Gregor Hens, geboren 1965 in Köln, lehrte an verschiedenen Amerikanischen Universitäten, zuletzt an der Ohio State University. Seit 2013 lebt er als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Er hat zahlreiche Romane übersetzt, u.a. von Leonard Cohen und Will Self.
»Vergesst die ganzheitlichen Entwürfe, scheint Gregor Hens zu sagen, es sind die Scherben, aus denen das Glück blitzt«. FAZ
Sommer 1989: Karl ist 25 Jahre alt und will seine unglückliche Jugend im Internat hinter sich lassen. Ein Job als Assistant Teacher in Columbia, Missouri, ist die ersehnte Möglichkeit, sich neu zu erfinden. Dort verliebt er sich in Stella, eine seiner Studentinnen. Und aller Rationalismus relativiert sich angesichts der Gefühle, die sie in ihm auslöst. Die er ebenso wenig versteht, wie ihre eigenartige Gabe, für kurze Zeit die Schwerkraft zu überwinden. Ist das Traum, Einbildung oder das, was man Wirklichkeit nennt?
Gregor Hens hat einen eindringlichen Roman über die Zeit im Leben geschrieben, in der die Weichen gestellt werden für alles, was kommt – und die Geschichte einer ersten großen Liebe, die im Scheitern unwiderruflich prägt.
»Gregor Hens verwandelt die Gegenstände seiner Welt in Verstärker poetischer Kraft: summend, vibrierend und Funken sprühend.« New Yorker
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Missouri
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Kapitel 8
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Kapitel 10
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Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Impressum
Das Weltall sieht allmählich eher wie ein großer Gedanke als wie eine große Maschine aus.
James Hopwood Jeans
Seit Jahren hatte ich nichts von Stella gehört, als sie mir in einer Mail mitteilte, dass ihre Mutter einem langwierigen Krebsleiden erlegen war. Die Nachricht versetzte mir einen Stich, aber ein unzuverlässiges Gedächtnis und der Lauf der Zeit selbst hatten einen feinen Firnis über die Ereignisse gelegt, der meinen Schmerz dämpfte und meine Seele schützte. Ich sprach ihr mein Beileid aus und erkundigte mich, wie es ihr ergangen sei, und Stella antwortete weniger direkt, als ich erwartet hatte. Sie berichtete, dass Christina, ihre Tochter, als frisch gebackene Tragwerksplanerin an einem Projekt in New York beteiligt sei. Übrigens, schrieb sie, Calders Zirkus ist nie wiedergekommen.
Ich wüsste nichts von Stella und Calders Zirkus, wäre ich nicht im Alter von dreiundzwanzig Jahren nach Amerika gegangen, um an einer Universität Deutsch zu unterrichten. Stella saß in meinem ersten Kurs, immer auf demselben Platz in der zweiten Reihe des fensterlosen Raums, von mir aus gesehen rechts. Ich wäre damals nicht in die USA gegangen, hätte ich nicht bereits als Gymnasiast sechs Monate dort zugebracht, um einer traumatischen Kindheit zu entkommen. Das legt nahe, dass ich, wäre meine Kindheit nicht derart unglücklich gewesen, Stella nie kennengelernt hätte, und so fühlt es sich bis heute manchmal an. Ein klassischer Fehlschluss. Es hätte zahllose andere Möglichkeiten gegeben, ihr zu begegnen, tatsächlich war es beinahe unausweichlich, dass wir eines Tages aufeinandertreffen würden. Zum Beispiel in einem Iglu bei einem Forschungsprojekt zur Inuit-Kultur oder als Crewmitglieder auf einem Kreuzfahrtschiff (ich der Pianist, sie die Expeditionsleiterin). Wir hätten beide am selben Syndrom erkranken und auf einer Betroffenentagung oder in einer Patientenstudie aufeinandertreffen können. In London vielleicht oder in Jakarta oder hier in Köln. In diesem oder jenem Universum, in irgendeiner von uns selbst erdachten und geschaffenen Welt hätten sich unsere Wege früher oder später gekreuzt. Die Unzahl der Möglichkeiten macht es mehr als wahrscheinlich, so wie es die Unzahl der Sterne beinahe zur Gewissheit macht, dass auf irgendeinem Exoplaneten dort draußen Leben existiert, Leben, das wir als solches erkennen. Die Wahrscheinlichkeit ist asymptotisch. Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, liege ich da und denke mir einige dieser Szenarien aus, die uns hätten zusammenführen können. Und dann, wenn mich der Schlaf endlich einholt und ich im Traum meine Liebe gestehe, ist es Janet, ihre Mutter, die mir den Finger auf die Lippen legt, um mich zum Schweigen zu bringen.
Erschöpft vom langen Flug trat ich auf das Rollfeld von Lambert Field, das noch die Mittagshitze abstrahlte. Ich wäre am liebsten auf die Knie gefallen, um den heißen Asphalt zu küssen. Ich wusste kaum, wer ich war und was aus mir werden sollte. Den größeren Teil meiner Jugend hatte ich in einem Internat am Niederrhein verbracht, wo ich lateinische Grammatik und Judo gelernt hatte und sonst beinahe nichts. Nach dem Abitur zog ich ein paarmal um, wohnte einige Monate auf einem Bauernhof bei Kleve und studierte vier Semester lang lustlos an der Kölner Universität. Dann: Missouri.
