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Title: GRIMWEAVE. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2015. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: GRIMWEAVE
Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Michaela Rink
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2018) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-384-8
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Wie Mikado-Stäbchen lagen die Körper verstreut auf dem Boden. Alle waren gleich angezogen, in der typischen Ho-Chi-Minh-Kluft, bis hin zu den Sandalen und Kappen.
Die Gliedmaßen lagen in verrenkten und unnatürlichen Positionen, wie nur der Tod sie erfinden konnte. Bei den meisten war das Gesicht zerfetzt, manchen fehlte die Schädeldecke, wieder andere hatten Löcher im Rücken, wo die Hohlgeschosse das Rückgrat zersplittert hatten. Das waren die guten Treffer, die man bekommen konnte.
»Hier ist nicht viel, Gunny«, sagte Spiers, der nach Karten, Waffen und persönlichen Dingen suchte. Carmody stand unbeweglich wie eine Statue. Schweiß rann über sein grün bemaltes Gesicht. Er spuckte auf den Boden. »Ich will den Offizier«, sagte er. Seit sie die anderen alle umgenietet hatten und der Offizier ihnen wie ein Aal durch die Finger geglitten war, wiederholte er dies immer wieder. Das war wie ein Mantra: »Ich will den verdammten Offizier.«
»Er wird nicht weit kommen mit so einer Schussverletzung und wahrscheinlich stolpert er schon über seine Innereien.«
»Das kannst du nicht wissen.«
»Ich hab es durch meinen Sucher gesehen.«
»Einen Scheiß hast du gesehen.«
»Mann, wirklich.«
Carmody zog sich seine dreckige Kappe in die Stirn und leckte sich die Lippen. Sie schmeckten nach Salz, Lehm und Kordit.
»Du hast es durch deinen Sucher gesehen, Cherry? Willst du mir das jetzt weismachen? Ist das jetzt der Spruch des Tages?«
Spiers schüttelte den Kopf und blätterte durch zerknickte fleckige Fotos, die er den Toten abgenommen hatte. Es waren Bilder von deren Freundinnen. Sie sahen genauso aus wie die Huren und Barmädchen aus Saigon. Aus irgendeinem Grund fand er aber, dass sie doch anders aussahen. Er stopfte sie in seinen Rucksack.
»Komm schon, Gunny«, meinte er. »Ich bin jetzt seit acht Monaten in dem Land und bin keine Jungfrau mehr.«
Gunny lachte. »Acht Monate? Acht verdammte Monate? Du bist so frisch wie dein kleiner Pimmel mein Junge. Du hast noch nicht mal richtig Blut geleckt geschweige denn angefangen. Das hier ist meine dritte Tour. Wenn du drei Touren gemacht hast, du Scheißhausfliege, dann weißt du, was echte Scheiße ist. Es braucht allein drei Monate, um deine Eier abzukochen. Nach verdammten drei Scheißtouren weißt du, wie es ist, vom System so richtig gefickt zu werden.«
Spiers seufzte und zündete sich eine Zigarette an. Ja klar, jetzt geht es wieder los. 30 Jahre im Corps Bougainville und so weiter … »Alles schon gehört, Gunny, alles Scheiße und du bist der Held, wenn du schon nicht John Wayne bist.«
»John Wayne? Jetzt beleidige mich hier nicht und vergleiche mich mit dieser Hollywood-Schwuchtel, die nie gedient hat. John Wayne kann nicht das eine Ende eines Sturmgewehrs vom anderen unterscheiden. Der setzt sich doch zum Pissen.«
»War doch nur Spaß, Gunny.«
»Versuch das noch mal, und dann haben wir alle was zu lachen.«
»Schon gut.«
Carmody grinste wieder. »Das gefällt mir an dir, Cherry. Du hast vor niemandem Respekt. Was für ein Marine bist du eigentlich? Ich hab so das Gefühl, dass da ein Hippie in dir steckt, der versucht auszubrechen. Dass du dir deinen Arsch mit der Flagge abwischst und deinen BH verbrennst, wenn ich dich lassen würde.«
»Na, meine Titten sind hier in der Hitze schon verschwitzt genug, Gunny.«
Carmody machte ein finsteres Gesicht. Nun lachte Spiers. Das trauten sich nicht viele. Carmody war extrem bissig. Er mochte es, Leute zu zerfleischen. Er war gut darin. Wenn man aber mal hinter seine Fassade geblickt hatte, dann war er nicht ganz so schlimm. Man musste eben nur die Leichen übersehen, die er wie eine gezähmte Schlange hinterließ, und aufpassen, ihm nicht den Rücken zuzudrehen.
