Greg James & Chris Smith
KID NORMAL
Die Schurken sind los!
Ebenfalls von Chris Smith und Greg James bei Arena:
Kid Normal. So sehen Helden aus!
Chris Smith
wuchs auf dem abgelegenen Bauernhof seines Onkels auf. Sein Leben änderte sich von Grund auf, als sie eines Tages zwei Roboter kauften … Ach nein, das ist ja Luke Skywalker. Chris ist preisgekrönter Journalist und Radiomoderator sowie bestens bekannt für seine tragende Rolle als Stein im Krippenspiel der Park Infant School im Jahr 1979. In seiner Freizeit schreibt er Bücher. Und wenn dann noch etwas Zeit übrig ist, verbringt er sie liegend in einem abgedunkelten Raum. Chris lebt im Norden von London, zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und einer Katze namens Mabel, die Suppe mag.
Greg James
ist Moderator auf BBC 1 und präsentiert u. a. die offiziellen britischen Charts. In seiner Freizeit schaut er sich zusammen mit seinem Dad gerne Kricketspiele an. Greg lebt ebenfalls im Norden von London, hat zwar seit Neuestem auch eine Ehefrau, aber keine Katze. Den Hund seiner Frau leiht er sich gerne für Instagram-Likes aus. Ob Bonnie Suppe mag, weiß er nicht, aber das bringt ihn auf eine Idee … KID NORMAL ist das erste gemeinsame Buch der beiden, das international große Aufmerksamkeit bekam und in sechzehn Sprachen übersetzt wurde.
Raimund Frey,
geboren 1982 in Isny im Allgäu, hat schon seit frühester Kindheit mit großer Begeisterung den Malstift geschwungen und alles vollgekritzelt, was ihm unter die Finger kam. Nach der Schule verschlug es ihn nach Mainz, wo er Kommunikationsdesign an der FH für Gestaltung studierte. Nach dem Diplomabschluss machte er sich selbstständig und arbeitet heute als Freelancer, u. a. im Bereich Buchillustration, Storyboardzeichnungen, Comic und Fantasy.
Die Schurken sind los!
Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis
Mit Illustrationen von Raimund Frey
Über dieses Buch:
Murphs Leben als Normalo-Superheld ist aufregend – und voller Fragen: Bekommt er jetzt ein Heldenkostüm? Einen Gürtel mit coolen Waffen? Oder zumindest einen Butler, der Ratschläge erteilt, wenn ihm das Heldendasein mal über den Kopf wächst? Inzwischen kennen Murph und die Supernullen die Antworten auf all diese Fragen. Sie lauten – in beliebiger Reihenfolge – nein, nein und nein. Als sich tief unter dem Gefängnis für abtrünnige Superhelden etwas Unheilvolles zusammenbraut, müssen die Supernullen ihre mehr oder weniger brauchbaren Kräfte vereinen. Denn die Elster, der größte Schurke, den die Welt je gesehen hat, verlangt nur eines: „Bringt mir Kid Normal!“
Für Sylvia Bushell
1920–2017
Eine wahre Heldin
1. Auflage 2019
© Greg Milward and Chris Smith 2018
This translation of Kid Normal and the Rogue Heroes is published by arrangement with Bloomsbury Publishing Plc.
Seite 139 – Parodie auf Die Eiskönigin – Völlig unverfroren; Die Eiskönigin – Völlig unverfroren® is a registered trademark of Disney Enterprises Inc.
Princess Elsa and other Disney Frozen characters © 2013 the Walt Disney Company Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis
Covergestaltung und Innenillustrationen: © Raimund Frey
Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH
E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing GmbH, Dortmund, www.readbox.net
E-Book ISBN 978-3-401-80814-7
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Eine für das Leid,
zwei fürs Glück,
drei für ein Mädchen
und vier fürs Gegenstück.
Fünf für das Silber,
sechs fürs Gold
und sieben für mein Geheimnis,
das keiner kennen sollt.
1
Der Schatz von Amasis
Ein Team von Superhelden auf Verbrecherjagd anzuführen, ist gar nicht so leicht – vor allem, wenn du es vor deiner Mum geheim halten musst.
Wenn man dann auch noch bis halb neun zu Hause sein soll, dachte Murph Cooper mit einem Blick auf seine Uhr, wird es ganz schön knifflig.
Murph hatte seiner Mum versprechen müssen, rechtzeitig zum traditionellen Fast-Food-Essen zu Hause zu sein, das es immer am letzten Tag der Sommerferien gab. Inzwischen war es bereits zwanzig vor acht und er hatte noch nicht einmal damit angefangen, die Welt zu retten.
»Showtime«, sagte Murph zu seinem Team. »Los geht’s!«
Die fünf Mitglieder der Supernullen schlichen den Kiesweg entlang. Vor ihnen ragte ein eindrucksvolles Gebäude auf. An dem Messingknauf der breiten Flügeltür hing ein großes Schild. Darauf stand: MUSEUM GESCHLOSSEN.
Murph gab den anderen ein Zeichen und gemeinsam gingen sie hinter einem prachtvollen Brunnen in Deckung.
»Wir sind da«, wisperte er über das Plätschern des Wassers hinweg.
»Mit wem haben wir es diesmal zu tun?«, fragte Mary. Ihr gelber Regenmantel leuchtete im Licht der Abendsonne. »Liefert der HELO-Transmitter zur Abwechslung mal nützliche Informationen?«
Murph zog ein Gerät aus der Tasche, das auf den ersten Blick wie ein Handy aussah, und starrte auf das grün schimmernde Display. Ganz oben flimmerte ein Lauftext: RAUB ÜBERFALL … TÄTER NEUTRALISIEREN.