Bereits als Schüler hatte ich ein halbes Jahr in Amerika verbracht, in einem kleinen Ort namens Ridgefield im Nordwesten des Landes. Mein damaliger Gastvater Steve war ein Trompete spielender Pastor einer winzigen Baptistengemeinde. Unter der Woche jobbte er als Baggerfahrer. Wenn mich niemand beobachtete, spielte ich auf der Orgel in der kleinen, weiß geschindelten Kirche neben dem Haus Tom-Waits-Lieder. Im Windfang des Drogeriemarkts, dem einzigen Laden im Ort, spielte ich an einem Automaten Frogger, abends schrieb ich lange Briefe an Ulrike, die in einem Architektenhaus am Ende unserer Straße aufgewachsen war. Christie, meine Gastmutter, bemühte sich, mich zu verstehen, sie stellte mir Fragen und hörte mir zu. Mehr als jeder andere spürte sie das Ausmaß meiner Verwirrung. Sie nahm mich mit zum Einkaufen, sie stellte mich ihren Freunden vor. Steve lieh mir sein Remington-Gewehr, auf dessen Schaft ein Pax-Christi-Zeichen prangte. Ich schoss, bis das junge, biegsame Bäumchen, an das ich die Zielscheibe geheftet hatte, langsam und lautlos kippte. Ich war der einzige Junge im Kunst- und Kalligrafiekurs, wo ich Bilder von Grant Wood und Norman Rockwell kopierte. Die Lehrerin nannte mich hon oder honey und legte mir die Hand auf die Schulter, wenn sie meine Arbeit an der Staffelei begutachtete. Ich lernte den Sohn eines philippinischen Oligarchen kennen, auch er ein Austauschschüler. Ich besuchte Disneyland und trank klebrigen Pfirsichlikör mit Steve. Als ich im Frühjahr 1982 ins Internat zurückkehrte, trug ich eine neue Welt in mir.
Sieben Jahre später war ich wieder in den USA. St. Louis. Im Juli. Ein brütend heißer Sommernachmittag. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich nahm ein Zimmer im Best Western in der Nähe des Flughafens. Stella war zu diesem Zeitpunkt auf der Farm, saß irgendwo im Schatten und las. Natürlich wusste ich damals nichts von Stellas Existenz, doch möglicherweise spürte ich, dass sie in der Nähe war.
Ich sank auf das Bett und schlief sofort ein. Um drei Uhr wachte ich auf. Ich erinnere mich an ein gelbliches Licht, das durch die Vorhänge drang, von dem in nächtlicher Stille liegenden Flugfeld vielleicht oder der nahen Autobahn, deren Rauschen ich hörte. Mein Magen war übersäuert. Das Letzte, was ich zu mir genommen hatte, war ein winziges Mittagessen im Flugzeug, das mit winzigem Besteck und einem winzigen Becher Wasser serviert worden war. Ich zündete mir eine filterlose Pall Mall an, meine bevorzugte Marke damals. Rauchend lag ich auf dem Bett und dachte nach. Ich zitterte vor Hunger, Asche flockte auf meine dürre, haarlose Brust wie Schnee. Ich wischte die Asche fort, stand auf und zog mich an.
In einer Nische am Aufzug stand eine Eiswürfelmaschine neben einem Cola-Automaten neben einem Snack-Automaten. Es gab Mars und Milky Ways. Die Twinkies, zwei Stück pro Packung, waren cream filled. Das klang wie eine Verheißung. Doch Twinkies sollte ich erst viel später probieren, als mir Katja von der Twinkie-Verteidigung erzählte, Dan Whites erbärmlicher Ausrede für den Mord an dem schwulen Politiker Harvey Milk. Verminderte Schuldfähigkeit wegen Überzuckerung. White bekam sieben Jahre und nahm sich das Leben.
Zehn Jahre ist es her, dass Katja, die damals bereits eingebürgert war, für einen Sitz im Rat der Stadt San Francisco kandidierte, mit einem Wahlprogramm, das bezahlbaren Wohnraum und Ateliers für Künstler versprach. Als ich sie im Wahlkampf besuchte, bat sie mich, bei ihren Veranstaltungen Twinkies zu verteilen, meine erste und bis dato einzige politische Betätigung. Doch ihr Wahlprogramm zog nicht. Katja ist Anwältin, und sie führt selbst für kalifornische Verhältnisse ein ziemlich privilegiertes Leben. Es fühlte sich an, als stünde sie weit oben auf einer Leiter und bäte die einfachen Leute, ihr das Werkzeug zuzureichen. Sie erlitt eine krachende Niederlage. Immerhin wurde sie nicht von einem überzuckerten Attentäter erschossen. Sie hat nicht zurückgeblickt. Heute ist sie froh, dass sie die Wahl damals nicht gewonnen hat, sie hat das Beste aus ihrer Niederlage gemacht. Ihre Kanzlei vertritt militante Tierschützer, Gentrifizierungsgegner und Obdachlosenverbände. Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, rufe ich sie an. Meine Nacht, die gedämpfte Konzentration meiner Klettenberger Wohnung, ist ihr geschäftiger Tag. Warte mal kurz, sagt sie dann und schließt die Bürotür. Sie schiebt die Betriebsamkeit beiseite wie eine Tasse kalten Kaffee. Die Zeitzonen, die uns trennen, lösen sich auf, die Zeit selbst fällt in sich zusammen.
Ich stand vor dem Automaten und betrachtete das kleine Bündel Hundertdollarscheine, meine gesamten Ersparnisse, die ich vor dem Abflug in Frankfurt gewechselt hatte. Ich hatte keine kleinen Scheine und keine einzige Münze. Ich suchte das Treppenhaus und ging nach unten. Aufzüge mied ich, besonders wenn es abwärts ging, aus Angst, dass die Kabine eines Tages immer weiter in die Tiefe rauschen würde, vorbei an Lobby und Tiefgarage, vorbei an den zehn Höllenkreisen. Ich wollte nicht als platzende Blase in einem Ozean von Magma enden. Heute meide ich Aufzüge eher aus Gewohnheit.
