Myriam Klatt, geboren 1984, studierte Literatur und Politik und lebt heute als freie Autorin und Redakteurin in Berlin. Um den Alltags-Stress aus ihrem Leben zu verbannen, ist sie für sechs Monate nach Südamerika gereist. Allerdings hat sich der Laptop ins Gepäck geschmuggelt.
Im Aufbau Taschenbuch ist ebenfalls ihr Roman »Liebe geht immer« lieferbar.
Liebe will riskiert werden!
Alle mögen Maja. Weil sie immer da ist, zuhört, Blumen gießt. Maja mag ihren unaufgeregten Job im Reisebüro (seit 6 Jahren), ihren Freund Stephan (auch seit 6 Jahren) und YouTube-Tutorials zum Thema Basteln (seit sie denken kann). Dann schickt ihre Chefin sie nach Bolivien, und mit einem Mal steht alles Kopf: Nicht nur verknallt Maja sich in den Tour-Guide Nilo, mit ihm lernt sie auch das Abenteuer lieben. Zurück in Berlin versucht sie, schnell und unauffällig, ihr Leben wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch plötzlich spürt sie, dass sie Sehnsucht hat – nach Nilo und danach, endlich einmal nein zu sagen.
Ein unglaublich witziger Roman darüber, was passiert, wenn man versucht, endlich einmal Nein zu sagen.
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Und plötzlich Liebe
Roman
Inhaltsübersicht
Über Myriam Klatt
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Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Impressum
Der allererste Tag der allerschlimmsten Wochen meines Lebens beginnt mit den allertypischsten Worten: »Bienchen«, sagt Stephan, »wir müssen reden.« »Reden?«, japse ich zurück und weiche dabei nur knapp einem feuchten Hundehaufen aus, den ein mindestens kalbsgroßer Hund genau in die Mitte des Weges platziert hat. »Jetzt?« »Warum denn nicht?«, fragt er und umrundet ohne hinzusehen einen übervollen Mülleimer und ein Sammelsurium aus Altkleidern.
Mit einem leicht gequälten Lächeln nicke ich. Obwohl wir seit zwei Jahren jeden Morgen sechs immer gleiche Runden um den Arnimplatz drehen, bin ich nicht fitter geworden. Muss ich auch nicht. Mein Körper hat eine natürliche Tendenz zur gesunden Form – zum Köpfe verdrehen reicht es auch ohne Sport: Hochgewachsen, naturblond, mit schwungvollen Hüften und vollen Brüsten musste ich nie Komplexe haben. Einbilden tue ich mir darauf allerdings nicht besonders viel, zumal gute Gene in meinem Fall nicht dabei helfen, das tägliche Training zu absolvieren. Aber Stephan liebt es, immerzu und überall zu laufen, zu rennen und zu springen, und was für eine herzlose Freundin wäre ich denn, wenn ich ihm den kleinen Gefallen nicht tun würde, mit ihm gemeinsam um unser Kiezgrün zu joggen? Jeden. Verdammten. Morgen.
»Also, ich wollte noch mal die Sache mit dem Sommerurlaub besprechen …«
»Wel…che Sa…che denn?«
»Na, ich hatte überlegt, ob wir vielleicht mal woanders hinfahren wollen als immer in den Schwarzwald?«
»Wa…ru…mmm?«
Stephan wirft mir einen besorgten Seitenblick zu und legt mir im Laufen die Hand auf den Arm. »Lass uns mal langsamer machen, okay? Du bist schon ganz rot im Gesicht!«
»Ar…beit …«, ächze ich.
»Wenn du mal fünf Minuten zu spät kommst, geht doch die Welt nicht unter, Biene!«
Das sehe ich anders. Und meine Chefin Antonia sicher auch.
»Also jedenfalls, ich dachte, wir könnten doch vielleicht mal weiter weg. So richtige Erholung in der Ferne. Du kennst doch bestimmt einhunderttausend wunderschöne Orte!«
»Schon, ja. Das lässt sich nicht vermeiden, natürlich«, ich zupfe nervös meinen honigblonden Pferdeschwanz zurecht, »aber Reisen verkaufen ist das eine, Reisen machen … außerdem ist es doch fast so was wie unsere Tradition, nach Titisee-Neustadt zu fahren. Und dieses Jahr ist unser Jubiläum, Stephan! Da will ich nicht ins Ungewisse, sondern dahin, wo ich mich zu Hause und wohl fühle!«
»Ich weiß, was du meinst, Maja. Aber irgendwie ist das auch genau das, was ich meine, nur halt umgekehrt … immer das gleiche Haus, die gleichen Leute, das ist doch auf Dauer irgendwie … eintönig. Warte mal eben«, unterbricht er sich und ist dann mit vier riesigen Schritten beim Parkeingang, wo sich der flatternde Sommermantel einer jungen Mutter mit Buggy im struppigen Gebüsch verfangen hat. Ihr Kind brüllt sich die Seele aus dem Leib, während sie verzweifelt mit Zweigen und Blättern kämpft, aber partout nicht aus der Böschung raus- und an das Kleine rankommt. Dann ist mein Freund bei ihr, befreit sie mit ein paar schnellen Handgriffen aus der Umklammerung der Bepflanzung. Ein Rettungssanitäter selbst außerhalb der Dienstzeiten. Die strichdünne Frau mit der riesigen schwarzen Brille und dem knallroten Lippenstift bedankt sich strahlend und schnappt sich erleichtert das Baby, das sogleich aufhört zu schreien und sich quietschend an ihre Brust schmiegt.
»Sorry. Wo waren wir? Ach ja, der Urlaub …«
Schade, dass er das nicht vergessen hat. Wir ziehen das Tempo wieder ein bisschen an, und ich seufze keuchend. »Du kannst doch mit Matti fahren. Oder mit deinem Bruder!«
»Aber ich will doch mit dir weg! Nicht mit Matti. Außerdem wäscht er sich nicht.«
»Und warum dann nicht so wie immer?«
»Biene …«
»Stephan, ich habe Flugangst!«
»Das weiß ich doch. Ich sage ja auch nicht, wir sollen nach Patagonien. Obwohl ich da schon immer hinwollte. Na ja, das weißt du ja. Aber Norwegen müsste doch gehen? Oder Spanien? Da kann man auch mit dem Auto hin!«
»Ich weiß nicht …«
Stephan wird unwillkürlich ein wenig schneller. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und stolpere mutlos hinterher. Gerade weil ich jeden Tag Trips verschachere, weiß ich genau: Ich will nicht so weit weg. Auf gar, gar keinen Fall. Aber dass Stephan traurig ist oder mir gar böse, das will ich auch nicht.
»Stephan, warte mal!«
Noch während ich rufe, gerate ich plötzlich ins Schwanken. Die Spitze meines geflickten senfgelben Turnschuhs prallt gegen eine Baumwurzel, die durch den unregelmäßigen Asphalt an die Berliner Luft gebrochen ist. Ich verliere das Gleichgewicht, rudere noch kurz mit den Armen und lande dann sehr unsanft auf Händen und Knien. Beide Körperteile schrammen mit voller Wucht über den dreckigen Bürgersteig.