Darunter war eine Karte zu sehen, auf der das Museum mit einem blinkenden Blitzsymbol markiert war. Gleich daneben kennzeichnete ein N mit kleinen Flügeln ihre eigene Position. Bei dem sogenannten HELO-Transmitter handelte es sich um einen speziellen Apparat, mit dem die Supernullen und der Geheimbund sich bei Missionen verständigen konnten. Murph hatte das Gerät vor einigen Monaten von Miss Flint bekommen, der Chefin des Geheimbunds. Damals waren die Supernullen als jüngste Mitglieder in diese legendäre und geheimnisumwobene Organisation aufgenommen worden. Murph dachte an den Tag zurück. Die Supernullen hatten nicht gewusst, was sie erwartete. Wie geht es weiter, nachdem man ein Superheld geworden ist? Gibt es ein Spezialgeschäft für Heldenkostüme? Bekommt man einen Gürtel mit coolen Waffen und dazu jede Menge tolles Zubehör? Hat man plötzlich einen runzligen alten Butler zu Hause, der kluge Ratschläge erteilt, wenn einem das Heldendasein mal über den Kopf wächst?
Inzwischen kannte Murph die Antworten auf all diese Fragen. Sie lauteten – in beliebiger Reihenfolge – Nein, Nein und Nein.
Soweit Murph das beurteilen konnte, hatte die heutige Welt der Helden nicht mehr viel mit dem »Goldenen Zeitalter« vergangener Jahrzehnte zu tun. Inzwischen arbeiteten Helden nur noch im Verborgenen. In Zeiten, in denen Menschen sich vor allem fürchteten, was anders oder schwer verständlich war, würde ein Superheld in Aktion vermutlich eine Massenpanik auslösen. Daher erfüllten die Helden ihre Missionen verdeckt, während der Geheimbund ihnen nur die notwendigsten Informationen zur Verfügung stellte. Es gab keine jubelnden Menschenmengen mehr, keine Zeitungsschlagzeilen und schon gar keine Kostüme. Und doch hatte das grüne Licht des HELO-Transmitters diesen Sommer schon ein paar Mal aufgeleuchtet – das Zeichen dafür, dass der Geheimbund einen Auftrag für die Supernullen hatte. Kostüm hin oder her, Murphs Herz hatte dabei jedes Mal einen kleinen Hüpfer gemacht wie ein übermütiges Lämmchen auf der Wiese.
»Wir wissen nur, dass Diebe im Museum sind«, sagte er zu Mary und betrachtete nachdenklich die geschlossene Tür. »Den Haupteingang können wir nicht nehmen. Die Einbrecher würden uns sofort entdecken.«
Es war schwül. Murph zupfte an seinem T-Shirt, das ihm am Rücken klebte, und überlegte, wie sie ins Museum gelangen könnten. Sein Blick glitt über die sandfarbene Fassade. Hoch oben entdeckte er ein Fenster, das einen Spalt geöffnet war. Darunter befand sich ein breiter Sims und daneben blinkte das rote Licht einer Überwachungskamera.
»Nellie«, flüsterte Murph und drehte sich zu dem Mädchen um, das ganz hinten stand. »Wir müssen die Kamera ausschalten.«
Nellie, die trotz der Hitze wie immer zerrissene Jeans und einen Schlabberpulli trug, streckte wortlos den Daumen hoch und trat hinter dem Brunnen hervor. Dann huschte sie von einem Busch zum anderen, um nicht von der Kamera erfasst zu werden. Vor dem Gebäude hob sie den Arm und hielt die Handfläche hoch.
Die Wolken über dem Museum verdunkelten sich. Donner grollte und plötzlich schlug ein Blitz in die Kamera ein. Funken sprühten, dann sauste die Kamera in die Tiefe. Vom Himmel schoss noch ein kleinerer Blitz auf Nellie herab und verschwand in ihrer Hand. Blaue Flammen tanzten über ihre elektrisch aufgeladenen Finger.
Nellie zerschnitt mit ihrer leuchtenden Hand die Luft, dann legte sie die Finger um die Augen wie ein Fernglas, um ihren Freunden zu signalisieren: »Kamera aus.« Aufgeschrieben klingt das total bescheuert, aber versuch’s mal selbst, dann weißt du, was wir meinen.
»Gut gemacht, Nellie!«, rief Murph, während alle zu ihr rannten. »Okay, jetzt nichts wie rein.« Er wandte sich an Mary. »Wärst du bitte so nett?«
Mary nickte. Sie zog einen gelben Schirm aus der Tasche ihrer Regenjacke und drückte den Knopf am Griff. »Festhalten!«
»Oh nein! Wen sollen wir festhalten, den Dieb? Wo ist er?!«, fragte Billy, der immer schnell in Panik geriet.
Mary blickte ihn stirnrunzelnd an. »Nein, ihr sollt meinen Schirm festhalten …«, erklärte sie betont langsam.
Billy verzog den Mund. Das internationale Zeichen für: »Ups, sorry!«
Alle umklammerten den Griff des Schirms, dann hoben sie ab wie … puh, das ist gar nicht so leicht, einen passenden Vergleich zu finden. Sie sahen aus wie eine fliegende Traube aus Kindern. Oder wie fünf kinderförmige Fische an einem überdimensionierten Angelhaken. Vor allem aber wie fünf Kinder, die sich an einem fliegenden Schirm festhielten.
Mary steuerte den Fenstersims an.
»Was meint ihr, worauf haben es die Diebe abgesehen?«, fragte Murph, während sie immer höher stiegen. Er wohnte noch nicht lange in der Stadt und bisher hatte er nicht einmal gewusst, dass es hier ein Museum gab. »Ist dadrin etwas besonders Wertvolles ausgestellt?«
Seine Freunde zuckten mit den Schultern.