Spiers seufzte. »Die Waffen hier sind völlig wertlos, Gunny.« Er kickte nach einem Berg AK-47, die er den Leichen abgenommen hatte. »Noch nicht mal eine SKS drunter. Ich würde mein rechtes Ei für eine SKS tauschen. Jedes Mal, wenn wir hier draußen sind, denke ich, wir finden eine. Aber bis jetzt kein Glück.«
Eine SKS war eine halbautomatische Sturmwaffe, nach der er sich seit Monaten umschaute. Er war sich nicht mal sicher warum, nur der Tatsache, dass er noch keine bekommen hatte.
Carmody blickte in Richtung Baumgrenze. »Ja, ja, du und deine verdammte SKS. Und wer hat dir gesagt, du kannst dir einen Glimmstängel anmachen? Mach das Scheißding aus. Die Typen hier riechen den amerikanischen Tabak meilenweit.«
»Ich bin eh fertig.« Spiers zertrat die Zigarette mit seinem Stiefel in der feuchten Erde, sodass niemand einen amerikanischen Zigarettenstummel finden konnte.
Carmody zog sich die Mütze vom Kopf und schlug damit nach den Fliegen. Mit der anderen Hand kratze er sich seinen grauen stoppeligen Schädel. Mit dem Fernglas suchte er den Dschungel in alle Richtungen ab. Er fluchte und schüttelte den Kopf.
»Wenn dieser schlitzäugige Offizier angeschossen ist, dann hat er eine ziemlich gute Distanz gemacht.«
»Er stirbt sowieso, soll er. Den finden wir eh nie. Du weißt doch, wie die alle umfallen.«
»Halt‘s Maul, SuzieQ, und kümmere dich um die Waffen!«
Spiers machte sich daran, die AK‘s zu demontieren. Das war Standardverfahren. Was nicht mitgenommen werden konnte, musste für den Feind unbrauchbar gemacht werden. Im Falle von Sturmgewehren wurden diese so manipuliert, dass sie beim nächsten Gebrauch explodierten. Dem Feind etwas verweigern ging bis ins äußerste Extrem, wie alles in diesem Krieg. Die Infanterie zerstörte prinzipiell alles, was nicht mitgenommen werden konnte – sie verbrannten Hütten, sprengten Munitionslager, bauten Sprengfallen. Haustiere wie Schweine, Hühner und Hunde wurden erschossen und man brannte die Felder nieder. Es war eine regelrechte Kunst der völligen Zerstörung und es gab kein gefährlicheres Tier als einen losgelassenen amerikanischen 19-jährigen Jungen. Spiers hatte von SEALS und Berets gehört, die Giftflaschen in Brunnen schütteten oder Vieh mit Krankheitserregern infizierten. Vielleicht war das alles nur Schwachsinn, vielleicht aber auch nicht. Solche Geschichten jedenfalls machten die Runde und man versuchte nicht so viel darüber nachzudenken.
Spiers und Carmody waren ein Scharfschützen-Team, Kundschafter und Schütze, aber sie machten beide anteilig beides. Viel gab es nicht, was sie taten, außer dem Gegner Kugeln in die Köpfe zu ballern. Heute war es ein guter Überfall gewesen. Sechs Viet-Cong-Pioniere. Ein Kinderspiel. Sie hatten sie an einem trockenen Flussbett überrascht und einen nach dem anderen hochgenommen. Beide hatten sie den Feind verfolgt. Sie hatten oben auf einem Hügel in einem Bambusdickicht gehockt und geschossen, bevor die VC überhaupt kapierten, was los war. Es war fast schon zu einfach gewesen. Glatte Kopfschüsse in den meisten Fällen. Und jedes Mal hatte es Spiers gepackt: Sobald Köpfe fielen, drehte sein Verstand durch und die Schießerei fuhr wie ein elektrischer Nerv an ihm herunter. Es war fast schon obszön, einen Menschen so sterben zu sehen, zappelnd und windend und doch … faszinierend. Ein Nebenkriegsschauplatz, der einen anekelte, und doch musste man hinschauen. Keiner wünschte sich so einen Tod.