»Maja! Maja, hast du dir wehgetan?!«
Ich nicke, stöhne und rolle mich zitternd auf den Hintern. Stephan hockt sich besorgt zu mir. »Oh je, das ist ja alles blutig! Du Ärmste, so ein Mist!«
»Geht, geht schon. Und wegen des Urlaubs …«
Doch er hört gar nicht mehr zu. Mit professioneller Routine nimmt er meine Wunden in Augenschein. »Das muss sofort desinfiziert werden. Und wir haben kein Jod mehr …«
»Ist schon okay, das geht schon so …«
»Und wenn sich das entzündet? Nein, Biene, komm, ich setze dich auf die Bank und springe schnell in die Apotheke.«
»Aber die Arbeit …«
»Dann kommst du halt zu spät. Maja, du machst so einen hervorragenden Job, niemand kann dir böse sein, wenn du aus guten Gründen mal nicht pünktlich auf der Matte stehst.« Panisch schüttle ich den Kopf. Stephan ignoriert das geflissentlich und schleppt mich zu meiner designierten Warteecke. »Ich bin sofort wieder da!«
»Aber …«
Mit langen Schritten eilt er von dannen. Selbst wenn ich unverletzt wäre, einholen könnte ich ihn nicht; er ist größer, kräftiger und vor allem starrköpfiger als ich. Plötzlich vibriert mein Handgelenk. Erschrocken zucke ich zusammen. Es ist die Smart Watch, die Stephan mir letztes Jahr zum 27. geschenkt hat. Leider signalisiert sie mir nicht, dass ich brav meine täglichen 10 000 Schritte absolviert habe, sondern erinnert mich lediglich daran, dass es in zwanzig Minuten allerhöchste Zeit ist, zur Arbeit aufzubrechen. Verdammt. Als Stephan zurückkommt, bin ich den Tränen nahe, nicht nur weil Handflächen und Knie brennen, als hätte ich sie mit Glut bestreut, sondern weil ich das Gefühl habe, dass mir gerade alles über den Kopf wächst. Dabei ahne ich in diesem Augenblick nicht einmal, dass ich in wenigen Tagen ohne meinen Pass und vollkommen pleite in einer Polizeistation im gottverdammten Bolivien sitzen werde. Hätte ich da schon gewusst, dass meine Chefin mich ausgerechnet heute in die Hölle schicken würde, dann hätte ich mir vielleicht nicht so einen Stress gemacht. Aber da ich an jenem Montagmorgen so wenig von meinem drohenden Schicksal ahne wie ein schlachtreifes Hühnchen vom Metzger, sorge ich mich nur darum, ihr Gemecker ertragen zu müssen, wenn ich zu spät komme.
»Autsch!«
»Entschuldige, ich weiß, das brennt ganz schön fies. Aber es muss sein!«
»Was soll ich denn jetzt Antonia sagen?!«
»Die Wahrheit? Du kannst ja wohl kaum verschwitzt und blutend ins Reisebüro gehen!«
Ich nicke kläglich.
Stephan zieht mich vorsichtig hoch, stützt mich gekonnt und wirft mir beim Gehen aufmerksame Blicke zu. Er hat die flexibelste Augenfarbe, die ich kenne. Wie die Chromlackierung eines exklusiven Maserati wechselt sie je nach Lichteinfall die Schattierung, verliert jedoch niemals ihren hellen Glanz. Jetzt gerade ist sein Blick ceruleanblau und besorgt.
»Also, Stephan, wegen des Urlaubs«, setze ich wieder an. »Ich habe da noch mal drüber nachgedacht. Also ja, ich habe echt Angst davor, so weit wegzufahren, ich meine, das ist unglaublicher Stress, weil … ich weiß auch nicht, weil man nicht weiß, welche Regeln gelten und was man da eigentlich soll, ich meine, warum ist denn Neues bitteschön aufregend und spannend? Mir reichen die Dinge, die ich kenne, da kann ich wenigstens nichts falsch machen. Was da alles passieren kann, so weit weg. Man spricht die Sprache nicht, versteht die Gepflogenheiten nicht, ist als Tourist per se schon mal in Gefahr … und wofür? Schöne Landschaften kann ich mir auch im Kino ansehen, und warm ist es im Sommer auch im Schwarzwald. Aber, also wenn es dir so wichtig ist, also und wenn ich nicht fliegen muss – das geht echt nicht, auf keinen Fall –, also nicht Patagonien, leider, ich weiß, das ist dein Traum, aber Spanien oder so … also wenn es unbedingt sein muss, dann können wir das natürlich machen. Gerne machen. Dann können wir das gerne machen.«
Durch den Sturz muss etwas in meinem Kopf verrutscht sein. Normalerweise belaste ich meinen Freund jedenfalls nicht mit meinen kompletten verrückten Gedankengängen, sondern nur mit deren Ergebnis. Ich schiele zu ihm hinüber, während er die Haustür zu unserem Neubau aufschließt und mir das Treppenhaus hochhilft. Gut, dass wir nur in der zweiten Etage wohnen. Dort angekommen, dreht er sich endlich zu mir und seufzt. »Ach lass, Maja, es tut mir leid, dass ich davon angefangen habe.«
»Warum denn? Ich meinte das nicht so, wie sich das angehört hat …«
»Biene, ist okay. Titisee-Neustadt ist doch wirklich auch schön. Und ich will dich nicht unter Druck setzen. Außerdem wäre eh alles nur ein schlechter Ersatz für Patagonien. Aber dass das nicht geht für dich, das verstehe ich natürlich. Ist halt Pech, dass mein Traumland auf einem anderen Kontinent liegt. Vorsichtig duschen gleich, okay?«
»Ja, sicher. Aber wirklich Stephan, ich will doch umgekehrt auch nicht, dass es dir schlecht geht …«
»Biene?«
»Ja?«
»Geh duschen.«
Ich gehorche, fühle mich aber alles andere als erfrischt danach. Mittlerweile bin ich viel zu spät dran, mein Körper schmerzt, als hätte ich ihn ein paarmal vom Dach geworfen, und dass Stephan nun meinetwegen verzichtet, hilft nicht gerade, damit ich mich besser fühle. Frustriert rubble ich mich mit dem fluffigen steingrauen Handtuch ab. Reiseunlust hin oder her – im Grunde bringe ich gern das eine oder andere Opfer für ihn. Ich schlafe mit geschlossenen Vorhängen, obwohl ich mich wie im Grab dabei fühle, verzichte ohne Murren auf ein Haustier, weil Stephan gegen alles Mögliche allergisch ist und würge regelmäßig die Fischgerichte runter, die er so liebt und ich so hasse. Aber das sind alles Dinge, die ich still und heimlich tue. Was ich bei der Urlaubsnummer wohl auch besser versucht hätte. Ich schlüpfe in meinen Slip und streife das Kleid über, das ich gestern rausgelegt habe.
