Ralph Ellison (1914–1994) studierte klassische Musik am Tuskegee Institute, einer der bekanntesten (damals ausschließlich) afroamerikanischen Bildungseinrichtungen. Mit dem Schreiben begann er nach einer Begegnung mit Richard Wright. Als Professor für Literatur unterrichtete er an verschiedenen amerikanischen Universitäten, zuletzt an der New York University.
Georg Goyert (1884–1966) war ein renommierter Literaturübersetzer und zeichnete sich durch zahlreiche Übertragungen namhafter Autoren aus, allen voran James Joyce.
Hans-Christian Oeser ist freier literarischer Übersetzer, Herausgeber, Autor und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie.
»Einer der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Nachkriegsliteratur.« Paul Ingendaay, FAZ.
Ralph Ellison, neben Toni Morrison und James Baldwin eine der großen Stimmen der afroamerikanischen Literatur der Gegenwart, gewann 1953 den National Book Award und wurde mit seinem gefeierten New-York-Roman schlagartig berühmt. Die Geschichte von der Odyssee eines namenlosen Schwarzen, die ihn von ganz oben bis ganz unten durch alle Schichten der amerikanischen Gesellschaft führt, ist eines der Lieblingsbücher von Barack Obama und bleibt hochaktuell: als schonungslose Abrechnung mit den alltäglichen rassistischen Ideologien und als Lob auf das gewachsene Selbstbewusstsein der noch immer um ihre selbstverständlichen Rechte Kämpfenden.
»Ich bin unsichtbar, verstehen Sie, weil sich die Leute weigern, mich zu sehen … Wer sich mir nähert, sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Auswüchse seiner Phantasie – in der Tat alles und jedes, nur mich nicht.«
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Der unsichtbare Mann
Roman
Mit einem Nachwort des Autors
Aus dem Amerikanischen von Georg Goyert,
vollständig neu überarbeitet von Hans-Christian Oeser
Inhaltsübersicht
Über Ralph Ellison
Informationen zum Buch
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Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Epilog
Nachwort des Autors
Impressum
Für Ida
Ich bin ein unsichtbarer Mann. Nein, ich bin keine jener Spukgestalten, die Edgar Allan Poe heimsuchten, auch keines jener Kino-Ektoplasmen, wie sie in Hollywood produziert werden. Ich bin ein Mensch aus Substanz, aus Fleisch und Knochen, aus Fasern und Flüssigkeiten – ja, man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich einen Verstand besitze. Ich bin unsichtbar, verstehen Sie, weil sich die Leute weigern, mich zu sehen. Es ist, als wäre ich von Zerrspiegeln aus hartem Glas umgeben, so wie die körperlosen Köpfe, die man mitunter auf Jahrmärkten sieht. Wer sich mir nähert, sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Auswüchse seiner Phantasie – in der Tat alles und jedes, nur mich nicht.
Meine Unsichtbarkeit ist auch nicht durch die biochemische Beschaffenheit meiner Epidermis bedingt. Die Unsichtbarkeit, die ich meine, ist die Folge einer eigenartigen Disposition der Augen derer, mit denen ich in Kontakt komme, und zwar der Anlage ihrer inneren Augen, jener Augen, mit denen sie die Wirklichkeit durch ihre körperlichen Augen hindurch wahrnehmen. Ich beklage mich nicht, ich protestiere auch nicht. Manchmal hat es sogar sein Gutes, unsichtbar zu sein, auch wenn es meist ziemlich nervenzerrüttend ist. Außerdem stößt man fortwährend mit Leuten zusammen, die schlecht sehen. Oder man bekommt Zweifel, ob man wirklich existiert. Man fragt sich, ob man nicht einfach nur ein Phantom in den Köpfen der anderen ist. Etwa eine Gestalt in einem Alptraum, die der Schläfer mit aller Gewalt vernichten will. Sobald man so empfindet, fängt man aus Unmut an, den Stoß zu erwidern. Und ich muss gestehen, so empfindet man meistens. Man hat das quälende Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass man in der realen Welt existiert, dass man ein Teil all des Lärms und all der Qual ist, und dann schlägt man mit den Fäusten um sich, flucht und verwünscht die anderen, damit sie einen erkennen. Aber leider hat das nur selten Erfolg.
Eines Abends stieß ich zufällig mit einem Mann zusammen. Vielleicht sah er mich, weil es schon fast dunkel war, und er beschimpfte mich. Ich sprang ihn an, packte ihn bei den Mantelaufschlägen und verlangte, dass er sich entschuldige. Er war ein großer blonder Mann, und als mein Gesicht dicht vor seinem war, blickte er mich aus seinen blauen Augen anmaßend an und verwünschte mich. Während er sich zu befreien suchte, wehte mir sein heißer Atem ins Gesicht. Ich rammte ihm meinen Schädel unters Kinn, verpasste ihm also einen Kopfstoß, wie ich es bei den Westindern gesehen hatte, und spürte, wie seine Haut aufplatzte und das Blut hervorquoll, und ich schrie: »Entschuldige dich! Entschuldige dich!« Er aber fluchte und wehrte sich weiter, und ich stieß immer wieder zu, bis er stark blutend einknickte. Mehrmals trat ich ihn, voller Wut, dass er mich immer noch beschimpfte, obwohl ihm schon blutiger Schaum auf den Lippen stand. O ja, ich trat ihn! Und in meiner Empörung zog ich mein Messer, um ihm in der menschenleeren Straße direkt unter der Laterne die Kehle durchzuschneiden. Mit der einen Hand hielt ich ihn am Kragen, und mit den Zähnen klappte ich das Messer auf – als mir plötzlich einfiel, dass der Mann mich nicht wirklich gesehen hatte; dass er glauben musste, in einem wandelnden Alptraum gefangen zu sein! Ich hielt inne, und die Klinge durchschnitt nur noch die Luft, während ich den Mann von mir weg auf die Straße stieß. Als die Scheinwerfer eines Autos die Dunkelheit durchstachen, konnte ich ihn genauer betrachten. Stöhnend lag er auf dem Asphalt, ein Mann, der beinahe von einem Phantom umgebracht worden wäre. Mein Mut schwand. Ich war angewidert und beschämt zugleich, wie ein Betrunkener, der auf geschwächten Beinen dahintorkelt. Und dann war ich belustigt: Etwas war dem dicken Schädel dieses Mannes entsprungen und hätte ihn fast totgeschlagen. Bei dieser wahnsinnigen Entdeckung begann ich zu lachen. Wäre er an der Schwelle des Todes aufgewacht? Hätte der Tod selbst ihn zu wachsamem Leben befreit? Doch hielt ich mich nicht auf. Ich lief davon in die Dunkelheit, lachte so laut, dass ich zu bersten glaubte. Am nächsten Tag sah ich sein Foto in den Daily News, die Bildunterschrift besagte, er sei auf offener Straße überfallen worden. Der arme Narr, der arme, blinde Narr, dachte ich mit aufrichtigem Mitleid, überfallen von einem unsichtbaren Mann!
