Die Herausgeberin
Tanja Sappok, geboren und aufgewachsen in Heidelberg; Studium der Medizin in Aachen und den USA; Ausbildung an der RWTH Aachen, am Universitätsklinikum Benjamin-Franklin in Berlin und der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Ev. Krankenhauses Königin-Elisabeth-Herzberge (KEH) zur Fachärztin für Neurologie, Fachärztin für Nervenheilkunde und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie; Habilitation über »Autismusdiagnostik bei Erwachsenen mit Intelligenzminderung« im Fachbereich »Experimentelle Psychiatrie« der Charité, dort Dozentin an der medizinischen Fakultät im Fach Psychiatrie; seit 2017 President Elect der European Association for Mental Health in Intellectual Disability (EAMHID) und seit 2018 stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Seelische Gesundheit bei Geistiger Behinderung (DGSGB). Gründung des Networks of Europeans on Emotional Development (NEED) im Mai 2015 in Berlin; seit Juli 2017 Leitende Ärztin des Berliner Behandlungszentrums für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung am KEH; klinische und wissenschaftliche Arbeitsgebiete sind neben der psychiatrischen Diagnostik und Behandlung von Erwachsenen mit Intelligenzminderung Autismusspektrumstörungen, emotionale Entwicklungsstörungen und -diagnostik, Verhaltensstörungen und Demenzen bei Personen mit kognitiver Beeinträchtigung.
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1. Auflage 2019
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Dieses Buch ist aus der klinischen Praxis heraus im Rahmen der Behandlung von Menschen mit Entwicklungsstörungen und psychischen Auffälligkeiten entstanden. Es ist das Produkt langjährig gewachsener Zusammenarbeit mit den betroffenen Familien und ambulanten Hilfesystemen einerseits und einem multiprofessionellen Team von Fachleuten andererseits. Im Sinne von Co-Production begegnen sich Fachleute und Klienten inklusive deren Familien bei diesem Buchprojekt auf Augenhöhe und stehen in einem reziproken Austausch. Dieser Ansatz ist mehr als ein Konzept, sondern eine wertebasierte Haltung in der Begegnung und Zusammenarbeit.
Das zentrale Anliegen dieses Buchprojekts ist die Verbesserung der medizinisch und pädagogischen Behandlung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung. Es soll behandelnden Ärzten, aber auch Betreuungspersonal in der Eingliederungshilfe und natürlich den betroffenen Familien die Thematik „Medizin bei Menschen mit geistiger Behinderung“ anschaulich, vielschichtig und spannend darstellen.
Der konstruktive, multidimensionale Diskurs zwischen betroffenen Familien und Professionellen bildet sich in Inhalt und Form des Buches ab. Im Zentrum des ersten Teils stehen Gespräche mit den Personen und ihren Familien, die zentrale Fragen zu Gesundheit, Lebenszufriedenheit und Möglichkeiten für ein gutes Leben im Rahmen der gegebenen Bedingungen thematisieren. In einem zweiten Teil wird systematisch die Diagnostik und Therapie psychischer und häufiger körperlicher Krankheiten bei Menschen mit intellektueller oder schwerer körperlicher Mehrfachbehinderung dargestellt, wobei auch hier auf eine multiprofessionelle Perspektivenverschränkung durch Einbindung verschiedener Berufsgruppen wie Medizinern, Psychologen, Pädagogen, aber auch diversen Therapeuten, Heilpädagogen und Pflegepersonal Wert gelegt wird. Das Werk wird durch den dritten Teil, den gesellschaftlichen Kontext, abgerundet, wobei Selbsthilfe- und Angehörigenverbände sowie Anbieter von verschiedenen stationären und ambulanten Angeboten aus unterschiedlichen deutschsprachigen Ländern zu Wort kommen.
Menschen mit Behinderungen unterliegen weniger den Normalitätszwängen der Allgemeinbevölkerung und verfolgen häufig andere Lebensziele. Die Betroffenen und ihre Familien sind – im optimalen Fall gut unterstützt durch Fachleute und staatliche Versorgungsstrukturen – oft gezwungen, individuelle Lösungswege und Lebensentwürfe fernab der üblichen Erwartungen an ein gelungenes Leben zu finden. Dies impliziert auch eine Erweiterung der gesellschaftlichen Normen im Sinne einer inklusiven Gesellschaft und ermöglicht eine persönliche Weiterentwicklung auf der Basis eigener Grundbedürfnisse und Wertesysteme und führt so ggf. zu einem respektvollen und authentischen Umgang miteinander. Daraus können alle Menschen – unabhängig von ihrem Entwicklungsstand – wichtige Impulse für ein zufriedenes, gutes Leben ziehen.
