nach draußen in die Sonne zu gehen. Nach kurzem Zögern am Eingang des Krankenhauses folgte ich der Wegbeschreibung auf dem Plakat.

Außer über meine Mutter und meine Tante, die hier geboren und aufgewachsen waren, hatte ich keine Verbindung zu dieser Stadt. Nachdem ich der Straße ungefähr zehn Minuten gefolgt war, erreichte ich die Galerie. Die Sonne brannte und mein Hals schmerzte, als hätte ich eine Handvoll Nadeln geschluckt.

An diesem Vormittag mitten in der Woche war ich die einzige Besucherin. Am Tisch mit dem Gästebuch saß eine Angestellte, tippte etwas in den Computer und bedachte mich mit einem kurzen, teilnahmslosen Blick.

Auf dem Marmorfußboden war mit weißem Papierklebeband in großen Linien der Schriftzug »Eingang« geklebt. Die Schriftzeichen, durch die Fußabdrücke der Besucher schon verschmutzt, führten zu einer hellgrauen provisorischen Wand. Ich trat dahinter und stand vor einer riesigen Videoinstallation. Über fünf Bildschirme flimmerten im Abstand von ungefähr drei Sekunden Augen, Nasen, Münder, Ohren und Stirnen von Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts. Diese Art Kunst war gerade in Mode. Ohne den Titel des Werkes und den Namen des Künstlers groß zu beachten, ging ich weiter, in den Ausstellungsraum. Er war relativ dunkel, voll mit Videoinstallationen und Siebdrucken. Ich wollte gerade an einen der Drucke näher herantreten, der die gegenüberliegende Wand fast völlig bedeckte, als ich plötzlich erschaudernd stehen blieb. Eine Gänsehaut lief mir über den ganzen Körper, als hätte etwas meine rechte Wange gestreift. Ich wandte den Kopf in die Richtung, aus der diese Empfindung zu kommen schien, und sah mich ihr gegenüber.

Der Skulptur eines Paares.

Aneinandergelehnt saßen sie in einer dunklen Ecke und hielten sich bei den Händen. Nein, korrekt wäre zu sagen, sie hatten sich bei den Händen gehalten. Die Haut der beiden war weiß, die Köpfe fehlten. Der Körper des Mannes war einigermaßen erhalten geblieben, der Frau jedoch hatte man Arme und Schultern abgetrennt. Nur eine Hand lag auf dem Knie des Mannes. An den Stellen, an denen der Frau die Schultern und die Handgelenke abgerissen worden waren, klaffte Schwärze.

Ich betrachtete aufmerksam ihre weiße Hand, die von dem Mann gehalten wurde. Sie wirkte wie die Spur einer Hand. Das war keine Hand mehr.

Die englischsprachigen Erklärungen zu Künstler und Werk standen fettgedruckt an der weiß gekalkten Wand des dunklen Raumes.

Jang Unhyong

Häutung

Peeling off skin

Lifecasting Gips, Fiber Reinforced Plastics 1996

Beim Lifecasting oder der Körperabformung entsteht das Werk aus einem Gipsabdruck, wie etwa bei der Fertigung einer Totenmaske. Diese Skulptur war demnach aus einem Gipsabdruck von lebendigen Menschen gefertigt worden. Ich betrachtete den schlaffen Bauch dieser Frau ohne Gesicht, ihre Schultern, die Hand. »Verstehe«, murmelte ich. Deshalb waren die Poren und Fältchen in der Haut so deutlich zu sehen. Dann trat ich näher an den aufgerissenen Nacken des Mannes heran.

Ein schwarzer Hohlraum.

Die Gipshülle bestand aus einzelnen Teilen, vom Künstler miteinander verbunden, wie man vielleicht Teile eines abgezogenen Fells zusammennäht. Anstatt die Verbindungsstellen sorgfältig zu bearbeiten, hatte er sie lediglich grob mit Gips verschmiert. Das war sicherlich Absicht, wie bei diesen Kleidungsstücken, die mit den Nähten nach außen getragen werden. Der Mann sah aus wie ein von Frankenstein geschaffenes unförmiges Monster, wie ein zerfetzter Leichnam, dessen Einzelteile wieder zusammengestückelt worden waren.

Während ich in die Dunkelheit dieser Körperhüllen blickte, ließ mich eine unerklärliche Kälte frösteln. Die Körper erinnerten mich an jahrtausendealte Mumien, nur dass sie Mumien von lebenden Menschen waren. So saßen die beiden in diesem erstickend ruhigen Ausstellungsraum und hielten sich bei ihren abgerissenen Händen. Die Hand der Frau, ohne Verbindung zum Leib, schien gleichsam zu Staub zu zerfallen und diente doch beiden als Halt.

Als ich tief versunken aus der Galerie trat, versetzte mir die unbarmherzige Mittagshitze dieser südlichen Stadt einen Schlag. Unvermittelt kam mir der tote Körper meiner Mutter in den Sinn, der an die Hülle einer Zikade erinnert hatte, als man sie wusch und ankleidete. Ich dachte auch an das zweigeteilte Gesicht meiner Tante.

Was der Bildhauer dieser Skulptur letzten Endes hatte zeigen wollen, war wahrscheinlich nicht die zerfetzte Hülle, sondern ihr nachtdunkler Hohlraum.

2

Im September des darauffolgenden Jahres hatte ich im Seouler Stadtviertel Insa-dong eine Verabredung zum Mittagessen. Die Straße war wegen eines Straßenfests gesperrt. Ich sah einer Performance zu, in der ein sehr ernst dreinblickendes Paar getraut wurde. Die Braut trug ein mit Tusche beflecktes Brautkleid und der Bräutigam einen Frack, dessen Rücken mit Löchern übersät war, als hätte man gerade mit einem Messer auf ihn eingestochen. Da mir bis zu meiner Verabredung noch Zeit blieb, spazierte ich in Richtung des Stadtteils Jongno. An einem Verkaufsstand stellte man vor den Augen der Passanten Reiskekse her, wie sie die königliche Familie der Chosun-Dynastie gegessen haben soll. In einer selbst gebauten, sich drehenden Maschine buken Kunststudenten kleine bunte Kuchen, die den männlichen und weiblichen Geschlechtsteilen nachempfunden waren. Ich ging weiter und gelangte schließlich zu einer Gruppe von Skulpturen, die mitten auf der Straße aufgebaut war.

