Schon wieder ein Toter in Oberstdorf! Und das kurz vor Weihnachten...
Gerade Vater geworden hat PHK (Polizeihauptkomissar) Egi Huber eigentlich ganz andere Dinge im Kopf als die verbrecherischen Machenschaften im Allgäu. Und Zeit hat er für solchen Unfug sowieso nicht, es ist schließlich bald Weihnachten. Wie alle Oberstdorfer will er sich auch dieses Jahr das Klausentreiben nicht entgehen lassen. Blöd nur, dass nach dem Schabernack einer der verkleideten Männer samt Klausenkostüm tot im Brunnen liegt. Direkt vor Egis Nase! Und schon hat der PHK wider Willen nicht nur einen Mordfall, sondern auch wieder die Kripo Kempten am Hals. A Graus is des! Egi stürzt sich wie immer halbwegs motiviert in die Ermittlungen. Bald wird klar, dass sowohl Opfer als auch Täter unter den vielen verkleideten Klausen zu suchen sein müssen, aber auch, dass kein Klaus im richtigen Kostüm steckte. Egi ahnt, das wird sein härtester Fall…
Von Nicki Fleischer sind bei Midnight erschienen:
Nebelhorn
Breitachklamm
Klausentod
Ein Allgäukrimi
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Dezember 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN: 978-3-95819-229-4
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Für meinen Schwager Andi,
der freiwillig ins Allgäu zog.
Die Handlung und alle handelnden Personen in diesem Roman sind von der Autorin frei erfunden worden, jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der folgende Ausschnitt aus der Klausenliste stellt den Sollzustand dar.
Nummer | Name | Spitzname | Kostüm |
1 | Alois Moosberger | Alter Hund | helles Kostüm mit Büffelkopf |
6 | Martin Moosberger | Matti | braunes Kostüm, schwarze Kuhmaske |
8 | Karl Grasser | Karli | schwarzer Orang-Utan |
9 | Hans Hinterbacher | das Hänsle | Braune Neandertalermaske, weiße, |
14 | Bastian Kämmer | Basti | beiger Kuhkopf, braune Fellhose |
24 | René Holzer | Renni | weißer Bulle |
32 | Konstantin Weißgut | Konsti | graues Kuhkostüm |
Der Kuckuck schmiss mit einem Ruck die kleine Tür auf, schoss hervor und gab mit weit aufgerissenem Schnabel sechsmal voller Inbrunst seinen eingängigen Laut von sich. Vor ihm kämpfte Moosbergers Sohn Matti (Martin Moosberger) mit einem gehörnten, schwarzgesichtigen Dämon. Das dunkle, zottelige Klausenkostüm mit der unheimlichen, kuhschädelähnlichen Maske, den teuflischen Hörnern und den mächtigen Glocken am Gürtel zerrte an Matti wie ein tonnenschwerer Betonklotz. Es war heiß unter dem dicken Fell, der Schweiß lief ihm in Bächen am Körper herunter. Sein Gesicht war klatschnass, und er versuchte durch die schmalen Schlitze der Kuhnase zu atmen.
Während der Anprobe hatte Matti den anschleichenden Einbrecher nicht hereinkommen hören. Mit einem Schraubenzieher hatte der gerade eben erst die Terrassentür aufgehebelt und stand nun in der guten Stube vom Moosberger und schaute auf den schreienden Kuckuck. Er wandte den Blick schnell wieder von dem gefiederten Freund ab und näherte sich Matti von hinten mit einer zur Schlagwaffe umfunktionierten Holzlatte in der erhobenen Hand. Sie sauste durch die Luft und traf Matti am Hinterkopf. Die Kuhmaske konnte Matti nicht vor dem drohenden Schaden bewahren, sie bestand nur aus Fell und dazu noch aus recht dünnem. Er brach stumm zusammen, der Schrei blieb ihm im Hals stecken.
Der alte Moosberger polterte gerade im Obergeschoss herum, er hatte nichts von dem Zusammenbruch seines Sohnes gehört. Aus der Küche jaulte ein Radio, die Moosbergerin lauschte den auf Zittern gezupften Heimatmelodien und summte mit. Der Kuckuck verstummte, verzog sich nach getaner Arbeit in sein Uhrenhaus und knallte die Tür zu. In sechzig Minuten musste er ja wieder raus. Zu dem Einbrecher und dessen Angriff auf Matti würde er nichts sagen können, aber er würde wieder seinen Stundenruf kundtun, der dann niemanden mehr interessieren würde.
Heute war der sechste Dezember, Sankt-Nikolaus-Tag, und die Klausen mussten dieses Jahr ihre Nummern gut sichtbar an der Brust befestigen, damit sie jederzeit identifizierbar waren. In den letzten Jahren war der Tumult ausgeartet, und so hoffte man, dem Ganzen eine ruhigere Note zu verschaffen. Das Hänsle (Hans Hinterbacher) hatte die Nummer 9 zugeteilt bekommen. Er hatte sie unter Einfluss von Biggis (Birgit Grassers) flinken Händen, die mehr an ihm als an seinem Klausenkostüm fingerten, an seinem weißen Brustfell anbringen wollen, das Schild war ihm dabei jedoch entglitten. Die Biggi hatte es aufgehoben und ihm angeklebt.
»Machst mal schön einen Lärm heut, Hänsle«, säuselte sie ihm ins Ohr und schob ihre Linke nochmal tief in seine Fellhose, um ihm das Unterhemd richtig hineinzustecken. Sie drückte es bis in seine Unterhose. »Und wennst wieder daheim bist, machen wir noch zu zweit ein bissle Unfug, gell?«, frohlockte sie und lutschte dabei an seinem Ohrläppchen.