»Und die Nordsee?«, rufe ich dabei Richtung Küche. »Wie wäre die Nordsee?«
Statt einer Antwort serviert Stephan mir mein Handy, das in seiner Hand vibriert. »Shit, Antonia?«
»Dein Vater.«
»Jetzt?!«
»Muss wichtig sein …«
Ich nicke ergeben und nehme ihm mein Gerät ab. »Papa?«
»Weißt du, was deine Mutter getan hat?!«
Mein Vater schreit so laut, dass ich zurückpralle. Stephan zieht kommentarlos eine Augenbraue hoch. Eine sehr hübsche Augenbraue übrigens; tiefdunkelbraun, mit kleinen, sehr geraden Härchen, von denen nicht ein einziges überflüssig ist.
»Ich war seit Wochen nicht mehr oben in Buckow …«
»Aber auf Facebook?«
Ich zucke mit den Achseln in Richtung Stephan, der zurückzuckt und sich dann an mir vorbei in die Dusche schiebt. Er riecht nach Vanille und Sommer, ein vertrauter Geruch, von dem ich bis heute nicht weiß, wo er eigentlich herkommt. Selbst im Dezember riecht er so.
»Da war ich auch ewig nicht mehr, Papa. Das ist eher was für die äh … ältere Generation. Ich bin dafür aber sehr aktiv auf Instagram!« Das Telefon unters Ohr geklemmt, klopfe ich zum Abschied kurz an die Badezimmertür. Zugegeben ist diese unsentimentale Trennung für den Tag keine Ausnahme; dass Stephan und ich uns mit Umarmung oder gar Kuss voneinander verabschiedet haben, ist ziemlich lange her. Was normal ist, wenn man schon so lange zusammen ist und lebt. Während ich auf die Straße eile, versuche ich, mich an das letzte Mal zu erinnern, dass wir im Bett nicht bloß gelesen haben. Irgendwann um Weihnachten rum? Und war das letztes Jahr oder vor zwei Jahren? Ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, welche Farbe der Adventskranz damals hatte, als mein Vater wieder ohrenbetäubend losschreit: »Maja, vor allen Augen!«
Ich schüttle mich verwirrt. »Was?«
»Maja Isabella Maria Agathe! Hörst du mir überhaupt zu?«
»Klar, Papa, die Mama … äh … die Mama hat …«
»Geranien gepflanzt!«
»Unmöglich!«, antworte ich automatisch und halte dann verdutzt inne, weshalb der schlaksige Kerl im Kapuzenpullover, der hinter mir geht, mir prompt in die Hacken läuft. Und mich anpflaumt, was mir denn bitte einfalle, einfach so stehen zu bleiben. »Was hast du grad gesagt, Papa?«
»Ich bin nicht dein Papa!«
»Verzeihung, Entschuldigung, ich …«
Aber der missgelaunte Typ im Hoodie hört schon gar nicht mehr.
»Papa, können wir vielleicht später …? Ich muss zur U-Bahn …«
»Maja, bitte. Das ist wichtig! Du musst mit deiner Mutter sprechen, so geht das nicht. Nicht Geranien! In MEINEM Garten!«
»Papa, das ist eigentlich Mamas …«
»Weil sie mich über den Tisch gezogen hat!« Sehnsuchtsvoll betrachte ich das Tiefdunkelblau des U-Bahn-Eingangs Schönhauser Allee, bringe es aber nicht übers Herz, einfach aufzulegen.
»Es wäre nur recht und billig gewesen, wenn ich damals das Haus bekommen hätte, ihr ist der Garten schließlich egal. Ich dagegen …«
»Papa, ihr seid seit acht Jahren geschieden. Wäre es da nicht an der Zeit, die Sache ruhen zu lassen?«
»Wie denn bitteschön, wenn sie auf einmal Geranien pflanzt?!«
Wieder wird gerempelt, diesmal umgekehrt: Eine Gruppe spanischer Touristen strömt um mich herum und wirft mich wellengleich mal hierhin, mal dahin. Ich schließe kurz die Augen. Trotz des Geranienkriegs meiner Eltern überkommt mich eine tiefe Sehnsucht nach dem beschaulichen Buckow, die brandenburgische Kleinstadt, in der ich groß geworden bin: Idyllisch, beschaulich und friedlich. Genau das, was ich am liebsten habe.
»Was hast du denn eigentlich gegen Geranien, Papa?«
»Das sind Uroma-Pflanzen! Sprich bitte mit deiner Mutter!«
»Okay Papa, mache ich«, verspreche ich.
»Jetzt gleich!«
»Papa, ich muss zur Arbeit!«
»Bitte, Maja. Auf dich hört sie vielleicht.«
Ich seufze. Nur wegen der Zeit und nicht etwa, weil mir die Sache unangenehm ist. Da das Vermitteln zwischen meinem schnell gekränkten Vater und meiner eher brachialen Mutter seit Ewigkeiten zu den Standardaufgaben meines Lebens gehört, fühle ich mich sogar ganz wohl damit, Botschaften von A nach B zu tragen. Es hat etwas Vertrautes, fast schon Beruhigendes, wenn die beiden sich streiten. So ist der Mensch halt; solange er nur kennt, was passiert, ist alles in Ordnung, selbst wenn das Gekannte nichts Gutes, sondern eher verstörend ist. Oder zumindest ich bin so.
»Mama?«
»Maja, wie schön, dass du anrufst! Ich muss dir dringend was erzählen …«
»Mama, entschuldige, ich bin ein wenig in Eile. Ich rufe nur wegen Papa an. Er fragt sich, warum du auf einmal Geranien pflanzt …?«
»Was bitte geht das deinen Vater an, was ich in meinen Garten setze?!«
Es dauert noch einmal gute zehn Minuten, die Sache mit Mama durchzudiskutieren, auch weil sie zwischendurch immer mal wieder von was anderem anfängt. Am Ende erklärt sie sich – nur um deinetwillen, Maja – bereit, die Geranien des Anstoßes wieder auszupflanzen. »Aber ich sage dir eins, Maja, das ist eine Unverschämtheit von deinem Vater! Hätte er damals nicht seine gesamte Zeit in diesem bescheuerten Garten verbracht, dann wären wir heute vielleicht noch zusammen. Es ist wirklich das Letzte, dass er jetzt wagt, auch nur den kleinsten Kommentar dazu abzugeben, was ich mit meinem Grundstück mache!«
»Ich weiß, Mama«, sage ich. Ich weiß auch, dass die Nummer mit Papas Blumenfetisch nicht der einzige Grund für die erbitterte Trennung meiner Eltern ist. Soweit ich weiß, spielte da auch ein hübscher Anästhesist aus Buch eine Rolle. »Aber ich muss jetzt wirklich los, okay?«
»Gut, Maja. Hab einen schönen Tag!«
Das dürfte schwierig werden. Als ich endlich in die U-Bahn springe, bin ich bereits vierzig Minuten zu spät. Antonia wird ausflippen.
