Andrea Römmele, Jahrgang 1967, ist Professorin for Communication in Politics and Civil Society an der Hertie School of Governance in Berlin sowie Herausgeberin der Zeitschrift für Politikberatung. Langjährige Forschungs- und Lehraufenthalte an renommierten amerikanischen Universitäten. Sie gehörte zu den Wahlkampfteams u. a. von Gerhard Schröder und Hillary Clinton. Regelmäßige Medienauftritte (u.a. bei Maybrit Illner, Tagesschau, zeit.de, Focus, ARD Morgenmagazin, New York Times ). www.andrearoemmele.de.
Warum wir wieder lernen müssen, richtig zu streiten
Ohne Streit ist unsere Demokratie nicht überlebensfähig. Wir brauchen die Auseinandersetzung, um eine öffentliche Meinungsbildung zu ermöglichen und die bestmöglichen Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Stattdessen erleben wir heute, dass Auseinandersetzungen immer seltener im direkten Dialog stattfinden, die Debatte hat sich in die sozialen Medien und die Talkshows verlagert hat. Dort gehen die Parteien mit ungeprüften Fakten und Behauptungen aufeinander los, bleiben Meinungen unversöhnlich nebeneinander stehen und werden keine Kompromisse mehr gesucht. Es herrscht ein Kampf um Aufmerksamkeit, Selbstbestätigung und Skandalisierung des Gegners. Andrea Römmele zeigt auf, wie es wieder möglich sein kann, miteinander zu streiten – ohne sich zu spalten.
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Zur Sache!
Für eine neue Streitkultur in Politik und Gesellschaft
Inhaltsübersicht
Über Andrea Römmele
Informationen zum Buch
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Vorwort
Streit und Demokratie – wie geht das zusammen?
Streit als Kern der Demokratie
Unterdrückter Streit in autoritären Regimen
Wahrheit und Fakten: mit Populisten streiten
Streit und Harmonie oder: unser ambivalentes Verhältnis zum Streit
Worüber wir streiten
Aktuelle politische Debatten und ihr Streitwert: Geht es um Macht oder Inhalt?
Der Asylstreit in der Union
Die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum
Der Bericht der Endlagerkommission
Sternstunden des Streits
Der Paragraf 218
Die Regelung zur Sterbehilfe
Worüber wir nicht gestritten haben, es aber tun sollten
Der Verteidigungsetat
Die Bankenrettung
Guter Streit, was ist das eigentlich?
Streit und Zoff in der Erregungsindustrie
Medien als Debattenvermittler
Die Echokammer: Rückzug in die Komfortzone
Medien als Plattformen für Streit
Die Radikalisierung der Sprache
Political Correctness als Weichspüler
Streiten Frauen anders?
Andrea Nahles – zu schrill?
Alice Schwarzer – zu reaktionär?
Angela Merkel – zu wenig?
Claudia Roth – zu emotional?
Hillary Clinton – zu aggressiv?
Fazit: Wie man’s macht, macht man’s falsch?
Ausblick und Ideen für eine neue Streitkultur
Lasst den Bullshit! Für mehr Sachlichkeit im politischen Diskurs
Streitkiller
Mischt euch ein, Bürger! Es ist EURE Demokratie
Anmerkungen
Impressum
Als Wissenschaftlerin ein meinungsstarkes Buch zu schreiben, ist nicht ohne. Man begibt sich auf unsicheres Terrain. Man verlässt das bequeme »Sowohl-als-auch« des Elfenbeinturms und muss Farbe bekennen. Aber in politisch so bewegten Zeiten wie diesen ist es ein Stück weit unsere Pflicht, dies zu tun. Es ist auch Aufgabe der Politikwissenschaft, Anregungen auf die großen, aktuellen Fragen zu geben. Dafür gilt es auch hin und wieder den Boden der »reinen« Wissenschaft zu verlassen und mit ungewöhnlichen Methoden nach Antworten zu suchen. Für dieses Projekt hätte ich mir kein besseres Umfeld als die Hertie School of Governance vorstellen können – mein akademisches Zuhause. Dieser intellektuelle »Hotspot«, die immer unterstützenden Kollegen, inspirierende Studenten und Mitarbeiter.
Mein großer Dank gilt dem Dahrendorf-Team an der Hertie School of Governance und an der London School of Economics and Political Science. Der Mut zu diesem Buch kam vor allem aus diesem Kreis. Besonders hervorheben möchte ich Nils Napierala, der mich tatkräftig bei der Recherche und beim Schreiben unterstützt hat. Dank auch an Hanna Leitgeb fürs »Dranbleiben« und an Franziska Günther und Johanna Links für die wunderbare Betreuung beim Aufbau Verlag. Zwei Kollegen möchte ich besonders hervorheben: Svenja Falk und Stefan Schirm, die mich bei der Konzeption und beim Aufbereiten des Buches vor manchen Irrwegen bewahrt haben!