Carmody hatte schon ein paar Typen auf diese Weise hochgehen lassen. Die Schlitzaugen wollten es ja nicht anders, als sich so überwältigen zu lassen, während sie ihren Reis und Fisch verzehrten. Eigentlich sollte Uncle Ho ihnen dankbar sein für die Entsorgung der Bastarde. Nach der Schießerei hatte Carmody noch eine Granate ins Wasser geworfen, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. War zwar nicht unbedingt nötig gewesen, doch Carmody war eben sorgfältig. Trotz alledem war ihnen ein Offizier entkommen. Diese Viets konnten ganz schön hartnäckig sein, wenn sie wollten.
Spiers hatte ihn gut sehen können mit seinem Leinengürtel und dem roten Stern auf der quadratischen Alugürtelschnalle. Jawohl, ein Offizier. Er hatte ihn deutlich fallen sehen, als die Salve von Carmody ihn in den Bauch getroffen hatte, und doch war er entkommen. Verrückt. Nicht zum ersten Mal war Spiers vom Überlebenswillen der Menschen beeindruckt.
»Wir sollten unsere Ärsche besser hier rausbringen, Gunny«, sagte er mit einem unguten Gefühl. Die Sonne, die Hitze und der Gestank nach verfaultem Unterholz verunsicherten ihn. »Wir sollten nicht hier draußen bleiben.«
Doch Carmody hatte seinen typischen Blick.
»Ich denke, wir sollten diesen Offizier verfolgen, Cherry.«
Scheiße, dachte Spiers, da geht mein Feierabendbier flöten. Carmody, du verdammter Schlitzaugen-Jim-Jäger.
Er leckte sich das Salz von den Lippen. »Vielleicht sollten wir es jetzt dabei belassen, Gunny. Der Typ hat sich bestimmt in Richtung Basislager davongemacht. Wir sind nicht in der Lage, es heute noch mit einer ganzen VC-Kompanie aufzunehmen.«
»Sei nicht so ein Waschweib, Cherry. Da draußen ist kein Camp. Da ist gar nichts. Keine Charlies, noch nicht mal Tarzan. Nur ein Schlitzauge mit einem Bauchschuss, das ich endgültig erledigen will. Auch wenn der Hurensohn tot sein sollte, wenn wir ihn finden.«
Spiers schüttelte den Kopf. »Mann, der ist in Richtung Osten abgehauen, verdammt nochmal. Möglicherweise zur Grenze, nach Kambodscha, zu seiner Einheit. Verdammte Scheiße, wir sind wahrscheinlich selbst nicht weit weg davon. Wir sollen nicht über die Grenze, das weißt du so gut wie ich.«
»Sagt wer?«
»Die Vorschriften. Unser Auftrag.«
»Fick die Regeln, Cherry«, fluchte Carmody. »Ich will den Affenarsch. Ich will seinen dämlichen Schädel an meine Wand nageln. Außerdem sind wir gut zwölf Stunden von der Grenze entfernt und der liegt wahrscheinlich schon tot im Gebüsch. Ich sage, wir greifen uns den Hurensohn.«
Spiers spuckte aus. »Das sind keine zwölf Stunden, Gunny, wir sind viel näher dran. So weit draußen waren wir noch nie. Die Grenze ist garantiert hinter diesem Hügel, und dann werden wir gefasst.«
»Meinst du?«
Spiers nickte. »Die Chopper …«
»Mach dir nicht so ins Hemd, Cherry. Die kommen nicht. Solange niemand ein Signal gibt, wird hier keiner kommen. Sie werden uns frühestens morgen holen, und dann warten wir auf sie.«
»Oh Mann, Gunny, ich brauch ein kaltes Bier.«
»Fick dich, dein kaltes Bier und die heilige Maria.«
Spiers rieb sich die Augen. Er brauchte das jetzt, sowie Titten und einen Ritt. Das roch ja förmlich nach KIA (gefallen im Krieg) / WIA (verwundet im Krieg) oder noch schlimmer POW (Kriegsgefangener). Er wusste, dass so was passieren könnte. Carmody war verrückt nach diesen Schlitzaugen. Ein furchtloser Bluthund. Gewöhnlich waren sie ein Totschläger-Team, bestehend aus fünf Mann. Carmody, Spiers, zwei Infanteristen und ein Funker. Doch wenn es nur sie beide waren, dann benahm sich Carmody wie auf einem Vater-Sohn-Camping-Trip. Ein verdammter Pfadfinder auf Wanderschaft zum Camp Pokatwatta. Es war zwecklos, zu streiten. Carmody war der Ranghöhere.