Tanja Sappok, August 2018
»Ich fühle mich nicht eingeschränkt. Ich bin zufrieden, meist glücklich.«
Fabian Neitzel im Juni 2017
Im Schreibprozess ist unter den beteiligten Autoren eine Diskussion zur Frage der verwendeten Begrifflichkeit angestoßen worden, die in diesem Kapitel aufgegriffen und vertieft werden soll. Als Mediziner2 oder Psychologe wählt man zunächst ganz selbstverständlich und pragmatisch den Begriff im Schreibprozess noch gültigen diagnostischen Manual ICD-10 (World Health Organization (WHO) 1992): Die Intelligenzminderung, wobei sowohl im klinischen als auch im pädagogischen Handlungsfeld der Begriff der geistigen Behinderung vor allem in Deutschland und der Schweiz noch weit verbreitet ist. Aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive bleibt die Definition des Begriffes Geist eine komplexe Herausforderung! Von Befürwortern des Begriffs geistige Behinderung wird angeführt, dass damit nicht nur intellektuelle, sondern auch sozioemotionale Aspekte einbezogen werden. In diesem Begriffsdiskurs offenbaren sich jedoch weit tiefergehende Probleme. Einerseits birgt das mit einer bestimmten Bezeichnung verbundene Label die Gefahr der Stigmatisierung und damit auch der Ausgrenzung bzw. das Label ist stark mit dem Denken einer bestimmten Epoche gegenüber dieser Personengruppe verhaftet. Andererseits bietet eine kategoriale Begrifflichkeit eine verbindliche Beschreibung und liefert Erklärungen für auffällige intellektuell-kognitive Entwicklungen und damit assoziierte Entwicklungsverläufe und Verhaltensweisen, über die sich dann wieder bestimmte soziale oder medizinische Unterstützungsbedarfe definieren lassen.
Frühere Fachbegrifflichkeiten wie Schwachsinn oder – für die unterschiedlichen Schweregrade – Debilität, Imbezillität und Idiotie werden nicht mehr verwendet, auch wenn sie zum Teil noch z. B. in älteren Gesetzestexten auftauchen. Auch die mentale Retardierung gilt inzwischen in der deutschen medizinischen Terminologie als überholt. Ab den 1960er Jahren wurden medizinische Konzepte durch eine pädagogisch geprägte, soziale Sichtweise von Behinderung ergänzt. Das Denken gegenüber dieser Personengruppe führte zu anderen Formen der Unterstützung und Lebensbegleitung für diese Menschen, in der Regel in gesonderten Settings. Der Begriff geistige Behinderung ist mit diesen letztlich gesellschaftlichen Veränderungen im Behindertenbereich stark konnotiert. Ab den 1990er Jahren wurde in der englischsprachigen Literatur die Verwendung des Begriffs mental retardation in Frage gestellt, da er als diskriminierend empfunden wurde und nicht die wesentlichen Merkmale beschreibe. Auch im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses, der in der »Behindertenszene« in der Zeit stetig an Bedeutung gewann, wurde das Label mental retardation heftig kritisiert. Als Folge wurden weltweit neue Begrifflichkeiten eingeführt: In den USA intellectual disability, in Großbritannien learning disability und im deutschsprachigen Raum intellektuelle Behinderung (vorgeschlagen und begründet von Weber 1997). Diese Begriffe fanden die Unterstützung von People First Selbstbestimmt-Leben Initiativen. Es folgten zum Teil sehr kontroverse, nachlesebare Begriffs-Diskurse in international hoch angesehenen Fachgesellschaften und Fachzeitschriften (Luckasson und Reeve, 2001; Schalock, Luckasson und Shogren, 2007), bevor diese sich zu einer entsprechenden Umbenennung entschlossen. Aus einer rezenten Begriffsverwendungsanalyse auf dem Medium twitter geht hervor, dass der Begriff mental retardation vor allem in einem pejorativen, stark diskriminierenden Kontext (Schimpfwort) Verwendung findet, der Begriff intellectual disability dagegen vor allem in Kurznachrichten des wissenschaftlichen und akademischen Austausches zu finden ist (Kocman und Weber, 2017). Der Begriff intellectual disability wird auf Deutsch häufig mit intellektueller Beeinträchtigung (American Psychiatric Association (APA) 2013) übersetzt und markiert eine Wende zu einem neuen gesellschaftlichen Denken im Sinne der sozialen Teilhabe gegenüber dieser Personengruppe.