»Angeblich gibt es hier eine Dauerausstellung über die Geschichte des Käsehobels«, flüsterte Billy.
»Mein Dad ist total begeistert von der Sammlung alter Holzblasinstrumente«, sagte Hilda, das fünfte Mitglied der Supernullen. Ihre roten Locken kitzelten Murphs Nase. »Das Museum besitzt das älteste Fagott der ganzen Region«, fügte sie aufgeregt hinzu.
Murph verzog das Gesicht. »Ich glaube nicht, dass jemand das klauen will«, erwiderte er. »Und falls doch, dann wäre die Stadt den Dieben vermutlich sogar dankbar. Ich schlage vor, wir gehen rein und sehen uns ein bisschen um.«
Die fünf Supernullen landeten auf dem Sims und kletterten nacheinander durch das offene Fenster in einen dämmrigen Raum. An den Wänden reihten sich Glasvitrinen, in denen Hüte ausgestellt waren.
Du hast richtig gelesen: In einem Museum, das eine Käsehobelsammlung zu bieten hatte, waren die Supernullen ausgerechnet in der Hutabteilung gelandet – dem langweiligsten Raum des ganzen Museums und vielleicht sogar der ganzen Welt.
»Das ist echt zum Gähnen«, murmelte Murph, während er den Text auf der Schrifttafel neben einer Vitrine las.
Diesen Hut trug Sir Thomas Wimpole am Tag der Hochzeit seiner Nichte dritten Grades mit dem Herzog von Carlisle. Das Exponat stellt ein Glanzstück der Hutmacherkunst aus der Spätzeit der Regency-Epoche dar. Die Kopfbedeckung ist aus feinstem kanadischem Otterleder gefertigt und mit kunstvollem Besatz aus Mäusefell verziert. Himmel noch mal, Murph, warum liest du die Beschreibung zu diesem lächerlichen Hut?
Erst nach ein paar Sekunden fiel Murph auf, dass der letzte Satz gar nicht auf dem Schild stand. Mary hatte ihm die Worte ins Ohr gezischt.
»Tut mir leid«, sagte er. »Wer aus diesem Museum etwas klauen will, hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
»Die Einbrecher sind nicht hinter Hüten her …«, fing Maryan.
»Natürlich nicht. Wer will bei dieser Hitze schon einen Hut tragen?«, meldete Billy sich zu Wort. »Da schwitzt man doch total am Kopf.«
»Nein, das meine ich nicht. Die Hüte sind keine wertvolle Beute, aber …«, setzte Mary erneut an.
»Ist das nicht ein toller Hut?«, rief Hilda und drückte ihre Nase an einer Vitrine platt. »Er ist wunderschön! Ein Pferdehut aus den 1920er-Jahren! Er hat sogar zwei Löcher für die kleinen Ohren.« Billy und Nellie eilten zu ihr. Selbst Marys Neugier schien geweckt zu sein.
Als Anführer eines Heldenteams auf Verbrecherjagd hat man es wirklich nicht leicht, dachte Murph. Man muss zum Beispiel aufpassen, dass sich nicht plötzlich alle von verrückten Hüten ablenken lassen.
»Können wir uns bitte wieder auf unsere Mission konzentrieren?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Mary wollte gerade etwas Wichtiges sagen.«
»Ach ja, stimmt«, erwiderte Mary. »Die Diebe haben es vermutlich auf das hier abgesehen …« Sie deutete auf ein buntes Plakat neben der Tür.
DER SCHATZ VON AMASIS
Bewundern Sie die kostbaren Juwelen aus dem Grab eines ägyptischen Pharaos!
NUR DIESE WOCHE ZU BESICHTIGEN.
Zweiter Stock
Die Supernullen sahen einander mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Oooohhhh«, hauchten sie wie aus einem Mund, als allen gleichzeitig ein Licht aufging. Mary nickte zufrieden.
Hilda warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf den Pferdehut, dann schlichen die Supernullen zur Tür hinaus.
Der Flur lag im Dunkeln, aber am anderen Ende war eine große Treppe zu erkennen, die in den zweiten Stock hinabführte. Von dort drangen Schritte und leises Klimpern herauf – Geräusche von jemandem, der etwas im Schilde führte.
Murphs Blick fiel auf ein rot leuchtendes Display an der Wand, das plötzlich grün aufblinkte. ALARMSYSTEM DEAKTIVIERT war dort jetzt zu lesen.
Zielstrebig lotste Murph die Supernullen zur Treppe. Als sie vorsichtig über das Geländer spähten, hörten sie von unten gedämpfte Stimmen und sahen den umherwandernden Lichtkegel einer Taschenlampe. Dann gurrte eine Frauenstimme: »Kommt zu Tantchen, meine Süßen …«
Murph verspürte einen Schauder in seinem Nacken, kalt wie eine Kugel Schokoeis. Wie irre, bitte schön, war eine Diebin, die sich selbst als »Tantchen« bezeichnete?
Er machte eine Geste, als würde er mit einem Reißverschluss seinen Mund verschließen, dann wagte er sich als Erster die dunkle Treppe hinab …
Penelope Travers besaß eine der bedeutendsten Sammlungen ägyptischer Antiquitäten im ganzen Land. Nun ja, genau genommen war sie nicht die Besitzerin, denn das meiste davon war geklaut. Auf dem Anwesen der Familie Travers befand sich jedenfalls eine große Sammlung ägyptischer Antiquitäten und heute Abend würden noch weitere Stücke hinzukommen.