»Okay, Gunny, wie du willst. Da kann ich nicht widersprechen. Ich mach, was ich soll, wie ein braver kleiner Soldat.«
»Das wollte ich hören, Cherry.«
»Ha, das glaub ich dir. Du bist nicht gerade bekannt für leben und leben lassen.«
Carmody blitze ihn an. »Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, was du hier machst. Ich sehe dich doch diese kommunistische Propaganda-Scheiße lesen. Glaub ja nicht, ich hätte das nicht bemerkt.«
»Welche Propaganda?«
Carmody spuckte auf eine Eidechse. »Diese chinesische Scheiße. Diese Chi-Com-Gehirnwäsche und all so was. Demnächst trägst du so ein verficktes Parteiabzeichen und lutschst Onkels Ho‘s Schwanz.«
Spiers musste fast laut lachen. Das Buch, auf das Carmody anspielte, war Sun Tzu’s »Die Kunst des Krieges«, ein klassischer Text über die Kriegsführung der Han-Dynastie, geschrieben vor weit über zweitausend Jahren. Er fand es ziemlich interessant, allerdings nicht so, dass er es gekauft hätte. Hatte er auch nicht, er hatte es sage und schreibe gefangen. Das Buch war ihm von einem Green Beret auf dem Weg ins A-Shau-Tal aus einem Chopper zugeworfen worden. Das war vor sechs Monaten gewesen und Spiers hatte es immer noch. Es war zerknittert und verschmiert und hatte ziemlich viele Eselsohren. Doch er schaute immer wieder rein, obwohl er es schon zweimal von vorn bis hinten durchgelesen hatte. Es war zu ihm wie Manna aus dem Himmel gekommen und er sah es als eine Art Talisman.
»Da ist nichts Kommunistisches dran, Gunny.«
»Eine Scheiße.«
Carmody würde es niemals glauben, und Spiers wusste das. Bücher waren nichts für Carmody. Er las die Sportseite der Zeitung, die gerade die Runde machte, und weigerte sich sogar die Schlagzeilen der sogenannten Linken Presse zu lesen. Etwas, das Spiers ziemlich amüsant fand. »Das mag ich so an dir, Gunny. Du bist so verdammt engstirnig. Das Pentagon erzählt dir irgendeine Scheiße, und du benimmst dich, als wäre es das normalste der Welt.«
Carmody kam dicht an ihn ran: »Hör mal zu, Cherry. Ich bin kein verdammter Fahnenschwinger. Ich kam nach Vietnam, um zu töten. Du magst denken, es sei für Vaterland und Ehre, aber das zeigt nur, wie verdammt beeinflusst DU bist. Ich töte Kommunisten, weil ich sie hasse, und es macht mir Spaß, die kleinen Ficker zu töten. Ich trete auf sie wie andere auf Fliegen. Es macht mir eine unbändige Freude diese kleinen Ungeziefer zu zertreten und zu zerquetschen, weil ich eine fiese und herzlose Motherfucking-Killermaschine bin. Ich bin die Scheiße in ihren Reistöpfen, und jedes Mal, wenn Charlie drauf kaut, wird er sich vor meinem Geschmack ekeln.«
»Gunny, bei allem Respekt, langsam glaub‘ ich, du bist ein erstklassiger Psychopath.«
»So ist es, mein Junge, ich nehme Leben, trinke Blut und ficke Leichen. Ich lasse Ärsche erzittern und Eier schrumpfen. Ich bin der Albtraum jeder Mutter und ein feuchter Traum für jeden Oberbefehlshaber.« Er grinste sadistisch und zwinkerte Spiers zu. »So, nachdem das geklärt ist, tüten wir jetzt den Offizier ein.«
Spiers zuckte mit den Schultern. Er hatte eh nichts zu sagen und wusste das auch. So viel dazu, zur Basis zurückzukehren für ein paar kalte Bier und eine ordentliche Mütze Schlaf. Heute würden sie »FSB Deep Cut« jedenfalls nicht mehr sehen. Vielleicht morgen … obwohl … wohl kaum.