Viele Familien tun sich anfänglich mit dem Begriff Behinderung schwer und für viele war es ein jahrelanger Prozess, bis die Behinderung als solche anerkannt und angenommen werden konnte ( Teil II. Der Mensch liefert den Kontext). Bis dahin werden Begriffe wie Entwicklungsverzögerung oder Handicap bevorzugt, die weniger den absoluten, sondern eher den relativen Aspekt betonen. Eine Mutter definierte Behinderung als »Andersartigkeit eines Menschen in körperlichen, geistigen oder seelischen Bereichen, die den Zugang zur Gemeinschaft sehr erschweren kann.« Auch die Bezeichnung Besonderheit ist wiederholt gewählt worden: »Behinderung bedeutet für mich, dass man nur beschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, sei es durch physische oder psychische Besonderheiten.« Die »starke Einschränkung der Möglichkeiten, über die Gestaltung des eigenen Lebens und die Zukunft selber entscheiden zu können«, wurde immer wieder in verschiedenen Varianten thematisiert, z. B. »Behinderung ist eine psychische oder körperliche Einschränkung, die dazu führt, dass man auf fremde Hilfe angewiesen ist.« Es wurde der Wunsch nach einem anderen Begriff geäußert, der »die spezielle Begabung in den Vordergrund stelle«, da Behinderung von fragwürdigen gesellschaftlichen Normen definiert und aus diesem Raum heraus beschrieben werde. In diesem Sinne entstanden Vorschläge wie »faszinierende« oder »übergesunde« Menschen; Begriffe, die man als Aufschrei der Eltern gegenüber den gesellschaftlichen Diskriminierungen verstehen kann, die auf ihre »besonderen« Kinder nun zukamen. Eine Mutter griff das Bild eines italienischen Neurologen auf, der »Behinderung mit einem Haus verglichen hat: Der gesunde Mensch habe ein wunderschönes Schloss mit 30 Zimmern und Balkonen und Schnörkeln und Verzierungen. Je größer die Behinderung sei, desto weniger Zimmer habe das Haus, es habe weniger Balkone und vielleicht auch weniger Fenster. Aber es habe immer noch die Form eines Hauses: Es sei windschief, es sei vielleicht winzig klein, aber es sei immer noch ein Haus und in seinem Wesen absolut vollkommen. Die betroffenen Menschen hätten nur dieses winzig kleine System zur Verfügung und es liege nun an uns, dieses System zu verstehen, um es zu ergänzen, und so dieses System mit unserem System besser zusammenzubringen ( Kap. 7).
Dieser Cartoon von Phil Hubbe veranschaulicht die Sichtweise von Menschen mit Behinderungen sehr treffend. Gespräche mit Patienten zum Begriff Behinderung waren schwierig. Der Begriff wurde weitestgehend abgelehnt, und zwar nicht nur wegen der damit verbundenen Stigmatisierung, sondern auch, weil sie sich nicht behindert fühlten (vgl. Zitat oben). Ganz nach dem Motto einer jungen Frau mit Down Syndrom: »Ob ich behindert bin oder nicht, ist mir ganz egal!« Sie betrachten sich selbst als normal – im Bewusstsein, dass sie für einige Dinge Hilfe benötigen und einige Aufgaben wie z. B. der Führerschein, das Abitur oder der Arztberuf für sie zu schwierig sind.
Abb. 1.1: Rainer und Sabine
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001) stellt in ihrer internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ein integratives Modell von Behinderung dar: Behinderung wird beim medizinischen Modell als störungsbedingtes Problem einer einzelnen Person, beim sozialen Modell hingegen als gesellschaftlich verursachtes Problem betrachtet. Im therapeutischen Fokus liegt somit neben der Behandlung der Störung auch die Anpassung der Umwelt (»Barrierefreiheit«). Das Konzept der ICF (WHO 2001) basiert auf einer Synthese, einer Integration dieser beiden Perspektiven.
In einer Übersicht der WHO (2007) werden differenziert die unterschiedlichen Begrifflichkeiten inklusive deren Verbreitungsgrad aufgeführt. Zum damaligen Zeitpunkt war der Begriff mental retardation am weitesten verbreitet (76 %), gefolgt von intellectual disability (57 %), mental handicap (40 %), learning disability (32 %), developmental disability (23 %), mental deficiency (17 %) und mental subnormality (12 %). In Ländern mit hohem Einkommen wurde der Begriff intellectual disability (80 %) häufiger verwendet als mental retardation (60 %), während das Verhältnis in Ländern mit geringem Einkommen umgekehrt war (55 % intellectual disability vs. 81 % mental retardation).
Im DSM-5 (APA 2013) wurde der Begriff der mental retardation durch den Begriff der intellectual disability (intellektuelle Beeinträchtigung) abgelöst, um die DSM-Terminologie dem in den letzten zwei Dekaden sowohl von medizinischen und pädagogischen Fachgesellschaften als auch im öffentlichen Gesundheitswesen und von Selbsthilfeverbänden bevorzugt verwendeten Begriff der intellectual disability anzupassen (APA »highlights of changes from DSM-IV-TR to DSM-5). In Klammern wurde im DSM-5 der Begriff intellectual developmental disorder (intellektuelle Entwicklungsstörung) ergänzt, um als »bridge term for the future« den Bezug zum ICD-Klassifikationssystem der WHO herzustellen.