Beim Betrachten genoss ich den warmen, trockenen Sonnenschein des frühen Herbstes. Neben einem langen Baumstamm, in den die Form einer liegenden Acht gehauen war, hatte man eine riesige schwarze Hand aufgestellt. Sie war so groß wie die öffentliche Telefonzelle ein paar Schritte weiter. Auf den ersten Blick wirkte sie gewöhnlich. Der Künstler schien auf die Wirkung zu zielen, die überdimensionale Vergrößerungen menschlicher Körperteile beim Betrachter üblicherweise hervorrufen. Als ich daran vorbeigehen wollte, ließ etwas mich innehalten.

Die Hand sah aus wie mit aller Kraft zur Faust geballt. Da sie jedoch im Handgelenk nach hinten weggeknickt war, wirkte sie unsicher. Ich hatte das Gefühl, sie ließe sich leicht öffnen, sobald eine andere Hand − vorausgesetzt, es gäbe solch eine riesige Hand – sie dazu zwingen würde. Die Faust schien aus einem waghalsigen Entschluss geboren und aus dem demütigenden Wissen, dass die Niederlage unausweichlich war.

Ich entfernte mich langsam von der Bronzehand, auf die eine Schicht dunkelgrauen Teers grob aufgetragen war. Mit etwas mehr Abstand sah es so aus, als hätte jemand die Hand aus der Asche eines verbrannten Riesen geholt, ein Rest Fleisch und Knochen. Die Botschaft, dass jegliche Anstrengung sinnlos sein müsse, war eindringlich. Die Nüchternheit, mit der sie vorgebracht wurde, schreckte mich ab.

Ein junger Mann mit einem kurzen Pferdeschwanz verteilte Flyer. Ich nahm einen und dachte, dass mir der Name des Künstlers irgendwie bekannt vorkam. Gerade als sich die Tür des Cafés öffnete, in dem ich verabredet war, fiel mir ein, wo ich diesen Namen schon einmal gesehen hatte.

Kaum zu glauben, aber das war vor mehr als einem Jahr gewesen.

Ich wählte einen Fensterplatz. Die merkwürdigen Skulpturen waren fast vergessen, kaum dass ich Platz genommen hatte. Stattdessen kam mir die Erinnerung an meine Tante, die im Rehabilitationszentrum von Gwangju lag, und an meine Cousine, die mittlerweile hochschwanger war. Ich schob diese Gedanken beiseite und blickte meiner Studienfreundin Sunyoung freudestrahlend entgegen, die gerade mit einem zauberhaften Tuch und einem ebenso bezaubernden Lächeln das Café betrat. Sie war inzwischen am Theater.

3

Im nächsten Frühjahr kam Sunyoungs zweites Drama auf die Bühne. Die Premiere fand an einem Samstagnachmittag statt. Sunyoung hatte eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, obwohl sie mir schon eine Einladung geschickt hatte.

»Du kommst heute, ja? Sonst wird dich meine Rache ein Leben lang verfolgen.«

Die Daehakro-Straße war voller Liebespaare, die trotz der Kühle frühlingshaft gekleidet waren. Eigentlich hätte ich schon da sein sollen, doch über dem Schmökern in meiner Stammbuchhandlung an der Haehwa-Kreuzung hatte ich die Zeit vergessen. Ich tauschte die Einladung gegen ein Ticket ein und beeilte mich, in das kleine Theater zu kommen. Sunyoung eilte mir in einem eleganten Anzug entgegen.

»Ich dachte schon, du kommst nicht!«

Ihre Augen leuchteten, sie nickte jemandem zu, nahm ein Programmheft und reichte es mir.

»Du wirkst nicht sonderlich nervös«, stellte ich überrascht fest.

»Ich? Ich lebe doch von meinem Selbstbewusstsein«, erwiderte sie ausgelassen.

Ein alter Herr mit einer Baskenmütze klopfte Sunyoung auf die Schulter.

»Ach, Sie sind es!« Sie strahlte ihn an, genau wie davor mich. Und zu mir gewandt, sagte sie: »Wir sehen uns nach der Vorstellung.«

Ich lächelte, berührte kurz ihren Arm und betrat den Theatersaal. Nach der Aufforderung, die Handys auszuschalten, begann das Stück.

Eine Weile verfolgte ich konzentriert die Handlung. Es ging um Liebe und Abhängigkeit, um die problematische Beziehung zwischen einer jungen, verheirateten Frau und einem unverheirateten Mann. Die Geschichte war zwar etwas abgedroschen, die Dialoge jedoch kamen ohne viele Worte zum Wesentlichen, und die Hauptdarstellerin spielte ihre Rolle hervorragend. Als sie ihren Mann, in Tränen aufgelöst, anschrie, wischte sich eine Frau neben mir − sie war vermutlich in den Vierzigern − mit einem Taschentuch über die Augen. Ich nahm mir vor, Sunyoung nach der Vorstellung davon zu erzählen, und wandte den Blick wieder der Bühne zu. Da fiel mir etwas Merkwürdiges auf.

Der ledige Mann im Theaterstück war von Beruf Bildhauer. In seinem Atelier − in dem er während des ganzen Stückes nicht arbeitete, sondern lediglich in Erinnerung an die Frau leidenschaftliche Monologe hielt − standen drei Skulpturen.