Die Augen der Diebin glänzten wie rohe Hackfleischbällchen, während sie durch den Ausstellungssaal watschelte und gierig die funkelnden Schätze in den Glasvitrinen beäugte. »Hast du den Alarm deaktiviert, Hugo?«, blaffte sie.
»Ja, Tantchen«, antwortete ein piekfein gekleideter junger Mann, der sich gerade an einem Schaltbrett in der Wand zu schaffen machte und bei ihrer Frage erschrocken zusammengezuckt war. »Alles paletti. Lass uns die Sache rocken!«
»Red nicht so dumm!«, bellte Penelope und fuchtelte mit ihrem dicken Zeigefinger, an dem mehrere protzige Ringe steckten. »Wo ist mein anderer Neffe? Komm her, du tollpatschiger Trampel!«
Eine dritte Gestalt stapfte heran. Es war ein schwabbeliger junger Kerl, dessen Bauch alles daransetzte, das T-Shirt zum Platzen bringen – und es beinahe schon geschafft hatte.
»Hast du die Taschen dabei, Rupert?«, fragte Penelope.
»Jep«, antwortete ihr Neffe. Er war nicht gerade von der gesprächigen Sorte.
»Dann wollen wir mal ein paar Schönheiten für meine Sammlung auswählen«, wisperte Penelope Travers. »Am besten, wir fangen mit dem Miezekätzchen dort drüben an.«
Schnaufend trat sie an ein Podest in der Mitte des Raums, auf dem eine goldene Katze mit grünen Edelsteinaugen stand. »Komm zu Tantchen!«, säuselte sie und streckte ihre Patschehand nach der Statue aus.
In diesem Moment wurde sie von einem seltsamen Geräusch abgelenkt. Es hörte sich an wie das Hufgetrappel eines winzigen Pferdes – was völlig unmöglich war. Die Möchtegernkatzendiebin warf einen Blick über die Schulter, konnte jedoch im Halbdunkel nichts erkennen.
Als sie sich wieder umwandte, war die goldene Katze verschwunden.
»Wo ist sie hin?«, kreischte Penelope. Sie beugte sich über das Podest und schaute sich hektisch um, als wäre die Goldstatue wie eine lebendige Katze davonstolziert und würde jetzt irgendwo sitzen und ihr Hinterteil lecken.
In einer Ecke des Saals blitzte etwas Gelbes auf. Penelope verengte die Augen zu Schlitzen. »Da ist jemand! Ru-PERT! Schnapp ihn dir!«
»Mit Vergnügen, Tantchen«, grunzte Rupert. Er stapfte hinüber zu einem riesigen Goldsarkophag. Auf einem Schild war zu lesen:
Mumie von Pharao Amasis
NICHT BERÜHREN!
»Da ist niemand, Tantchen. Nur eine Mumie!«, rief Rupert.
»Sperr die Augen auf und schau genauer hin!«, ertönte Penelopes herrische Stimme hinter den Vitrinen. »Hier schleicht ein Eindringling herum!«
Rupert streckte die Hand nach dem Deckel des aufgerichteten Sarkophags aus, um nachzusehen, ob sich jemand darin versteckte.
»Huhu, Mumie! Komm zu Papa«, murmelte er. Kein Wunder, dass alle froh waren, wenn er die Klappe hielt.
Plötzlich schwang der Sarkophagdeckel auf. Zerfledderte Bandagen flatterten heraus wie Luftschlangen bei einer gruseligen Geburtstagsparty. Rupert schrie auf, als die Überreste von Pharao Amasis aus dem Sarg sprangen und wie ein riesiger Luftballon auf ihn zuschwebten.
Zu Tode erschrocken stieß er seine Tante beiseite und stürzte Hals über Kopf davon.
Aus seinem Versteck hinter dem Sarkophag sah Billy zu Murph hinüber, der nicht weit entfernt hinter einer Sphinx in Deckung gegangen war. Mit seinem übergroßen Daumen gab er ihm ein »Daumen hoch«-Zeichen.
Penelope Travers’ zweiter Neffe Hugo hatte entsetzt mit angesehen, wie sein Bruder, der viel größer und stärker war als er, panisch die Flucht ergriffen hatte. Er wollte sich ebenfalls Richtung Tür verdrücken, doch seine Tante machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
»Nicht so schnell!«, fauchte sie ihn an. »Ich bin nicht hier eingebrochen, um mit leeren Händen wieder abzuhauen. Los, hol mir etwas von den alten Schätzchen! Aber dalli!«
Hugo fürchtete sich vor aufgepusteten Mumien, aber noch mehr fürchtete er sich vor aufbrausenden Tanten. Zaghaft wagte er sich ein paar Schritte vor. Sein Plan war, sich blitzschnell etwas zu schnappen und damit sofort die Biege zu machen. Sein Blick fiel auf einen blank polierten Krug, der auf einer Vitrine stand. Er griff danach, als im selben Moment eine Hand hinter der Vitrine hervorschoss und gleichzeitig mit ihm den Krug berührte. Elektrisch sirrende Blitze überzogen das Metall wie ein feines blaues Netz. Hugo zuckte und zappelte, denn jetzt bekam er Nellies eingefangenen Blitz zu spüren. Er riss seine Hand weg und floh wie sein Bruder die Treppe hinunter.
»Diese Tölpel sind zu nichts zu gebrauchen«, schnaubte Penelope. Energisch straffte sie die Schultern. »Immer muss man alles selber stehlen.«
Sie ging zur nächsten Vitrine, in der verschiedene Tierskulpturen ausgestellt waren: Krokodile, Katzen, Schlangen und ganz vorne zwei kleine Pferde.