Dementsprechend wurde in der Betaversion (WHO 2017) des im Juni 2018 erschienenen ICD-11 der Begriff der disorders of intellectual development (6A00: Störungen der intellektuellen Entwicklung) als Subgruppe der neurodevelopmental disorders konzeptualisiert und folgendermaßen definiert3:
»Störungen der intellektuellen Entwicklung (disorders of intellectual development) sind eine Gruppe von ätiologisch unterschiedlichen Gesundheitszuständen (conditions), die während der Entwicklungsperiode (developmental period) entstehen und gekennzeichnet sind durch ein signifikant unterdurchschnittliches intellektuelles Funktionsniveau (intellectual functioning) und adaptives Verhalten (adaptive behavior), das etwa zwei oder mehr Standardabweichungen unter dem Durchschnitt ist (weniger als ca. die 2,3 Perzentile), erfasst über angemessene, normierte, individuell angewandte, standardisierte Testverfahren (appropriately normed, individually administered standardized tests). Wo angemessen normierte, individuell angewandte standardisierte Testverfahren nicht verfügbar sind, benötigt die Diagnose einer intellektuellen Entwicklungsstörung eine größere Verlässlichkeit (reliance) des klinischen Urteils, das auf eine angemessene Erhebung vergleichbarer Verhaltensmarker (behavioral indicators) basiert.«
In der WHO- Working Group Mental Retardation (WG-MR) wurde bewusst die Entscheidung getroffen, die Kategorie im ICD-11 (WHO 2017) beizubehalten und damit eine Beeinträchtigung intellektuell-kognitiver Fähigkeiten als »Gesundheitszustand« (health state) zu beschreiben. Die Funktionsbeeinträchtigung im Sinne einer »Behinderung« erfolgt gemäß der WHO im »Klassifikationsfamilienmitglied« der ICF (WHO 2001; Kap. 60). Mit der Beibehaltung einer Kategorie im ICD sollte der Stellenwert der »Diagnose« in der Gesundheitspolitik, den klinischen Versorgungsangeboten (health services) und insbesondere der Anspruch auf Leistungen aus Gesundheitskassen sichergestellt bleiben. Im Sinne eines ontologischen Ansatzes hat die Arbeitsgruppe WG-MR empfohlen, ein Synonymset (synset) einzuführen (Bertelli et al. 2016): ID/IDD (intellectual disability/intellectual developmental disorder), um zwei verschiedene Aspekte unter einem gemeinsamen Konstrukt darzustellen: Einerseits IDD (intellektuelle Entwicklungsstörung; IES) als klinisch relevantes Meta-Syndrom, andererseits ID (intellektuelle Beeinträchtigung; IB) als der Gegenspieler mit sozialpolitischer Relevanz, der das Funktionsniveau und die Behinderung beschreibt. Demnach wären ID und IDD keine Synonyme, sondern spiegelten unterschiedliche Konzepte, da sie unterschiedliche wissenschaftliche, soziale oder politische Anwendungsbereiche haben. Die beiden Begriffe sollen als semantisch ähnlich (semantically similar), aber nicht als Synonyme (mirror codes) betrachtet werden.
Da im deutschsprachigen Raum im klinisch-administrativen Alltag vorrangig die ICD-Terminologie verwendet wird, hat sich die Herausgeberin dieses Buchs für den voraussichtlich zukünftigen Begriff der ICD-11 der intellektuellen Entwicklungsstörung entschieden. Darüber hinaus handelt es sich hier um ein psychiatrisches Lehrbuch, das psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellt und – entsprechend der Sichtweise der WHO – die medizinisch-wissenschaftliche Perspektive darstellt. Der Begriff bleibt defizitorientiert, ein inhärentes Charakteristikum der medizinischen Begriffswelt, und vernachlässigt die Vielfältigkeit von menschlichen Lebensmöglichkeiten. Darüber hinaus fehlt dem Begriff der intellektuellen Entwicklungsstörung der Gedanke der Teilhabeeinschränkung, der nicht nur von den betroffenen Familien als zentrales Charakteristikum von Behinderung genannt wird, sondern auch dem inklusiven Modell von Behinderung der WHO entspricht. Ob der neue ICD-11 Begriff gesellschaftlich diskriminierend benutzt werden wird, wird sehr stark davon abhängen, welches Bild wir zukünftig von Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen in unseren Gesellschaften verbreiten. Mit Bildern und Geschichten, in denen ihre Kompetenzen, Fertigkeiten und Stärken und Teilhabeerfolge gezeigt werden, dürften sich auch hartnäckige Einstellungen verändern lassen.
American Psychiatric Association (APA) (2013) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. DSM-5 (5. Aufl.). Washington, DC: American Psychiatric Association.