Da ich in der ersten Reihe saß, konnte ich die Skulptur, die meine Aufmerksamkeit erregt hatte, genau betrachten. Dieses Requisit schien zum Theaterstück, in dem die künstlerische Schaffenswelt des Hauptdarstellers kaum eine Rolle spielte, gar nicht zu passen. Man musste eher befürchten, dass es Befremden auslösen, vom Stück ablenken und somit stören könnte.

Es handelte sich um den lebensgroßen Abguss eines Menschen. Die Körperlinien waren durch Schnitte in der Vorder- und Rückseite hervorgehoben. Der Innenraum der weißen, dicken, grob geschnittenen Konturen war hohl. Der Kopf fehlte, die Beine waren geschlossen und die Arme hingen leicht angewinkelt an der Seite. Ich bemerkte an der Haltung der Füße, dass die Skulptur ursprünglich nicht gestanden, sondern gelegen haben musste: Sie hingen ohne jegliche Anspannung gerade nach unten. Jemand musste die Skulptur aus dem Liegen aufgerichtet haben. Kurz darauf entdeckte ich auch die Sehne, die zu ihrer Befestigung vom Boden zur Decke gespannt war.

Ich konnte meine Augen einfach nicht von dem Hohlraum der Skulptur abwenden. Wieso nur? Was war daran so außergewöhnlich?

In diesem Moment durchfuhr es mich, als hätte mir jemand mit einer stumpfen Waffe auf den Kopf geschlagen: Ich hatte mich getäuscht. Das war kein aufgeschnittener Abguss, sondern der Abdruck eines Körpers. Auf den Betrachter wirkte es, als würde ein wirklicher Körper aus dieser Hülle heraus auf ihn zutreten. Die grobe Oberfläche, die ich für die Außenseite einer Skulptur gehalten hatte, hatte einen Menschen umhüllt. Beweis dafür waren die umgekehrten Linien der Wölbungen des menschlichen Körpers: Die Dellen der Brüste, der sanft nach innen gewölbte Bauch, zwei Vertiefungen der Knie, die Neigung des Venushügels und eine Handvoll Haare zeigten den Schoß. All das konnte ich genau sehen.

Die Haare waren echt. Jemand hatte einen Gipsabdruck von einem lebendigen Menschen genommen.

Darin glich diese Skulptur jener Skulptur, die ich in der Ausstellung in Gwangju gesehen hatte. Obwohl die Posen unterschiedlich waren, war auch dies hier eine Hülle, die jene andere Hülle, die menschliche Haut, umschlossen hatte.

»Eine die Hülle umhüllende Hülle«, murmelte ich wie im Fieber vor mich hin.

Von diesem Augenblick an konnte ich mich nicht mehr auf das Theaterstück konzentrieren. Ich bedaure bis heute, nicht zu wissen, welches Ende die Liebesgeschichte des Paares gefunden hat. Bis sich die Schauspieler dem applaudierenden Publikum ein zweites Mal zeigten, starrte ich unablässig auf die Skulptur. Ich hatte nur noch einen Gedanken, mich zu vergewissern, ob derjenige, der diese Skulptur geschaffen hatte, identisch war mit dem Künstler, dessen Arbeit ich in Gwangju gesehen hatte. Und wenn ja, wollte ich herausfinden, warum er immer wieder diese Hüllen schuf.

4

An jenem Abend begleitete ich Sunyoung noch zur Premierenfeier. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die Freude daran hatten, sich zwischen Fremden aufzuhalten. Aber mich trieb die Hoffnung an, dort auf den Bühnenbildner zu treffen.

In einer kleinen Kaffeebar schob die Gesellschaft drei Tische zusammen und man setzte sich. Als Sunyoung mich der Runde vorstellte, fragte mich der Kinnbart tragende Regisseur, wie ich das Stück gefunden hätte. Nach kurzem Zögern antwortete ich ehrlich, dass ich mich am Ende nicht mehr hatte konzentrieren können, weil all meine Aufmerksamkeit von einem Requisit in Anspruch genommen worden war.

»Ach, tatsächlich?«

Alle machten große Augen und der Bühnenbildner errötete leicht. Ein am Tischende sitzender Mann schmunzelte still vor sich hin. Er war vielleicht Ende dreißig, trug eine silberne Brille mit kleinen Gläsern, war schlank und strahlte eine kühle Ruhe aus.

»Welches Requisit meinen Sie?«, fragte der Bühnenbildner mich.

»Die Skulptur am linken Bühnenrand, die hohle …«

»Als Schriftstellerin haben Sie natürlich ein gutes Auge.« Der Regisseur lachte laut auf.

Ich hatte den Eindruck, dass sich hinter seinem Lachen ein durchdringender Blick verbarg. Er empfand mich vermutlich als unhöflich, zumal wir uns zum ersten Mal sahen.

»Das ist der Typ, der das Ding geschaffen hat, das Sie so in seinen Bann zog«, tat er belustigt und zeigte auf den Mann am Rand der Gruppe.

»Mein Name ist Jang Unhyong.« Seine tiefe Stimme war wohlklingend. Er schmunzelte immer noch.

»Eine der für die Aufführung vorgesehenen drei Skulpturen wurde heute beim Transport beschädigt, sodass ich Herrn Jang um Ersatz bitten musste«, sagte der neben ihm sitzende Bühnenbildner, als müsse er sich entschuldigen.