Unter Flugangst dagegen litt ich nie. Ich hatte im Flugzeug ein paar Stunden geschlafen und ein schmales Buch von Jakob von Uexküll gelesen. Ich hatte von meinem neuen Leben geträumt und war müde und glücklich in St. Louis gelandet. Das Buch von Uexküll handelte von Zecken und Quallen, von Plattfischen und Vögeln. Was sie sahen und rochen. Was sie nicht sahen. In welcher Welt sie lebten. Zwischen den Zeilen immer die Frage: Was der Mensch wahrnimmt und was nicht. Wo verlaufen die Grenzen unserer Welt? Deiner Umwelt, meiner Umwelt. Die Sonne ist ein Himmelslicht, las ich. Und der Himmel ist ein Erzeugnis des Auges. Ich hatte aus dem Fenster geblickt und Neufundland gesehen, tausend Seen. Noch immer Mittag. Das Flugzeug schien sich kaum zu bewegen.
Die Rezeption lag im Halbdunkel. Hallo? Ich klopfte an eine Tür, hinter der ich einen vollständig angekleideten Wachmann auf einer Klappliege vermutete.
Hallo? Ist da jemand?
Nichts. Ich ging um den Schalter herum und begann, Schränke zu öffnen und Schubladen herauszuziehen, bis ich ein rot-weiß kariertes, in seinem Deckel stehendes Pappkästchen entdeckte. Ich schüttete die Münzen in meine Hemdtasche, fest entschlossen, das Geld am Morgen zurückzugeben. Ich ging hinauf, aß zwei Mars und legte mich wieder ins Bett. Am Morgen klaubte ich die übrigen Münzen aus dem zerwühlten Laken.
Im Greyhound-Bus befanden sich nur wenige Passagiere, die zwischen den schmutzigen hohen Sitzlehnen kaum zu erkennen waren. Ich war der Einzige, der in Columbia ausstieg, einer Stadt, die mir auf den ersten Blick so austauschbar erschien wie ihr Name. Gigantische Tankstellen an der Autobahn, weiße Holzkirchen, Drive-In-Banken mit Gipskolonnaden. Dann die Hauptstraße mit ihren Bars und Leihhäusern. Ein Antiquariat, eine Pizzeria. Alles schien geschlossen zu haben. Der Fahrer öffnete die Kofferklappe. Ich zog meinen prall gefüllten, beige-braunen Kunstlederkoffer heraus, den ich mit einem blauen und einem grünen Judogürtel, Relikten einer abgebrochenen Kampfsportausbildung, gesichert hatte. Der Bus röhrte davon. In der letzten Reihe saßen ein grinsender junger Mann und seine Freundin, die fassungslos schien. Sie hatten sich umgedreht und sahen mich durch das Rückfenster an, bis mich die Staubwolke einhüllte. Ich war kaum hundert Meter von Stellas Wohnung an der Hitt Street entfernt: zweite Etage, Fenster nach hinten. Möglich, dass ich die Leere dort spürte, die Stille ihrer sommerlich verlassenen Wohnung.
Es war kurz nach Mittag, die Sonne brannte, der Himmel war weiß vor Hitze. Ich trug eine schwere Jeans und eine abgewetzte Wildlederjacke, die nicht mehr in den Koffer gepasst hatte. Ich trat in den schmalen Schatten des kleinen Schaltergebäudes, an dessen unverputzter Außenwand ein Telefon hing. Die Vorstellung, hier draußen zu telefonieren, kam mir grotesk vor. Ich fühlte mich schutzlos. Ich legte die Jacke auf den Koffer, sah mich um und zog einen Zettel aus dem Portemonnaie. Auf dem Zettel stand eine Telefonnummer, die ich von der Universität bekommen hatte.
Ich warf einige Münzen ein, die von meinem nächtlichen Raubzug übrig waren, aber nicht Vitoria, die Vorsitzende der European Students’ Association, meldete sich, sondern eine Frau von der Telefongesellschaft, die mich bat, fünfzig Cent einzuwerfen. Hab ich gerade gemacht, sagte ich. Im selben Moment fielen die Münzen mit dumpfem Rasseln durch. Ich legte auf, warf die Münzen noch einmal ein und wählte. Wieder forderte mich dieselbe Frauenstimme auf, meine Münzen einzuwerfen, und wieder wurden sie ausgespuckt. Ich versuchte es noch einmal. Die Frau von der Telefongesellschaft wurde ungehalten. Ich gab auf und setzte mich auf meinen Koffer.
Seit ich aus dem Bus gestiegen war, hatte ich noch keinen Menschen erblickt. Nicht einmal ein Auto. Nichts rührte sich. Die dreistöckigen Wohnhäuser auf der Südseite der Straße boten keinen Schatten. Einige Blocks entfernt stach ein weißer neogotischer Glockenturm in den bleichen Himmel. Ich band mir die Jacke um die Hüfte, nahm den Koffer und ging los. Ich musste ihn alle paar Schritte absetzen und die Hand wechseln. Alles, was ich besaß, war in diesem Koffer, ich hatte für zwei Jahre gepackt, und das bedeutete: für immer. Nichts, was mir irgendetwas bedeutete, hatte ich in Köln zurückgelassen.
Ich überquerte die Locust Street, ohne mich um die in der heißen Brise schwingenden Ampeln zu kümmern, und ging auf ein kleines Restaurant zu. Es hieß Olive Branch Café, das grüne Schild hing an der Hausecke wie eine Flagge. Als ich eintrat, fuhr mir ein grelles Klingeln ins Mark. Die Tür fiel scheppernd ins Schloss, ein eisiger Strom klimatisierter Luft traf mich. Ich stellte den Koffer ab und schob ihn mit dem Knie gegen die Wand. Ein Araber begrüßte mich, lächelte mich an und wies auf einen Tisch. Setz dich. Ich sah ihn an. Setz dich einfach, wiederholte er. Du bist ja nass geschwitzt. Ich bring dir einen Tee. Wo kommst du her?
Ich folgte seiner Aufforderung und zündete mir eine Zigarette an. Auf jedem der mit dunkelblauem Wachstuch bedeckten Tische stand ein sorgfältig arrangiertes Ensemble aus Salz und Zahnstochern und Tabasco, die Papierservietten wurden von einer Metallklammer niedergehalten. An den Wänden hingen Zeitungsausschnitte und das gerahmte Foto einer Zeder vor dem Hintergrund eines Gebirgszugs. Der Mann brachte Tee mit einem Zweig Minze und einen zerbeulten Aluminiumaschenbecher und setzte sich zu mir. Also, wo kommst du her?