American Psychiatric Association (APA) (2013) Highlights of Changes from DSM-IV-TR to DSM-5
(https://www.psychiatry.org/File%20Library/Psychiatrists/Practice/DSM/APA_DSM_Changes_from_DSM-IV-TR_-to_DSM-5.pdf, Zugriff am 29.12.2017)
Bertelli MO, Munir K, Harris J, Salvador-Carulla L (2016) »Intellectual developmental disorders«: reflections on the international consensus document for redefining »mental retardation-intellectual disability« in ICD-11. Adv Ment Health Intellect Disabil 10(1):36–58.
Kocman, A. und Weber, G. (2017). Twitter as a means to measure attitudes towards people with intellectual disability. Abstract volume of the 4th IASSIDD Asia Pacific Regional Congress, November 13-16, Bangkok (pp. 52-53). (www.iassidd.org, Zugriff am 29.12.2017)
Luckasson; R. A. und Reeve, A. (2001). Naming, defining, and classifying in mental retardation. Mental Retardation, 39 (1), 47-52.
Schalock, R. L. Luckasson, R. A. und Shorgren, K.A. (2007). The renaming of mental retardation: Understanding the change to the term intellectual disability. Intellectual and Developmental Disabilities, 45 (2), 116-124.
Weber, G. (1997). Intellektuelle Behinderung: Grundlagen, klinisch-psychologische Diagnostik und Therapie im Erwachsenenalter. Wien: WUV-Universitätsverlag.
World Health Organization (WHO) (1992) The ICD-10 classification of mental and behavioural disorders: Clinical descriptions and diagnostic guidelines (10. Aufl.). Geneva: World Health Organization.
World Health Organization (WHO) (2001) ICF. The International Classification of Functioning, Disability and Health. Geneva: World Health Organization.
World Health Organization (WHO) (2007) Atlas: global resources for persons with intellectual disabilities. Geneva: World Health Organization.
World Health Organization (WHO) (2017) ICD-11 (Betaversion). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11. Aufl.). (https://icd.who.int/dev11/l-m/en, Zugriff am 29.12.2017)
2 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Schreibweise verwendet, es sind jedoch immer beide Formen gemeint. Wir danken für Ihr Verständnis.
3 Übersetzung der Herausgeberin; die englischen Begriffe sind die in der Betaversion des ICD-11 verwendeten Originalbegriffe.
»Psychische Gesundheit bedeutet für mich, wenn ich morgens aufstehen, meine Arbeiten erledigen, meine Freizeit gestalten, Konflikte oder Ärger lösen und abends zufrieden ins Bett gehen kann. Eine psychische Erkrankung ist eine sehr viel größere Beeinträchtigung als die Behinderung an sich.«
Rosemarie Neitzel, Mutter eines 30-jährigen Mannes
Intellektuelle Entwicklung und psychische Gesundheit sind eigenständige Phänomene. Das bedeutet, dass man unabhängig vom Vorliegen einer intellektuellen Entwicklungsstörung psychisch gesund oder krank sein kann. Das ist nicht selbstverständlich, denn in den aktuell gültigen diagnostischen Manualen, z. B. der in Deutschland gültigen ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, wird geistige Behinderung unter den sogenannten F-Diagnosen (psychische und Verhaltensstörungen) definiert als eine »verzögerte oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten« (Dilling et al. 2011). Daraus ergibt sich in der Regel ein Unterstützungsbedarf in Bezug auf Bildung, Bewältigung der Alltagsanforderungen und sozialer Teilhabefähigkeit. Trotzdem kann eine Person mit intellektueller Entwicklungsstörung ein ausgefülltes, glückliches Leben führen, solange keine psychische Erkrankung im engeren Sinne vorliegt und sich die eigenen Fähigkeiten und die Anforderungen des Lebens in einer Balance befinden.
Nach Angaben der WHO erkranken Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung drei- bis viermal häufiger an psychischen Störungen als die sogenannte Allgemeinbevölkerung (Dilling et al. 2011). Aktuelle, populationsbasierte Studien in Großbritannien zeigen eine Punktprävalenz für psychische Störungen im engeren Sinne von gut 20 % (22 %, Cooper et al. 2007; 21 %, Sheehan et al. 2016). Dabei finden sich insbesondere affektive Störungen (7–11 %; Kap. 17), psychotische Störungen (ca. 4 %; Kap. 16) und Angststörungen (4–6 %; Kap. 19), aber auch ADHS (ca. 1,5 %; Kap. 24), Demenzen (ca. 1 %, Kap. 14), Abhängigkeitserkrankungen (ca. 1 %; Kap. 15), Zwangsstörungen (ca. 0,7 %; Kap. 18) oder Persönlichkeitsstörungen (ca. 1 %; Kap. 21). Darüber hinaus treten Autismus-Spektrum-Störungen ( Kap. 23) mit 7,5–15 % und auch – häufig übersehen – Traumafolgestörungen ( Kap. 22) vermehrt auf.