»Er hat mich mit zwei Freikarten bestochen.«

Die Worte Jang Unhyongs brachten die ganze Gesellschaft zum Lachen. Die Stimmung war ausgelassen. Nur der Bühnenbildner sah mich immer noch verlegen lächelnd an und fügte hinzu: »Es kann sein, dass die Geschlossenheit der Skulpturengruppe etwas darunter gelitten hat. Ich war, um ehrlich zu sein, die ganze Zeit nervös deswegen.«

Der Regisseur machte ausladende Gesten: »Sag nicht so was! In dieser kurzen Zeit hast du etwas erstaunlich Passendes gefunden. Nein, etwas viel Besseres sogar. Das Werk, das beim Transport beschädigt wurde, war auch lebensgroß und hatte fast die gleiche Haltung. Ein Abbild des Verlangens nach Freiheit, die Arme in beide Richtungen ausgebreitet.«

Darauf wusste ich nichts zu sagen. Zwar hatte ich nicht die Gelegenheit gehabt, beide Figuren zu sehen. Was ich aber von Jang Unhyongs Werk kannte, hatte mit so einem schwammigen Wort wie Freiheit nichts zu tun.

Mich wunderte, dass Sunyoung gestand, dieses eine Requisit gar nicht groß wahrgenommen zu haben. Neben dem Bühnenbildner mit seinem schuldbewussten Kommentar schien ich der einzige Mensch zu sein, der der Skulptur überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Bald wandte die Runde sich anderen Themen zu. So konnte ich den am Rand sitzenden Jang Unhyong in aller Ruhe betrachten.

Sein Äußeres war eher durchschnittlich. Nichts an ihm ließ auf diese unheimlichen Skulpturen schließen. Gesicht und Kleidung waren so unauffällig, dass ich nicht sicher war, ihn auf der Straße wiedererkennen zu können, sollte ich ihm am nächsten Abend zufällig begegnen. Sein Gesicht war länglich und schmal, die Stirn eben, als hätte er sie zeitlebens nie in Falten gelegt, und um die Augen lagen diese netten Fältchen, wie sie Menschen haben, die gern lachen. Er war mir sympathisch, aber das war alles.

Er lachte tatsächlich immer laut mit, selbst wenn jemand einen weniger lustigen Witz erzählte. Als wolle er dem Betreffenden damit eine Freude machen. Etwa so, wie es ein älterer Bruder für ein jüngeres Geschwisterkind tun würde. Manchem mochte seine Art überheblich erscheinen, sein höfliches und verbindliches Auftreten jedoch verdrängte diesen Eindruck. Auf Fragen antwortete er mit einem aufrichtigen Lächeln und einer einnehmenden Stimme. Meistens war nicht er es, der ein neues Gesprächsthema anschnitt, und die Leute schienen ihn zu schätzen.

Gegen Mitternacht löste sich die Gesellschaft locker plaudernd auf. Man ging zur Toilette, telefonierte oder setzte sich an einen anderen Tisch, um unter vier Augen etwas zu besprechen. Die Stimmen waren lauter geworden, jemand weinte. Einer saß tief eingesunken in seinem Sessel wie in einer Badewanne und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Jemand regte sich über etwas auf und verließ schimpfend die Bar.

In dieser lärmenden Unruhe konnte ich mich endlich zu Jang Unhyong setzen.

»Sie kommen aus Gwangju?«

»Woher wissen Sie das?«

»Vor zwei Jahren im Frühling habe ich dort zufällig eines Ihrer Werke gesehen.«

»Ach so, das.« Er lachte bescheiden, und die feinen Fältchen um seine Augen traten stärker hervor.

»Was ich Sie schon die ganze Zeit fragen wollte«, sagte ich, wie immer mit der Tür ins Haus fallend. »Sie nehmen Abdrücke von Menschen?«

»Richtig.« Seine Antwort kam ebenso direkt.

»Warum?«

»Wie bitte?«

»Warum verwenden Sie für Ihre Werke die Abdrücke von Menschen?«

Anstelle einer Antwort lachte er. Ich lachte nicht mit, sondern wartete auf seine Antwort. Die wollte ich hören, selbst wenn es nur einer der üblichen Kommentare aus einem Kunstkatalog werden würde. Ich wollte genau hinhören, um wirklich zu verstehen. Da es wegen der Musik und des Stimmengewirrs sehr laut war, starrte ich mit großen Augen in sein Gesicht, um kein einziges Wort zu verpassen, um den Augenblick nicht zu verpassen, in dem die Wahrheit wie eine kleine Flamme auflodern und kurz darauf verschwinden würde.

»Wenn Sie so interessiert sind, darf ich Sie doch sicher um einen Gefallen bitten«, erwiderte er sanft und trotz des Lärms nicht lauter. Ich las seine Lippen, um überhaupt etwas verstehen zu können. »Ich habe Schwierigkeiten, an Modelle heranzukommen.«

In seinen ruhigen Augen lag dieselbe Nüchternheit, die mir bei der riesigen Hand in Insa-dong aufgefallen war. Was verbargen diese ruhigen Augen?

»Wären Sie bereit, mir auszuhelfen?«

»Wie bitte?«

»Ich bin sowieso gerade auf der Suche nach einem schlanken Modell wie Ihnen.«

Ich lachte. Doch er hatte es ernst gemeint.

»Wollen Sie nicht?« Seine ruhige Stimme, die sich an dem Lärm um uns herum überhaupt nicht zu stören schien, ließ mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper laufen. Dieses Schaudern hatte ich schon in dem dunklen Ausstellungsraum in Gwangju erlebt. Das Bild der Körperhülle, bei der alle Poren und Falten deutlich zu sehen waren, kam mir in Erinnerung und legte sich über sein Gesicht.

»Nein«, antwortete ich ruhig und direkt, wie um seinen Ton nachzuahmen.

Als hätte er die Antwort schon gewusst, zeigten seine Augen und seine Lippen immer noch das friedliche Lächeln eines verständnisvollen älteren Bruders.

Meine Gänsehaut aber blieb. Ich hatte die unklare Ahnung, dass diese Ruhe in seinen Augen kein friedliches Inneres widerspiegelte, sondern sich wie ein dünnes Häutchen über etwas Unheimlichem spannte.

5

Fast fünf Monate später erhielt ich einen Anruf von einer mir unbekannten Frau. Ich war gerade stark erkältet, was bei mir selten vorkam, und der Abgabetermin für eine Erzählung stand unmittelbar bevor.