Dem Hänsle wurde jetzt richtig heiß in seinem Kostüm, er musste dringend raus in die winterlich kalte Luft, sonst würde er gleich das Kostüm in die Ecke werfen und hier bleiben. Er zog Biggi noch näher an sich, küsste ihre glühenden Lippen und schob sie fix wieder auf Abstand. Dann schnappte er sich seine braune Fellmaske, die wie das Antlitz eines Neandertalers mit aufgesetzten Hörnern aussah. Er presste seinen Kopf hinein, hängte sich die Ketten um, griff nach den Schellen und Glocken und rannte unter ohrenbetäubendem Geläut los.
»Mach’s gut!«, rief sie hinter ihm her, und weg war er.
Sie schloss die Tür, ging ins Bad und ließ die Wanne volllaufen. Sie goss Bratapfel-Zimt-Badeöl hinein und schwenkte ihre rechte Hand im warmen Wasser hin und her, bis der Schaum anfing sich aufzutürmen. Wenn das Hänsle heimkäme, würde er hoffentlich dem verführerischen Duft folgen und sie gekonnt vernaschen wie ein winterliches Dessert. Aber bis dahin würden einige Stunden vergehen, so ein Klausentreiben dauerte seine Zeit.
Während Biggi in der Wanne lag, lief das Hänsle mit einer Flasche Weizenbier in der Fellpranke die Hauptstraße entlang und bog in die Nebelhornstraße ein. Hin und wieder nahm er einen Schluck. Es war bereits dunkel, und die aneinandergereihten Geschäfte schienen sich mit ihrer bunt leuchtenden Weihnachtsdekoration übertrumpfen zu wollen. Hinter den wenig besinnlichen Scheiben herrschte ein Spielhallen-Ambiente, das die konsumwütigen Touristenmassen in die Läden zog, damit sie willig ihre Geldbörsen zückten, um ihre Familien mit sinnvollen Gebrauchsgegenständen wie Nebelhorn-Kühlschrankmagneten, Nebelhorn-Schlüsselanhängern, Nebelhorn-Aschenbechern oder WC-Bürsten in Nebelhornform zu versorgen. Jedes Schaufenster wirkte wie eine eigene, kleine Miniaturwelt, in die die Betrachter hineingezogen wurden, um sie anschließend zum Kauf zu überreden. Darin blinkten Nikoläuse, Schneemänner, goldene Engel, Sternschnuppen und Rentiere vor voluminösen, mit Geschenkepaketen bepackten Holzschlitten. Im Glitter-Kunstschnee lagen kaum sichtbare weiße Kabel, die die gierigen Stromverbraucher mit der notwendigen Spannung versorgten. Kleine Kinder zogen ihre Eltern und Großeltern an den Händen zu den verheißungsvollen Geschäften und zeigten mit ihren Fingern auf die dargebotene Ware. Ihre erwachsenen Begleiter beantworteten die bittenden Blicke meist mit einem Kopfschütteln, woraufhin die Kinder brüllten, hüpften, boxten und traten wie aufbrausende kleine Klausen. Aber kaufen konnten sie heute sowieso nichts, die Oberstdorfer Geschäfte blieben beim Klausentreiben aus gutem Grunde geschlossen.
Das Hänsle lief achtlos an dem ganzen Trara vorbei, setzte seine Flasche durch die runde Fellöffnung an den Mund, und der letzte Rest Alkohol gluckerte durch seinen Hals. Er stellte das Pfandstück für den nächsten Sammler dekorativ auf die Fensterbank eines Geschäfts, genau vor einen herausblickenden Elch mit schielenden, roten Leuchtaugen. Dann ging er weiter. Die Straßen waren mit glitzernder Weihnachtsbeleuchtung geschmückt, die den zusammengeschobenen Schnee am Straßenrand funkeln ließ. In den Gassen tummelten sich bereits andere Klausen, die kleine Grüppchen bildeten und unter steigender Promillezahl ihren anstehenden Schabernack planten. Das Hänsle war trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt noch von Biggis gehauchten Verlautbarungen erhitzt. Der eingeatmete, eisig kalte Sauerstoff schmerzte in seinen Lungen. Er musste sich jetzt konzentrieren, um mit seinen Fingern, deren Spitzen aus dem weißen Fellkostüm herauslugten und mit der winterlichen Kälte konfrontiert wurden, eine Message auf seinem Smartphone zu tippen.
An der Ecke Obere Bahnhofstraße lungerte ein Schatten an der Hauswand des Reformhauses Renner, auf den sich das Hänsle nun zubewegte. Er bemerkte ihn nicht, da er gerade mit Konsti (Konstantin Weißgut, der unter der Nummer 32 registriert war) chattete, um einen Treffpunkt zu vereinbaren. Matti konnte er nicht erreichen. Als das Hänsle von seinem Smartphone hochsah, löste sich der Schatten von der Hauswand. Ein gehörnter Orang-Utan mit der Nummer 8 baute sich vor ihm auf, rasselte mit seinen Ketten und brüllte ihn furchteinflößend an. Dem Hänsle fuhr ein Schreck durch die Glieder. Was wollte der denn von ihm? Der Orang-Utan griff sich mit beiden Fellhänden an den Kopf und hob die affige Maske ab. In dem Klausenkostüm steckte Karli Grasser (der Biggi ihr Vatter) und grinste ihn an: »Hast dir ein neues Kostüm angeschafft, damit du deinem Alten, dem schmierigen Zahlendreher, einen verpassen kannst, oder was? Hahaha.«
Karlis Atem erzeugte eine mächtige Dampfwolke in der eisigen Luft. Als sie Hänsles Fellnasenlöcher erreichten, nahm er eine hohe Konzentration an Enzianausdünstungen war. Die herbe Kombination mit den erst kürzlich vom Karli verdrückten frischen Knoblauchzehen wirkte wie ein Vorschlaghammer auf das arme Hänsle. Er hielt die Luft an und grübelte. Er konnte mit dem Vorwurf nichts anfangen, sein Vatter lebte mit Mutter in Altusried, denen könnte er hier in Oberstdorf bestimmt keinen Streich spielen. Und ein schmieriger Zahlendreher war der auch nicht, sondern ein redlicher Schreiner.