Etwa genauso häufig wurden in diesen bevölkerungsbasierten Prävalenzstudien schwerwiegende Verhaltensstörungen festgestellt (23–25 %; Cooper et al. 2007; Sheehan et al. 2016). Darunter versteht man nach Emerson und Bromley (1995) »kulturell ungewöhnliches Verhalten von derartiger Intensität, Häufigkeit und Dauer, dass entweder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder anderer Personen ernsthaft gefährdet ist« oder »dem Betroffenen die Nutzung öffentlicher Einrichtungen erheblich erschwert oder verweigert wird« (Emerson und Bromley 1995). Verhaltensstörungen treten somit häufig auf und beeinträchtigen die Lebensqualität und Teilhabefähigkeit von Betroffenen erheblich. Trotz der Assoziation von Verhaltensstörungen mit psychischen Erkrankungen sind beide Störungsbilder in Bezug auf die diagnostische Klassifikation und therapeutische Implikation getrennt zu betrachten (Felce et al. 2009; Dilling et al. 2011).
Aus Sicht der medizinischen Fachgesellschaften und Leitlinien sollten bei der differentialdiagnostischen Abklärung von psychischen Erkrankungen oder schweren Verhaltensstörungen körperliche, psychische, soziale und entwicklungsbezogene Aspekte berücksichtigt werden (Gardner et al. 2006; NICE Leitlinien 2015 und 2016; AWMF-S2 S2-Leitlinien 2014; Canadian Guidelines 2011). Da im Rahmen der intellektuellen Entwicklungsstörung nicht nur rein kognitive, sondern häufig auch emotionale, soziale oder körperliche Fähigkeiten beeinträchtigt sind, ist dieses ganzheitliche Vorgehen bei einer Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens notwendig (Dilling et al. 2011). Dabei sind zahlreiche Informationsquellen zu nutzen. Abbildung 2.1 stellt ein Flussdiagramm zum Vorgehen bei medizinischer Vorstellung von Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung dar.
Die Person stellt sich aufgrund eines bestimmten Problems vor. Das kann ein auffälliges, ungewöhnliches Verhalten (z. B. Schlafstörungen, Bewegungsunruhe, aggressives Verhalten) oder eine vom Patienten berichtete Problematik (z. B. Freudlosigkeit, Ängste) sein (vgl. 1. Zeile in Abbildung 2.1). Die Analyse dieses Vorstellungsgrunds erfolgt bei einem Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung auf der Basis des individuellen emotionalen und kognitiven Entwicklungsstands (vgl. 2. Zeile). Der Schweregrad der intellektuellen Entwicklungsstörung und der emotionale Entwicklungsstand sind zentral für das gezeigte (adaptive) Verhalten (bzw. die Symptompräsentation) und die Fähigkeit zur Problembewältigung. Je nach Schweregrad der intellektuellen Entwicklungsstörung und sozio-emotionalen Fähigkeiten gibt es also eine intraindividuelle Normalität. Die Ursachenabklärung sollte auf der Basis dieser intraindividuell zu definierenden Normalität erfolgen: Inwieweit weicht das gezeigte Verhalten oder berichtete Befinden von dem ab, was auf der Basis des intellektuellen bzw. emotionalen Entwicklungsstands von der Person erwartet werden kann? Standardisierte Diagnostikinstrumente wie z. B. die von der WHO herausgegebene Disability Assessment Scale (DAS; Holmes et al. 1982; Meins und Süssmann 1993) oder der standardisierte Leistungstest zur Feststellung des Schweregrads der intellektuellen Entwicklungsstörung ( Kap. 37) bzw. die Skala der Emotionalen Entwicklung: Diagnostik (SEED; Sappok et al. 2016; Sappok et al. 2018) für das emotionale Referenzalter können den Kliniker dabei unterstützen ( Kap. 38). Der Schweregrad der intellektuellen Entwicklungsstörung hat beispielsweise Einfluss auf die Prävalenz und damit auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Erkrankung vorliegt. Beispielsweise steigt die Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS mit dem Schweregrad der intellektuellen Entwicklungsstörung an (Fombonne 2003; Cooper et al. 2007; Sappok et al. 2010), während psychotische Störungen, Substanzabhängigkeiten oder Angststörungen seltener werden (Cooper et al. 2007). Aber auch qualitativ präsentieren sich die Symptome je nach Entwicklungsstand andersartig, z. B. in Bezug auf die Aggressionsregulation: Menschen mit einem emotionalen Entwicklungsstand von ca. sechs Monaten zeigen vor allem selbstverletzendes Verhalten, während bei einem emotionalen Entwicklungsstand von ca. einem Jahr überwiegend fremd- und sachaggressives Verhalten auftritt. Ab einem emotionalen Entwicklungsstand von ca. drei Jahren wird dann zunehmen verbal aggressives Verhalten beobachtet (Sappok et al. 2012). Der Einbezug des emotionalen Entwicklungsstands spielt darüber hinaus eine zentrale Rolle in der differentialdiagnostischen Einordnung von Symptomen: Die Theory of Mind, also die Fähigkeit zur Unterscheidung von eigenen und fremden Gedanken, Gefühlen und Absichten und damit verbunden die Fähigkeit zur Unterscheidung von Phantasie und Wirklichkeit, entwickelt sich erst ab einem emotionalen Entwicklungsalter von vier Jahren ( Kap. 56; Happé und Frith 2014). In früheren Entwicklungsstufen können daher selbst ausgedachte Überlegungen (Phantasie) als Tatsachen (Wirklichkeit) dargestellt werden, was als psychotisches Erleben fehlinterpretiert werden kann ( Kap. 56). Es ist also diagnostisch essentiell, das gezeigte bzw. geschilderte Beschwerdebild vor dem Hintergrund des intellektuellen und auch des emotionalen Entwicklungsstands und der damit verbundenen Mentalisierungsfähigkeiten zu betrachten.