»Sie kennen den Bildhauer Jang Unhyong, nicht wahr?«

Ich hielt den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und antwortete nicht sofort. Stattdessen starrte ich auf den blinkenden Cursor auf dem Bildschirm meines Computers und drückte auf Speichern. »Ich habe ihn flüchtig kennengelernt. Weshalb fragen Sie?«

»Nun ja … Er ist mein Bruder.«

Ich stützte meine heiße Stirn in eine Hand und wartete darauf, dass sie weitersprach.

»Wenn es Ihnen keine Umstände macht, würde ich Sie gern treffen und mit Ihnen sprechen.«

Ich mag keine komplizierten Geschichten, die mich nur unnötig Kraft kosten. Zugegeben, Jang Unhyong hatte einen starken Eindruck bei mir hinterlassen, aber eben auch einen zwiespältigen, und ich hatte keine Lust, in irgendwas hineingezogen zu werden. Darüber hinaus drängte der Abgabetermin für meine Erzählung. Ich hielt den Hörer mit einer Hand zu, um mich zu räuspern, setzte mich aufrecht und erwiderte: »Das geht bestimmt auch am Telefon. Erzählen Sie.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Ich streifte meine Haare zurück, rieb meine brennenden Augen mit der Faust und hörte sie sagen: »Er ist seit letztem April als vermisst gemeldet.«

Nun war es an mir zu schweigen.

»Ich habe alle Orte abgesucht, wo er hätte hingehen können, und auch alle Menschen getroffen, die er hätte treffen können. Bis auf Sie.«

»Na ja, ich bin …«

Ich wollte ihr deutlich machen, dass ich nicht zu den Menschen gerechnet werden konnte, an die ihr Bruder sich wenden würde, aber sie redete hastig weiter: »Mein Bruder hat ein Manuskript hinterlassen.« Sie stockte atemlos. Dann fuhr sie aufgeregt fort: »Alle, die in dem Manuskript erwähnt werden, habe ich getroffen. Sie ausgenommen. Ich rufe Sie als Letzte an, weil … weil Sie am wenigsten vorkommen. Ich weiß, mein Anruf kommt sicherlich sehr überraschend für Sie, aber …«

Sie schien nebenbei etwas zu trinken, kurz danach war ihre Stimme viel ruhiger: »Mein Bruder war mir immer fremd. Als er verschwand, hatte ich das Gefühl, gar nichts über ihn zu wissen. Ich habe versucht, über sein Manuskript einen Zugang zu ihm zu finden. Es zu lesen, war nicht einfach für mich. Ich verlange nicht, dass Sie ihn finden. Sie sind ja Schriftstellerin. Lesen Sie und sagen Sie mir irgendetwas dazu. Was Ihnen einfällt, egal, was. Ein winziger Anhaltspunkt oder eine Ahnung genügt schon. Es ist auch nicht schlimm, wenn es mir bei der Suche nach meinem Bruder nicht weiterhilft. Ich möchte ihn nur ein einziges Mal verstehen können.«

Ihre Worte ergaben für mich keinen Sinn. Die Aufrichtigkeit in ihrer Stimme jedoch berührte mich. Plötzlich fühlte ich mich beklommen. »Wie schon gesagt, ich habe ihn vor ein paar Monaten lediglich durch einen Zufall …«

Aber sie unterbrach meine unentschlossene Antwort mit einem kurzen Dank und legte auf.

6

Wenn ein Abgabetermin näher rückt, werde ich ein anderer Mensch. Meine Schritte werden schneller und oft führe ich Selbstgespräche. Ich verschlinge Unmengen an Essen und gönne mir mehrmals am Tag ein kurzes Schläfchen. Vorfälle, die normalerweise ziemlich lange in meiner Erinnerung bleiben würden, werden nach wenigen Minuten uninteressant für mich. Alle Erinnerungen aus meinem menschlichen Dasein verblassen − mein Ich stirbt sozusagen − und es bleiben nur die Romane, an denen ich schreibe, und die Person, die diese Romane schreibt.

Hinzu kommt, dass ich ein Mensch mit wenig Energie bin. Es wäre schön, wenn ich mit siebzig oder achtzig Prozent meiner Energie etwas erschaffen könnte, aber selbst hundert Prozent genügen nicht. Ich muss gewissermaßen hundertzwanzig Prozent meiner Kräfte mobilisieren, damit ein Roman entstehen kann. Das klingt nach einem qualvollen Vorgang, aber ganz so ist es nicht. Mein Geist wird zu einer scharfen Klinge. Mein Kopf ist klarer denn je und mein sonst eher schwächlicher Körper hat ungeahnte Kräfte. Diese Anspannung hält an, bis ich für meinen Text ein Ende gefunden habe, mit dem ich einigermaßen zufrieden sein kann.

Unter solchen Umständen war es unmöglich, den Anruf einer fremden Frau im Gedächtnis zu behalten. Ich hatte den Lektor immer wieder gebeten, mir doch noch ein klein wenig mehr Zeit zu geben, so sehr war ich noch mit meiner Erzählung beschäftigt, die ich tatsächlich erst zehn Tage nach dem Abgabetermin zum Abschluss brachte. Nachdem ich sie gegen Mitternacht per E-Mail abgeschickt hatte, fiel ich in einen komaartigen Schlaf, aus dem ich erst am nächsten Tag gegen elf erwachte.

Ich stützte mich auf meine Hand, die sich wie die Hand einer Fremden anfühlte, und stand auf. Dann öffnete ich die Vorhänge. Inzwischen war es kälter geworden, die äußeren Fensterscheiben waren zugefroren. Vielleicht lag es daran, dass die Anspannung von mir abgefallen war, jedenfalls hatte ich wieder leicht erhöhte Temperatur. Dabei hatte ich geglaubt, genesen zu sein. Geistesabwesend blickte ich auf das zugefrorene Fenster, als mir plötzlich einfiel, dass der dritte Todestag meiner Mutter heranrückte.