Antonia flippt nicht aus. Antonia ist gar nicht da.
»Was zur …?«
Verblüfft spähe ich in unser Ladengeschäft auf der geschäftigen Torstraße. Es liegt in unvertrautem Halbdunkel. Durch die Glastür sehe ich den gut geölten Parkettboden, das kräftige Grün der Efeupflanzen hinter meinem kleinen Designer-Schreibtisch und das düstere Geometriebild irgendeines Nachwuchskünstlers, das über Antonias Platz hängt. Auch die Kiste mit dem pädagogisch wertvollen Kinderspielzeug und die schwarz gepolsterten Gästesessel sind an Ort und Stelle. Nur meine Chefin, die ist nirgendwo. Misstrauisch schließe ich auf und knipse das Licht an.
»Antonia?«
Nichts. Noch einmal schaue ich mich um. Wer planlos in unseren Laden stolpert, der käme wahrscheinlich erst mal nicht auf den Gedanken, dass wir hier Reisen verkaufen. Weder hängen bei uns schlecht gedruckte Billigangebote aus, noch haben wir die Wände vollgestellt mit Katalogregalen. Auch gezwungene Fröhlichkeit und Bilder von Strandliegen sucht man hier vergeblich. Stattdessen: kühle, moderne Eleganz. Die einzige Konzession an unser hart umkämpftes Gewerbe ist das Schaufenster. Das ist allein mein Werk, und eines, auf das ich ziemlich stolz bin: Vor einem riesigen Foto nebelverhangener Regenwaldberge erhebt sich der Eingang zur Zitadelle von Yapahuwa in Sri Lanka, so detailgetreu nachgebaut, dass man meinen könnte, vor einer echten Ruine zu stehen, nur halt im Miniatur-Format. Ich habe unzählige unbezahlte Abendstunden damit verbracht, den Tempel aus Holz und Styropor nachzubauen, Millimeter für Millimeter, nur bewaffnet mit Klebepistole und You-Tube. Solange ich hier arbeite, also seit sechs Jahren, lasse ich meiner Bastelwut im Schaufenster freien Lauf. Also natürlich arbeite ich nach Antonias Vorgaben und nicht nach eigenem Gutdünken, schließlich ist es ihr Geschäft. Und so wie ich sie kenne, verlangt sie in spätestens drei Wochen ganz sicher ein neues Szenario, wegen der notwendigen Abwechslung. Ich sollte also schon mal anfangen, Sand zu sammeln – sie hat es mit Wüsten in letzter Zeit.
Aber wo in drei Gottes Namen steckt sie?
Während ich meinen Computer hochfahre, male ich mir aus, was der armen Frau heute Morgen alles zugestoßen sein könnte: Autounfall, Herzinfarkt, von wilden Hunden beim Joggen in Stücke gerissen. Oder war sie vielleicht bereits hier und sucht nun umgekehrt nach mir?
Ein lässiges und verschlafenes »Hi …« reißt mich aus meinen Gedanken. Im Türrahmen steht ein junger Hipster und zwinkert mir zu. Ich lächle gewinnend und bitte ihn herein.
»Was kann ich für dich tun?«
Mit wenigen Schritten über das polierte Parkett ist er an meinem kleinen Tisch und lässt sich in den runden, weichen Sessel fallen.
»Ich will weg. Also verreisen. Eigentlich plane ich so was ja immer alles selbst, von wegen Internet und so, da braucht man ja nix, aber ein Kumpel meinte, ihr habt echt sweete Deals hier.«
»Auf jeden Fall«, bestätige ich. Meine Chefin hat einen Riecher für Reisetrends und Kontakte in Ecken, in denen ist sonst noch kein Europäer auch nur gewesen! »Weißt du denn schon, wo es ungefähr hingehen soll?«
»Irgendwas Asiatisches, gerne ohne Touristen, ein bisschen Abenteuer, off the beaten track, du weißt schon.«
Ich nicke verständnisvoll, obwohl es mir persönlich ein Rätsel ist, warum man in seiner Freizeit Leib und Leben in irgendwelchen exotischen Gebieten riskieren muss, wenn doch schon eine S-Bahn-Fahrt von Friedrichshain nach Steglitz den Herzschlag hochtreibt. Statt ihm ein Monatsticket der BVG anzubieten, schlage ich ihm jedoch lieber ein Festival auf 4000 Meter Höhe in Bhutan vor, werbe für einen klassischen Trip durch Kambodscha und schwärme wortreich von einem Segelturn zum indonesischen Nusa Lembogan.
»Willst du denn allein reisen?«, frage ich am Ende. Er grinst und beugt sich vor, ganz Kiehl’s und Fishermans Friend’s, und schaut mir tief in die Augen.
»DU kannst ja mitkommen«, sagt er mit entwaffnendem Selbstbewusstsein. Wie immer in solchen Situationen wird mir abwechselnd heiß und kalt, nicht, weil ich so gerne angeflirtet werde – gar nicht! –, sondern weil ich auf die Schnelle nie weiß, was ich zu solchen charmanten, aber unerwünschten Sprüchen sagen soll, ohne allzu unhöflich zu werden. Obwohl die Antwort in diesem Fall eigentlich auf der Hand liegt.
»Das geht nicht«, sage ich erleichtert, »ich habe Flugangst!«
»Flugangst?«
»Yup, Flugangst. Würde nicht mal bis Köln fliegen, da kommt Kambodscha nun wirklich nicht infrage. Mein Freund hat sich damit abgefunden, dass wir nie weiter fahren als in den Schwarzwald.«
Meinen subtilen Hinweis auf Stephan übergeht er einfach.
»Und dann arbeitest du in einem Reisebüro?!«, fragt er, woraufhin ich ihm versichere, dass ich mich auf der ganzen Welt exzellent auskenne, auch ohne je selbst meine Zehen in den Sand von Fidschi gegraben zu haben. Was ich ihm nicht erzähle, ist, dass ich ursprünglich Architektin werden wollte, aber als Studentin bei Antonia angefangen habe und jetzt so eine wichtige Stütze für sie bin, dass ich es nicht übers Herz bringe, zu kündigen. Auch wenn ich manchmal glaube, dass ich viel besser darin wäre, moderne Hochhäuser zu entwerfen, als Träume zu verkaufen.
»Wie du schon sagst, man findet ja alle Infos im Internet«, schließe ich ab. »Und meine Chefin, die legt viel Wert darauf, jeden Ort selbst zu besuchen, insofern sind wir immer absolut up to date.«
Genau in diesem Moment geht die Tür auf, und Antonia kommt rein. Sie baut sich vor meinem Schreibtisch auf, ohne den Hipster auch nur eines Blickes zu würdigen. Es hat schon Gründe, warum Antonia mich braucht – im Umgang mit Menschen, gerade mit Kunden, hat sie wirklich Defizite. Sie ist zwar gnadenlos logisch, dafür aber in etwa so emotional wie ein Granitblock. Und das, obwohl sie hochschwanger ist.