Meist bin ich nicht so hemmungslos gewalttätig (wenn ich auch nicht wie früher meine Gewalttätigkeit dadurch verneine, dass ich sie einfach ignoriere). Ich erinnere mich daran, dass ich unsichtbar bin, und gehe leise meinen Weg, um die Schlafenden nicht zu wecken. Manchmal ist es das Beste, sie nicht zu wecken; nur wenig in der Welt ist so gefährlich wie Schlafwandler. Allerdings habe ich rechtzeitig gelernt, dass es möglich ist, einen Kampf gegen sie zu führen, ohne dass sie es merken. So kämpfe ich seit einiger Zeit gegen Monopolated Light & Power. Ich nutze ihre Dienstleistung, ohne dafür zu bezahlen – und sie haben keine Ahnung. Oh, einen Verdacht, dass Strom abgezapft wird, haben sie schon, aber sie wissen nicht, wo. Sie wissen nur, dass dem Hauptzähler ihres Kraftwerks zufolge irgendwo im Dschungel von Harlem eine Menge kostenfreier Strom verschwindet. Der Spaß dabei ist, dass ich gar nicht in Harlem, sondern in einem Grenzbezirk wohne. Vor mehreren Jahren (damals kannte ich die Vorteile des Unsichtbarseins noch nicht) kaufte ich ihren Strom wie jeder andere auch und zahlte ihre unverschämten Preise. Aber heute nicht mehr. Das alles habe ich längst aufgegeben, zusammen mit meiner Wohnung und meiner alten Lebensweise. Diese beruhte auf der trügerischen Annahme, ich sei wie alle anderen Menschen sichtbar. Nachdem ich jetzt weiß, dass ich unsichtbar bin, wohne ich umsonst in einem Haus, das ausschließlich an Weiße vermietet wird, in einem Teil des Kellers, der im neunzehnten Jahrhundert zugebaut und vergessen wurde und den ich entdeckte, als ich eines Nachts Ras dem Zerstörer zu entkommen versuchte. Doch damit greife ich viel zu weit vor, fast bis ans Ende der Geschichte, obwohl das Ende am Anfang und damit weit zurückliegt.
Das Wichtigste ist, dass ich ein Zuhause gefunden habe – oder ein Loch in der Erde, eine Höhle, wenn Sie so wollen. Aber hüten Sie sich vor dem Schluss, mein Zuhause sei feucht und kalt wie ein Grab, nur weil ich es ein Loch nenne. Es gibt kalte und warme Höhlen. Meine Höhle ist warm. Und vergessen Sie nicht, dass ein Bär sich für den Winter in seine Höhle zurückzieht und dort bis zum Frühling lebt, dann kommt er wieder hervorgetapst wie das Osterküken, das aus dem Ei schlüpft. Das alles sage ich nur, um Sie darauf hinzuweisen, dass die Annahme, ich sei tot, weil ich unsichtbar bin und in einer Höhle wohne, falsch ist. Ich bin weder tot noch scheintot. Nennen Sie mich Jack den Bären, denn ich befinde mich in einer Art Winterschlaf.
Meine Höhle ist warm und voller Licht. Ja, voller Licht. Ich bezweifle, dass es in ganz New York einen helleren Ort als meine Höhle gibt, heller als der Broadway oder das Empire State Building in einer Traumnacht für jeden Fotografen. Aber ich treibe Schindluder mit Ihnen. Diese beiden Orte sind mit das Dunkelste in unserer gesamten Zivilisation – Verzeihung, unserer gesamten Kultur (ein bedeutsamer Unterschied, wie ich gehört habe) –, vielleicht klingt das wie ein Scherz oder wie ein Widerspruch in sich, aber so (durch Widerspruch, meine ich) bewegt sich die Welt: nicht wie ein Pfeil, sondern wie ein Bumerang. (Hüten Sie sich vor denen, die von der Spiralbewegung der Geschichte reden; sie bereiten einen Bumerang vor. Halten Sie einen Stahlhelm griffbereit.) Ich weiß Bescheid; mir sind so viele Bumerange über den Kopf geflogen, dass ich heute die Dunkelheit des Lichts sehen kann. Und ich liebe das Licht. Vielleicht klingt es seltsam, dass ein unsichtbarer Mann Licht braucht, sich nach Licht sehnt und Licht liebt. Aber vielleicht liegt es ja genau daran, dass ich unsichtbar bin. Licht bestätigt meine Realität, erzeugt meine Gestalt. Ein schönes Mädchen erzählte mir einmal von einem immer wiederkehrenden Alptraum, in dem sie in der Mitte eines großen dunklen Zimmers lag und fühlte, wie sich ihr Gesicht immer weiter ausdehnte, bis es den ganzen Raum ausfüllte, eine formlose Masse wurde, während ihre Augen als widerliche gallige Gallerte den Kamin hinaufliefen. Genauso geht es mir. Ohne Licht bin ich nicht nur unsichtbar, sondern auch gestaltlos; und wer sich seiner Gestalt nicht bewusst ist, lebt einen Tod. Ich selbst wurde, nachdem ich bereits an die zwanzig Jahre existiert hatte, erst lebendig, als ich meine Unsichtbarkeit entdeckte.
Aus diesem Grund führe ich meinen Kampf gegen Monopolated Light & Power. Aus diesem tieferen Grund, meine ich: Er lässt mich meine Vitalität spüren. Außerdem bekämpfe ich sie, weil sie mir so viel Geld abgeknöpft hat, bis ich endlich lernte, mich zu schützen. In meiner Höhle im Kellergeschoss brennen genau 1369 Lampen. Jeden Zoll der Decke habe ich mit Drähten bespannt. Und es sind keine fluoreszierenden Glühbirnen, sondern ältere, die im Verbrauch teurer sind, solche mit Kohlefäden. Die reinste Sabotage, wissen Sie. Ich habe schon damit begonnen, die Wände mit Drähten zu bespannen. Ein Trödler, den ich kenne, ein Visionär, hat mir Draht und Fassungen besorgt. Nichts, weder Sturm noch Flut, darf sich unserem Bedürfnis nach Licht, nach immer mehr und immer hellerem Licht in den Weg stellen. Wahrheit ist Licht, und Licht ist Wahrheit. Wenn ich mit allen vier Wänden fertig bin, kommt der Fußboden an die Reihe. Wie das gehen soll, weiß ich noch nicht. Aber wenn man so lange wie ich unsichtbar gelebt hat, wird man erfinderisch. Ich werde das Problem schon lösen. Vielleicht erfinde ich noch einen Apparat, mit dem ich meinen Kaffee vom Bett aus kochen kann, oder gar ein Gerät, um mein Bett anzuwärmen – wie der Mann, von dem eine Illustrierte berichtete, er hätte einen Apparat erfunden, um seine Schuhe anzuwärmen! Wenn ich auch unsichtbar bin, so sehe ich mich doch in der großen amerikanischen Tradition der Tüftler. Und das verbindet mich mit Ford, Edison und Franklin. Nennen Sie mich ruhig einen »Denker und Tüftler«, da ich über eine Theorie und ein Konzept verfüge. Ja, ich werde meine Schuhe anwärmen; die haben’s nötig, gewöhnlich sind sie voller Löcher. Und noch vieles andere werde ich erfinden.