Aus Deutschland, sagte ich. Ich müsste mal telefonieren.
Der Araber hieß Rasheed. Er bot mir Essen an.
Falafel, Dolmas, Salat, was du willst. Ich schüttelte matt den Kopf. Ein junger Mann kam herein, nahm Geld aus der Kasse und verschwand wieder, ohne ein einziges Wort.
Mein Bruder, erklärte Rasheed, so ist der. Aber er ist wie mein bester Freund. Ein merkwürdiger Satz, dachte ich, es ist nicht das erste Mal, dass er sich für seinen Bruder entschuldigt.
Ich rauchte, er füllte mein winziges Teeglas auf. Ich erklärte ihm meine Situation und schob ihm den Zettel mit Vitorias Telefonnummer hin. Er sah ihn an, nickte bedächtig und ging nach hinten. Ich hörte, wie er aufs Band sprach.
Ich muss mir wohl ein Hotelzimmer nehmen, sagte ich, als er zurückkam.
Rasheed stellte die Fritteuse ab und schloss das Restaurant, und gemeinsam hoben wir meinen Koffer in seinen weißen, schmutzigen Toyota. Er drehte die Klimaanlage auf die höchste Stufe, mit offenen Fenstern fuhren wir durch die heiße, gelähmte Stadt und klapperten Motels ab. Südlich des Campus erklärte uns eine pummelige Dame mit blauen Fingernägeln, dass alles schon seit Monaten ausgebucht sei, wegen einer Sportveranstaltung an der Uni. Und wo sind all die Leute, dachte ich. Wo sind die Sportler? Wer versteckt sich in diesen Zimmern? Ich fragte die Frau, ob ich mal telefonieren dürfe.
Ein Mann sagte, dass Vitoria, seine Frau, bereits vor zwei Jahren den Vorsitz der European Students’ Association abgegeben habe, die Information, die ich bekommen hätte, sei uralt. Sie sei nicht einmal mehr eingeschrieben. Komm trotzdem vorbei, sagte er und gab mir seine Adresse. Wir überlegen uns was. Er hieß Jack.
Auf dem Weg hielten wir an einem Seven-Eleven, ich kaufte ein Sechserpack Old Milwaukee für Jack und Mentholzigaretten für Rasheed. Rasheed schüttelte nur den Kopf, als ich ihn fragte, ob ich ihm für die Fahrt etwas geben dürfe.
Ich sollte wohl zum Restaurant zurückfahren, sagte er.
Ich komme morgen vorbei, versprach ich. Damals hielt ich längst nicht jedes Versprechen, aber am nächsten Tag ging ich zu ihm, und später waren Stella und ich Stammgäste im Olive Branch Café, das von ihrer Wohnung nur einen halben Straßenblock entfernt war.
Als Jack mich erblickte, rollte er sich aus der Hängematte, die auf der Veranda hing. Er hatte sie in Honduras gekauft, wo er mit dem Peace Corps ein freiwilliges Jahr absolviert hatte. Möglicherweise war es das Erste, was er mir von sich erzählte. Ich schätzte ihn auf Anfang oder Mitte dreißig. Sein Gesicht war bleich und pockennarbig, die kleinen Augen funkelten freundlich. Er nahm mir das Bier ab, zog sich einen weißen Plastikstuhl heran und lud mich ein, die Hängematte auszuprobieren. Ich entdeckte den Ansatz einer Glatze, eine kleine Tonsur, dachte ich. Vitoria kommt frühestens in einer Stunde von der Arbeit, sagte er. Machen wir es uns gemütlich.
Wie sich herausstellte, war Vitoria, eine Portugiesin, als Studentin nach Columbia gekommen, genau wie ich. Sie hatte Jack im Auslandsamt der Universität kennengelernt, wo er als Studienberater tätig war. Vor zwei Jahren hatten sie geheiratet. Vitoria hatte das Studium abgeschlossen und arbeitete für eine Consulting-Firma. Jack genoss die Semesterferien, einen Sommer ohne Verpflichtungen. Alles ist zu auf dem Campus, sagte er. Und doch bist du schon hier.
Eine Frage in der Form einer Aussage, dieselbe Frage, die ich mir auch gestellt hatte, als ich meinen Koffer über die Locust Street schleppte. Was mache ich hier, mitten im Juli? Ein ganzer Monat lag noch vor mir, bevor das Semester beginnen würde, ein ganzer Monat, bis ich Stella in der zweiten Reihe entdecken würde, mit angezogenem Knie und einem Blick, der zwischen Neugier und Skepsis schwankte.
Vitoria hatte pechschwarzes Haar, die Augenbrauen waren in ständiger Bewegung. Es war, als würde ihre geistige Flinkheit auf ihren kompakten, schweren Körper durchschlagen. Sie schob das Fahrrad hinters Haus, kehrte zurück und blitzte mich vergnügt an, mit einer Vertrautheit, als hätte sie mich schon hundertmal gesehen.
Sie schien kein bisschen überrascht, einen Fremden mit einem deutschen Akzent auf ihrer Veranda vorzufinden, der mit ihrem Mann Dosenbier trank. Sie zeigte mir ein kleines Zimmer im hinteren Teil des Hauses, wo ich meinen Koffer abstellte.
Hast du da eine Leiche drin?, fragte sie. Egal, schön, dass du hier bist. Gleich gibt es was zu essen, und du bleibst erst einmal bei uns.