»Halt! Keine Bewegung!«, ertönte eine Stimme hinter ihr. Penelope wirbelte herum.
Im Türrahmen stand ein Junge. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt – eine international bekannte Heldenpose. Seine Haare waren zerzaust und seine Jeans schmuddelig, doch sein Blick war gelassen und selbstbewusst.
»Wer bist du? Wachtmeister Winzig?«, höhnte die siegessichere Diebin.
»Keine Ahnung, was Sie meinen«, erwiderte Murph. »Aber Ihr kleiner Einkaufsbummel ist zu Ende.«
»Das bezweifle ich«, sagte Penelope, um Zeit zu schinden. »Ganz im Gegenteil! Ich werde jetzt diese antiken Statuen einpacken und schnurstracks zur Tür hinausmarschieren. Und du kannst nichts dagegen tun!«
Sie schnappte sich die beiden Pferdchen aus der Vitrine und eilte zum Ausgang.
Am Treppenabsatz hielt sie inne, um ihren Triumph auszukosten. Jetzt, da sie wusste, dass nur ein mickriger kleiner Junge für das Durcheinander verantwortlich war, sah sie sich in Gedanken schon zu Hause bei einer Tasse Tee mit ihren antiken ägyptischen Pferdestatuen.
»Hü-hott, du hübsches Pferdchen«, flötete sie und hielt eine der Statuen hoch, um sie in Augenschein zu nehmen. »Jetzt galoppieren wir los. Wir lassen uns doch nicht von so einem lächerlichen Zwerg aufhalten!«
Und noch während Penelope darüber staunte, wie außergewöhnlich lebensecht die Statue war, reckte das Pferdchen den Hals und biss sie in die Nase. Die Diebin schrie auf und schleuderte das kleine Figürchen von sich.
»Was fällt Ihnen ein?«, kreischte Hilda. Sie stürzte hinter einem Bücherregal hervor und rannte zu dem Pferdchen, das sich in einer schwungvollen Bewegung vom Boden aufrichtete.
»Artax, geht es dir gut?«, flüsterte sie. Das kleine Pferd wieherte. Wütend funkelte Hilda Penelope an. »Wie können Sie es wagen, meinen Pferden wehzutun?!«
Da merkte Penelope, dass sie ja noch die zweite Statue in der Hand hielt … und heulte im selben Moment auf. Das kleine Pferd hatte plötzlich eine elegante Pirouette gemacht und ihr einen kräftigen Huftritt gegen das Kinn versetzt. Die Diebin verlor das Gleichgewicht und stürzte mit rudernden Armen die Treppe hinunter. Ihr Gesicht schwabbelte wie ein Wackelpudding auf einer Waschmaschine im Schleudergang.
Die Supernullen rannten zur Treppe und blickten auf die bewusstlose Einbrecherin hinunter.
»Gut gemacht, Hilda«, sagte Mary. Den Regenschirm in der einen Hand, die goldene Katzenstatue in der anderen, kam sie von der Decke herabgeschwebt. »Und die aufgeblasene Mumie war echt super, Billy.«
Billy grinste übers ganze Gesicht. »Das war Murphs Idee.«
»Wie die meisten besten Einfälle«, erwiderte Mary. Alle drehten sich zum Anführer des Teams um.
Murph wurde rot. Verlegen hob er den HELO-Transmitter, um den Erfolg ihrer Mission zu melden. »Geheimbund, hier die Supernullen. Verdächtige im Museum neutralisiert. Bitte C.A.M.T. verständigen.« Nachdem er die Nachricht durchgegeben hatte, blickte er seine Freunde zufrieden an. Sie hatten ihre Sache richtig gut gemacht.
»Verstanden«, antwortete eine ruhige Stimme aus dem Transmitter. »Die Polizei wird bald eintreffen. Zieht euch zurück und passt auf, dass euch niemand sieht. Gute Arbeit, Supernullen!«
Nachdem das Display erloschen war, blickte Murph auf seine Armbanduhr. Es war 20 Uhr 25.
»Mist! Ich komme zu spät zum Abendessen!«
Mary pflumpfte ihren Regenschirm. »Soll ich dich mitnehmen?«
Vor dem Museum waren Polizeibeamte gerade dabei, Penelope Travers in einen vergitterten Wagen zu verfrachten.
»Da waren Kinder«, stammelte die Diebin. »Mindestens zwei. Eines von ihnen war elektrisch aufgeladen. Und das andere hatte Pferde dabei! Winzige Pferde! Eines der kleinen Biester hat mich sogar gebissen!«
»Aber sicher doch. Wir kümmern uns unverzüglich darum«, machte sich der Polizist neben ihr über sie lustig. Er würde ein paar Wochen später eine Medaille verliehen bekommen, weil er eine der berüchtigtsten Einbrecherinnen des ganzen Landes festgenommen hatte. »Keine Sorge, wir setzen die Pferdchenspezialeinheit darauf an. Und jetzt ab in den Wagen.«
Er half der laut zeternden Penelope in den Polizeiwagen und bemerkte daher nicht, dass hoch über ihm etwas Gelbes vom Fenstersims aufstieg und in einer tief hängenden Wolke verschwand.
Murph hielt den Blick fest auf die Tautropfen gerichtet, die in Marys Haaren und auf ihrem Wollschal glitzerten, während sie mit ihm durch die Wolkendecke schwebte und über die Stadt hinwegflog. Mit einer Hand hielt Mary sich am Schirm fest, den anderen Arm hatte sie um Murphs Taille gelegt. Vom Westen her tauchte die untergehende Sonne die Wolken in ein zartes Rosa. Der Himmel sah aus wie eine Riesenportion Kartoffelbrei, die hauchfein mit Erdbeerzuckerguss besprenkelt war – was vermutlich grässlich schmeckt, aber wunderschön aussieht.