Augenblicklich habe ich eine Musiktruhe, aber ich will fünf haben. In meiner Höhle herrscht eine gewisse akustische Trockenheit, und wenn ich Musik anmache, will ich die Schwingungen spüren, nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Körper. Ich würde gern fünf Aufnahmen von Louis Armstrong hören, wie er »What Did I Do to Be so Black and Blue« spielt und singt – alle gleichzeitig. Manchmal höre ich jetzt Louis, wenn ich meinen Lieblingsnachtisch esse: Vanilleeis mit Schlehenlikör. Ich gieße die rote Flüssigkeit über den weißen Hügel, sehe zu, wie er glitzert und wie Dampf aufsteigt, während Louis seinem Militärinstrument ein Leuchten aus lyrischen Klängen entlockt. Vielleicht mag ich Louis Armstrong deshalb so gern, weil er aus Unsichtbarsein Poesie gemacht hat. Vielleicht kann er das, weil er gar nicht spürt, dass er unsichtbar ist. Und dass ich mich mit Unsichtbarkeit auskenne, hilft mir, seine Musik zu verstehen. Als ich einmal um eine Zigarette bat, reichten mir ein paar Spaßvögel einen Joint, den ich mir anzündete, als ich nach Hause kam und mich hinsetzte, um meiner Musiktruhe zu lauschen. Es war ein seltsamer Abend. Lassen Sie mich erklären: Unsichtbarkeit gibt einem ein leicht verändertes Zeitgefühl, man ist nie ganz im Takt. Bald ist man allem voraus, bald hinkt man allem hinterher. Statt des schnellen, unmerklichen Verrinnens der Zeit spürt man deren Knoten, jene Stellen, an denen die Zeit stillsteht oder vorspringt. Und man gleitet in die so entstehenden Lücken und schaut sich um. Das alles können Sie in Louis’ Musik hören.
Einmal sah ich einen Preisboxer gegen einen Neuling antreten. Der Boxer war schnell und ein erstaunlicher Könner. Sein Körper war ein wildes Dahinfließen rascher, rhythmischer Aktionen. Er traf den Neuling hundertmal, während dieser in fassungslosem Staunen die Arme hob. Plötzlich aber landete der Neuling, der im Hagel der Boxhandschuhe umhertorkelte, einen Schlag, kalt wie der Hintern eines Brunnengräbers, der Können, Behändigkeit und Fußarbeit zunichte machte. Der Favorit flog in die Seile. Der Außenseiter gewann die Oberhand. Der Neuling war einfach in das Zeitgefühl seines Gegners eingebrochen. So entdeckte ich unter der Wirkung des Joints eine neue analytische Art, Musik zu hören. Zum Vorschein kamen die ungehörten Töne, und jede melodische Linie existierte für sich, hob sich deutlich von allen anderen ab, sagte, was sie zu sagen hatte, und wartete geduldig, bis die anderen Stimmen sprachen. An jenem Abend merkte ich, dass ich nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum hörte. Ich trat in die Musik nicht nur ein, sondern stieg, wie Dante, hinab in ihre Tiefen. Und unter der Schnelligkeit des wilden Tempos war ein langsameres Tempo und eine Höhle, und ich trat ein und sah mich um und hörte eine alte Frau ein Spiritual singen, das voller Weltschmerz war wie ein Flamenco, und darunter lag eine noch tiefere Ebene, auf der ich ein schönes Mädchen von der Farbe des Elfenbeins sah, das mit einer Stimme wie der meiner Mutter flehte, während es vor einer Gruppe von Sklavenhaltern stand, die für seinen nackten Körper boten, und darunter eine noch tiefere Ebene und ein noch schnelleres Tempo, und ich hörte jemanden rufen:
»Brüder und Schwestern, mein heutiger Text lautet: ›Schwärze der Schwärze‹.«
Und eine Gemeinde von Stimmen antwortete: »Jene Schwärze ist sehr schwarz, Bruder, sehr schwarz …«
»Im Anfang …«
»Zu Urbeginn«, riefen sie.
»… war Schwärze.«
»Predige es …«
»… und die Sonne …«
»Die Sonne, Herr …«
»… war blutig rot …«
»Rot …«
»Jetzt ist Schwarz …«, rief der Prediger.
»Blutig …«
»Ich sagte, Schwarz ist …«
»Predige es, Bruder …«
»… und Schwarz ist nicht …«
»Rot, Herr, rot. Er hat gesagt, es ist rot.«
»Amen, Bruder …«
»Schwarz wird euch …«
»Ja, das wird es …«
»Ja, das wird es …«
»… und Schwarz wird nicht …«
»Nein, wird’s nicht!«
»Es ist …«
»Es ist, Herr …«
»… und es ist nicht.«
»Halleluja …«
»… Es wird euch, Ehre und Ruhm, o Herr, in den BAUCH DES WALS einschließen.«
»Predige es, lieber Bruder …«
»… und euch dazu bringen …«
»Guter, allmächtiger Gott!«
»… die alte Tante Nelly in Versuchung zu führen!«
»Schwarz wird euch machen …«
»Schwarz …«
»… oder Schwarz wird euch zunichtemachen.«
»Ist das nicht die Wahrheit, Herr?«
Und in diesem Augenblick schrie eine Stimme, die wie eine Posaune klang, mir zu: »Scher dich hinaus, du Narr! Bist du bereit, Verrat zu begehen?«
Und ich riss mich los und hörte die alte Spiritualsängerin stöhnen: »Verfluche deinen Gott, Junge, und stirb.«
Ich blieb stehen und stellte sie zur Rede, fragte sie, was los sei.
»Ich habe meinen Master sehr geliebt, mein Sohn«, sagte sie.
»Du hättest ihn hassen sollen«, sagte ich.
»Er hat mir mehrere Söhne geschenkt«, sagte sie, »und da ich meine Söhne liebte, lernte ich auch ihren Vater zu lieben, wenngleich ich ihn hasste.«
»Auch ich bin vertraut mit Ambivalenz«, sagte ich. »Deshalb bin ich hier.«
»Was sagst du da?«
»Nichts, ein Wort, das es nicht erklärt. Warum stöhnst du?«
»Ich stöhne, weil er tot ist«, sagte sie.