Carmody prüfte seine Ausrüstung mit dem Eifer eines Jungen, der vor seiner ersten Novemberjagd von seinen ersten Hirschgeweihen und Trophäen träumte. Der Glanz in seinen Augen war jedenfalls der Gleiche.
»Ich geh nochmal pissen, bevor es losgeht«, verkündete Spiers.
Carmody knurrte. »Oh Mann, du hast die Blase einer Zwölfjährigen. Dann lüfte deinen Schlitz und mach deinen Rock nicht nass. Herrgott nochmal.«
Spiers verschwand hinter einem Baum. Warum auch immer. Schließlich lebte er schon seit Monaten in enger Gemeinschaft mit kampferprobten Marines – rau, derb und anzüglich – und da gab es so was wie Privatsphäre nicht. Doch wenn man sie bekommen konnte, dann nahm man sie sich. Unabhängig der Geschichten über die armen Bastarde, die von Charlies kaltgemacht worden sein sollen, wenn sie pinkeln waren.
Als er zurückkam, starrte Carmody auf die mit Fliegen übersäten Körper, die in der Hitze schmorten. »Wir sind bald wieder zurück. Stellt schon mal eine Kerze ins Fenster.«
»Komm schon«, sagte Spiers.
Carmody grinste, kein sehr schöner Anblick. Seine Zähne waren wie gelbe Grabsteine in seinem vernarbten und bemalten Gesicht.
»Schnapp dir dein Zeug. Wir krallen uns einen Chuck und treten ein wenig in Scheiße.«
Spiers hatte das Gefühl, dass sie in noch viel größere Scheiße geraten würden. In etwas, das er nicht benennen konnte.
Sie bewegten sich leise, kontrolliert und raubtierhaft, wie Katzen. Carmody führte sie durch Bäume mit dichtem Blätterwerk und ein Gewirr aus Farnen, knorrigem Teakholz, Ranken und durch schweres klumpiges Unterholz. Der Boden war schlammig und uneben, ein Hindernislauf über faules Holz, heruntergefallene Zweige und belaubten Lehmboden, in dem ihre Stiefel tief versanken. Der Regenwald verschluckte das meiste Sonnenlicht und kreierte Wechselspiele aus Schatten und Nebelschwaden. Wann immer sie rauskamen aus dem Dickicht, an die heiße Sonne, waren es Wiesen aus rasiermesserscharfem hohen Gras, das in die bloße Haut schnitt. Dann verschwanden sie wieder im Dschungel, um sich durch ein Dickicht aus verflochtenem Gestrüpp, verknoteten Schlingpflanzen und schlammigen Erdwällen zu kämpfen, immer begleitet von Moskitoschwärmen, die sie ständig belästigten. Das einzig Gute daran war, dadurch, dass es so ein einfaches Land war – urzeitlich, ging es Spiers durch den Kopf – und so beengt, gab es keine Möglichkeit für eine wirklich große Einheit, da hindurch zu kommen. Außer kleinen VC-Gruppen hatten sie wohl nicht viel zu befürchten, abgesehen von der örtlichen Tierwelt wie giftigen Schlangen, Spinnen und anderen ekelhaften Kreaturen, die in diesem riesigen Höllenschlund lebten.