»Maja«, sagt sie jetzt, »wir müssen reden.« Es scheint der Satz des Tages zu sein.
»Ähm, Antonia, ich hab grad einen Kunden.«
Doch dieser sammelt eilig die eleganten Prospekte zusammen, die ich ihm hingelegt habe, murmelt was von Nachrecherche im Netz und verabschiedet sich dann mit dem Versprechen wiederzukommen, sobald er herausgefunden hat, ob Bhutan genügend unerforscht für sein Abenteuer-Image ist. Antonia nimmt seinen Platz ein, beugt sich vor, stützt die Arme auf den Schreibtisch und presst die Fingerspitzen aneinander. »Es muss sich um einen Irrtum handeln«, sagt sie und nickt mir auffordernd zu.
»Ähm, was?«
»Die Bettruhe, Maja. Bitte, konzentrier dich.«
Ich bin konzentriert. Und verwirrt.
»Welche Bettruhe, Antonia?«
»Meine.«
»Aber du bist doch gar nicht im Bett. Du bist hier.«
»Eben.«
Ich atme langsam aus. »Vielleicht magst du mir noch mal von vorne erzählen, was los ist, Antonia?«
»Dr. Fleischer – ein furchtbarer Name für einen Frauenarzt, ich muss das an dieser Stelle noch einmal sagen, das ist einfach … geschmacklos –, Dr. Fleischer hat mir sofortige Bettruhe verordnet. Das erscheint mir … unsinnig. Apropos unsinnig, hattest du nicht geklärt, dass ich vor den Öffnungszeiten in seine Praxis kommen kann? Ich musste schon wieder warten. Das ist … ungünstig. Es ist extrem unprofessionell, zu spät mit der Arbeit anzufangen.«
»Ich rufe noch mal an«, murmle ich und schüttle dann den Kopf, »aber ähm, das scheint mir jetzt irgendwie nicht so wichtig, entschuldige, wie die Sache mit der Bettruhe … Warum genau sollst du ins Bett?«
»Cervixinsuffizienz.«
»Muttermundschwäche?«
»So ist es«, bestätigt Antonia, dann schüttelt sie den Kopf. »Seltsam, ich bin sonst nie ineffizient. Es erscheint mir entsprechend fragwürdig, dass das hier plötzlich der Fall sein soll. Zumal meine Gebärmutter ja nun auch von Anfang an dabei ist, in dieser Schwangerschaft. Ich habe sie schließlich nicht zwischendurch ausgetauscht. Hätte ihm eine Insuffizienz da nicht früher auffallen müssen?«
»Vielleicht holst du dir eine Zweitmeinung?«
»Dr. Fleischer – wirklich, dieser Name ist unerträglich –, Dr. Fleischer ist der beste Gynäkologe in Berlin.«
»Aber wenn du glaubst, er hat einen Fehler gemacht …«
»Ein anderer Arzt ist nicht vertraut mit meiner Historie und meinem Körper. Und niemand hat einen ebenso guten medizinischen Hintergrund in Kombination mit positiven Beurteilungen durch alle Portale hinweg. Es ist bedauerlich, aber nicht zu ändern, Dr. Fleischer ist alternativlos.«
Das ist Antonia-Logik für Fortgeschrittene, und ich bin auch nach sechs Jahren gerade mal ein erweiterter Anfänger. »Das ist alles höchst … ärgerlich. Ich kann natürlich diese Diagnose nicht akzeptieren.«
»Bitte?«
»Maja, es ist völlig unmöglich, dass ich im Bett bleibe und mich ausruhe. Das entspricht weder meiner inneren Haltung noch meiner äußeren Konstitution – von der schwachen Gebärmutter abgesehen bin ich topfit –, und jetzt unvorbereitet den Stift fallen zu lassen ist wirklich nicht … machbar. Da muss ich ein kalkuliertes Risiko eingehen.«
Ich schüttle den Kopf. Das ist das Problem mit Antonias komischer Eigenlogik; sie verheddert sich gern mal darin.
»Aber dieses kalkulierte Risiko betrifft ja nicht dich«, erinnere ich sie.
»Wie bitte?«
»Es geht doch um das Baby.«
Sie lehnt sich zurück und schaut mich aus erstaunten grünen Augen an. »Das Baby?«
»Ja, das Baby. Du sollst dich ja nicht für dich schonen, nehme ich jetzt jedenfalls mal an, sondern für das Baby. Weil du es sonst verlieren könntest.«
Eine Wolke zieht durch Antonias Gesicht, eine dunkle, mit ziemlich viel Gewitter drin. Allerdings weiß ich nicht, ob Antonia nun doch Angst um ihr Ungeborenes hat oder ob sie schlichtweg den Gedanken nicht erträgt, zu verlieren. Wen oder was, völlig egal.
»Meinst du?«
»Ganz sicher sogar. Und sieh es doch mal so: So, wie du das erzählst, hat Dr. Fleischer dir ja nicht grundsätzlich verboten, dass du arbeitest, sondern nur, dass du es nicht woanders tust als im Bett.«
Bei diesen Worten horcht meine Chefin auf, und auch ich erwärme mich langsam für das Thema. Zeit im Büro ohne Antonia? Es gibt Schlimmeres.
»Ich meine, du wolltest immer schon die Datenbank auf Vordermann bringen und dir die Zeit nehmen, dich um alle unsere Kontakte zu kümmern. Du sagst doch immer, es gibt keine Hürden, nur Herausforderungen. Und ist es nicht eine phantastische Herausforderung, deine Zeit im Bett optimal zu nutzen? Da können doch alle nur von profitieren! Nicht nur du, sondern auch das Kleine.«
»Stimmt«, sagt sie und streicht über den Medizinball, den sie ihren Babybauch nennt. »Es ist nur … bedauerlich, dass vorher nicht abzusehen war, in welchem Ausmaß die kleine Bohne mein Leben einschränken würde. Und das schon, bevor sie geboren ist. Das ist … unerwartet.«
Dass Antonia ihr Baby zärtlich die kleine Bohne nennt, lässt mich glauben, dass sie heimlich randvoll mit Zuneigung ist.
»Das alles ist … sehr ärgerlich.«
Ich nicke verständnisvoll. Ihre Schwangerschaft war bis eben grade perfekt durchorganisiert, wobei ich mich in stillen Momenten frage, warum Antonia überhaupt den Wunsch hatte, sich fortzupflanzen. Vielleicht nur, um der Welt zu beweisen, dass man wegen eines Kindes nicht gleich sein ganzes Leben auf den Kopf stellen muss – umso schlimmer, dass sie nun also genau das tun muss.