»Dann sage mir, wer da oben lacht.«
»Das sind meine Söhne. Sie freuen sich.«
»Ja, auch das kann ich verstehen«, sagte ich.
»Ich lache auch, aber ich stöhne auch. Er hat versprochen, uns freizulassen, sich aber nie dazu durchringen können. Und doch habe ich ihn geliebt …«
»Ihn geliebt? Du meinst …?«
»O ja, aber etwas anderes habe ich noch mehr geliebt.«
»Was?«
»Freiheit.«
»Freiheit«, sagte ich. »Vielleicht ist hassen Freiheit.«
»Nein, mein Sohn, lieben ist Freiheit. Ich habe ihn geliebt und ihm das Gift gegeben, und er ist dahingewelkt wie ein erfrorener Apfel. Die Jungs da hätten ihn in Stücke geschnitten mit ihren selbstgemachten Messern.«
»Irgendwo wurde ein Fehler gemacht«, sagte ich, »ich bin ganz verwirrt.« Und ich wollte noch etwas sagen, aber das Lachen oben wurde zu laut und klang für mich wie ein Stöhnen, und ich versuchte, aus ihm auszubrechen, aber das konnte ich nicht. Als ich ging, überkam mich der dringende Wunsch, sie zu fragen, was Freiheit sei, und kehrte um. Sie saß da mit dem Kopf in den Händen und stöhnte leise, ihr lederbraunes Gesicht voller Traurigkeit.
»Alte Frau, wie sieht die Freiheit aus, die du so liebst?«, fragte ich um eine Ecke meines Verstandes herum.
Sie machte ein erstauntes, dann ein nachdenkliches, schließlich ein bestürztes Gesicht. »Hab ich vergessen, mein Sohn. Ist alles durcheinander. Zuerst denk ich, sie ist das, dann wieder das. Mir brummt der Schädel. Inzwischen glaub ich, sie ist nichts andres, als zu wissen, wie ich das, was ich im Kopf hab, auch sage. Aber das ist Schwerstarbeit, mein Sohn. Zu viel ist mir passiert in zu kurzer Zeit. Als hätt ich ein Fieber. Jedes Mal, wenn ich gehen will, dreht sich mir alles im Kopf, und ich falle. Und wenn’s nicht das ist, dann sind’s die Jungs; die fangen an zu lachen und wollen alle Weißen umbringen. Sie sind verbittert, ja, das sind sie …«
»Und was ist mit der Freiheit?«
»Lass mich in Ruh, Junge; mir tut der Kopf weh!«
Ich verließ sie; mir war selbst schwindlig. Ich kam nicht weit.
Plötzlich erschien aus dem Nirgendwo einer der Söhne, ein Bursche, eins achtzig groß, und versetzte mir einen Faustschlag.
»Was ist los, Mann?«, rief ich.
»Du hast Ma zum Weinen gebracht!«
»Wie denn?«, fragte ich und wich einem weiteren Schlag aus.
»Mit diesen Fragen. Mach, dass du rauskommst, und wenn du noch mal was zu fragen hast, frag dich selbst!«
Er packte mich mit steinkaltem Griff, seine Finger drückten fest auf meine Luftröhre, dass ich schon zu ersticken glaubte, bis er mich endlich gehen ließ. Wie in einem Nebel taumelte ich davon, hysterisch hämmerte die Musik in meinen Ohren. Es war dunkel. Mein Kopf wurde klarer, und während ich eine schmale, dunkle Passage entlangging, glaubte ich seine Schritte hinter mir zu hören. Ich war gekränkt, und eine tiefe Sehnsucht nach Ruhe war über mich gekommen, nach Frieden und Stille, doch ich fühlte, dass mir dieser Zustand für immer versagt bleiben würde. Denn die Trompete schmetterte noch immer, und der Rhythmus war zu hektisch. Ein Tamtam, das wie ein Herzschlag pochte, übertönte die Trompete und füllte meine Ohren. Ich lechzte nach Wasser und hörte es durch die kalten Rohre rauschen, an denen ich mich entlangtastete, aber ich konnte nicht stehen bleiben, um danach zu suchen, denn noch immer klangen die Schritte hinter mir.
»He, Ras«, rief ich. »Bist du’s, Zerstörer? Rinehart?«
Keine Antwort. Nur die rhythmischen Schritte hinter mir. Einmal versuchte ich die Straße zu überqueren, aber eine vorbeirasende Maschine packte mich, riss mir die Haut vom Bein und donnerte weiter.
Und dann war ich auf einmal draußen, stieg aus dieser Unterwelt der Klänge nach oben und hörte Louis Armstrong unschuldig fragen:
What did I do
To be so black
And blue?
Zuerst war ich erschrocken; diese vertraute Musik hatte ein Handeln verlangt, dessen ich unfähig war, und doch, wäre ich länger unter der Oberfläche geblieben, hätte ich vielleicht zu handeln versucht. Immerhin, jetzt weiß ich, dass nur wenige dieser Musik wirklich lauschen. Ich saß auf der Stuhlkante, in Schweiß gebadet, als wäre jede meiner 1369 Glühbirnen in einem von Ras und Rinehart geleiteten individuellen Verhör dritten Grades zu einer Jupiterlampe geworden. Es war aufreibend – als hätte ich aufgrund der erschreckenden Heiterkeit, die auf Tage wütenden Hungers folgt, eine Stunde lang ununterbrochen den Atem angehalten. Und doch war es für einen unsichtbaren Mann ein seltsam befriedigendes Erlebnis, den Klang der Stille zu hören. Ich hatte unbekannte Zwänge meines Seins entdeckt – obwohl ich auf deren Drängen nicht mit Ja antworten konnte. Aber seitdem habe ich keine Joints mehr geraucht; nicht weil sie verboten sind, sondern weil es genügt, um Ecken zu sehen (das ist nicht weiter ungewöhnlich, wenn man unsichtbar ist). Aber um Ecken zu hören, das ist zu viel; das lähmt jedes Handeln. Und trotz Bruder Jack und der traurigen verlorenen Zeit der Bruderschaft glaube ich nur an Handeln.
Bitte sehr, eine Definition: Ein Winterschlaf ist verstohlene Vorbereitung auf unverhohlenes Handeln.
Außerdem zerstört die Droge vollkommen das Zeitgefühl. Wenn das geschähe, könnte ich eines hellen Morgens vergessen auszuweichen, und irgendein Dummkopf könnte mich mit einer orangegelben Trambahn oder einem giftgrünen Omnibus überfahren! Oder ich könnte vergessen, meine Höhle zu verlassen, wenn der Augenblick des Handelns gekommen ist.