Da klingelte es.

»Wer ist da?«

»Ein Einschreiben für Sie.«

Ohne mich zu beeilen, zog ich mir etwas über, griff nach meinem Unterschriftsstempel und ging die Wohnungstür öffnen. Das Gesicht des Postboten war mir bekannt. Ich nahm ein Päckchen mit zwei Belegexemplaren eines Verlages und ein großes, mit grünem Klebeband sorgfältig zugeklebtes Kuvert entgegen und schloss die Tür. Mein Blick fiel auf den Absender des schweren Kuverts: Jang Haesuk.

Der Name sagte mir nichts. Mit der Schere, die auf dem Schuhschrank lag, öffnete ich das Kuvert und entnahm ihm einen dicken Skizzenblock mit einem senffarbenen Deckblatt. Beim schnellen Durchblättern sah ich, dass bis auf die letzten Bögen alle Seiten in einer schönen, fließenden Handschrift fast lückenlos beschrieben waren. Erst da wurde mir klar, von wem die Sendung stammte.

7

Mir war nicht danach, in dem Skizzenblock zu blättern, also ließ ich ihn erst einmal mitsamt Umschlag auf dem Schuhschrank liegen. Sollte mich die Frau wieder anrufen, wollte ich alles unberührt zurückgeben. Nach meiner Einschätzung war das die beste Lösung.

Doch noch bevor es Abend wurde, siegte meine Neugier. Nach einem späten Frühstück hatte ich mich erst um die angehäuften Wäscheberge gekümmert und meinen Schreibtisch aufgeräumt, auf dem kein Fingerbreit mehr Platz gewesen war. Einmal dabei, hatte ich jede Ecke meiner Einzimmerwohnung aufgeräumt. Zwischendurch fasste ich mir immer wieder an die fieberheiße Stirn. Dann wurde es auch schon Abend.

Ich hatte keinen Appetit, vielleicht wegen der Erkältung. In den letzten Tagen hatte ich sehr viel gegessen, jetzt war mein Körper wie verkatert. Nach langer Zeit hatte ich den Fernseher wieder eingeschaltet, aber nur, um ihn kurz darauf auszuschalten und das Radio aufzudrehen. Auf keinem der Sender kam etwas, das meiner Stimmung entsprach. Sowieso war mir jedes Geräusch zu viel. Das lag sicher am Fieber.

Ich lief in meinen Pantoffeln ruhelos den Flur auf und ab, bis ich vor dem Schuhschrank stehen blieb. Nach einem kurzen Zögern hob ich das Kuvert auf.

Ich holte den Skizzenblock heraus und schlug das Deckblatt auf. Die erste Seite zeigte die Bleistiftzeichnung einer nackten, in Embryonalstellung kauernden Frau mit langen wirren Haaren. Ihre mit aller Kraft geballten Fäuste stützte sie auf den Boden. Darunter stand in einer schönen, fließenden Handschrift:

Ihre kalten Hände

Ich zog mir Pullover und Hose über, drehte die Heizung weiter auf und steckte mir die Haare hoch. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und knipste die Tischlampe an. Ich begann zu lesen.

Ihre kalten Hände

Vorwort

Warum?«, fragte mich die Schriftstellerin H., als gehe sie davon aus, dass es eine Antwort auf diese naive, kecke Frage geben könnte, und werde bereitwillig alle von mir ausgespuckten Worte für bare Münze nehmen. Ich hatte den Eindruck, dass ihre Augen durch meine Haut, meine Eingeweide und Adern hindurch zu meiner Seele, die selbst ich nicht kannte, vorstoßen wollten. Ich habe solche Augen nie gemocht. Ich halte sie für bemitleidenswert. Solche Menschen, die ihren ganzen Körper zum Ausdrucksmittel der Wahrheit machen, an die sie glauben, können auch beim besten Willen kein Pokerface aufsetzen. Solche Menschen ziehen mich nicht an.

Nur, dass mir ihr mitleiderregendes Wörtchen »warum« die ganze Taxifahrt von der Kaffeebar nach Hause nicht aus dem Sinn ging. Der genaue Tonfall und der Klang ihrer Worte wurden immer schwächer und verschwanden schließlich. Die Person, die gesprochen hatte, und die Situation wurden ausgeblendet. Nur das einzelne Wort »Warum« war geblieben. Ich lächelte bitter.

Warum?

Warum ist die Mitte meines Lebens so absolut hohl?

Als das Taxi in eine scharfe Kurve fuhr, ballte ich meine Hände zu Fäusten, als wollte ich E.s glatten Leib darin wie ein Blatt Papier zerknüllen. Ähnelten die Augen von H. tintenschwarzen Glaskugeln, erinnerten die von E. an die Oberfläche eines dunklen Spiegels. Was hinter diesem Spiegel steckte, wusste ich nicht. Bis das Taxi in der Gasse hielt, musste ich an mein Gesicht denken, wie es sich in E.s Augen gespiegelt hatte: mit einem verzerrten Lächeln.

Ich weiß nicht, was ich von jetzt an schreiben werde. Aber eines weiß ich: Diese Dokumente sind keinesfalls die Antwort auf das Warum, vielmehr wird man das Gegenteil erfahren.

Erster Teil
Die Finger

Der Onkel

Meine erste Erinnerung stammt aus Gwangju. Die Stadt ist mittlerweile eine Großstadt, damals konnte man sie mit dem Bus innerhalb von zehn Minuten durchqueren.

Ich lebte in einem traditionell gebauten Haus, das mit finanzieller Unterstützung der Familie meiner Mutter errichtet worden war. Es gab vier Zimmer, eine schmale Holzveranda und eine Küche im alten Stil. In dem geräumigen Hof standen immergrüne Kamelien. Ein kleines Nebengebäude gehörte auch dazu. Bevor die modernen zweistöckigen Häuser gebaut wurden, zählte unser Haus zu den größten in der Seitengasse.