Ich habe schon immer gerne debattiert und mich politisch gestritten. Den Grundstein dazu hat mein Vater gelegt. Die Auseinandersetzungen mit ihm über die Pershing-II-Raketen und ihre Stationierung auf der Schwäbischen Alb (gegen die ich mich als Teenager massiv und vehement und überhaupt gewehrt habe) haben mich nachhaltig geprägt. Unsere gemeinsamen Fahrten auf die Schwäbische Alb – er natürlich für die Stationierung, ich dagegen – waren legendär und haben mich politisiert.
Danken möchte ich meiner Familie. Sie ist mein Rückhalt und mein Zentrum – ohne euch in Stuttgart, Mannheim, Hofheim und im Sauerland wäre nicht nur dieses Buch nicht entstanden. Widmen möchte ich es meinen Lieben, den »drei Hesse’n«, Christian, Hanna und Lennard.
Streit – eines der Themen, zu denen jeder etwas sagen kann. Sobald wir lernen zu sprechen, beginnen wir zu streiten. Das Kind möchte sein Spielzeug nicht teilen, der Jugendliche abends länger unterwegs sein und der Partner gerne ein anderes Sofa. Uns fallen tausend Gründe ein, warum wir uns streiten. Mit Ratgeberliteratur über »richtiges« Streiten ließen sich ganze Bibliotheken füllen.
Auch dieses Buch widmet sich dem Streit. Aber anders. Streit, der nicht Schlafenszeiten und Möbeldesign zum Thema hat, sondern darüber entscheidet, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt. Politischer Streit also. Der politische Streit wird immer in Form der Debatte ausgetragen. Sie ist eine mehr oder weniger formalisierte Form des Streits und wird in den meisten Fällen öffentlich ausgetragen. Dabei wird nicht neutral diskutiert, sondern es bestehen klare Haltungen, die von den verschiedenen Streitenden vertreten werden. Ich behaupte, dass wir die Bedeutung von politischem Streit unterschätzen und ihn viel zu schnell als Störfaktor betrachten. Als etwas, das uns aufhält, Beschlüsse verzögert und am Ende Entscheidungen angeblich verwässert. Dabei brauchen wir ihn unbedingt und müssen ihn als Teil der demokratischen Errungenschaften neu zu schätzen lernen. Wir beobachten nämlich seit einiger Zeit, wie sich die Streit- und Debattenkultur fundamental verändert und der politische Streit als gestaltendes Element unserer Demokratie massiv an Bedeutung verliert. Die inhaltliche Auseinandersetzung tritt zurück und der Streit wird als Instrument der Selbstdarstellung missbraucht.
Nirgends lässt sich das so eindrücklich beobachten wie in den USA. Der amtierende US-Präsident Donald Trump ist die lebende Antithese zu diesem Buch. Er hat kein Interesse an der inhaltlichen Auseinandersetzung, sondern schürt Konflikte einzig und allein zu dem Zweck, seine Macht zu festigen. Die New York Times hat eine gigantische Webseite geschaffen, auf der sie alle Personen, Orte und Dinge sammelt, die Donald Trump allein über Twitter beleidigt hat.1 Besonders politische Gegner sind gefundene Zielscheiben für seine Attacken. Eine inhaltliche Auseinandersetzung? Fehlanzeige! Krawall und Polemik stehen im Mittelpunkt. Dass ein solches Verhalten kein Automatismus in der Politik ist, hat uns gerade die Erinnerung an seinen im Sommer 2018 verstorbenen Parteikollegen und erbitterten Konkurrenten John McCain vor Augen geführt. McCain war 2008 der republikanische Herausforderer Barack Obamas. In diesem Wahlkampf hatte McCain einen seiner stärksten Momente. Bei einem öffentlichen Auftritt wurde er von Unterstützern darauf angesprochen, dass Obama angeblich gemeinsame Sache mit inländischen Terroristen mache und er außerdem von arabischer Herkunft sei. Statt diese Steilvorlage aufzugreifen und die Stimmung weiter anzuheizen, blieb McCain ruhig. Unter den Buhrufen seiner Anhängerschaft antwortete er, Obama sei ein anständiger Mensch, Familienvater und Staatsbürger. Sie beide hätten in grundlegenden Punkten verschiedenen Ansichten, und das sei es, worum es im Wahlkampf gehe. Gegen den Widerstand seiner Anhänger bemühte sich McCain also, eine inhaltliche Debatte zu führen, statt auf Personalisierung und Polemik zu setzen. Selbstverständlich, so McCain, gehe er davon aus, ein besserer Präsident als Obama zu sein, aber niemand müsse sich davor fürchten, dass Obama ins Weiße Haus einziehen könnte.2 Mit diesem kleinen Beispiel möchte ich die Entwicklung verdeutlichen, die mich zu diesem Buch bewogen hat und die auch bei uns immer radikalere Züge annimmt.