Obwohl Carmody doppelt so alt war, bewegte er sich durch den Dschungel wie ein Eingeborener, so ein verdammter Nun-Kit-Carson-Kundschafter. Er war schnell, vorsichtig, leise und geschmeidig. Es schien fast schon nicht mehr menschlich. Er war halb Affe, halb Schlange, halb Maulwurf. Kein Mensch konnte sich so bewegen. Das war schon unnatürlich, und Spiers hatte schwer damit zu kämpfen, hinterherzukommen.
»Mach schon, Marine«, flüsterte Carmody und hielt ein paar Farne zu Seite. »Du bewegst dich so, wie meine jungfräuliche Tante fickt.«
Der verdammte Hurensohn führt uns direkt in eine VC Falle und in sechs Monaten finden irgendwelche ARVN-Typen unsere Knochen und wundern sich, wer wir waren, dachte Spiers.
Die Landschaft war eine Ansammlung aus dichter Vegetation und es gab einfach zu viele Stellen für den Feind, sich zu verstecken. Und dieser Offizier … nun der konnte hier überall irgendwo gestorben sein. Sie hätten über ihn stolpern können und ihn trotzdem nicht bemerken. Das war doch Scheiße. So wie es aussah, würde es dunkel sein, bevor sie zur Landezone zurückkämen. Sie überquerten ein weitläufiges Moorgebiet aus smaragdgrünem Wasser, überzogen mit Algen und flinken Käfern. Der Boden war rutschig, er bestand aus flachen, moosigen Steinen, und sie hatten Mühe, nicht auf den Arsch zu fallen mit ihrer ganzen Ausrüstung. Jedenfalls war es für Spiers so. Carmody bewegte sich vorwärts wie ein Kind, trittsicher und mit tadelloser Balance. Plötzlich hielt Carmody eine Hand hoch und Spiers stand sofort still. Sein Herz klopfte, er stand bis zu den Knien im Schlamm. Wenn sie jetzt auf den Feind träfen, wäre er ein toter Mann. Nach einem Augenblick winkte Carmody ihn zu sich.
»Siehst du das?«, fragte er.
Ja, Spiers konnte es auch sehen, auf einem flachen Blatt waren ein paar Tropfen Blut zu erkennen. Dahinter eine deutliche Spur durch die Farnwedel. Viele Zweige waren dort abgebrochen, Blätter umgeknickt, mit der hellen Seite nach oben. Ein verfaulter Stamm lag umgedreht mit der dunklen Seite nach oben. Da ist jemand eilig durchgelaufen. Jemand, der blindlings durch den Dschungel rannte, ohne sich umzuschauen und seine Spur zu verwischen.
Es war die Art von Spur, die eine verletzte und verzweifelte Person hinterlassen würde. Carmody grinste und bewegte sich langsam und vorsichtig geduckt weiter. Die Augen und Ohren offen und mit der Nase voran wie ein Jagdhund auf der Spur einer Beutelratte. Er sah nicht nur Blut, wusste Spiers, er roch es auch, und nichts würde ihn mehr aufhalten. Er war unbarmherzig, wenn er dem Feind auf der Spur war, absolut unbarmherzig. Wenn er jemanden verfolgte, war er knallhart und ein teuflischer Killer. Jetzt gab es kein Zurück mehr, er würde nicht eher ruhen, bis er den Offizier plattgemacht hatte. Es war undenkbar für ihn, so wie Sex ohne Orgasmus.
Carmody wurde immer aufgeregter. Man sah es ihm äußerlich zwar nicht an, doch innerlich konnte er sich kaum zurückhalten, da er jetzt wusste, wo sein Ziel war. Das Jagen eines Menschen war nicht nur eine Wissenschaft für sich, sondern eben auch das Lesen einer Blutspur. Als sie die Verfolgung nun aufnahmen, sah das Blut des Mannes trocken und dunkel aus. Das bedeutete, dass es schon älter war. Doch je länger sie der Spur folgten – und sie hatten eine heiße Spur hier – desto frischer wurde es. Klebriges und nasses Blut. Carmody entdeckte immer mehr davon. Der Offizier musste ziemlich stark bluten. Bald würde er leuchtend rotes Blut sehen, das noch voller Sauerstoffbläschen war, und wenn er das sehen würde, dann war er bereit für den letzten Schuss.