Mein Großvater mütterlicherseits leitete eine Lederfabrik. Man konnte ihn zwar nicht als vermögend bezeichnen, aber sein Besitz reichte, um ihn in der Gegend zu einem einflussreichen Mann zu machen. Meine Großmutter brachte fünf Kinder zur Welt, die drei ältesten starben jedoch früh, sodass nur ein Geschwisterpaar übrig blieb, meine Mutter und mein Onkel. Für seine einzige Tochter war meinem Großvater nichts zu schade. Er brüstete sich auch bei jeder Gelegenheit mit seinem Schwiegersohn, der als Professor an einer privaten Universität in Gwangju lehrte.

Mein Onkel lernte frühzeitig, wie man trank und sich prügelte, und brach die Oberschule ab. Zu diesem Sohn war mein Großvater streng und kalt. Trotz aller Schläge, trotz aller nachdrücklichen Versuche von außen, meinen Onkel zur Räson zu bringen oder zu besänftigen: Er bekam sich einfach nicht in den Griff. Er ließ sich die Haare lang wachsen, zog von einer Billardhalle oder Kneipe zur nächsten und versuchte vergeblich, in der Abendschule seinen Abschluss nachzuholen. Schließlich wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Hätte sich mein Großvater für ihn eingesetzt, hätte mein Onkel sicherlich einen besseren Posten bekommen können. So aber wurde er an vorderster Front stationiert. Es war der Wille des Großvaters, dass sein Sohn mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben sollte, um so auf den rechten Weg zu finden.

Die Erwartungen des Großvaters wurden nur zum Teil erfüllt, denn mein Onkel hatte zwar mit Schwierigkeiten zu kämpfen, es waren jedoch zu viele. Ihm wurde so übel mitgespielt, dass sein Lebenswille für immer gebrochen war. Eines Tages hängte er bei einer kurzen Ruhepause seinen Stahlhelm über die Mündung seines geladenen Gewehrs. Als er weitermarschieren wollte und nach dem Stahlhelm griff, löste sich ein Schuss, bei dem er seinen rechten Daumen und die oberen Glieder des Zeigefingers verlor. Eine Entschädigung bekam er nicht. Stattdessen kam er wegen des Verdachts mutwilliger Selbstverstümmelung zwecks vorzeitiger Entlassung aus dem Dienst vor das Militärgericht. Achtzehn Monate verbrachte er hinter Gittern. Nach seiner Freilassung widmete er sein Leben dem Alkohol und anderen Ausschweifungen.

Meinen Onkel konnte man wirklich nur als hässlich bezeichnen. Sobald ihn meine jüngeren Schwestern sahen, machten sie Anstalten loszuheulen, selbst mitten im fröhlichsten Spiel. Wenn mein Onkel auch nur versuchte, sie in den Arm zu nehmen, begannen sie fürchterlich zu schreien und sich mit Händen und Füßen zu wehren.

»Quäl die Kinder nicht! So ein widerlicher Mensch aber auch! Denk doch mal nach, warum die Kinder bei deinem Anblick anfangen zu weinen!«, fuhr ihn voller Verachtung seine Frau an, die immer ordinär geschminkt war.

Doch nicht nur meinen Schwestern ging es so. Als Sechsjähriger wurde ich Zeuge, wie mein stockbetrunkener Onkel mit einem Obstmesser auf meinen Vater losging. Er hatte ihn bei der Brust gepackt, sodass der Hemdkragen meines Vaters senkrecht einriss. Mein großer, schlanker Vater rannte ohne Schuhe und mit flatterndem Hemdkragen auf den Hof und durch das Tor, gefolgt von dem etwas kleineren und stämmigeren Onkel, der, was die Geschwindigkeit anging, meinem Vater in nichts nachstand. Seit diesem Vorfall habe ich meinem Onkel nie wieder ein Lächeln geschenkt.

»Was ist das für ein Benehmen!«

Ich erinnere mich an den blechern klingenden Ausruf, den meine Mutter in der frischen Abendluft ausstieß.

Das Einzige, was mich an meinem Onkel faszinierte, waren seine Finger. Nein, es ist nicht richtig, zu sagen, es waren »seine Finger«. Denn mit eigenen Augen hatte ich seine rechte Hand, an der Daumen und Zeigefinger fehlten, nie gesehen. Ich wusste davon nur, weil ich den Gesprächen der Erwachsenen gelauscht hatte.

Das war eigenartig, wenn man bedachte, wie oft wir uns sahen. Zum Beispiel am Todestag meiner Großmutter, der der Zorn schmerzhaft in den Leib gefahren war und die noch vor ihrem sechzigsten Geburtstag starb. Auch an den alljährlichen traditionellen Festen sah ich den Onkel. Und in den vielen Nächten, in denen er betrunken zu uns nach Hause kam, um seine Aggressionen an meinen Eltern auszulassen. Wie hatte er diese exponierten Körperteile verstecken, mit welcher Handbewegung die Aufmerksamkeit von ihnen ablenken können?

Jedes Mal, wenn im Haus der Eltern meiner Mutter die Gedenkfeier für die Ahnen stattfand, beobachtete ich seine rechte Hand mit allergrößter Aufmerksamkeit. Den ekelerregenden Alkoholgeruch, der seinem Körper stets entströmte, ertrug ich still. Schwankend zündete er den Weihrauch an und nahm einen Schluck Reiswein von der Tafel für die Ahnen. Wenn ihm danach war, tätschelte er meine kühle, abweisende Wange. Obwohl ich jede seiner Bewegungen genau verfolgte, konnte ich nie etwas Auffälliges entdecken. Wenn es Zeit war, nach Hause zu gehen, blickte ich perplex zu seinem dunklen Gesicht auf und dachte mir: Wie präzise und geschickt er doch die Kunst des Verbergens beherrscht.