Inzwischen genieße ich mein Leben dank Monopolated Light & Power. Da Sie mich niemals erkennen, selbst wenn Sie mit mir in engste Berührung kämen, und da Sie zweifellos kaum vermuten, dass ich existiere, ist es belanglos, ob Sie wissen, dass ich eine ins Gebäude führende Stromleitung angezapft und in meine Höhle unter der Erde verlegt habe. Vorher lebte ich in dem Dunkel, in das ich getrieben wurde, jetzt aber sehe ich. Ich habe die Schwärze meiner Unsichtbarkeit erhellt – und umgekehrt. Und so spiele ich die unsichtbare Musik meiner Isolation. Letztere Feststellung scheint nicht ganz zuzutreffen, oder? Aber sie trifft zu; Sie hören diese Musik, weil Musik gehört und – mit Ausnahme von Musikern – nur selten gesehen wird. Könnte dieser Zwang, Unsichtbarkeit in Schwarz-Weiß festzuhalten, ein Antrieb sein, aus Unsichtbarkeit Musik zu machen? Aber ich bin ein Hetzredner, ein Aufwiegler – bin ich das? Ich war es und werde es vielleicht auch wieder sein. Wer weiß? Nicht jede Krankheit ist eine zum Tode, auch Unsichtbarkeit nicht.
Ich höre Sie schon sagen: »Was für ein hundsgemeiner, verantwortungsloser Halunke!« Und Sie haben recht. Ich bin durchaus derselben Meinung. Ich bin eins der verantwortungslosesten Wesen, die je gelebt haben. Verantwortungslosigkeit gehört zu meiner Unsichtbarkeit; wie Sie es auch betrachten, sie ist Verneinung. Aber wem gegenüber kann ich verantwortungsvoll sein, und weshalb sollte ich es sein, wenn Sie sich weigern, mich wahrzunehmen? Warten Sie nur, bis ich Ihnen offenbare, wie verantwortungslos ich bin. Verantwortung beruht auf Anerkennung, und Anerkennung ist eine Form der Zustimmung. Nehmen Sie den Mann, den ich beinahe umgebracht hätte: Wer war für den Mord, der beinahe geschehen wäre, verantwortlich? Ich etwa? Ich denke, nein, und ich weise es zurück. Ich will keine Verantwortung, weder gekauft noch geschenkt. Er hat mich umgestoßen, er hat mich beleidigt. Hätte er, seiner eigenen Sicherheit zuliebe, meine Hysterie, mein »Gefahrenpotenzial« nicht erkennen müssen? Er war – nennen wir es so – in einer Traumwelt versunken. Aber hatte er nicht die Kontrolle über diese Traumwelt – die leider nur zu wirklich ist! –, und hat er mich nicht aus ihr verjagt? Und hätte er nach der Polizei gerufen, wäre ich nicht für den Angreifer gehalten worden? Ja, ja, ja! Ich bin ganz Ihrer Meinung, der Verantwortungslose war ich; denn ich hätte mein Messer gebrauchen sollen, um die höheren Interessen der Gesellschaft zu schützen. Eines Tages wird diese Art Torheit die Ursache tragischer Konflikte werden. Alle Träumer und Schlafwandler müssen den Preis bezahlen, und selbst das unsichtbare Opfer ist für das Schicksal aller verantwortlich. Aber ich bin dieser Verantwortung aus dem Weg gegangen; ich war zu sehr in die unvereinbaren Begriffe verstrickt, die in meinem Gehirn summten. Ich war ein Feigling …
Doch was habe ich getan, um so trübsinnig zu werden? Gedulden Sie sich.
Es ist lange her, etwa zwanzig Jahre. Mein ganzes Leben hatte ich nach etwas gesucht, und wohin ich mich auch wandte, immer wieder versuchte jemand, mir zu sagen, was es sei. Ich nahm ihre Antworten hin, obwohl sie einander oft widersprachen und auch in sich selbst widersprüchlich waren. Ich war naiv. Ich suchte mich selbst und stellte jedem, nur mir selbst nicht Fragen, die nur ich, ich allein beantworten konnte. Es kostete mich viel Zeit, und meine Erwartungen erwiesen sich mehr als einmal als schmerzhafter Bumerang, bis ich endlich zu einer Erkenntnis gelangte, mit der jeder andere anscheinend geboren wird: dass ich niemand anders bin als ich selbst. Aber vorher musste ich entdecken, dass ich ein unsichtbarer Mann bin!
Und doch bin ich weder eine Laune der Natur noch eine der Geschichte. Vor fünfundachtzig Jahren war ich unter sonst gleichen (oder ungleichen) Umständen vorherbestimmt. Ich schäme mich nicht für meine Großeltern, weil sie Sklaven waren. Ich schäme mich nur für mich selbst, weil ich mich einmal geschämt habe. Vor etwa fünfundachtzig Jahren sagte man ihnen, sie seien frei und in allem, was das Gemeinwohl angehe, vereint mit den anderen in unserem Land, in allen sozialen Belangen jedoch gesondert wie die Finger einer Hand. Und sie glaubten es. Sie waren voller Freude und Jubel. Sie blieben da, wo sie waren, arbeiteten schwer und erzogen meinen Vater dazu, dasselbe zu tun. Doch die Hauptperson ist mein Großvater. Er war ein seltsamer alter Mann, mein Großvater, und man sagt mir, ich sei nach ihm geraten. Er war es, mit dem der Ärger anfing. Auf dem Sterbebett rief er meinen Vater zu sich und sagte: »Mein Sohn, wenn ich gestorben bin, möchte ich, dass du den guten Kampf weiterführst. Ich hab’s dir nie gesagt, aber unser Leben ist ein Krieg, und seit ich in der Periode der Rekonstruktion mein Gewehr zurückgegeben hab, war ich mein Lebtag ein Verräter, ein Spion in Feindesland. Lebe mit dem Kopf im Rachen des Löwen. Ich will, dass du sie mit Jasagen überwältigst, dass du sie mit Grinsen untergräbst, dass du ihnen recht gibst auf Tod und Verderben, dass du dich von ihnen verschlingen lässt, bis sie speien oder bersten.« Sie dachten, der Alte hätte den Verstand verloren. Er war doch immer so sanftmütig gewesen. Die kleineren Kinder wurden aus dem Zimmer geschickt, die Rollläden heruntergelassen und die Flamme der Petroleumlampe so heruntergedreht, dass sie auf dem Docht flackerte wie der Atem des alten Mannes. »Bring’s den Kleinen bei«, flüsterte er erregt; dann starb er.