Murph verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Vor einigen Monaten hatte Mary ihn vor dem Asphalttod bewahrt, indem sie seine Hand gepackt und ihn in Sicherheit geflogen hatte. Seither schoss der Zeiger seiner Verlegenheitsskala jedes Mal in die Höhe, wenn er mit Mary allein war. Als die beiden jetzt schweigend über rosig weiße Wölkchen schwebten, näherte sich der Zeiger unaufhaltsam der Elf.
Um die Anspannung zu durchbrechen, fragte Murph: »Also, ähm, wie läuft’s mit deinem neuen Schirm? Hast du nicht gesagt, du könntest jetzt auch ohne ihn fliegen?«
»Ach, mit dem Schirm ist es einfach leichter. Er hilft mir, mich zu konzentrieren, verstehst du?«, antwortete Mary.
Murph verstand es nicht, aber vor lauter Erleichterung darüber, dass die peinliche Stille durchbrochen war, verfiel er völlig grundlos in ein nervöses Lachen, das wie ein Wiehern klang.
Mary musterte ihn wissend. »Genug geplaudert, sonst kommst du tatsächlich noch zu spät.« Mit diesen Worten setzte sie zum Sinkflug durch die erdbeerrot gesprenkelten Wolken an.
Um 20 Uhr 30 stieß Murphs Mum die Haustür auf und blickte wütend die Straße hinunter.
»Murph!«, zerriss ihr Ruf die Abendstille.
»Ja?«, flötete eine unschuldige Stimme hinter ihr. Murphs Mum drehte sich um und sah ihren jüngsten Sohn die Treppenstufen herabhüpfen wie ein unbekümmerter Kobold, der schon seit Stunden brav zu Hause gewesen ist.
»Ähm … Oh. Ich habe dich gar nicht hereinkommen hören«, sagte sie überrascht. »Sei’s drum. Es ist der letzte Ferientag und ich habe uns etwas zu essen geholt. Beeil dich, bevor dein Bruder alle Krabben-Cracker aufgefuttert hat.«
»Lass was für mich übrig, Andy, du gieriger Riesenelefant!«, rief Murph und sauste Richtung Küche.
Was für ein Abend!, dachte er. Erfolgreich einen Diebstahl vereitelt und rechtzeitig zum Zitronenhähnchen wieder daheim. Vielleicht ist das Leben als Held doch nicht so schwierig wie gedacht.
Noch ahnte Murph nicht, wie sehr er sich irrte.
★ ★ ★
Weit, weit weg saß ein Mann in Schwarz auf dem kalten Steinboden seiner Zelle und lauschte.
Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und die Augen geschlossen, während sein superfeines Gehör die Welt hoch über ihm abhorchte. Er empfing etliche Signale – wie eine Radioantenne, die nach der richtigen Frequenz sucht. Er hörte Worte, die kilometerweit entfernt gesprochen wurden, und filterte die Gesprächsfetzen wie den Schlamm eines Flusses, aus dem man Goldklumpen siebt.
Seit Jahren lauschte er bereits und nie war etwas Brauchbares dabei gewesen. Jetzt aber nahm er eine Veränderung wahr. Er konnte es in der salzigen Luft riechen wie den Wechsel von Ebbe zu Flut.
Seine Zeit war gekommen. Er war bereit, sein Werk zu vollenden.
Der Mann in Schwarz schlug die Augen auf – sein Blick war grausam und kalt. Er streckte eine fahle, spindeldürre Hand aus und griff nach einem kleinen Stein.
In den zerschlissenen schwarzen Kleidern sah er aus wie ein uralter Vogel, während er sich nun mit krummem Rücken vorbeugte und mit dem Stein etwas auf den Granitboden schrieb. Bei jedem Buchstaben zerriss ein grässliches, durchdringendes Quietschen die Stille – aber außer ihm war keiner da, der es hörte. Seit dreißig Jahren hatte niemand seine Zelle betreten.
Doch das würde sich bald ändern.
Der Mann hielt erst inne, als der Steinboden von krakeligen, großen Buchstaben bedeckt war.
Er hörte das Surren der Überwachungskamera, die langsam heranzoomte und seine Nachricht an die Außenwelt übermittelte.
Auf dem Steinboden war zu lesen:
ICH BIN BEREIT ZU REDEN.
BRINGT MIR KID NORMAL.
2
Mr Flashs emotionale Antilope
Am ersten Morgen des neuen Schuljahres wurde Mr Iain Flash um fünf Uhr morgens von einem hübschen, flauschigen Zaunkönig geweckt. Der zwitschernde Vogel saß vor seinem Schlafzimmerfenster auf einem vom Morgentau benetzten Ast und begrüßte mit seinem Lied den wunderschönen neuen Tag.
»HALT DEINEN SCHNAAABEL!«, brüllte Mr Flash den unschuldigen Piepmatz an.
Der Zaunkönig plumpste vor Schreck erstarrt zu Boden. (Allen Vogelfreunden sei versichert, dass der kleine Kerl sich rasch wieder erholte.)
Wütend stapfte Mr Flash zurück zu seinem Bett und stieß sich dabei den Zeh an einer schweren Hantel an. Er blickte in den Spiegel und striegelte seinen großen roten Schnurrbart mit einem speziellen Schnurrbartkamm. Danach begann er mit seinem morgendlichen Krafttraining. Zuerst machte er fünfzig Liegestütze und fünfzig Hampelmänner, bevor er die Treppe hinunterpolterte, um seine Joggingrunde zu drehen.