Mir fehlten die Worte, so erschöpft und dankbar und hungrig war ich. Vitoria gab mir zu Essen, reichte mir die Serviette, zwickte mich sogar in die Wange. Ich aß schweigend und lehnte mich in der honduranischen Hamaca zurück, und ich glaube, dass Jack und Vitoria wussten, dass mein Vertrauen, die Tatsache, dass ich mich ihnen ganz überließ, mehr bedeutete als irgendwelche warmen Worte, die ich hätte sagen können. Als sie schließlich ins Bett gingen, blieb ich auf der Veranda zurück. Es gab nur ein Badezimmer hinter der Küche. Ich wartete und wiegte mich in der heißen Nachtluft, und noch nie in meinem Leben hatte ich so viele Grillen gehört, und noch nie hatte ich einen solchen Sternenhimmel gesehen, und das Lärmen der unsichtbaren Grillen schwoll immer weiter an, bis es schien, als müssten es die Sterne selbst sein, die diesen ungeheuren Lärm veranstalteten.
Zwei Wochen lang wohnte ich bei ihnen. Langsam kehrte das Leben in die Stadt zurück. Studenten zogen in die Wohnheime. Ich nahm an einer Orientierungswoche für neue Lehrassistenten teil. Jack ging hin und wieder ins Büro, um die Neuankömmlinge aus aller Welt einzuweisen und ihre Visumsangelegenheiten zu erledigen. Parallel bereiteten Jack und Vitoria ihren Umzug vor, sie hatten ein Haus gekauft, ihr erstes eigenes Haus. Es war größer und nur wenige Straßen entfernt. Jack packte Kisten und stapelte sie an der Küchenwand. Mir war klar, dass ich nicht bei ihnen würde bleiben können. Ich half, wo ich konnte, ich arbeitete im Garten und strich die Veranda.
In einem Haus an der Wilson Avenue, unweit des Campus, fand ich ein Zimmer auf der zweiten Etage. Zum Zimmer gehörte ein begehbarer Schrank, in dem ich mich, bewehrt mit einem Batterieradio und einer Wasserflasche, bei meiner ersten Tornadowarnung versteckte. Das Bett bestand aus mehreren Lagen übereinander gestapelter Matratzen, die zu den Rändern hin abfielen. Wenn ich dalag und einen meiner ältesten wiederkehrenden Träume träumte, in dem ich, in einem Buchmacherhäuschen an einer Rennbahn sitzend, dem Andrang der wild gestikulierenden Masse nicht mehr standhielt, rutschte ich regelmäßig von der tortenartigen Konstruktion und landete auf dem braungrauen, knotigen Teppichboden.
Jack und Vitorias neues Haus stand auf einem Eckgrundstück am Park, die Holzfassade war blutrot gestrichen, die Dielen glänzten. Jack zeigte mir stolz den Erker und den offenen Kamin. Zwei der oberen Zimmer waren für Vitorias kleinen Bruder und ihre übrige Familie aus Santa Maria de Sardoura reserviert, die, so hoffte Vitoria, oft zu Besuch kommen würden. Das Licht in ihren Fenstern war über den Park hinweg sichtbar, und wenn ich, von der Wilson Avenue kommend, die Old Route 63 hinaufging und sah, dass die beiden zu Hause waren, machte mein Herz einen kleinen Sprung.
Auch nach meinem Umzug verbrachte ich ein oder zwei Abende in der Woche bei ihnen. Samstags kam ich schon gegen Mittag und blieb bis drei Uhr am nächsten Morgen. Ihre Freunde kamen aus der ganzen Welt, manchmal sah es an ihrem großen runden Esstisch aus wie bei der UNO. Jack und Vitoria hatten sie auf dieselbe Weise in ihren Kreis gezogen wie mich: indem sie ihnen Obdach und Freundschaft angeboten hatten. Einige hatten Wochen und Monate bei ihnen gewohnt. Kjetil, ein Norweger, hatte in Jacks Büro Ylva kennengelernt, und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ylva, eine Isländerin, hielt es für Fügung, dass sie auf ihren nordischen Seelenverwandten an einer Universität in Missouri gestoßen war. Kjetil dagegen meinte, der Zufall hätte sie zusammengeführt. Aber, fügte er hinzu, die Wurzeln des Zufalls kennen wir nicht.
Ylva studierte Wirtschaftsgeschichte und hatte sich oben im Haus von Jack und Vitoria ein Nähzimmer eingerichtet. Manchmal kam ihre Mutter zu Besuch, die in Island eine Wodkadestillerie betrieb, und brachte salzigen Trockenfisch mit, den wir mit ihrem Erzeugnis hinunterspülten. Sie behauptete, der Wodka würde aus dem Wasser von Eisbergen hergestellt. Was wir ihr nicht glaubten. Jacks alte Peace-Corps-Freunde und Vitorias Verwandte kamen ebenfalls vorbei, sie schneiten herein und verschwanden wieder, sie blieben ein paar Nächte oder einen ganzen Monat. Die Küche in dem neuen Haus war größer, und Vitoria hatte größere Töpfe gekauft für die Mahlzeiten, die sie für alle kochte. Das Bier kühlte Jack in einem alten Trog im Garten, den er einem Bauern abgekauft hatte.
An einem Oktoberabend, das Semester hatte längst begonnen, saß ich auf einem hellblau lackierten Tritthocker in der Küche und unterhielt mich mit Vitoria, die in einem ihrer großen Töpfe rührte. Plötzlich hielt sie inne, drehte sich um und breitete die Arme aus.
Sieh mich an!, sagte sie. Ich sah sie an.
Sieh mich an! Richtig!
Vitoria, ich sehe dich an. Was hast du denn?
Ich bin schwanger, Dummkopf, ich bin schwanger!
Sie lachte, drehte sich zur Seite, schob den Bauch vor und streichelte ihn mit der freien Hand. Ich sprang auf und umarmte sie, und wir wirbelten durch die Küche. Kjetil kam herein, und die Nachricht verbreitete sich in Windeseile im Haus und in der ganzen Stadt. Kjetil studierte Journalismus. Nachrichten waren sein Leben.