Meine Angehörigen aber waren über seine letzten Worte betroffener als über seinen Tod. Es war, als sei er gar nicht gestorben, so groß war die Unruhe, die seine Worte ausgelöst hatten. Mir wurde eindringlich aufgetragen, sie zu vergessen, und tatsächlich erwähne ich sie heute zum ersten Mal außerhalb des Familienkreises. Doch sie machten einen tiefen Eindruck auf mich. Was er damit gemeint hatte, konnte ich nie so recht ergründen. Großvater war ein ruhiger, alter Mann gewesen, der nie irgendwelche Schwierigkeiten machte; auf dem Sterbebett jedoch hatte er sich als Verräter und Spion bezeichnet und von seiner Sanftmut als einer gefährlichen Aktivität gesprochen. Es wurde ein ungelöstes Rätsel, das in der Tiefe meines Geistes lag. Wann immer Dinge erfreulich für mich verliefen, musste ich an meinen Großvater denken, und ein Gefühl der Schuld und des Unbehagens überkam mich. Mir war, als befolgte ich gegen meinen Willen seinen Rat. Und was alles noch schlimmer machte: Jeder liebte mich dafür. Ich wurde von den lilienweißesten Menschen der Stadt gelobt. Man sah in mir das Paradebeispiel eines erwünschten Verhaltens – so wie es mein Großvater gewesen war. Dass der alte Mann es als Verrat bezeichnet hatte, ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Wurde ich für mein Verhalten gelobt, befiel mich ein Gefühl der Schuld, als handelte ich in gewisser Weise gegen die Wünsche der Weißen und als müssten sie, wenn sie es begriffen, den Wunsch haben, ich solle genau das Gegenteil tun, mürrisch und gemein sein. Aber sie ließen sich täuschen und glaubten, ich täte exakt das, was sie wollten. Ich hatte Angst, dass sie eines Tages einen Verräter in mir sehen würden und ich dann verloren wäre. Aber noch mehr Angst hatte ich, anders zu handeln, denn dafür hatten sie nicht das geringste Verständnis. Die Worte des alten Mannes waren wie ein Fluch. Am Tag meiner Abschlussprüfung hielt ich eine Rede, in der ich ausführte, dass Demut das Geheimnis, ja das Wesen des Fortschritts sei. (Nicht, dass ich daran glaubte – wie konnte ich, wenn ich an meinen Großvater dachte? Ich glaubte lediglich, dass so etwas verfing.) Die Rede war ein großer Erfolg. Jeder lobte mich, und ich wurde eingeladen, sie bei einer Versammlung der führenden weißen Bürger der Stadt zu wiederholen. Das war ein Triumph für unsere ganze Gemeinde.
Es geschah im großen Ballsaal des ersten Hotels der Stadt. Als ich ankam, entdeckte ich, dass es sich um einen Herrenabend handelte, und man sagte mir, da ich nun einmal da sei, könnte ich auch gleich an der Battle Royal, einem Boxkampf aller gegen alle, teilnehmen, den einige meiner Schulkameraden im Laufe des Programms austragen sollten. Der Boxkampf stand sogar obenan.
Alle hohen Tiere der Stadt waren da, im Smoking standen sie am Büfett, verschlangen gierig die Speisen, tranken Bier und Whiskey und rauchten schwarze Zigarren. Es war ein großer Saal mit hoher Decke. An drei Seiten eines transportablen Boxrings waren in ordentlichen Reihen Stühle aufgestellt. Die vierte Seite war frei und zeigte die glänzende Fläche eines polierten Fußbodens. Was den Boxkampf angeht, hatte ich übrigens meine Zweifel. Nicht weil mir Boxen zuwider gewesen wäre, sondern weil ich mir aus den Burschen, die an dem Kampf teilnahmen, nicht viel machte. Es waren stramme Kerle, auf deren Verstand sicher nicht der Fluch eines Großvaters lastete. Niemand konnte ihre Zähigkeit verkennen. Außerdem fürchtete ich, ein Boxkampf könnte der Würde meiner Rede abträglich sein. In jenen Tagen, die meiner Unsichtbarkeit vorausgingen, sah ich mich schon als einen potenziellen Booker T. Washington. Doch aus mir machten sich die Burschen auch nicht viel, und sie waren zu neunt. Auf meine Weise fühlte ich mich ihnen überlegen, und mir gefiel nicht, wie wir alle zusammen in den Personalaufzug gepfercht wurden. Ihnen passte meine Anwesenheit ebenso wenig. Ja, während die warm erleuchteten Stockwerke am Fahrstuhl vorüberhuschten, gerieten wir gleich in Streit – durch meine Teilnahme an dem Kampf hätte ich einen ihrer Freunde um seine Arbeit gebracht.
Aus dem Aufzug wurden wir durch eine Rokokohalle in einen großen Vorraum geführt und angewiesen, unseren Kampfdress anzuziehen. Jeder von uns erhielt ein Paar Boxhandschuhe und wurde anschließend in den großen Spiegelsaal eskortiert. Als wir ihn betraten, blickten wir uns vorsichtig um und begannen zu flüstern aus Furcht, trotz des Lärms im Saal gehört zu werden. Dieser war voller Zigarrenqualm. Der Whiskey tat bereits seine Wirkung. Ich war erschüttert, als ich feststellte, dass einige der wichtigsten Männer der Stadt schon ziemlich angetrunken waren. Sie waren alle erschienen: Bankiers, Anwälte, Richter, Ärzte, Brandmeister, Lehrer, Kaufleute. Sogar einer der moderneren Pastoren. Vorn spielte sich etwas ab, was wir nicht sehen konnten. Eine Klarinette vibrierte sinnlich, und die Männer standen auf und drängten erwartungsvoll dorthin. Wir bildeten eine kleine, dicht umeinander gescharte Gruppe, unsere nackten Oberkörper berührten sich und funkelten vor Schweiß, der uns schon im Voraus ausbrach. Unterdessen wurden die hohen Tiere immer erregter über etwas, was wir noch immer nicht sehen konnten. Plötzlich hörte ich den Schulinspektor, der mich herbestellt hatte, brüllen: »Schafft die Schuhputzer her, Gentlemen! Schafft die kleinen Schuhputzer her!«
Wir wurden zum vorderen Teil des Ballsaals getrieben, wo es noch stärker nach Tabak und Whiskey roch. Dann mussten wir Aufstellung nehmen. Ich machte mir fast in die Hose. Ein Meer von Gesichtern, manche feindselig, manche belustigt, toste um uns her, und in der Mitte, uns gegenüber, stand eine herrliche Blondine – splitternackt. Es herrschte Totenstille. Ich fühlte, wie mich ein kalter Windzug streifte. Ich versuchte zurückzuweichen, aber sie standen hinter mir und um mich herum. Einige der Jungs standen zitternd da, mit gesenktem Kopf. Ich verspürte eine Woge aus irrationaler Schuld und Angst. Mir klapperten die Zähne, ich bekam eine Gänsehaut, meine Knie wurden weich. Dennoch war ich fasziniert und sah gegen meinen Willen hin. Und wäre der Preis fürs Hinsehen Blindheit gewesen, ich hätte hingesehen. Ihr Haar war gelb wie das einer Kewpie-Puppe, das Gesicht stark gepudert und mit viel Rot bestrichen, als sollte eine abstrakte Maske geschaffen werden, die Augen hohl und mit einem kühlen Blau beschmiert, das an die Farbe eines Pavianhinterns erinnerte. Während mein Blick langsam über ihren Körper glitt, überkam mich ein Verlangen, sie anzuspucken. Ihre Brüste waren fest und rund wie die Kuppeln ostindischer Tempel, und ich stand so dicht vor ihr, dass ich das feine Gewebe der Haut und die wie Tautropfen glitzernden Schweißperlen um die erigierten rosa Brustwarzen sehen konnte. Ich wollte gleichzeitig aus dem Saal rennen, im Boden versinken oder zu ihr gehen und sie mit meinem Körper vor meinen und den Blicken der anderen schützen, die weichen Schenkel berühren, sie liebkosen und sie vernichten, sie lieben und sie ermorden, mich vor ihr verkriechen und sie doch dort streicheln, wo ihre Schenkel unter der kleinen amerikanischen Flagge, die auf ihren Bauch tätowiert war, ein großes V bildeten. Ich hatte den Eindruck, dass sie mit ihren unpersönlichen Augen von allen im Saal nur mich sah.