Anschließend wird die Symptomatik nach dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell eingeordnet ( Abb. 2.1) in
1. körperliche Krankheiten,
2. psychische Störungen und
3. Verhaltensstörungen.
Diese drei Hauptkategorien können, müssen aber nicht gleichzeitig vorliegen. Körperliche Krankheiten (1. Säule) sollten aufgrund der oft andersartigen Symptompräsentation immer mitgedacht werden ( Kap. 31; Schmidt 2007). So hat sich beispielsweise eine vermeindliche Jammerdepression als Oberschenkelhalsbruch oder ein sogenannter psychotischer Schub als Ileus oder Blasenhochstand entpuppt. Die bei der körperlichen Ursachenabklärung besonders zu beachtenden Aspekte sind in den Kapiteln 31–33 dargestellt. Neben körperlichen Erkrankungen wie sie bei jedem anderen Menschen auch vorkommen können (z. B. Zahnschmerzen), treten einige Erkrankungen bei Menschen mit Behinderungen gehäuft auf, z. B. Epilepsien ( Kap. 28), Bewegungsstörungen ( Kap. 29), Adipositas ( Kap. 30) oder genetische Syndrome ( Kap. 13), die in eigenen Kapiteln genauer dargestellt werden.
Die Diagnostik psychischer Störungen (2. Säule) im engeren Sinne ist durch verschiedene Faktoren eine Herausforderung. Ein in diesem Kontext oft berichtetes Phänomen heißt diagnostic overshadowing, d. h. die Zuschreibung eines auffälligen Verhaltens als zur Behinderung gehörend (Reiss und Szyszko 1983). Die in der Allgemeinpsychiatrie üblichen operationalisierten Klassifikationssysteme (DSM-5, ICD-10) können wegen der besonderen Erscheinungsformen psychischer Symptome bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung oft nur eingeschränkt eingesetzt werden. Daher wurden spezifische Manuale mit adaptierten Diagnosekriterien entwickelt. Das Diagnostic Manual−Intellectual Disability (DM-ID 2; Fletcher et al. 2017) ist am nosologischen System des DSM-5, die Diagnostic criteria for psychiatric disorders for use with adults with learning disabilities/mental retardation (DC-LD; Royal College of Psychiatrists 2001) an den ICD-10-Kriterien orientiert.
Aber auch die Anamese- und Befunderhebung ist durch die eingeschränkten kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten häufig erschwert. Kapitel 34 stellt Möglichkeiten dar, wie dies trotz aller Herausforderungen gut gelingen kann. Eine besondere Rolle nehmen dabei auch die begleitenden Bezugspersonen ein. Sie können nicht nur als Übersetzer und Berichterstatter dienen, ihre Beobachtungen können auch in einer systematisierten Verhaltensanalyse in die Diagnostik und Behandlung einfließen ( Kap. 24). Standardisierte Untersuchungsinstrumente können den Kliniker in der Abklärung einer Verdachtsdiagnose unterstützen ( Kap. 36). Einzelne, häufiger vorkommende Störungsbilder benötigen eine umfassendere Abklärung, die in separaten Kapiteln ( Kap. 39–42) dargestellt werden.