Ein Sibilant explodiert zu einem T, zwei Silben fließen ineinander, plätschern, einem Gebirgsbach gleich, über die glatten Felsen des zweifachen L und ergießen sich in den kühlen, klaren Teich einer zutiefst femininen Endung: Stel-la. Was hätte ich anderes tun können an diesem ersten Tag, als sie nach ihren Namen zu fragen? Ich bin Stel-la. Ich hatte nichts auszusetzen an ihrer Aussprache, nichts, das meine Aufmerksamkeit verlangt hätte. Später, viel später, verbrachten wir Stunden in ihrem Bett, in Hotelzimmern in Idaho und Oregon und Kalifornien, und spielten mit deutschen Sätzen, Gedichten und zungenbrecherischen Liebeserklärungen.
Da saß sie, rechts in dem fensterlosen Raum, sie sprach nur, wenn ich sie aufforderte, was ich selten tat. Ich wollte den tiefen inneren Frieden nicht stören, den sie ausstrahlte. War sie schüchtern? Nein. Sie saß einfach da und lächelte mild. Sie wirkte, als würde sie schweben, als wäre sie mit ihrem Stuhl überhaupt nicht verbunden. Wie leicht sie ist, dachte ich, sie scheint gar nicht aus Fleisch und Blut zu sein, sondern aus einem anderen, durchlässigeren Material, Papier vielleicht, das Papier, mit dem man Laternen herstellt, die in den Nachthimmel steigen. Ihr lockiges, von einem hellblauen Bandana zurückgehaltenes Haar, das nach einem langen südlichen Sommer beinahe blond war, betonte ihre tiefe Sonnenbräune. Das Neonlicht empörte ihren Teint.
Steh auf, dachte ich, als die Studenten gingen, komm her zu mir und frag mich etwas, irgendetwas. Begleite mich auf dem Weg über den Campus. Spazier in mein Leben.
Sie nahm ihre Sachen und verließ mit den anderen den Raum. Ich zitterte vor Erregung. Das Deutschbuch, das ich in der schweißnassen Hand hielt, hatte ich mir nicht einmal ansehen können. Ich hatte keine Ahnung vom Fremdsprachenunterricht. Ich wusste nicht, wie ich eine Sprache unterrichten sollte, die ich immer für selbstverständlich gehalten hatte. Ich war darauf nicht vorbereitet. Auf nichts davon war ich vorbereitet.
In den Wochen, die folgten, gewöhnte ich mich an ihre ruhige Anwesenheit. Es war, als spürte sie meine Erregung, ihr Gleichmut war wie ein Geschenk, eine kühlende Salbe für meine brennende Wunde. Sie suchte meine Aufmerksamkeit nicht, sie sagte nicht mehr als nötig. Immer wieder traf mich ihr heller, freundlicher Blick und sprach mir Mut zu: Du bist auf dem richtigen Weg, du machst deine Sache gut. Sie saß da an ihrem kleinen Pult in der zweiten Reihe und machte Notizen, und wenn die Stunde herum war, in der wir dieselbe Luft geatmet und dieselbe Sprache gesprochen, zumindest doch umspielt hatten, packte sie ihre Tasche und verließ gemeinsam mit den anderen den Raum.
Langsam fand ich mich in meine neue Rolle. Ich lernte, mit den Studenten – die meisten waren nicht älter als achtzehn oder neunzehn – umzugehen und ihre Sorgen und Erwartungen ernst zu nehmen. Ich beantwortete ihre Fragen und bedankte mich ohne Überschwang, wenn jemand nach der Stunde die Tafel putzte, um auf sich aufmerksam zu machen. Stella vergaß ich in diesen Wochen nie, ich nahm sie jede kostbare Sekunde lang wahr, aber ich vergaß, welche Unruhe sie am Anfang in mir ausgelöst hatte.
Ende Oktober, es war bereits die fünfte oder sechste Woche des Semesters, bat sie mich um ein Gespräch. Ich bestellte sie in die Cafeteria; das enge Büro, das ich mir mit zwei anderen Lehrassistenten teilte, war für Sprechstunden nicht geeignet. Eine halbe Stunde vor dem Termin hatte ich plötzlich das Gefühl, dass für mich alles auf dem Spiel stand: mein Job, mein Leben hier, mein Leben überhaupt. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich versuchte, mich zu fassen. Ich ging in die Bibliothek und trug mich in die Warteliste für den SPIEGEL ein, meine einzige deutsche Nachrichtenquelle, die Missouri mit zwei Wochen Verspätung erreichte. Jemand war mir zuvorgekommen. Der Stift am Klemmbrett hing an einer zu kurzen Kordel, meine Unterschrift sah aus wie eine seismografische Aufzeichnung.
Sie saß, auf die Ellenbogen gestützt, da und sah mich an. Sie hielt einen dampfenden Kaffeebecher in den Händen, die Ärmel ihrer übergroßen Cordjacke waren hochgerutscht. Ich setzte mich, und mir fiel die Warnung ein, die uns Bill Bryce, der Dekan, bei der Einführung gegeben hatte. Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, egal welchen Alters, waren ausdrücklich untersagt. Wir erlauben das nicht, hatte er gesagt. Ihr seid hier nicht in Europa. Er hatte mit Rauswurf gedroht. Niemand hatte sich gerührt.
Ich betrachtete den Flaum auf ihren gebräunten Unterarmen. Warum bist du in meinem Kurs?, fragte ich. Warum Deutsch? Wir waren angehalten, Gespräche dieser Art schnell auf die Wahl von Haupt- und Nebenfächern zu lenken, die Abteilung stand unter Druck, neue Studenten zu rekrutieren.
Sie erzählte, dass sie für Journalismus eingeschrieben sei und dass sie Deutsch nur nebenbei lerne. Ich solle mir also keine Mühe machen, sie zu irgendetwas zu überreden, erst recht nicht zu einem zweiten Hauptfach.
Mit einer solchen Abfuhr hatte ich nicht gerechnet. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich hatte kein anderes Skript.