»Hä?«, meinte das Hänsle da nur, seine Stimme verriet ihn bei der fürs Allgäu üblichen Nachfrage.
»Ach du bist‘s, zukünftiges Schwiegersöhnle! Was machst denn hier allein mit der falschen Nummer? Hast schon einen abgemurkst, oder was? Hahaha.«
Die penetrante Enzianwolke mit Knoblauchnote wurde immer stärker, das Hänsle musste einen Schritt zurücktreten. Mit dem leicht abgewandelten Vorwurf konnte das Hänsle erst recht nichts anfangen, und das mit der falschen Nummer verstand er auch nicht. Der zukünftige Schwiegervatter musste schon besoffen sein. Das Hänsle versuchte sich elegant um ihn herum zu verdrücken, aber der Karli ließ es nicht zu. Er griff nach Hänsles Zottelfell und zog ihn zurück.
»Wennst sowieso schon getauscht hast, dann lass uns noch einen draufsetzen«, forderte die schwarze Nummer 8 die weiß-braune Nummer 9 auf.
Das Hänsle sträubte sich, er hatte gar nicht vorgehabt mit der Biggi ihrem Vatter was zusammen zu verbrechen, er war mit seinen Kumpeln Konsti und Matti verabredet. Die hatten aus der Biomülltonne vom Edeka Ebner verfaultes Gemüse stibitzt, das sie den Oberstdorfer Schandmäulern nun in die Briefkästen stopfen wollten.
»Was willst denn?«, fragte er widerwillig, um die lästige Nummer 8 schnell abfertigen zu können.
»Na, wir tauschen unsre Kostüme!«, schlug Biggis Vatter vor.
Nun ja, so schlecht war der Vorschlag gar nicht, überlegte sich das Hänsle. Wenn ihn einer am Briefkasten sehen würde, dächten alle, es wäre der Karli Grasser gewesen. Das Hänsle zog seine zottelige Kopfbedeckung willig ab, grinste und übergab seinem zukünftigen Schwiegervatter die weiße Kluft Nummer 9 mit der braunen Neandertalermaske. Als er ihm beim Anziehen zusah, durchzuckte das Hänsle ein kurzer Gedanke, dass der ja nun unter seiner Registrierung Schandtaten verüben könnte. Aber so schlimm würde es bestimmt nicht werden, der alte Karli hatte seine wilden Zeiten längst hinter sich, der würde bestimmt nichts Verwerfliches mehr anstellen. Heute galt er nur noch als Kleinstkrimineller im Frühruhestand. Zufrieden verabschiedete sich das Hänsle und zog mit Kostüm Nummer 8 weiter.
Kurz darauf traf er sich mit Konsti am Marktplatz, der wunderte sich etwas über Hänsles Kluft, grinste dann aber nur unter seiner Maske. Sie gingen durch die Kirchstraße Richtung Edeka. Nach einigen Minuten kam Matti an, er trug auch ein fremdes Kostüm mit der Nummer 28 und behauptete, dass ihm jemand seines mit der Nummer 6 daheim im Wohnzimmer gestohlen hätte. Und die 28 wäre von einem Kumpel, der krank daheim im Bett liegen würde. Das Hänsle und Konsti lachten lauthals, bestimmt hatte Matti auch nur getauscht, um für eine potentielle Extremsituation gerüstet zu sein.
»Komm, ich schreib dir mal mit’m Edding eine 6 drüber, dann stimmt alles wieder«, riet Fabi (Fabienne Steiger), Mattis Freundin, die ihn wegen seiner leichten Migräne-Attacke herbegleitet hatte. Er meinte unter der gefleckten Kuhmaske eine pochende Beule am Kopf zu haben. Fabi ging von einer Druckstelle aus, die bei einer Holzmaske mit solch einem Gewicht nicht unüblich war. Und von einem mächtigen Kater, der Matti hatte sich bestimmt schon was gehoben. Nachdem sie ihm auf dem Weg zum Treffpunkt noch drei Bierdosen zum sofortigen Verzehr in die Fellpranken gereicht hatte, waren die Schmerzen recht bald verflogen gewesen. Nun steckte sie ihren Edding zurück in die Handtasche und zog sich zurück, um die jungen Burschen ihrem Schicksal zu überlassen. Nach ein paar Metern drehte sie sich noch einmal um und zwinkerte Konsti zu.
Der siebenundvierzig Jahre alte Egi (Egon Huber) war seit anderthalb Jahren Polizeihauptkommissar (PHK) in Oberstdorf. Zeitgleich mit seiner Beförderung hatten die Kriminellen in seinem Heimatdorf überhandgenommen, aber seit der letzten erfolgreichen Verhaftung hatte er endlich wieder einige Monate einen ruhigeren Dienst schieben können. Das war auch dringend notwendig gewesen, Egis Frau Elli hatte im Frühjahr sein drittes Kind, eine Tochter, zur Welt gebracht. Lilli war mittlerweile sieben Monate alt, robbte tagsüber durch sein feines Mehrgenerationenhäusle am Moorweiher und des Nachts durch sein Ehebett. Aktuell hockte sie mit wolliger Bommelmütze und überdimensionalen Ohrenwärmern in dicke Kuschel-Fleece-Decken gehüllt im Kinderwagen und beobachtete mit großen Augen das obskure Treiben des heutigen Abends. Ihre neunjährige Schwester Belli und die zweiundvierzigjährige Mama Elli standen daneben. Der fünfzehnjährige Tommi hatte nicht mit seinen kleinen Schwestern mitgehen wollen, war viel zu peinlich. Er hatte sich mit seinen Schulfreunden daheim vor ein Ballerspiel gesetzt.