Ende Juli 2018 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin der Spiegel eine Umfrage, in der 68 Prozent der Befragten eine Verrohung der politischen Debatte in Deutschland beklagten.3 Ein Jahr ist vergangen, seit die AfD in den Deutschen Bundestag einzog und Alexander Gauland ankündigte, dass man die Bundesregierung, »Frau Merkel oder wen auch immer« jagen werde. Nun sehen wir, wie in Chemnitz der rechte Mob Jagd auf all jene macht, die ihm nicht deutsch genug erscheinen.
Für mich ist klar, dass solche Phänomene ihre Ursache auch darin haben, dass wir verlernt haben zu streiten. Nicht mit unserem Partner, nicht mit unseren Kollegen, sondern als Gesellschaft. Und davon handelt dieses Buch. Ich möchte aufzeigen, warum wir den inhaltlichen, politischen Streit als Kern der Demokratie fördern und einfordern müssen. Dazu müssen wir uns damit beschäftigen, nach welchen Logiken Streit derzeit funktioniert und warum er den Anforderungen einer politischen Debatte oft nicht entspricht. Ein besonderer Schwerpunkt wird auch auf den neuen (medialen) Regeln der Empörungsdemokratie liegen.
Ich möchte Sie einladen, mich auf einen Streifzug durch bedeutende Debatten der Bundesrepublik zu begleiten und aktuelle Debatten auf ihren Streitwert hin zu überprüfen. Ich möchte Ihnen bedeutende Frauen und ihren Debattenstil vorstellen und deutlich machen, warum Frauen es häufig besonders schwer haben, sich in Debatten durchzusetzen. Mit alldem im Gepäck gebe ich Ihnen am Ende des Buchs meine Ideen für eine neue Streitkultur auf den Weg. Betrachten Sie diese als Diskussionsgrundlage. Denn wie jedes Thema profitiert auch der Streit von der Debatte.
Streit, Zwist und Zank, Widerrede, Kontroverse und Konflikt gehören fest zur Politik. So wie man sich den Sport nicht ohne Rivalität und Wettstreit vorstellen kann, ist es auch mit der Politik. Das ist gut so. Denn das Fundament der Demokratie ist die inhaltliche Auseinandersetzung. Streit eben: dessen Vorbereitung, Durchführung und Aufarbeitung. Streit ist der lebendige Kern jeder Demokratie. Auch wenn das einigen erst einmal befremdlich vorkommt, weil wir auf Harmonie getrimmt sind. »Bitte streitet Euch nicht«, »Lasst uns doch deswegen nicht streiten« oder auch »Der ist es nicht wert, dass man sich mit ihm streitet« – Sprüche wie diese kennen wir doch alle und bemühen sie sicher auch des Öfteren.
Demokratie lebt aber vom Streitpotential: Alle politischen Akteure stehen mit ihren Ideen, Vorhaben und Visionen in direkter Konkurrenz zueinander. Sie müssen den Wählern glaubhaft machen, dass ihre Vorschläge die besseren sind. Im Idealfall geschieht dies mit argumentativer und leidenschaftlicher Überzeugungsarbeit. Dann liegen die dissonanten Positionen im inhaltlichen Clinch. Das ist konstruktiver Streit in der Sache.
Politische Entscheidungen sind in aller Regel das Ergebnis längerer und manchmal auch kürzerer Kontroversen. Entscheidungen, die in Demokratien getroffen werden, gelten genau deshalb als legitimiert, weil sie öffentlich diskutiert und von der Öffentlichkeit gegen andere mögliche Entscheidungen abgewogen wurden. Decken sich die Entscheidungen nicht mit der öffentlichen Meinung, kommt es, im Idealfall, bei den nächsten Wahlen zu einem Wechsel.