Er schlug die Haustür hinter sich zu und blinzelte schlecht gelaunt die aufgehende Sonne an, als würde sie ihn absichtlich blenden, nur um ihn zu ärgern. Dann raste er los … und war im nächsten Moment auch schon verschwunden. Nur eine feine Staubwolke hing in der Luft.
Mr Flash war Lehrer an Murphs Schule. Ihn konnte Murph am allerwenigsten leiden, denn Mr Flash ließ keine Gelegenheit aus, ihn zu schikanieren. Und alles nur, weil Murph keine Superkräfte hatte – oder Capes, wie man es in der Geheimwelt nannte, in die Murph aus heiterem Himmel hineingeraten war. Mr Flashs Cape war seine unglaubliche Geschwindigkeit, die er bei seinem morgendlichen Lauf eindrucksvoll unter Beweis stellte.
Fünf Minuten später tauchte Mr Flash vor seiner Haustür auf, verschwitzt und mit rotem Gesicht.
Der Zaunkönig, der inzwischen wieder putzmunter war, spähte nervös um die Hausecke. Erst als Mr Flash die Tür hinter sich zugemacht hatte, wagte es der kleine Vogel, einen Laut von sich zu geben. Ein leises Pieeeep – was ein sehr derbes Wort in der Zaunkönigsprache ist, aber zum Glück sprichst zu ja kein Zaunkönisch. Falls doch, dann benutz dieses Wort bitte niemals zu Hause, sonst kriegen wir jede Menge Ärger mit deinen Eltern. Und das wäre, verflixt und pieps noch mal, ein einziger Albtraum.
Im Haus stapfte Mr Flash in der makellos sauberen Küche umher und griff nach verschiedenen Zutaten, um sich einen großen Proteinshake zu mixen. Hier ist das Rezept: Auch das gehört zu den Sachen, die du zu Hause lieber nicht ausprobieren solltest. Das Gebräu schmeckt einfach widerlich. Mr Flash kippte das Zeug hinunter. Als er fertig war, wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und rülpste wie ein junger Elefantenbulle (und roch mindestens genauso).
Mr FLashs Muntermacher-Shake:
5 rohe Eier
8 Bananen
1/2 Liter Milch
eine Handvoll Leinsamen
(die er insgeheim Flash-Samen nannte)
200 g rohes Hack
1 rote Zwiebel
eine halbe Avocado
Mr Flash freute sich auf das neue Schuljahr. Er unterrichtete Cape-Training oder kurz CT. Seine Aufgabe war es, die Schüler bei der Weiterentwicklung ihrer Capes zu unterstützen und mit ihnen zu üben, nicht die Kontrolle über ihre besonderen Kräfte zu verlieren. Dabei musste er sie natürlich sehr oft anschreien, aber das machte ihm am allermeisten Spaß.
Nach dem ersten Schuljahr wurden die Schüler aufgeteilt. Mr Flash übernahm immer die Klasse, die er voller Stolz seine »Überflieger« nannte – das waren Schüler, die sehr wirkungsvolle und nützliche Capes hatten und eines Tages vielleicht dem Geheimbund beitreten würden.
Nachdem Mr Flash lässig Toastscheiben in den Toaster geworfen und den Wasserkocher eingeschaltet hatte, zwirbelte er zufrieden seinen roten Schnurrbart und dachte bei sich, wie froh er doch war, nicht die Klasse mit den »Überbleibseln« unterrichten zu müssen, wie er die anderen Schüler verächtlich nannte.
Kids mit seltsamen Capes? Die reinste Platzverschwendung! Winzige Pferde? Hände, die sich wie ein Ballon aufblasen? Ha!
Während er Besteck auf ein Tablett legte, kreisten seine Gedanken um jene Schüler, die er am wenigsten leiden konnte und bei denen es sich, wie du sicher längst erraten hast, um Murph und die Supernullen handelte. Als Nektar, der wahnsinnige Wespenmann, im vergangenen Jahr die Schule angegriffen hatte, hatten Murph und seine Freunde alle anderen gerettet. Denn die waren entweder gefangen genommen oder in gedankenkontrollierte Sklaven verwandelt worden. Statt dankbar zu sein, fand Mr Flash allein schon die Erinnerung daran absolut unerträglich. Genau genommen war er das exakte Gegenteil von dankbar. Wenn es einen Ort namens Dankbarhausen gäbe und dieser sich beispielsweise in der Nähe von Sydney in Australien befände, dann wäre Mr Flash so weit entfernt davon wie nur möglich, vielleicht in der Gegend von Birmingham in England.
Als wäre das nicht schon schlimm genug, waren die Supernullen auch noch in den Geheimbund aufgenommen worden – ein äußerst seltenes Privileg. Wer ist bloß auf diese blöde Idee gekommen?, schäumte Mr Flash und bereitete sich erbost eine Tasse Tee zu. Es ist gar nicht so leicht, erbost Tee zu machen, aber er schaffte es.
Nachdem er das Frühstückstablett gerichtet hatte, eilte er hinaus in den Garten. Am Rand des Rasens hockte der Zaunkönig und schnupperte an einer Blume.
»BEWEG DICH, DU KLEINES BRAUNES … HUHN – oder was auch immer du bist!«, bellte Mr Flash ihn an.
Der Zaunkönig hob seine Vogelaugenbraue und flatterte davon. Behutsam pflückte Mr Flash die Blume, trug sie in die Küche und stellte sie in eine kleine Vase.
»Iain! Wo bleibt mein Frühstück?«, hörte man eine kreischende Stimme von oben.