Die Oberstdorfer Straßen waren proppenvoll. Überall standen neugierige Schaulustige, die die wildgewordenen Klausen beobachten wollten. So viele Einwohner zählte die Marktgemeinde gar nicht, klar, dass sich da einige Touristen unter die Zuschauer gemischt hatten. Ein Trupp gruseliger Monster näherte sich nun mit der Absicht, in der Dunkelheit mit möglichst viel Lärm durch die Gassen zu ziehen, Beobachtern Hiebe zu verpassen und derben Unfug zu veranstalten. Sie trugen furchterregende, riesige Fellmasken mit Hörnern, schwangen Ketten, lärmten mit Schellen und Glocken und jagten johlend einige Zuschauer zur Seite. Ein Weißer Bulle mit der Nummer 24 brüllte Egis Töchter an und bespritzte sie mit einer roten Flüssigkeit aus einer überdimensionalen Spritze.
»Bähähähääää«, kreischte die kleine Lilli los, pantschte mit ihren behandschuhten Händchen in der roten Pampe auf ihrer Kuscheldecke und trat mit ihren Beinen im Fußsack herum.
»Ist doch nur Ketchup«, meinte die große Schwester Belli und leckte ihren Jackenärmel ab.
»Lass uns gehen, Brummerle. Ich habe gleich gesagt, dass das nichts für die Kleine ist«, forderte Elli ihren Mann auf und wendete den Kinderwagen.
Egi, das Brummerle, notierte sich die flüchtende Nummer 24, um sie später in der Klausenliste des Heimatschutzvereins zu überprüfen, diesem Missetäter drohte eine PHK-Anzeige!
Als sich Egi auf den Rückweg machen wollte, näherte sich noch größeres Getöse. Er schaute die Kirchstraße entlang und sah eine tobende Meute auf sie zukommen. Es war bekannt, dass die meisten Touristen das jährliche Happening auf dem Marktplatz begaffen wollten, genau deshalb mieden die Klausen diesen Bereich und trieben sich lieber in den Gassen herum. Sie näherten sich nun geräuschvoll mit einem Lärmpegel, dem ein Trommelfell kaum gewachsen war, PHK Egi taten seine Lauscherchen weh.
Plötzlich rannten die Dämonen los und stürmten auf die Schaulustigen zu. Sie trieben auseinander, es mussten mehrere Dutzend Klausen sein, die ihnen nun drohend entgegenpreschten. Die erschrockenen Beobachter sprangen zurück und quetschten sich schutzsuchend in Hauseingänge, Einfahrten und zwischen parkende Autos. Als die Klausen kurz vor Egi ankamen, bildete sich ein Pulk. Eine Handvoll Damen im Bärbelekostüm (hexenähnliche Gestalten) gesellten sich plötzlich aus dem Nichts hinzu, und fingen hysterisch an zu tanzen. Drei von ihnen schnappten sich passierende Klausen und schwoften ein paar Schritte mit den Unfreiwilligen, um sie danach von sich zu stoßen und kreischend um sie herum zu hüpfen.
Einige Meter von Egi entfernt stand ein Wassertrog, in den im Sommer frisches Bergwasser aus einem Hahn sprudelte. Heute war der Bottich nur mit einer Schneeschicht gefüllt. Als die wütende Masse den PHK passierte, verschwand der Wassertrog im Getümmel. Es wurde gegrölt, geschrien und gebrüllt. Die lärmenden Ketten, Schellen und Glocken brachten die Glasscheiben in den Fenstern zum Vibrieren. Die hilflosen Menschen duckten sich, hielten sich die Ohren zu, schlossen die Augen und schrien vereinzelt um Hilfe. Es kam keine.
Als es endlich leiser wurde, richteten sie sich wieder auf und schauten sich um. Die Klausentruppe stürmte gemeinsam mit den Bärbele ihrem nächsten bemitleidenswerten Ziel entgegen und verschwanden. Die Zuschauer atmeten erleichtert auf, sie waren noch einmal davongekommen. Egi drehte sich um und suchte nach seiner abhandengekommenen Familie. Der Kinderwagen kam in sein Blickfeld, er war leer! Belli stand einige Meter entfernt, hielt ihre kleine Schwester Lilli auf dem Arm, tröstete und schaukelte sie hin und her, damit sie die soeben durchlebten alptraummäßigen Erfahrungen schnell wieder vergaß. Wenn Lilli eine Heranwachsende wäre, würde sie das Ganze mit anderen Augen sehen und wie ihr großer Bruder mit einem Täuschungsmanöver ohne Genehmigung des Elternbeirats losziehen. Vor Belli und Lilli stand ihre kreidebleiche Mama Elli mit weit aufgerissenen Augen und versperrte ihren Töchtern die Sicht, damit sie nichts von dem elendigen Anblick mitbekamen.
»Elli, was ist mit dir?«, fragte Egi erschrocken.