Kennst du Kjetil?, fragte ich, um Zeit zu gewinnen. Den Norweger mit den Zöpfchen? Er studiert auch Journalismus.
Sie wusste, wer er war, hatte aber noch nie mit ihm gesprochen. Ist er ein Freund von dir? Seid ihr Europäer so etwas wie eine Clique? Sie hielt den Kopf zur Seite und sah mich mit einer Offenheit an, die entwaffnend war. Sie schien darauf zu warten, dass ich den Anfang machte. Dass ich ihr sagte, was ich von ihr wollte.
Du hast diesen Termin gemacht, sagte ich.
Ja.
Die Skepsis, mit der sie mich manchmal aus der zweiten Reihe angeblitzt hatte, war verflogen. Sie lächelte. Und ich war bereit, mich ihr völlig auszuliefern. Ich stand an einem tropischen Strand nach einem großen Regen. Ich schloss die Augen und ließ mich rückwärts in den warmen Sand fallen. Ich ließ mich fallen und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Mach mit mir, was du willst, dachte ich.
Hast du deutsche Vorfahren?, fragte ich. Die meisten Studenten in unserer Abteilung waren deutschstämmig, die übrigen wollten Schopenhauer oder Kafka im Original lesen. Manche hatten schlicht noch nicht mitbekommen, wie schwer Deutsch im Vergleich zu Spanisch war. Jeder Studienanfänger war verpflichtet, sich für eine Fremdsprache anzumelden.
Ich interessiere mich für Umweltschutz, sagte sie.
Und deshalb lernst du Deutsch?
Ja, natürlich! In Europa gibt es all diese Themen. Saurer Regen. Die Grünen. Das interessiert mich alles brennend, ich finde es faszinierend. Ich möchte Umweltjournalistin werden. Vielleicht kann ich eines Tages in Deutschland arbeiten.
Ich wusste, dass sich einige der besten und engagiertesten Studenten aus dem ganzen Land in Missouri zusammengefunden hatten, um Environmental Journalism zu studieren. Sie bildeten eine eingeschworene Gemeinschaft um den Leiter der Abteilung, einen berühmten Fotografen. Tatsächlich interessierten sich die meisten von ihnen für Bildjournalismus, sie träumten davon, eines Tages ihre Fotos aus der Tschuktschensee, von der Insel Ofu oder vom Cotopaxi-Vulkan im National Geographic zu sehen.
Stella teilte diesen Ehrgeiz nicht. Meine Bilder, erklärte sie, sollen eine Wirkung entfalten, aber sie sollen nicht überwältigen. Sie sollen einen vertrauten Raum schaffen, dem wir uns empathisch zuwenden. Die bedrängte Natur, meinte sie, sei schließlich überall. Auch hier auf diesem Campus. In den Rissen der Tennisplätze, im Flirren der Abwärme der Klimaanlagen, an den Mauern, auf denen die Flechten in der Hitze verbrennen. Außerdem war mein Vater mal mit Petra Kelly zusammen.
Ich stutzte. Petra Kelly, die Ikone der grünen Bewegung?
Ja, sagte sie. Ende der Sechzigerjahre, sie haben sich an der American University in Washington kennengelernt.
Ich wusste so gut wie nichts über Petra Kelly. Hatte sie in Amerika studiert? Ich erinnerte mich nur, dass sie tiefliegende dunkle, traurige Augen hatte. Ihr Vater, erzählte Stella, hätte Petra Kelly nie vergessen. Er rede noch heute von ihr. Es mache ihre Mutter wahnsinnig. Stella wusste nicht, ob sie damals ein richtiges Paar gewesen waren. Es sei wohl eher etwas Politisches gewesen, meinte sie. Auf jeden Fall hatte die Präsenz von Petra Kelly, dieser starken, geheimnisvollen Frau, die wie eine Schutzpatronin über Stella gewacht hatte, genügt, um ihre Neugier zu wecken. An der deutschen Sprache. Am Umweltschutz.
Weißt du, es braucht nicht viel, um ein Kind zu inspirieren, sagte sie und strich mit der Hand über die Tischplatte. Als wäre das die Landschaft, die es zu schützen gälte. Als wäre sie noch heute dieses Kind. Ihre Eltern waren Proto-Ökos gewesen, Anhänger der Back-to-the-Land-Bewegung, erklärte Stella. Sie waren in die Berge gezogen, wo sie sich selbst versorgt und aus dem Whole-Earth-Katalog bestellt hatten. Ich erfuhr, dass eine ganze Generation von Aussteigern bei einem einzigen Versandhändler in Berkeley eingekauft hatte, und zwar alles, was man auf dem Land so brauchte: Waschbärfallen, bolivianische Saatkartoffeln und Mandala-Stickmuster.
Ich sah sie an. Ich wusste immer noch nicht, was sie eigentlich von mir wollte.
Waldsterben, sagte sie auf Deutsch. Das Wort berührt mich, es macht mich so traurig. Gibt es im Deutschen noch andere Wörter dieser Art? Kannst du nicht eine Liste für uns machen? Eine Unterrichtseinheit anbieten? Über die Grünen, über Umweltschutz und so. Die Umwelt geht uns schließlich alle an.
Ich überlegte. Ich hatte das Gespräch bereits völlig aus der Hand gegeben. Sie war es, die den Fortgang bestimmte. Ich konnte nur reagieren. Ich wollte nur reagieren. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn sie mir einfach ihre Wünsche diktiert hätte. Also, was willst du? Klar, das mache ich. Ich saß da und lauschte ihrer warmen, etwas heiseren Stimme und nickte.