»Man muss innerhalb der Parameter arbeiten, die einem möglich sind«, sagt sie, als habe sie meine Gedanken gelesen, »wenn Bettruhe unumgänglich ist, dann ist es Energieverschwendung, sich dagegen zu wehren. Das wäre … unklug.«
Sie sagt das, als sei ICH diejenige gewesen, die sich mit Händen und Füßen gewehrt hat. »Gut. Dann nutze ich den Tag, um die Abläufe den neuen Umständen anzupassen. Ich werde entsprechende Listen aufstellen und dich umgehend informieren, wie welche Aufgaben verteilt sein werden. Bedauerlicherweise lässt sich ja nicht alles vom Bett aus machen. Das wäre … unprofessionell.«
Zeit ohne Antonia im Büro zu verbringen, erscheint mir immer attraktiver. Ihre Persönlichkeit ist hin und wieder doch sehr erdrückend, und vielleicht kann ich dann dieses Mal auch eigenständig über die neue Fensterdeko entscheiden. Ich habe neulich ein vierzigminütiges You-Tube-Tutorial gesehen, bei dem sie einen ganzen Brunnen selbst gebaut haben, das wäre ein spannendes Projekt für unser Scheibenpanorama …
Gerade als ich ihr entsprechend euphorisch zustimmen will, im Kopf schon einen dreistöckigen Springbrunnen entwerfend, wird sie plötzlich kalkweiß. Ich springe panisch auf.
»Antonia, ist alles okay? Soll ich den Notarzt rufen? Du musst dich hinlegen, hier, ich …«
Sie bedeutet mir mit einer Geste, den Mund zu halten und mich wieder zu setzen.
»Der Herr Egelwolf!«, sagt sie, sobald ich gehorcht habe. »Du musst dich um Herrn Egelwolf kümmern.«
»Wer ist Herr Egelwolf?«
»Unser neuer Kontakt in Südamerika. Es handelt sich bei ihm um eine Art … Abenteurer. Er führt Menschen durch den Dschungel und die Berge und geht dabei Routen, die weder auf Karten verzeichnet sind, noch von anderen Gruppen genutzt werden. Ein kluges Investment. Er ist der Einzige, der diese Wege kennt. Sehr … interessant für uns. Meinen Recherchen zufolge arbeitet er häufig mit Prominenten. Das ist eine zukunftsgerichtete Strategie. Herr Egelwolf kann für uns ein … entscheidender Geschäftspartner werden.«
»Das klingt so, ja. Zumal wir in Südamerika ja schon lange keine verlässlichen Agenturen mehr haben …«, ich nicke bedächtig, »und immer mehr Leute wieder danach fragen. Also, wenn du mir seine Telefonnummer gibst, dann rufe ich ihn gleich morgen an.«
»Maja, bitte. Konzentrier dich. Wenn es um einen Anruf ginge, dann könnte ich das von zu Hause machen. Du musst hinfliegen. Noch diese Woche.«
Für einen winzigen Augenblick bleibt mein Herz stehen, und meine Luftröhre verengt sich. Mir wird schwarz vor Augen, und mein Magen krampft sich in unregelmäßigen Abständen heftig zusammen.
»Was?«, bringe ich krächzend hervor.
»Du musst nach Südamerika fliegen und einen Vertrag mit Herrn Egelwolf aushandeln.«
»Ich habe keinen Reisepass!«
»Ich werde gleich einen vorläufigen Reisepass beantragen, das dauert nur ein paar Stunden, und die Einreise nach Bolivien ist danach kein Problem. Ein Passfoto habe ich noch von deiner Bewerbung, du bist zwar älter geworden, aber das sieht man kaum. Du hast gute Gene, Maja.«
»Danke«, murmle ich abwesend. Südamerika? Nur über meinen toten, kalten Körper. Gut, es könnte sein, dass Antonia mich eigenhändig umbringt, aber ich kann auf gar keinen Fall auf einen anderen Kontinent fliegen.
»Aber ist es nicht viel, viel, viel wichtiger, dass jemand hier ist, der die Reisen verkaufen kann? Die Umsatzeinbußen wären doch enorm, wenn plötzlich niemand mehr hier sitzt!«
Antonias Gesicht lässt mich verstummen.
»Maja,« sagt sie ohne jeden Humor, »ich habe dich bisher nicht in vollem Umfang darüber aufgeklärt, weil keine … Notwendigkeit dazu bestand. Tatsache ist, dass unsere Umsätze stetig zurückgehen. So stetig, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Und genau da kommt der Herr Egelwolf ins Spiel. Ein exklusiver Vertrag mit ihm brächte nicht nur Möglichkeiten in Südamerika, die es nicht einmal im Internet gibt, sondern auch den zusätzlichen Prominenten-Bonus. Auch wenn ich persönlich nicht im Geringsten verstehe, warum man sich für einen völlig Fremden soweit interessieren kann, dass man denselben Reiseveranstalter bucht, nur weil man Lagerfeuergeschichten und Bettgerüchte von ebendiesem Fremden zu hören hofft, ist es doch Tatsache, dass Menschen genau das tun. Der Herr Egelwolf hat schon Brionsche durch den Dschungel geführt.«
»Meinst du vielleicht, äh, Beyoncé?«
»Habe ich doch gesagt. Bitte hör zu Maja, das ist wichtig. Ich bin der festen Überzeugung, dass Egelwolf unserem Geschäft zu neuem Erfolg verhelfen könnte. Kunden bedienen kann am Ende jeder, sogar mein Mann. Also soll Ralf sich um die Leute kümmern, die hier auflaufen. Du hast eine wichtigere Mission: Du musst unseren Laden retten!«
Mir wird plötzlich so übel, dass der Raum zu schwanken beginnt.
»Entschuldige«, würge ich hervor, »ich muss mal eben …«
Ohne den Satz zu beenden, stürme ich aus dem Laden auf die Straße. Scham über diesen unhöflichen Aufbruch und ein immer schlimmer werdender Brechreiz mischen sich zu einem heftigen, bitteren Brennen im Bauch. Ich stolpere weiter und beuge mich keuchend über das kümmerliche kleine Bäumchen am Bürgersteigrand. Ein Spuckefaden hängt mir aus dem Mundwinkel.
»Maja?« Ich zucke zusammen. Antonia ist mir gefolgt und steht nun mit durchgedrücktem Rücken und gerunzelter Stirn neben mir »Du bist doch nicht etwa schwanger? Das wäre … unverantwortlich.«
Und ein christliches Wunder. Ich schiele unwillkürlich auf den unverantwortlichen Bauch meiner Vorgesetzten und muss schon wieder röcheln. »Nnn…nein.«
»Gut. Zu diesem Zeitpunkt wäre es … unvorteilhaft, dich zu verlieren, Maja.« Sie mustert mich, während ich leere Luft würge. Obwohl der Druck in meinem Magen ins Unermessliche steigt, kommt einfach nichts nach oben. Nur Panik.