Elli antwortete nicht, sie starrte an ihrem Göttergatten vorbei. Während er ihrem Blick folgte, hörte er vereinzelte Schreie hinter sich. Und dann sah er ihn. In dem hölzernen Wassertrog lag kopfüber die Nummer 1, extrem verrenkt, die felligen Beine regungslos in die Luft gestreckt. Die gehörnte Maske lag im Schnee.
»Stopp!«, schrie der PHK nach Dienstvorschrift. »Geht ihr mal alle ein paar Schritte z’rück und bringt eure Kinder fort.«
Elli packte sich Belli und Lilli und ging mit ihnen um die nächste Hauswand, bevor sie einen Blick auf das dramatische Ereignis erhaschen konnten. Egi trat näher an den Wassertrog heran und kratzte seinen Vollbart. Aufgrund der unnatürlichen Körperhaltung war es sofort klar, Nummer 1 lebte nicht mehr. Egi schob das Klausenfell am Hals etwas zur Seite und legte seinen Zeigefinger an die Stelle, wo er die Halsschlagader vermutete. Kein Puls mehr.
»Der isch mausetot«, meinte ein Opa zu Egis Linken und zeigte mit seinem Krückstock auf das Klausenopfer.
»Es war die Nummer 6, die hat den gewürgt!«, rief die alte Dame neben ihm.
»Die 6 war’s, ich hab’s gesehn, mit’m Bärbele daneben!«, schrie ein junger Bursche von hinten.
»Ich auch!«, bestätigte eine Frau mittleren Alters auf der anderen Seite.
»Ja, die 6 muss es gewesen sein!«, stimmten mehrere mit ein.
Die dringend tatverdächtige Nummer 6 rannte durch die Dunkelheit. Irgendwann hatte er sich von den anderen Hornochsen getrennt, war von der Kirchstraße rechts in die Nebelhornstraße abgebogen und dann die Obere Bahnhofstraße entlanggelaufen. Am Bahnhofsplatz mischte er sich ins Getümmel und rannte gebückt zwischen Pendlern, Touristen und anderen Schandtätern herum. Nach dreiminütigem Irrlauf blieb er stehen und schaute sich um. Dort, an der Bahnhofspforte, hockte ein offensichtlich sturzbesoffener Klausenmann, seine zotteligen, braunen Beine waren ausgestreckt, er lehnte mit dem Rücken an der Wand, den beigen Kuhkopf zur Seite geneigt und mit einer geleerten Bierflasche im Fellarm. Nummer 6 schlich sich geduckt heran und stupste ihn mit dem Fuß an. Nummer 14 neigte sich zur Seite. Die Flasche kullerte über das rechte Klausenbein, um danach lautlos in den Schnee zu plumpsen. Der schnarchende Klaus schien sich gerade tatsächlich im Promille-Delirium zu befinden. Als Nummer 6 ihn so betrachtete, kam ihm eine hervorragende Idee. Er zog sich ungesehen seine Nummer 6 ab, tauschte sie gegen die Nummer 14 und verschwand mit seinem Klausenkostüm um die nächste dunkle Ecke.
Egi hatte blitzschnell die Polizeiinspektion (PI) Oberstdorf über den Toten und Täter Nummer 6 informiert. Das Mädle für alles, der Daniel Müller, schob gerade wieder Dienst an Empfangstheke und Telefonzentrale und hatte die wirre Informationsflut vom PHK stirnrunzelnd mitgeschrieben. Kurz darauf kam eine WhatsApp-Nachricht vom Egi bei ihm an, er hatte sich auf seinem Smartphone die Zeugennamen notiert und an ihn weitergeleitet. Danach hatte der Daniel, seines Zeichens Polizeinovize, der erst vor knapp zwei Jahren die Polizistenausbildung abgeschlossen hatte, in Memmingen (wo die unangenehmen Bereiche der Kripo angesiedelt waren, die sich mit Leichen und anderen unschönen Hinterlassenschaften abgeben mussten) und Kempten (wo die saubere Arbeit der Kripo geleistet wurde) angerufen, um Spurensicherung und Kriminalisten anzufordern. Leider waren die dortigen unangenehmen Kollegen bei solch dreisten Kapitalverbrechen, wie der gemeine Mord eines darstellte, zuständig. Das grausigste der anstehenden Telefongespräche hob sich Daniel Müller für den Schluss auf, das mit dem Chefmeier. Der Egi hatte sich mit den Worten davor gedrückt, er sei ja gar nicht im Dienst gewesen, er hätte die Leiche in seiner Freizeit gefunden, und würde nun daneben stehenbleiben, bis die lästigen Kripo-Kollegen vor Ort wären. Und dabei müsse er die Schaulustigen davon abhalten, die Leiche zu fleddern, also käme er jetzt absolut nicht dazu, zu telefonieren. Daniel griff also wohl oder übel zum Telefonhörer und wählte Chefmeiers Privatnummer.
Der Chefmeier hieß mit bürgerlichem Namen Erwin Bachmeier, wurde aber mittlerweile von ganz Oberstdorf hinter vorgehaltener Hand »Chefmeier« genannt. Er war vor vielen Jahren zum PI-Leiter der Touristenhochburg im Oberallgäu (OA) ernannt worden. Damals war er ein Direktimport aus dem Ostallgäu (OAL) gewesen, und zwar von der PI Kaufbeuren. Der gebürtige Franke war von dort wegbefördert worden, weil er irgendein irres Ding mit Giraffen abgezogen hatte. Über den Fall wollte heute keiner mehr reden, die Kollegen aus Kaufbeuren hatten geraten, ihn niemals darauf anzusprechen. Bei ihnen hatte er danach auf jeden Fall nicht mehr bleiben können. Unter solchen Umständen war es Gang und Gäbe, die Beamten vom Ostallgäu ins Oberallgäu weg zu befördern – und andersherum ebenso. So blieben die Allgäuer unter sich, ohne sich wiederbegegnen zu müssen.