»Komme gleich, Mutter!«, rief Mr Flash. Bei dem Gedanken an die Supernullen stieß er ein letztes Wutschnauben aus, dann nahm er das Tablett und ging die Treppe hinauf.
Pünktlich um acht Uhr erschien Mr Flash an der Schule, nachdem er die zwölf Kilometer von seinem Haus in weniger als drei Minuten gerannt war und damit nicht nur den Landesrekord unterboten hatte, sondern auch den Blicken anderer davongerast und daher von niemandem gesehen worden war. Überrascht stellte er fest, dass der Rektor der Schule, Mr Souperman, in einem schicken Jackett und mit einem gequälten Lächeln vor dem Haupteingang auf ihn wartete.
»Guten Morgen, Mr Flash!«, rief Mr Souperman, dessen Zähne heldenhaft mit seinen geölten Haaren um die Wette glänzten.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?«, fragte Mr Flash etwas unhöflich.
Das Lächeln des Schulleiters wurde noch etwas gequälter, aus der Nähe konnte man vielleicht sogar ein leises Zähneknirschen hören.
»Tja also …« Mr Souperman winkte Mr Flash zu sich. Dann begann er, auf dem menschenleeren Vorplatz auf und ab zu gehen. »Ich wollte nur kurz mit Ihnen plaudern, bevor der Schulbetrieb anläuft. Nichts Wichtiges. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.«
Und nun ein Ratschlag, der dir in deinem zukünftigen Berufsleben sehr nützlich sein wird: Wenn dein Chef dir sagt, es bestünde kein Grund zur Sorge, dann solltest du dir unbedingt und unverzüglich Sorgen machen und dich mit dem Gedanken anfreunden, dass von deinem bisherigen Leben bald nur noch ein Scherbenhaufen übrig sein wird. Mr Flash war daher sofort auf der Hut – wie eine Antilope, die in der Brise der afrikanischen Savanne hungrige Löwen wittert.
»Ihr Unterricht im letzten Schuljahr hat mich wirklich sehr beeindruckt …«, fuhr Mr Souperman fort.
Wenn dein Chef dir versichert, es bestünde kein Grund zur Sorge, und dir danach ein Kompliment macht, dann kannst du davon ausgehen, dass deine Welt jeden Moment explodieren wird.
»Und weil dies so ist«, sprach der Rektor weiter, »scheint es mir an der Zeit für die eine oder andere kleine Veränderung.«
Inzwischen fühlte sich Mr Flash wie eine Antilope, die von achthundert hungrigen Löwen gejagt wird und mit dem Huf in einem Schlammloch stecken bleibt.
»Aber ich darf … ich unterrichte doch weiterhin CT?«, rief er in heller Aufregung. Sein Schnurrbart bebte.
»Oh ja, ja, ja natürlich!«, beruhigte ihn Mr Souperman. »Ja, ja, ja, ja, keine Frage.« Jetzt übertrieb er ein bisschen. »Ich möchte mit Ihnen über Ihre Klasse sprechen. Die Überflieger.«
Mr Flashs emotionale Antilope spürte, wie sich die Zähne eines Löwen in ihr Antilopenhinterteil gruben. Was seine Überfliegerschüler anging, verstand Mr Flash keinen Spaß. Außerdem konnte er es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sich jemand einmischte. Er ahnte, und das völlig zu Recht, dass Mr Souperman genau das tun würde.
»Ich weiß, dass Sie immer sehr, ähm, hartnäckig darauf bestanden haben, Ihre Schüler anhand der Ergebnisse im P-CAT höchstpersönlich auszuwählen«, fuhr der Rektor fort. Damit meinte er den Praktischen Cape-Anwendungstest, ein Furcht einflößender Hindernisparcours für alle Erstklässler und, in Mr Flashs Augen, der Höhepunkt seines Unterrichts. »Aber ich denke, die Ereignisse des vergangenen Schuljahres haben gezeigt, dass der P-CAT nicht zwangsläufig die richtige Methode ist, um herauszufinden, welche Schüler sich für den Geheimbund eignen. Immerhin sind die Supernullen die jüngsten Mitglieder des Bunds, obwohl ihre P-CAT-Ergebnisse geradezu unterirdisch gewesen wären … wenn der Test nicht gestört worden wäre durch diesen, ähm, Wespenkerl.«
Mr Flash machte ein Geräusch wie ein mit Schlagsahne gefüllter Staubsauger, bei dem versehentlich »Herausblasen« eingestellt ist.
»DIE NULLEN?«, stieß er empört hervor. »Diese tollpatschige Gurkentruppe? Sie werden niemals richtige Helden sein! Sie …«
»Sie sind bereits Helden«, unterbrach ihn Mr Souperman. »Außerdem steht es uns nicht zu, die Entscheidung des Geheimbunds infrage zu stellen.«
Mr Flash sah aus, als stünde es ihm sehr wohl zu, die Entscheidung des Geheimbunds infrage zu stellen, aber der Schulleiter verhinderte weitere Wortpoltereien, indem er warnend eine Augenbraue hob. Mr Flashs Kopf nahm eine Farbe an, die man in einem Malerkatalog als »purpurnes Inferno« beschreiben würde.
»Die Supernullen werden in diesem Jahr zu den Überfliegern gehören, und FERTIG AUS«, verkündete Mr Souperman, bevor er durch die Doppeltür in der Eingangshalle verschwand.
Mr Flash sank gegen die Wand. Seine in Stücke gerissene emotionale Antilope war in einem Radius von zwanzig Metern verstreut und die Geier pickten an ihren Eingeweiden. Der Start ins neue Schuljahr hätte nicht schlimmer sein können.