»Du musst besser auf deine Ernährung achten, Maja. Eine gesunde, ausgeglichene Kost ist die Grundlage für ein achtsames, kluges Agieren in jeder Lebenslage. Und krümm dich nicht so, das ist nicht gut für deine inneren Organe.« Gehorsam richte ich mich auf. Ich zittere noch immer am ganzen Körper. »Gut. Also, Maja, um das zum Abschluss zu bringen: Wir haben keine Wahl, was die Sache mit Herrn Egelwolf betrifft. Du musst hinfliegen.«
»Aber meine Flugangst …«, murmle ich nun doch. Recht schwach, weil ich arg damit beschäftigt bin, nicht umzukippen.
»Maja, das ist eine rein mentale Sache. Ich bin … zuversichtlich, dass du dich im Griff hast. Wir dürfen uns nicht zum Spielball unserer Emotionen machen lassen. Das ist entscheidend für ein erfolgreiches Leben. Gerade stehen, Maja, und tief atmen.«
Ich schnappe japsend nach Luft. »Gut so. Und jetzt die Arme über den Kopf.«
Ganz automatisch folge ich Antonias Anweisungen. Die Finger in den Himmel gestreckt und mit wackeligen Knien suche ich verzweifelt nach guten Gegenargumenten. Es hilft nicht unbedingt, dass die Leute im Straßencafé nebenan mir kichernd bei meinen dämlichen Turnübungen zuschauen. Jetzt nur nicht umkippen … und lieber auch nicht kotzen. »Aber …«, ringe ich mir schließlich ächzend ab, »das kostet doch auch alles Geld, Antonia. Kann dieser eine Typ uns tatsächlich so viel einbringen? Ich meine, er ist ja nicht Indiana Jones.«
»Doch.«
»Wie bitte?«
»Dieser Typ, wie du ihn etwas … fahrlässig nennst, Maja, ist genau das. Er ist Indiana Jones. Im übertragenen Sinne. Ein Held in der Reisebranche. Bei meinen Verhandlungen schien er bisher durchaus interessiert an einer Kooperation mit uns. Er möchte uns aber persönlich kennenlernen und hat diesbezüglich eine ausdrückliche Einladung erteilt, die abzulehnen wir uns nicht leisten können. Du fliegst Freitag.«
Bevor ich mich versehe, habe ich schon genickt. Aller Übelkeit, allen Ängsten und aller Panik zum Trotz. Es ist wie so oft im Gespräch mit meiner Chefin. Ich fühle mich wie Flüssigbeton unter der Walze – alle Widerstände einfach plattgemacht.
Immerhin scheinen Antonias seltsame Übungen ihre Wirkung zu tun; ich kann wieder besser atmen und auch das Unwohlsein wird langsam schwächer. Jedenfalls bis mir Stephan einfällt.
»Aaaahhhhrgghgg!«
Eine erneute Welle der Übelkeit überkommt mich, ich falle auf die Knie. Genau auf die Wunden von heute Morgen. Tränen schießen mir in die Augen, und ich wimmere leise. »Maja, bitte. Contenance!«
»Klar, Antonia«, ächze ich und unterdrücke den scharfen Schmerz. Aber die Verzweiflung, die lässt sich nicht wegschieben. Die ist für immer.
Erschöpft lasse ich mich auf den letzten freien Stuhl am Tisch fallen. Das Kaffeezeit ist ein angenehm anspruchsloses Café mit schlichten Stühlen, kleiner Karte und dem enormen Vorteil, dass es gefühlt schon hundert Jahre existiert. Also so wie Katharina und Nadine, die ausnahmsweise vor mir zu unserem Stammtisch erschienen sind. Letztere deutet auf meine unberingte Hand und sagt: »Na, als du eben die Nachricht geschrieben hast, dass du zu spät bist, weil du eine Überraschung erlebt hast, da dachte ich, oh my god, Stephan hat sie endlich gefragt, ob sie ihn heiraten will!«
»Ich habe ›eine ungute Überraschung‹ geschrieben, Nadine!«
Meine Freundin, heute im modischen Schlauchkleid, zuckt die Schultern. »Das hab ich überlesen.«
»Ich nicht«, schaltet sich Katharina ein und fährt sich durch das braungelockte Haar. »Und ich finde auch, wir sollten Maja nicht immer wieder damit nerven. Sie wird schon früh genug heiraten. Wenn Stephan denn will. So oder so: Es geht auch ohne Ehe. Peter und ich haben schließlich auch nie geheiratet und haben es auch nicht vor. Als ich neulich auf einer Party im Soho House war, hat Diane Kruger mir da übrigens ganz recht gegeben, sie möchte ihren Joshua nämlich auch nicht heiraten.«
Ich schenke Katharina ein dankbares Lächeln. Sie lächelt zurück und zeigt zwei Reihen perfekte Zähne. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass sie auch ohne Probleme in einem Wall-Street-Film mitspielen könnte: Immer ein schlichtes, aber akkurates Kostüm, polierte Lederschuhe mit hohen Hacken und den perfekten Haarschnitt. Und das schon als Studentin; wir kennen uns seit dem ersten Semester unseres Architektur-Studiums, wo wir zusammen mit Nadine in derselben Statistik-Lerngruppe gewesen sind. Ruckzuck wurden wir ein eingeschworenes Dreiergespann, und das hat sich trotz der unterschiedlichen Wege, die wir genommen haben, bis heute nicht geändert. Jeden Montag treffen wir uns hier, quatschen über Gott und die Welt und stehen uns in Notzeiten gegenseitig bei. Also genau das, was ich jetzt brauche. Da bin ich allerdings nicht allein; ehe ich mir Luft machen kann, hat Katharina elegant in ihre Tasche gegriffen und ein kompliziert wirkendes Schreiben hervorgezaubert.