Allerdings, erklärte ich, hätte ich weniger Freiheit, meinen Unterricht zu gestalten, als sie vielleicht glaube. Tatsächlich musste ich mich an das Lehrbuch halten und konnte mir keine Exkurse erlauben. Die Leiterin des Sprachprogramms schaute uns auf die Finger, am Ende musste ich das unterrichten, was auch geprüft wurde. Außerdem fiel mir kein einziges vergleichbares Wort ein, nichts, das in seiner Resonanz an das Wort Waldsterben heranreichte. Saurer Regen, radioaktiver Ausfall, Ozonloch … nichts davon hatte auch nur annähernd diesen Klang. Waldsterben stand für eine deutsche Schaurigkeit, die ich längst hinter mir gelassen hatte. Auch wenn es erst drei Monate her war, dass ich Deutschland verlassen hatte, führte ich bereits ein anderes, helleres Leben. Ich hatte ein neues Zuhause und neue Freunde gefunden. Selbst meine Muttersprache, die ich für ihre Strenge und Tonalität liebte, fühlte sich an wie schweres, überflüssiges Gepäck. Ich hätte sie am liebsten verleugnet, in einen Karton gestopft und zur Verwahrung nach Köln zurückgeschickt.
Ich stand auf. Du hast mich überrascht, sagte ich. Petra Kelly, hier in Missouri.
Es ist eine Welt, sagte sie. Musst du schon gehen?
Ja. Wenn ich jetzt nicht gehe … Ich sah sie an.
Stella lachte. Sie blieb sitzen. Als ich durch das Aquarium des Windfangs tauchte und mich kurz umdrehte, sah ich noch, wie sie lebhaft mit einem Studenten sprach, der an ihren Tisch getreten war. Er trug trotz des kühlen Wetters eine kurze Cargohose. Seine Augenlider wirkten schwer, wie geschwollen, hinter einer dünnrandigen Metallbrille. Auf dem kurzen Hals steckte ein Kopf, der für seinen Körper zu groß schien. Er setzte sich, und Stella schob ihm ihren Becher hin.
Tom Breckenstein befeuchtete seinen Kamm am Wasserspender und glättete den ohnehin ordentlichen, ohnehin glänzenden Scheitel, während wir nebeneinander zum Büro gingen. Auch seine frisch rasierten Wangen glänzten. Er trug ein hellblaues, frisch gebügeltes Hemd und eine Bundfaltenhose mit goldener Gürtelschnalle, und wie üblich war er bestens gelaunt. Simone saß an ihrem Schreibtisch, als wir hereinkamen. Sie sah nicht auf.
Tom, Simone und ich teilten uns nicht nur das Büro, wir bestritten auch beinahe den gesamten Fremdsprachenunterricht im FRG. FRG stand für French, Russian and German Studies. Das Französischprogramm war wegen der geringen Nachfrage vor einigen Jahren eingestellt worden. Das Russisch-Programm bestand aus einem einzigen Professor, Timofey, dem langjährigen Herausgeber von ZEMBLA, einer Vierteljahresschrift für Nabokov-Studien. Timofey, ein Royalist und Antikommunist alter Schule, unterrichtete das Russische wie eine tote Sprache. Gestorben 1918, behauptete er. Er weigerte sich, mit seinen Studenten Russisch zu sprechen. Seine landeskundlichen Vorlesungen endeten mit der Ermordung der Romanows.
Simone, eine Leipzigerin, war überzeugt, dass unser Abteilungskürzel für Federal Republic of Germany stand. Für eine westdeutsche Befangenheit also. Der einzige Grund, vermuteten wir, warum sie sich darüber nicht lautstärker beklagte, war, dass sie auf ihre DDR-Herkunft nicht unnötig aufmerksam machen wollte. Wie sie an ihr Ausreisevisum gekommen war und was sie in den USA machte, war der Stoff endloser Spekulationen. Sie war hager und trug ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, in ihrer abweisenden, schroffen Art war sie unergründlich. Tom war fasziniert von ihr, auf dieselbe Weise, wie er von Horrorfilmen fasziniert war. Ich hielt sie für unberechenbar, um nicht zu sagen gefährlich, und wollte so wenig wie möglich mit ihr zu tun haben. Neben der Tatsache, dass Simone aus der DDR stammte, wussten wir nur, dass sie eine Freundin in Boonville hatte, die sie an den Wochenenden besuchte, bei der sie möglicherweise sogar wohnte. Möglich auch, dass sie ein Paar waren. Wenn ihre Arbeit an der Universität, vielleicht sogar ihre Beziehung zu der noch geheimnisvolleren Frau in Boonville, allerdings eine Tarnung war, wenn sie irgendeinem Geheimdienst angehörte oder gar die Tochter oder Enkelin eines hohen Funktionärs war, dann war diese Tarnung eine stümperhafte. Jeder, der nicht komplett auf den Kopf gefallen war, konnte sehen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass sie noch nicht verhaftet worden war: In Missouri war für eine Spionin nichts zu holen. Dachten wir.
Mit Tom Breckenstein und seiner Frau Laura verbrachte ich im ersten Semester viel Zeit. Als ich Laura zum ersten Mal sah, lag sie mit einem Joint in der Hand auf einem durchgehangenen Sofa in ihrem Wohnzimmer. Sie arbeitete in einem Genetiklabor und war intelligenter als Tom, was niemand bestritt, vor allem Tom selbst nicht. Manchmal sagte sie Sätze, die in die Welt schnitten wie ein frisch gewetztes Küchenmesser, Sätze wie: Es regnet so stark, dass alle Schweine sauber und alle Menschen dreckig werden. Oder: Lieber ein Luftschloss bauen als ein Kartenhaus. Tom betete seine Frau an, er überließ ihr alle wichtigen Entscheidungen. Wenn sie eine Meinung äußerte, hielt er sich mit seiner eigenen zurück. Sie liebte ihn für seinen Humor und seine Gradlinigkeit. Zusammen rauchten wir Gras, bis wir rote Augen hatten, und arbeiteten uns durch eine beträchtliche Sammlung von Horrorfilmen. Erst wenn die Videokassette mit einem Klacken in das VHS-Gerät gesogen wurde und das erste Blut gegen die Kameralinse spritzte, begann für uns das Wochenende.