Die Frage, welche Idee sich durchsetzen kann, ist nicht nur für das verhandelte Themenfeld relevant, sondern hat auch Auswirkungen auf zukünftige Wahlerfolge. Bei den politisch Tätigen geht es niemals »nur« darum, sich in einer bestimmten Sache durchzusetzen. Immer geht es auch darum, bei den nächsten Wahlen ein möglichst gutes Ergebnis zu erhalten. Das ist der politische Imperativ: Handle stets so, dass sich deine Chancen bei den nächsten Wahlen verbessern. Somit stehen die politischen Akteure in einem Spannungsverhältnis – sie müssen die Gegenwart gestalten und sich dabei gleichzeitig den Zuspruch in der Zukunft sichern. Diese Zweiseitigkeit hat für die Art unserer politischen Debatten eine hohe Relevanz. Im Laufe des Buches wird dies noch deutlicher werden.
Aber das ist nicht alles: Es gibt weitere Akteure, mit denen politische Eliten zwar nicht um Wählerstimmen, aber um die Deutungshoheit im Diskurs konkurrieren: andere Staaten, die politische Öffentlichkeit, also alle Akteure, die versuchen, ihre Interessen und Meinungen in gesamtgesellschaftlich bindende Entscheidungen zu überführen, die Medien, die Wirtschaft, die Intellektuellen, Kulturschaffende, Aktivisten, Nichtregierungsorganisationen und viele weitere. Die Anzahl an Anspruchsgruppen ist hoch und damit auch die Anzahl der möglichen Kombattanten auf einem politischen Konfliktfeld.
Zudem finden wir bei politischen Fragestellungen ungleiche und bisweilen unvereinbare Wertesysteme. In vielen Debatten können wir beobachten, wie sich Konflikte aufgrund unterschiedlicher Geisteshaltungen oder Ideologien entspinnen. Nach unzähligen Religionskriegen, zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg führen uns Terror und Kriege gegen den Terror bis heute vor, welches Konfliktpotential darin steckt. Es ist ein Leichtes, Menschen mit anderen Grundeinstellungen oder Anhänger anderer Weltanschauungen als Spinner, Eiferer, Unmenschen oder Extremisten zu bezeichnen. Dies stärkt den Zusammenhalt innerhalb der eigenen Gruppe, da man sich gemeinsam auf der »richtigen Seite«, bei den »Guten«, sieht. Der Gegner ist dann nicht mehr einer, gegen den man sich im öffentlichen Diskurs durchzusetzen hat, sondern ein Feind, den man mit allen Mitteln zum Schweigen bringen muss.
Die Abkehr von der politischen Konkurrenz treibt die gesellschaftliche Spaltung aber immer weiter voran, da einer gemeinsamen Debatte mehr und mehr der Boden entzogen wird. Das Streben nach Harmonie führt dann dazu, dass man sich einfach nur noch mit denen umgibt, die eine ähnliche Haltung haben wie man selbst. Im schlimmsten Fall wirft man der Konkurrenz moralisches Versagen vor, und der Konflikt wird auf der Ebene von Werten und Gefühlen ausgetragen. Über Wertesysteme lässt sich aber nicht streiten, da solche Systeme nicht per se objektiv richtig oder falsch sein können. Streiten lässt sich nur inhaltlich und auf der Basis einer empirischen Grundlage. Je weiter eine Debatte moralisiert wird, umso mehr wird sie auch entpolitisiert. Wenn aber Inhalte nicht mehr interessieren, treten konfrontative, unentscheidbare und sich im Kreis drehende Auseinandersetzungen zwangsläufig auf.
Das muss nicht automatisch in Vernichtungsfantasien und Terroranschlägen enden, ein produktiver und sachorientierter Streit ist dann aber nicht mehr möglich. Regelmäßig entspinnen sich etwa Debatten um Rüstungsexporte. Die Partei Die Linke ist in Deutschland ein erbitterter Gegner von Rüstungsexporten und bringt das Thema immer wieder auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestags. Zuletzt im Februar 2018 bei einer von der Partei beantragten Aktuellen Stunde mit dem Titel »Erneute Steigerungen bei Rüstungsexporten«. Die Linke nutzte die Gelegenheit, um ihre Forderung nach einem grundsätzlichen Verbot zu unterstreichen, und sprach davon, dass durch diese Exporte »Fürsten der Finsternis«4 beliefert würden. Redner der Regierungsparteien betonten hingegen, dass Waffen etwa an die Peschmerga geliefert würden, um den Völkermord an den Jesiden zu stoppen. Außerdem fielen auch geschützte Fahrzeuge unter die Waffenexporte, mit denen beispielsweise das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen versorgt würde.