Daniel hielt nun den Telefonhörer mit schweißnassen Händen und lauschte dem tutenden Kammerton A, bis endlich jemand mit fränkisch rollendem Rrrr abnahm.
»Bachmeier!«
»Hier der Daniel, Chef.«
»Was willst?« Der Chefmeier imitierte den Allgäuer Dialekt schon recht gut, auch wenn ihn das rollende Franken-Rrrr immer noch verriet.
»Der Egi, der hat … ähm …«
»Na, sag scho!« Der Chefmeier war mit jedem in der PI per Du, so konnte man viel besser auf persönlicher Ebene kommunizieren.
»Also, der Egi, der hat a Leich …«
»Ihr sollt mal alle im Dienst Hochdeutsch schwätzen!«, schrie der Chefmeier durch den Hörer, das letzte und wichtigste aller Worte schien er überhört zu haben und hatte Daniel dazu auch noch unterbrochen. Das war eine Masche vom Chefmeier, so konnte er sicherstellen, dass seine Gesprächspartner nur die wichtigsten Dinge wiederholten und er von irrelevanten Ausschweifungen verschont blieb.
»Also, der Egi, der hat eine Leiche im Wassertrog in der Kirchstraße entdeckt. Ein Klaus wurd umgebracht.«
Nun war es endlich raus, und das auch noch in konzentrierter Form, wie der Chefmeier es bevorzugte. Daniel atmete auf. Dann jedoch kamen Zweifel auf, ob die Tortur tatsächlich schon vorüber war, denn Daniel hörte am anderen Ende nur noch ein Schnaufen.
»Chef, hast gehört?«
Ja, der Chefmeier hatte es gehört: »Seids ihr denn alle total spinnert? Ich hab euch doch schon tausendmal eingetrichtert, dass ihr die Kriminellen aus Oberstdorf fernhalten sollt! Immer wieder kommen s‘ zu uns, die Mörder, und ihr macht einfach nix dagegen, absolut nix! Irgendwann bleiben die Touristen weg, und die Rentner …«
Daniel hielt den Telefonhörer nun auf Distanz, die sakralopernmäßigen Ausführungen zu Chefmeiers Kriminalstatistik kannte hier jeder in- und auswendig. Als es am anderen Ende endlich ruhiger wurde, hielt sich Daniel den Hörer wieder ans überforderte Ohr.
»Chef, ist alles nicht so schlimm, der Egi weiß schon, wer der Mörder ist.«
»Wer denn?«
»Klaus Nummer 6!«
»Wer?!«
»Chef, das geht jetzt alles ganz schnell, den haben wir gleich. Ich hab auch schon Spusi und Kripo inform…«
»Naaaah! Nicht schon wieder die Kripo Kempten! Die will ich hier nimmer sehn, die Deppen, die hundsverdammten …«
Daniel legte den Hörer auf den Tisch und zog sich einen Kakao aus dem nebenstehenden Automaten im PI-Empfangsbereich, während Chefmeiers Anti-Kripo-Parolen weiter aus dem Telefon tönten. Als Daniel zurückkam, hörte er nur noch einen hupenden Dauerton, der Chefmeier hatte aufgelegt.
Daniel ging kakaoschlürfend nach hinten zum PHK-Büro, darin saß gerade Kollege Rudolf Ströber. Der Rudi hatte heute Spätdienst. Der Polizeioberwachtmeister stammte aus Lindau am Bodensee und lebte seit seiner Versetzung bereits viele Jahre in Oberstdorf, er hatte fast den Status eines Einheimischen. Dazu war er gelangt, indem er sich aufopferungsvoll um die harmlosen Ungeschicke der Oberstdorfer gekümmert und sie vor hässlichen Konsequenzen bewahrt hatte. Diesbezüglich wurde strikt nach Chefmeiers Devise gehandelt, damit man weiter seinem geschäftigen Treiben nachgehen und Attraktivität wie Bilanz der Touristenhochburg aufwerten konnte. Ehemalige Auswärtige wie der Rudi konnten bei guter Führung also erfolgreich eingegliedert werden, immerhin hatten es der Chefmeier (ein Franke) und der amtierende Oberstdorfer Bürgermeister (ein Hamburger) auch geschafft.
»Rudi, der Egi hat a Leich in der Kirchstraße gemeldet. War ein Mord«, klärte der junge Polizeinovize den alten PI-Hasen auf.
»Hä?« Rudi kaute gerade noch an seinem Wurstsalat.
»Leiche in der Kirchstraße, Rudi. Du musst naus!«
»Och, naa«, meinte Rudi kopfschüttelnd, räumte die Frischhalteboxen zusammen und packte sie zurück in seine Ledertasche. Dann stand er behäbig auf und zog sich die Diensthosen zurecht. Seine einhundertzwanzig Kilogramm musste er nun erst mal wieder auf Touren bringen.
Daniel hörte plötzlich das Telefon klingeln, rannte wieder nach vorne zur Empfangstheke und stellte seinen Kakao ab. Eine Zeugin namens Regula Wurm war dran.
»Hören Sie, wir haben alle die Nummer 6 gesehen, wie die vom Toten weggerannt ist. Und ich wollt danach zum Bahnhof, jemanden vom Zug abholen. Und das glauben Sie nicht, die Nummer 6 liegt jetzt hier!«
»Ich schick jemanden«, rief Daniel, legte auf und stürmte wieder zum Rudi.