Und dann begann sie zu tanzen, eine langsame, sinnliche Bewegung. Der Rauch von hundert Zigarren heftete sich an sie wie ein hauchdünner Schleier. Sie kam mir vor wie eine schöne, in Schleier gehüllte Seejungfrau, die mir von der zornigen Oberfläche eines bedrohlichen grauen Meeres zurief. Ich war außer mir. Dann hörte ich, wie die Klarinette spielte und die hohen Tiere uns anbrüllten. Die einen drohten uns, wenn wir die Blondine betrachteten, und die anderen, wenn wir es nicht taten. Rechts von mir sah ich einen Jungen in Ohnmacht fallen. Und jetzt nahm ein Mann einen silbernen Krug von einem Tisch, trat auf den Jungen zu, übergoss ihn mit Eiswasser, zog ihn hoch und befahl zweien von uns, ihn zu stützen. Der Junge ließ den Kopf hängen, und seinen dicken bläulichen Lippen entwich ein Stöhnen. Ein anderer flehte darum, nach Hause gehen zu dürfen. Er war der Größte in der Gruppe, er trug eine dunkelrote Boxerhose, die viel zu eng war, als dass sie die Erektion hätte verbergen können, die gleichsam die Antwort auf das einschmeichelnde tiefe Stöhnen der Klarinette war. Er versuchte sich mit seinen Boxhandschuhen zu bedecken.
Unterdessen tanzte die Blondine weiter, lächelte den sie wie verzaubert anstarrenden hohen Tieren schwach zu und mokierte sich über unsere Angst. Ich sah einen gewissen Kaufmann, der ihr gierig mit den Augen folgte, sein Mund war schlaff und sabberte. Er war groß, und sein mit Diamantknöpfen bestücktes Vorhemd spannte sich über einen umfangreichen Wanst, und jedes Mal, wenn sich die Blondine in den Hüften wiegte, strich er sich mit der Hand durch das dünne Haar seines fast kahlen Kopfes und ließ, die Arme erhoben, in der plumpen Pose eines betrunkenen Pandas mit langsamen und obszönen Bewegungen seinen Bauch kreisen. Der Mann war vollkommen hypnotisiert. Die Musik wurde schneller. Während sich die Tänzerin mit gleichgültiger Miene umherwarf, fingen ein paar Männer an, nach ihr zu greifen und sie zu betatschen. Ich sah, wie ihre fleischigen Finger sich in ihre weiche Haut bohrten. Andere versuchten sie daran zu hindern, und sie begann sich in anmutigen Kreisen über das Parkett zu bewegen, während die Männer, über den polierten Fußboden schlitternd, ihr nachjagten. Es war Tollheit. Stühle wurden umgeworfen, Getränke verschüttet, während sie lachend und johlend hinter ihr herrannten. Sie fingen sie in dem Augenblick, als sie eine Tür erreichte, fassten nach ihr und warfen sie in die Höhe, so wie Collegejungs bei einem Initiationsritual in die Höhe geworfen werden, und über den roten, starr lächelnden Lippen sah ich das Entsetzen und den Abscheu in ihren Augen, fast wie mein eigenes Entsetzen und das, das ich in den Augen einiger Jungs sah. Während ich zuschaute, wurde sie zweimal in die Höhe geworfen, durch den Luftdruck schienen ihre weichen Brüste flach zu werden, und ihre Beine zappelten wild, als ihr Körper sich drehte. Ein paar Männer, die etwas nüchterner waren, verhalfen ihr zur Flucht. Und mit den übrigen Jungs bewegte ich mich in Richtung Vorraum.
Manche weinten noch immer und waren hysterisch. Doch als wir versuchten, uns aus dem Staub zu machen, wurden wir aufgehalten, und man befahl uns, in den Ring zu steigen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Alle zehn kletterten wir unter den Seilen durch und ließen uns mit breiten Streifen aus weißem Stoff die Augen verbinden. Einer der Männer schien ein wenig Mitleid mit uns zu haben und versuchte uns aufzuheitern, während wir mit dem Rücken zu den Seilen standen. Ein paar von uns versuchten zu lächeln. »Siehst du den Burschen da drüben?«, sagte einer der Männer. »Wenn die Glocke ertönt, rennst du auf ihn zu und haust ihm eins vor den Bauch. Wenn du ihn nicht kriegst, krieg ich dich. Der Kerl gefällt mir nicht.« Jedem von uns wurde dasselbe gesagt. Wir schoben die Binden vor die Augen. Selbst jetzt war ich noch einmal meine Rede durchgegangen. Innerlich leuchtete jedes Wort wie eine Flamme. Ich spürte, wie das Tuch zurechtgeschoben wurde, und zog die Stirn kraus, damit es lockerer säße, wenn ich mich entspannte.
Doch dann überkam mich blindes Entsetzen. Ich war Dunkelheit nicht gewohnt. Es war, als befände ich mich plötzlich in einem dunklen Raum voller giftigem Schlangengezücht. Ich hörte die trüben Stimmen, die hartnäckig nach dem Beginn des Boxkampfes brüllten.
»Fangt endlich an!«
»Lasst mich auf den großen Nigger los!«
Ich bemühte mich, die Stimme des Schulinspektors zu erkennen, als könnte ihr etwas vertrauterer Klang mir mehr Sicherheit geben.
»Lasst mich auf die schwarzen Hurensöhne los!«, schrie jemand.
»Nein, Jackson, nein!«, gellte eine andere Stimme. »Hier, wer hilft mir, Jack festzuhalten?«
»Ich will auf den ingwerbraunen Nigger los. Ihn in Stücke reißen!«, brüllte die erste Stimme wieder.
Zitternd stand ich an den Seilen. Denn damals war ich, was sie ingwerbraun nannten, und es hörte sich an, als wollte man mich zwischen den Zähnen zermalmen wie ein knuspriges Ingwerplätzchen.