Diese Debatten werden so grundsätzlich geführt, dass die Inhalte fast nebensächlich werden. Die Kontrahenten haben derart gegensätzliche Wertvorstellungen, dass sie einer sachlichen Argumentation kaum noch zugänglich sind. Jegliches Aufeinanderzugehen würde als Einknicken vor dem Gegner und als Verrat an der »guten Sache« gewertet.
Solche Streitfragen müssen politisch geklärt werden, weil es für sie keine objektiv richtigen Lösungen gibt, die sich herauskristallisieren, wenn man nur lang genug darüber nachdenkt. Es braucht den politischen Streit! Im Idealfall ist es ein Wettstreit von Argumenten, aus dem sich die Mehrheitsposition wie der Phönix aus der Asche herausbildet. Streit in der Demokratie ist deshalb kein Selbstzweck, sondern funktionaler Bestandteil. Er muss öffentlich ausgetragen werden. Schon allein und insbesondere, um dem politischen Publikum die Möglichkeit zu geben, alle Positionen gegeneinander abzuwägen. Dazu muss sowohl das verhandelte Thema als auch die eigene Argumentation von den Kommunikatoren möglichst anschaulich, überzeugend und auffällig aufbereitet werden. Das ist der Idealfall. Durch den öffentlich ausgetragenen Streit entsteht die Möglichkeit, sich zwischen den konkurrierenden Standpunkten für jenen zu entscheiden, der den eigenen politischen Vorstellungen am nächsten kommt oder der einen am meisten überzeugt hat.
Ohne den öffentlichen Streit kann sich so etwas wie eine öffentliche Meinung überhaupt nicht herausbilden. Die Komplexität der Themen auf der politischen Agenda macht eine intensive Auseinandersetzung für Nicht-Experten unmöglich. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Bevölkerung sich in kürzester Zeit eine Meinung zu Vorgängen wie der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 bildet, ohne dass zunächst eine Einordnung vorgenommen wird. Selbstverständlich wird ein Laie auch durch öffentlich ausgetragenen konstruktiven Streit nicht plötzlich zum Finanzexperten, doch er wird immerhin merken, welche Schwerpunkte die unterschiedlichen Kontrahenten setzen. Betont jemand die Solidarität mit anderen EU-Staaten oder fokussiert er sich auf die Kosten, die für den eigenen Staatshaushalt entstehen? Die Streitenden nehmen eine Komplexitätsreduktion vor, die es einer breiten Öffentlichkeit erst ermöglicht, eine eigene Haltung zu einem Thema zu entwickeln. Der Streit bietet somit eine Orientierungshilfe, indem er die Sprecher zwingt, zu erklären, warum welche Veränderungen notwendig sind. Diese Erklärungen richten sich nicht zwangsläufig und selten ausschließlich an den direkten Kontrahenten, sondern immer auch an die Öffentlichkeit. Auch dadurch unterscheidet sich der politische Streit vom Streit, wie wir ihn aus den eigenen vier Wänden kennen. Im Privatleben versucht man, den Konflikt möglichst im Verborgenen auszutragen. Egal ob sich Freunde, Kollegen oder Paare streiten: Meist geht es darum, dem Gegenüber zu zeigen, dass man im Recht ist, und nicht einem Publikum, das den Streit aufmerksam verfolgt.
Hier wie auch bei demokratischen, politischen Auseinandersetzungen ist das Endergebnis meist ein Kompromiss. Kompromisse sind konstitutive Bestandteile jeder pluralen Demokratie und können nur im Rahmen einer Auseinandersetzung entstehen. Dabei ist es möglich, dass beide Seiten gewinnen, beide Seiten ein Stück weit aufeinander zugehen oder dass ein Akteur deutlich weiter von seinen ursprünglichen Forderungen zurücktritt als ein anderer. So gut wie nie passiert es, dass die Streitenden mit exakt der gleichen Position aus einem Streit herauskommen, mit der sie ihn begonnen haben. Wenn der eigene Vorschlag von anderen kritisiert wird, setzt man sich auch selbst noch intensiver damit auseinander, hinterfragt Altbewährtes und wagt sich auf etwas andere oder ganz neue Pfade. Selbst wenn sich ein Akteur auf ganzer Linie durchsetzt, wird sich seine Position verändert haben. In der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner kristallisiert sich der eigene Standpunkt deutlicher heraus. Die Antagonisten zwingen sich gegenseitig dazu, das Thema besser zu kontextualisieren, die eigene Position zu schärfen und ihre Lösungsvorschläge zu konkretisieren, um sich im Wettstreit der Alternativen durchzusetzen.
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