»Rudi, jetzt beeil dich! Musst zum Bahnhof, da liegt der Mörder. Schnapp ihn dir!«
Rudi zog sein Holster fest, warf sich die Polizeijacke über, setzte sich die Dienstmütze auf und trabte ungelenk los Richtung Ausgang. Der Weg war nicht weit, die PI Oberstdorf lag fast direkt am Bahnhof. Nach nur zehn Minuten war Polizeioberwachtmeister Ströber schon vor Ort, stellte sich neben die Zeugin und schaute sich interessiert das komatöse Zottelfell an.
»Sehen S‘? Da hockt der«, erklärte ihm Regula Wurm, sie war als Bärbele kostümiert. Sie hatte vor dem Mörder Wache gestanden und deutete auf die Alkoholleiche mit der schief hängenden Nummer 6.
Sie wachte auf. Es war bitterkalt, stockdunkel und der Untergrund steinhart. Sie versuchte ihren Kopf zu heben, aber es gelang ihr nicht. Was war passiert? Und wo war sie? Sie war wie benebelt. Viel zu schwach. Sie fiel zurück in einen tiefen Schlaf.
Egi stand immer noch vorm hölzernen Wassertrog und starrte den alten Moosberger an. Der schwäbische Rechtsmediziner Erich Engstein war bereits aus Memmingen eingetroffen und hatte dem Toten die Büffelkopf-Maske abgezogen, nachdem er von Hugo Hasenkamp, einem korpulenten Mitarbeiter der Spusi, aus allen erdenklichen Richtungen fotografiert worden war.
»Grüß di, Hugo, wie schaut’s aus?«, fragte Egi den Hugo.
Als der den Fotoapparat zur Seite hielt, sah Egi dessen hochrote Nase.
»Mir geht’s beschissen, Egi, ich muss heim, wenn ich hier fertig bin. Ab morgen übernehmen die Kollegen«, krächzte der stämmige Mann jämmerlich.
»Gute Besserung, Hugo«, wünschte ihm Egi, als Hugo auf etwas an der Leiche zeigte.
Am hellen Klausenkostüm des Toten hing in Halshöhe ein etwa ein Meter langer Strick, den der Mörder höchstwahrscheinlich zum Würgewerkzeug zweckentfremdet hatte.
»Kennst du den, Egi?«, fragte Erich, der korpulente Schwabe im weißen Ganzkörperanzug, der ihm die Optik einer zweibeinigen Presswurst verlieh.
»Das ist der alte Moosberger«, antwortete der PHK.
Dass es den mal erwischen würde, war kein Wunder. Der alte Moosberger war einer gewesen, der sich mehr oder weniger geschickt durch die Geschäfts- und Politikwelt bewegt hatte. Wenn es um Skischanzen und Wählerstimmen ging, hatte der immer seine umtriebige Meinung verbreitet, auch wenn die keiner hatte hören wollen.
»Warst ja direkt davor gestanden. Was hast du denn gesehen?«, näselte Erich Engstein mit seinem ewig verstopften Riechorgan. Man munkelte, dass seine Nasenflügel stets akut geschwollen waren, da sie von den täglich auf sie einwirkenden Ausdünstungen am Seziertisch gereizt wurden, auch Leichenschnupfen genannt.
Egi grübelte. Er hatte rein gar nichts gesehen, weil er sich wie alle anderen Feiglinge geduckt hatte, als die Horde Klausen auf sie zugedonnert war.
»Ich möcht zu dem frühen Zeitpunkt keinen Ermittlungsergebnissen vorgreifen«, erklärte Egi in taktischer PHK-Manier.
»Du hast also wie immer von nix keine Ahnung«, kommentierte Erich und arbeitete konzentriert weiter an seiner Leiche.
Die stark alkoholisiert Nummer 6 hockte nun auf einem Stuhl vorm Egi und Rudi im Verhörraum 1 der PI Oberstdorf. Der PHK hatte dem Mörder wohlweißlich die Maske abgezogen und einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gekippt. Danach war der verkleidete Basti (Bastian Kämmer) brüllend aufgewacht und hatte erst einmal ziellos um sich herum geschlagen, wie sonst auch. Daraufhin hatte ihn der Rudi mit seinem deutlich höheren Kampfgewicht in die Mangel genommen und mit Kabelbindern am Stuhl fixiert. Der Polizeioberwachtmeister sah dem Ende des Verhörs schon freudig entgegen, dann könnte er endlich den Rest seines Wurstsalats verspeisen.
Basti glotzte Egi und Rudi verwundert mit seinen zusammengekniffenen Froschaugen an, er konnte sich nicht erklären, wie er vom Bahnhof in diesen gleißend hellen Leuchtstoffröhren-Raum mit dem Mikrofonknüppel auf dem Tisch gekommen war. Der PHK betrachtete den Mörder mit forschem Blick. Bei dem depperten Gesichtsausdruck unterm klebrigen Haarschopf war klar, dass die PI-Ermittler nicht auf viel Widerstand treffen würden. Hier würden sie sicher fix ans Ziel kommen, der einheimische Endzwanziger war nicht grad eine Intelligenzbestie. Den kannte hier jeder, er war der einzige Stammhalter vom Gerd Kämmer und hätte in ein paar Jahren dessen Ziegenhof in Rubi übernommen. Das würde jetzt erst einmal warten müssen, der Basti hatte nun ein paar Jährchen seine verdiente Strafe im Gefängnis abzusitzen.
Egi und Rudi hatten sich vorgenommen, den Mord aufzuklären, bevor die Kripo Kempten in der PI ankam, dann wäre der Chefmeier auch hoffentlich nicht mehr allzu grantig. Der Basti ahnte noch nichts davon, er runzelte fragend die Stirn, hinter der selbst bei aussetzendem Alkoholkonsum nicht viel zu passieren schien.