Er hatte eine derbe Sprache und in seinem Blick lag Hass. Sein Charakter war bösartig genug, um ihn mit einem Messer auf seinen Schwager losgehen zu lassen. Wie kam es, dass dieser Mann andererseits so empfindsam und perfektionistisch war?

Irgendwann fing ich an, bei allen mir über den Weg laufenden Menschen Zweifel zu hegen, ob sie nicht auch etwas verbargen − eine große Narbe unter den Haaren, ein Muttermal am Knöchel oder eine exakt gearbeitete Prothese. Doch ihre Kunstfertigkeit im Verbergen war immer so grandios, dass all dies von mir niemals entdeckt wurde.

Jedes Mal, wenn ich mir diese verborgenen Details vorstellte, bebte mein junger Körper vor Aufregung. Ich brannte darauf, sie zu sehen. Ich wollte den Menschen die verletzliche Hülle abziehen, um ihr Inneres zu sehen.

Das Lächeln

Der erste Gegenstand meiner Beobachtungen war meine Mutter.

Die Proportionen ihrer etwas zu knubbeligen Nase und der dünnen Lippen passten nicht so richtig zusammen und ihre Augen wirkten, seit sie sich die Lidfalten hatte operieren lassen, irgendwie unruhig. Aber weil sie sich sorgfältig zurechtmachte und Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte, sah sie schon recht hübsch aus.

Am Wochenende kam uns manchmal ein befreundetes Ehepaar besuchen, der Mann war Zahnarzt. Sie unterhielten sich gemütlich mit meinen Eltern und gingen wieder.

Einmal, als meine Mutter in der Küche war, sagten die beiden mit gedämpften Stimmen:

»Die Frau von Herrn Professor Jang hat so einen angenehmen Charakter.«

»Das stimmt. Sie lächelt immer.«

Aber es stimmte nicht. Meine Mutter, so wie ich sie kannte, lächelte nicht immer. Wenn wir keine Gäste hatten oder wenn mein Vater nicht da war, konnte ihr Gesichtsausdruck hart sein. Selten hatte sie ein freundliches Wort für uns, also für mich, meine Schwestern, meine Tante − die jüngste Schwester meines Vaters, die damals bei uns wohnte − und die Haushaltshilfe, die im Nebengebäude wohnte. Wenn meine jüngste Schwester plappernd an ihr hing, runzelte sie die Stirn, als wäre ihr das lästig. Dabei erschienen Grübchen auf ihren rundlichen Wangen. Seitdem habe ich keinen anderen Menschen gesehen, der beim Stirnrunzeln Grübchen bekommt.

Keineswegs war sie kalt, aber sie konnte mit einem kindlichen Gemüt einfach nicht gut umgehen. Ihr war alles zu viel: der Lärm und die Unordnung, die meine Schwester und ich produzierten, die großen und kleinen Ungeschicklichkeiten, dass wir überall kleckerten und alles klebte. Das bedeutete aber nicht, dass sie den Ärger offen zeigte. Es war jedoch augenfällig, welch große Mühe sie sich geben musste, um das alles zu ertragen. Was sie von ganzem Herzen liebte, war zum Beispiel ein Abendessen mit anderen Ehepaaren, für das sie sich mit schönen Kleidern und Schmuck herausputzen konnte, ein Einkaufsbummel am Monatsende durch die Kaufhäuser mit alten Schulfreundinnen oder auch die Zeit, in der sie Kataloge durchblättern und dabei ihre sorgfältig gelegten Stirnlocken verspielt durch die Finger gleiten lassen konnte.

Im Unterschied zu dem in meiner Erinnerung gespeicherten war ihr Gesichtsausdruck auf den Schwarzweißfotos aus jener Zeit, die noch mit konventionellen Kameras aufgenommen worden waren, immer der gleiche. Zwar ist sie auf jedem Foto anders gekleidet und frisiert, ihr großes Lächeln jedoch ist über alle Seiten der Fotoalben unverändert. Ihre Augen sind dann schmaler und die regelmäßige obere Zahnreihe und das rötliche Zahnfleisch kommen strahlend zum Vorschein, als wäre das Gesicht einzig und allein für dieses Lächeln da. Sogar bei schlechter Laune konnte sie so lächeln.

Selbst damals, als ein vom Großvater geschickter Bote die Nachricht überbrachte, dass ihre Mutter − die ihre Tochter über alles geliebt hatte − im Sterben lag, begleitete sie den Angestellten der Lederfabrik meines Großvaters mit einem freundlichen Lächeln bis zum Tor. Ich stand neben ihr und war schockiert. Dieses Lächeln war ganz und gar wie immer. Ihre Augen schmaler, um Augen und Mund lagen deutliche Falten, die oberen Zähne leuchteten in dem roten Zahnfleisch.

Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass dieses Gesicht einer Maske glich.

Einer weißen Maske.

Einer lächelnden, harten Maske.

Auch wenn dieses Lächeln schnell wieder aus ihrem Gesicht verschwand, sein Abbild hat sich mir wie ein unheimliches Phantombild tief eingeprägt.

Die Grundschule, in die ich im darauffolgenden Jahr eingeschult wurde, lag drei Busstationen von unserem Haus entfernt. Entgegen der Erwartung meiner Mutter, dass mich mein Vater mit dem Auto zur Schule bringen und von dort auch abholen würde, ließ mich mein Vater zu Fuß gehen. Nach seiner damaligen Überzeugung waren in der Erziehung Mäßigkeit und Strenge wichtig. Ich aber liebte meinen Schulweg. Damals gab es noch nicht so viel Verkehr auf den Straßen, die Luft war sauber. Außerdem freute ich mich auf meine Klassenkameraden, mit denen ich mich gut verstand.