Bald war ein wilder Kampf im Gange. Stühle wurden umgestoßen, und ich hörte wie in furchtbarer Anstrengung Stimmen keuchen. Ich wollte sehen, verzweifelter denn je zuvor. Aber die Augenbinde saß so fest wie dicker, die Haut in Falten ziehender Schorf, und als ich meine behandschuhten Hände hob, um die Lagen aus Weiß beiseitezuschieben, schrie eine Stimme: »O nein, kommt nicht in Frage, du schwarzer Dreckskerl! Das lässt du hübsch bleiben!«
»Läute die Glocke, bevor Jackson den Nigger noch ganz umbringt!«, dröhnte es in die plötzliche Stille. Und ich hörte die Glocke scheppern und das Geräusch vorwärtsschlurfender Füße.
Ein Handschuh traf meinen Kopf. Ich fuhr herum, schlug steif zu und spürte, wie der Ruck durch meinen Arm bis in die Schulter zog. Dann war es, als hätten sich alle neun Jungs auf einmal gegen mich verbündet. Von allen Seiten prasselten Schläge auf mich ein, während ich, so gut ich konnte, austeilte. So viele Schläge landeten auf mir, dass ich mich fragte, ob ich der einzige Kämpfer mit verbundenen Augen im Ring war oder ob der Mann, den sie Jackson nannten, mich schließlich doch noch erwischt hatte.
Mit der Binde vor den Augen konnte ich meine Bewegungen nicht mehr kontrollieren. Ich hatte keine Würde mehr. Ich torkelte umher wie ein Baby oder ein Betrunkener. Der Rauch war dichter geworden, und mit jedem neuen Schlag schien er sengender zu werden und meine Lunge einzuengen. Mein Speichel war wie heißer, bitterer Leim. Ein Handschuh traf mich am Kopf und füllte meinen Mund mit warmem Blut. Es war überall. Ich wusste nicht, ob die Feuchtigkeit, die ich auf meinem Körper fühlte, Schweiß oder Blut war. Ein harter Schlag landete in meinem Nacken. Ich spürte, wie ich fiel, wie mein Kopf auf den Fußboden schlug. Streifen von blauem Licht füllten die schwarze Welt hinter der Binde. Bäuchlings lag ich da und tat so, als wäre ich k. o., doch dann spürte ich, wie Hände mich packten und wieder auf die Füße rissen. »Nichts wie ran, Niggerjunge! Kämpfen!« Meine Arme waren wie Blei, von den Schlägen schmerzte mir der Kopf. Es gelang mir, nach den Seilen zu tasten und mich festzuhalten, und ich versuchte Luft zu schnappen.
Ein Handschuh traf mich ins Zwerchfell, und wieder ging ich zu Boden. Ich hatte das Gefühl, als wäre der Rauch zu einem Messer geworden, das in meinen Eingeweiden wütete. Von Beinen, die um mich herumrannten, hierhin und dorthin gestoßen, richtete ich mich schließlich auf und stellte fest, dass ich die schweißbedeckten schwarzen Gestalten, die zu dem schnellen trommelnden Geräusch der Schläge in der rauchblauen Luft umhertorkelten wie betrunkene Tänzer, sehen konnte.
Jeder schlug wie von Sinnen um sich. Es herrschte vollkommene Anarchie. Jeder kämpfte gegen jeden. Keine Gruppe kämpfte lange zusammen. Zwei, drei, vier kämpften erst gegen einen, wandten sich dann gegeneinander, wurden ihrerseits angegriffen. Schläge mit offenen wie geschlossenen Handschuhen landeten unter der Gürtellinie und in den Nieren, aber da ich jetzt ein bisschen sehen konnte, war mein Entsetzen nicht mehr ganz so groß. Ich bewegte mich vorsichtig, wich den Schlägen aus, wenn auch nicht zu vielen, um keinen Verdacht zu erregen, schlug bald auf diese, bald auf jene Gruppe ein. Die Jungs tasteten umher wie blinde, vorsichtige Krabben, krümmten sich, um die Mitte ihrer Körper zu schützen, zogen die Köpfe tief zwischen die Schultern, streckten nervös die Arme von sich, prüften die raucherfüllte Luft mit den Fäusten, als wären es die beknopften Fühler überempfindlicher Schnecken. In einer Ecke sah ich einen Jungen, der wie wild in die Luft boxte, und hörte ihn vor Schmerz brüllen, als seine Hand gegen einen der Ringpfosten knallte. Eine Sekunde lang sah ich, wie er sich vornüberbeugte und sich die Hand hielt, dann ging er zu Boden, als ein Hieb seinen ungeschützten Kopf traf. Ich spielte eine Gruppe gegen die andere aus, schlich mich an, versetzte jemandem einen Schlag, trat dann wieder außer Reichweite und stieß die anderen ins Getümmel, damit sie die Schläge empfingen, die mir zugedacht waren. Der Rauch war erstickend, von Runden konnte keine Rede sein, keine Glocke ertönte im Drei-Minuten-Takt, um uns Erschöpften Erleichterung zu verschaffen. Der Saal drehte sich um mich, ein Wirbel aus Lichtern, Rauch und schwitzenden Leibern, umringt von gespannten weißen Gesichtern. Ich blutete aus Nase und Mund, das Blut spritzte mir auf die Brust.
Noch immer schrien die Männer. »Hau drauf, Niggerjunge. Schlag ihm die Därme aus dem Leib.«
»Ein Aufwärtshaken! Schlag ihn tot! Schlag den Großen tot!«
Ich markierte einen Fall und sah dabei, wie ein Junge neben mir schwer auf die Bretter ging, als hätte ein einziger Schlag uns beide gefällt, sah, wie ihn ein Turnschuhfuß in die Lenden trat, wie die zwei, die ihn niedergeschlagen hatten, über ihn stolperten. Ich wälzte mich beiseite. Mir war zum Erbrechen elend.
Je heftiger wir kämpften, desto drohender wurden die Männer. Und doch machte ich mir wieder Gedanken wegen meiner Rede. Wie würde sie ankommen? Ob man meine Fähigkeiten würdigen würde? Was würde man mir geben?
Mechanisch schlug ich weiter um mich, als ich auf einmal merkte, dass die Jungs einer nach dem andern den Ring verließen. Ich war verblüfft, von Panik ergriffen, als stünde ich allein einer unbekannten Gefahr gegenüber. Dann begriff ich. Die Jungs hatten es unter sich verabredet. Es war Sitte, dass die beiden Männer, die im Ring blieben, um den Siegerpreis kämpften. Das erkannte ich zu spät. Als die Glocke ertönte, sprangen zwei Männer im Smoking in den Ring und nahmen uns die Augenbinden ab. Ich stand Tatlock, dem Größten der Gang, gegenüber. Mir wurde übel. Kaum war das Läuten der Glocke in mei