»Basti, was treibst denn für einen Scheiß? Warum hast den Moosberger umgelegt?«, begann Egi, um bald Feierabend machen zu können.
»Was soll i ham?«
»Warum hast den alten Moosberger umgelegt?«, konkretisierte Rudi die Frage.
»I hab kein umgelegt!«, lallte Basti und wollte aufstehen, aber er konnte sich nur ein bissle erheben, weil ja der Stuhl mit den Kabelbindern an seinen Armen und Beinen hing. Er gab resigniert auf und ließ sich zurücksinken.
»Jetzt tu nicht so, wir wissen, dass d’es warst! Es gibt Unmengen an Zeugen«, erklärte Egi, den die Zeit drängte.
»Ich war’s nicht! Und wie will mich denn einer erkannt haben mit’m Kuhkopf?« Angesichts der fatalen Anschuldigungen wurde der Basti langsam wieder nüchtern.
»Ja, mit deiner Nummer, du Depp! Du bist Klaus 6, der den alten Moosberger umgelegt hat«, erläuterte Rudi und dachte an seinen köstlichen Wurstsalat.
»Da habt ihr den Falschen, ich bin nicht die 6, ich bin die 14!« Basti beruhigte sich wieder etwas, die hatten sich ganz offensichtlich vertan.
»Für wie deppert hältst uns? Da hängt doch die 6 an deinem Fell«, meinte Egi ungeduldig und schaute auf die Uhr, die vor ihm an der Wand dem PHK-Verderben entgegentickte.
Basti schaute an sich herunter und erspähte den ihm unbekannten Aufkleber mit der Nummer 6.
»Naaa …!«, brüllte er und sprang wieder auf. Er hüpfte und wand sich so lang in den Fesseln, bis der Kabelbinder an seiner linken Hand riss. Dann griff Basti mit seiner Linken nach allem, was ihm in die Quere kam, unter anderem auch nach Rudis Hosenbein. Als dieses am Knie riss, packte Egi den Mörder und Randalierer von hinten. Dabei stieß ihn der Basti mit seinem Holzkopf an die PHK-Stirn. Es wuchs unverzüglich ein rotes Horn an Egis schütterem Haaransatz. Sein Vollbart spuckte unflätige Bemerkungen aus, die im Polizeidienst recht unangebracht schienen. Die Wache, die vor der Tür des Verhörraums lehnte, war von dem Getöse aufgewacht, eilte pflichtbewusst zu Hilfe, löste den Kabelbinder an Bastis Gliedmaßen und ersetzte ihn durch ordentliche Stahlhandschellen. Dann wurde Basti unter Protest von den drei Polizeibeamten in die Ausnüchterungszelle verfrachtet.
Erleichtert schlenderten Egi mit Stirnhorn und Rudi mit zerrissener Hose zurück in das PHK-Büro, das sie sich seit vielen Jahren teilten. Egi setzte sich auf seinen Bürostuhl und öffnete seine Sammelsurium-Schublade. Darin lagen noch die Notizen vom letzten Oberstdorfer Mordfall. Er nahm die Zettelwirtschafft mit den Lösungswörtern heraus und warf »rote Haare«, »Pfarrer«, »blauer Kies«, »Gefriertruhe«, »Latsche-Saunaöl«, »Kastenwagen«, »Schweinehälfte«, »Mann mit braunen Haaren und Sack« nebst Uroma Brunis Kritzel-Skizzen auf nimmer Wiedersehen in den Reißwolf. Dann griff er nach einem neuen Schmierzettel und schrieb sich die Lösung des kürzesten Mordfalls seiner Karriere auf: »Toter Klaus Nummer 1 = der alte Moosberger«, »Klausen-Mörder Nummer 6 = der Basti Kämmer«.
Er freute sich, dieses Mal würde er nur ein Blatt brauchen, das war olympischer Höchstrekord für ihn. Rudi holte indes lächelnd seinen Wurstsalat hervor und stellte ihn vor sich auf den Schreibtisch. Als er den Deckel der Frischhaltebox öffnete, mit der Gabel hineinstach und genüsslich den Mund öffnete, hörten die beiden Beamten ein undefinierbares Brüllen aus dem Flur. Egi, der gerade die Ermittlungen abschloss, blickte auf. Der Chefmeier war angekommen. Der PHK legte seinen fertigen Abschlussbericht in die Sammelsurium-Schublade. Rudi schloss den Deckel und steckte die Box unverrichteter Dinge zurück in seine Ledertasche.
»Tommi, bist wahnsinnig? Dein Alter kriegt’s doch sowieso raus, jetzt wo der alte Moosberger abgetreten ist!«
»Nein, das kann ich dem nie sagen! Nimm das Kostüm zurück und lauf ein paar Runden durchs Dorf. Ich muss daheim sein, bevor die zurück sind.«
»Ich mach da nicht mit, Tommi! Wenn ich noch raus geh, werd ich am Ende auch befragt, weil ich mit der 24 vorm alten Moosberger rumgerannt bin. Dabei warst du das, ich hab gar nix gemacht, und weiß auch nix davon zu verzählen!«
»Komm, Renni, sei ein guter Kumpel und geh nochmal mit der 24 raus, während ich daheim hock, bitte!«
»Naa!«
»Der Papi hat die 24 doch gesehen, weil ich die Belli und die Lilli vollgespritzt hab. Wennst das nicht für mich machst, kommt der drauf und ich darf nimmer vor die Tür bis ich achtzehn bin.«
»Naa!«