»Maja, kannst du dir das vielleicht mal anschauen?«, fragt sie. »Es geht um die Ausschreibung für ein Bauprojekt in Marzahn. Renaturalisierung urbaner Lebensräume im Kontext sozialverträglicher Nachhaltigkeit.«
»Wie interessant!«, ruft Nadine, die dank gut situiertem Chirurgen-Ehemann nicht über das Grundstudium hinausgekommen ist. Also bleibe nur ich, um zu helfen. »Zeig mal her, Katharina.«
»Danke!«
»Oh, das muss bis Mittwoch eingereicht werden!«
»Ich weiß, ich weiß, das ist knapp. Das tut mir total leid, ich hätte dich schon viel früher gefragt, aber in der Firma sind sie erst jetzt darauf gekommen, dass wir da dringend mitmachen müssen. Du weißt ja, wie das ist …« Katharina schüttelt bekümmernd ihren hübschen Kopf. »Immer alles eng und immer alles sofort!«
»Oh ja, das kenne ich in der Tat. Antonia hat nämlich …«
»Maja, nicht ablenken«, Nadine beugt sich vor und zwinkert mir zu, »das Thema Hochzeit ist noch nicht durch!«
Seufzend stecke ich Katharinas Unterlagen in meinen selbstgenähten Rucksack. »Ist es nicht?«
»No way! Schön und gut, dass Katharina und Peter nicht heiraten wollen, aber was ist denn nun mit dir und Stephan? Auch wenn er jetzt vielleicht keinen Antrag gemacht hat, findest du nicht, es wird mal Zeit?«
»Ähm, ich weiß nicht«, sage ich wahrheitsgemäß und schiele nach der Kellnerin. Für solche Unterhaltungen brauche ich eindeutig mehr Kaffee und Kuchen. »Ich mache mir da nicht so richtig Gedanken drüber …«
»Solltest du aber. Immerhin wirst du bald 30!«
»Da hat Nadine recht. Glaube mir, das ist ein großer Geburtstag. Da will man schon auch was erreicht haben.« Irritiert gucke ich von Nadine zu Katharina und wieder zurück. »Ich hab’ doch noch mehr als zwei Jahre!«
»Ja, aber denkst du denn nie darüber nach, es endlich offiziell zu machen mit Stephan?«
Muss ich mich jetzt wirklich schämen, dass ich nicht vom Bund der Ehe träume? Irgendwo verstehe ich ja sogar, was Nadine meint, aber die Realität sieht eben anders aus. »Eigentlich nicht. Ich meine, klar, wir sind schon ein paar Jahre zusammen und so, aber irgendwie sprechen wir nicht über so was, also ich meine, das ist ja irgendwie … ich weiß auch nicht. Klappt doch auch alles gut, so wie es ist.«
»Maja mag eben ihre Routine«, grinst Katharina, »und dass Dinge so sind, wie sie sind, und nicht anders. Das war doch schon im Studium so. Weißt du noch, wie ewig wir auf sie einreden mussten, dass sie endlich nach Berlin zieht, statt jeden Tag zwei Stunden zu pendeln?«
»Schon«, sagt Nadine, die mich tatsächlich mehr oder weniger gezwungen hatte, vorübergehend mit ihr in eine Neuköllner WG zu ziehen, als ihr Mitbewohner dank eines Lottogewinns nach Charlottenburg verduftet war, »aber das ist doch kein Vergleich! Really. Als Stephan und du euch kennengelernt habt, da dachten wir, dass es nächste Woche aufs Standesamt geht. Ich meine, ihr hattet doch nur noch Augen für den anderen, da hofft man als allerbeste Freundin natürlich, dass die große Liebe mit einem rauschenden Fest gefeiert wird, ganz love und forever. Und jetzt feiere ich Holzhochzeit und du keine. Und Studien sagen ja, dass es irgendwann nicht mehr passieren wird. Also der Antrag. Meistens nach sechs Jahren. Da bist du knapp vor, weißt du?«
Die Kellnerin wählt genau diesen Moment, um sich endlich an den Tisch zu schieben und kaugummikauend nach meinen Wünschen zu fragen. Ich bestelle wie immer Milchkaffee und Käsekuchen.
»Siehst du!«, ruft Katharina triumphierend. »Ich hab’ es doch gesagt!«
Stirnrunzelnd mustere ich sie. »Was hast du gesagt?«
»Dass du es gern so hast, wie du es kennst!«
»Das ist ja nun auch kein großes Geheimnis«, brumme ich.
»Entschuldige, Maja, ich meine das gar nicht böse. Im Gegenteil. Auf dich ist Verlass.«
»Das fürchte ich auch«, sage ich düster, »und genau deshalb fliege ich Freitag nach Südamerika.«
»Du?«, echoen beide.
»Aber was ist mit deiner Flugangst? Als wir damals nach Mallorca geflogen sind, bist du doch fast gestorben! Obwohl du dich super zusammengerissen hast, und überhaupt, dass du den Junggesellinnenabschied auf meiner Lieblingsinsel organisiert hast, obwohl du dann fliegen musstest, vergesse ich dir nie. Wirklich.«
Ich werde rot. Es hat mich damals sehr viel Kraft gekostet, Nadine die perfekte letzte Single-Reise zu organisieren, aber es hat sich gelohnt. Ich wache zwar heute noch schweißgebadet auf in der Erinnerung an die beiden Flüge, aber dafür reden alle stets nur davon, was für zauberhafte Tage das waren. »Danke, Nadine! Ich habe das wirklich gern gemacht.«
»Du hast eben ein Händchen für schöne Partys. Das ist einfach deins! Habe ich gestern erst im Netz gelesen, dass jeder so eine heimliche Gabe hat, und ich glaube, das ist echt deine. Apropos, die Zwillinge haben ja demnächst Geburtstag und da könnte ich deine Hilfe gebrauchen. Ich habe überhaupt keine Idee, was ich machen könnte.«
»Kein Problem, ich helfe dir. Es sind ja noch dreieinhalb Wochen bis dahin, ich bringe dir gern nächste Wochen ein paar Ideen für Themen, Deko und …« Ich unterbreche mich und seufze schwer. »Das heißt, ich bringe sie dir übernächste Woche mit. Nächste Woche bin ich ja dann in Bolivien. Oh Gott, Bolivien! Ich spreche nicht mal Spanisch! Und das sind 14 Stunden Flug oder so! Ob es da wenigstens Internet gibt?«
»Warum schickt dich Antonia denn überhaupt dahin? Fährt sie nicht sonst immer selbst?«
Während ich in dem cremigen Käsekuchen rumstochere, den die Kellnerin mir etwas lustlos auf den Tisch geknallt hat, erkläre ich den beiden das Dilemma. Nadine, die als dreifache Mutter so ziemlich alles schon mal erlebt hat, legt entsetzt die Hand vor den Mund, als ich von Antonias Reaktion auf die verordnete Bettruhe erzähle. Doch ihre Gefühle kommen erst so richtig in Wallung, als ich in knappen Worten den Abenteurer skizziere, der unbedingt mit uns arbeiten, aber uns dennoch erst persönlich kennenlernen will.
»Oh, wie romantisch!«, seufzt sie, und ich hebe überrascht die Brauen. Erstens weil ich nichts Herzerwärmendes daran finden kann, wegen irgendeines dahergelaufenen Touristenführers in die Ferne zu reisen, und zweitens weil ich sie glücklich verheiratet wähnte.
»Romantisch?«
»Yes! So ein Latino mit einem Herz aus Gold, mit dem man ein paar schöne Wochen verbringt, ohne Pflicht und ohne Gewissen, das hat doch was … Ich habe ja neulich gelesen, dass so ein Seitensprung im besten Fall neuen Wind in eine Beziehung bringen kann. Also nicht, dass ich das brauche. Aber interessant, oder?«
»So was in der Art meinte Oliver, also Oliver Mommsen, ihr wisst schon, ja neulich auch zu mir, aber ich bin da skeptisch«, sagt Katharina, »einmal Fremdgeher, immer Fremdgeher. Außerdem hätte ich gedacht, dass gerade du dagegen bist. Wo du doch so auf das Konzept Ehe pochst.«