Wenn körperliche oder psychische Erkrankungen ausgeschlossen werden konnten bzw. die gezeigte Symptomatik nicht hinreichend erklären, liegt eine sog. Verhaltensstörung (3. Säule) vor. Diese kann vielfältigste Ursachen haben, drei wesentliche Punkte sind: Erstens Umfeld assoziierte Faktoren (z. B. Betreuerwechsel, belastende Konflikte, Verluste), zweitens Entwicklungsaspekte (Entwicklungstraumastörungen ( Kap. 27), emotionale Entwicklungsstörungen ( Kap. 25), d. h. Diskrepanzen zwischen der emotionalen und kognitiven Entwicklung bzw. eine unzureichende Berücksichtigung des emotionalen Entwicklungsstands oder Autismus ( Kap. 23) assoziiert) und drittens ein Verhaltensphänotyp im Rahmen eines bestimmten genetischen Syndroms. Darunter versteht man Verhaltensweisen wie z. B. der reduzierte Blickkontakt beim Fragilen X-Syndrom, die typischerweise bei dem jeweiligen Syndrom zu beobachten sind.
Körperliche und psychischer Erkrankungen werden nach denselben Grundsätzen behandelt wie bei Menschen ohne Behinderung. Dies beinhaltet die ausführliche Aufklärung des Patienten und ggf. rechtlichen Betreuers und ein regelmäßiges Drugmonitoring inklusive Beachtung potentieller Nebenwirklungen und Interaktionen. Spezifische Aspekte für die Behandlung psychischer Erkrankungen sind in verschiedenen Leitlinien beschrieben, z. B. in den NICE Guidelines 54 und 11 (NICE Guideline 2015 und 16), den S2-AWMF-Leitlinien (2014), den kanadischen Leitlinien (2011) oder den Praxisleitlinien der Sektion »Psychiatry of Intellectual Disability« der World Psychiatry Association (WPA; Gardner et al. 2006), die in der Materialiensammlung der Deutschen Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung (DGSGB) abrufbar sind. Psychopharmakologisch ist aufgrund der erhöhten Vulnerabilität des vorgeschädigten Gehirns das Prinzip aim low, go slow sinnvoll, also eine langsamere Aufdosierung bei geringerer Zieldosis. Polypharmazie und off-Label Gebrauch sollten vermieden werden. Weitere spezifischere Behandlungshinweise sind in Kapitel 43 »Psychopharmakotherapie« dargestellt. Aber auch nicht-medikamentös gibt es zahlreiche Therapiemöglichkeiten, die allgemeinpsychiatrisch von geringer Relevanz sind (z. B. der TEACCH-Ansatz bei Autismus-Spektrum-Störungen ( Kap. 50) bzw. spezifisch für Menschen adaptiert worden sind (z. B. Kunst- und Musiktherapie; Kap. 51 und Kap. 52). Diese sollten ausgeschöpft bzw. ergänzend zur psychopharmakologischen Behandlung angewandt werden. Aufgrund der hohen Praxisrelevanz werden nicht-medikamentöse Ansätze zur Behandlung von herausfordernden Verhaltensweisen und Krisen in zwei Kapiteln dargestellt ( Kap. 57, Kap. 58). Nicht-medikamentös gibt es psychotherapeutische Ansätze, die insbesondere bei Menschen mit leichter bis mittelgradiger intellektueller Entwicklungsstörung – an deren Lerngeschwindigkeit angepasst – angewandt werden können ( Kap. 45). Spezifischere Verfahren wie z. B. beim DBT ( Kap. 46), Tokenkonzepte ( Kap. 49) oder die positive Verhaltensunterstützung ( Kap. 47) sind in separaten Kapiteln dargestellt. Bei Menschen mit schwerer intellektueller Beeinträchtigung sind eher entwicklungsbasierte Methoden wie z. B. entwicklungspädagogisches Arbeiten, Bindungs- und Mentalisierungsansätze vielversprechend, denen in den Kapiteln Kap. 53-56 ein breiter Raum eingeräumt wird, da sie in der Allgemeinpsychiatrie wenig verbreitet und gekannt sind.
Auf den Punkt gebracht:
• Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung werden häufig psychisch krank.
• Die gezeigte Symptomatik sollte vor dem Hintergrund des kognitiven und emotionalen Entwicklungsstands beurteilt werden. Dieser Entwicklungsstand definiert die intraindividuelle Normalität.
• Neben körperlichen und psychischen Erkrankungen im engeren Sinne finden sich häufig sog. Verhaltensstörungen. Diese können durch Umfeld assoziierte Schwierigkeiten, Entwicklungsaspekte wie emotionale Entwicklungsstörungen und Autismus oder im Rahmen eines genetischen Syndroms auftreten.
• Therapeutisch gelten dieselben Grundprinzipien wie in der Allgemeinpsychiatrie, die insbesondere bei Menschen mit leicht- bis mittelgradiger intellektueller Entwicklungsstörung angewandt werden können. Bei Menschen mit schwer bis schwerster intellektueller Entwicklungsstörung sind entwicklungsbasierte Ansätze und eine intensive Arbeit mit den Bezugspersonen vielversprechend.
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