Spiers hatte recht behalten mit seiner Behauptung, dass der Vietcong einen guten Schuss abbekommen hatte. Carmody konnte es daran erkennen, dass der Typ viel Blut verlor und die Art und Weise wie er durch den Dschungel stolperte. Er war in regelrechter Panik, da er wusste, dass er verfolgt wurde. Er starb wahrscheinlich sowieso, aber der Überlebenswille schleppte ihn voran wie ein verwundetes Tier. Er würde nicht eher aufgeben, bis er zu viel Blut verloren hätte und zu schwach wäre, oder bis zu dem Punkt, an dem er keine andere Wahl hätte, als sich wie ein Tier einen Platz zum Sterben zu suchen.
Es war Carmodys größte Sorge, dass der Offizier – sein Opfer, soweit es ihn betraf – sterben würde, bevor er ihn erreichte. Das wäre extrem enttäuschend für einen Kerl wie Carmody, der nicht nur seine Gegner wissen lassen wollte, dass sie getötet wurden, sondern auch von wem. Bei seiner Verfolgung durch das Dickicht und der Blutspur konnte er nicht erkennen, ob der VC angehalten hatte, um seine Wunden zu versorgen. Vielleicht machte er das während des Laufens. Das wäre natürlich möglich. Manche dieser Bastarde waren zähe Schweinehunde. Aber die Tatsache, dass Carmody keine Anzeichen von Verzögerung in der Flucht des Offiziers erkennen konnte, ließ ihn vermuten, dass noch genug Leben in ihm war, und das ließ ihn lächeln. Du kleiner Hosenscheißer bereitest mir das größte Vergnügen seit Wochen. Es machte Spaß, aber es war auch ein ernstes Geschäft und man musste pragmatisch und überlegt handeln. Carmody war angespannt, aber auf eine positive Art, verbunden mit Aufregung, doch er wusste, er musste auf der Hut sein und durfte keinen Fehler machen.
Dieser schlitzäugige Offizier war wie jeder andere Soldat auch. Wenn man wusste, dass man stirbt, dann will man das nicht allein, und er hatte vielleicht entschieden, seine Verfolger mit in den Tod zu reißen. Das Letzte, was Carmody wollte, war in eine Falle zu treten und mit einer AK-47 aufgeschlitzt zu werden. Folglich bewegte er sich ruhig und vorsichtig, mit geschärften Sinnen. Er konnte Spiers hinter sich hören. Der machte nicht viel Lärm, aber mehr als Carmody lieb war. Spiers war ein guter Mann. Carmody würde schon noch einen richtigen Marine aus ihm machen, auf die eine oder andere Weise. Er würde einen erstklassigen Kundschafter-Scharfschützen aus ihm machen, ob er es nun wollte oder nicht. Ja, Carmody wusste, dass er das nicht mochte. Nicht wirklich. Er selbst war das Ergebnis seiner Generation und des Krieges. Diese neuen Jungs wollten losziehen, Erfahrungen sammeln, einen VC töten und rechtzeitig zum Essen wieder im Kamp sein, sich dann besaufen und einen schlampigen Blowjob bekommen. Doch das machte ihm Sorgen bei den Nachwuchs-Marines. Sie schienen die Härte der alten Schule nicht zu begreifen. Zu viel Technik, zu viele raffinierte Spielsachen.
Manchmal ertappte er sich dabei, dass er den leichten Weg ging und sich anpasste. In Korea waren Kundschafter-Scharfschützen-Teams tagelang auf Mission unterwegs gewesen, doch in Vietnam war es anders. Hier waren es für gewöhnlich Tagestouren. Die Helis machten es möglich. Es gab wenige Nachteinsätze. Ab und an ging er mit einer Platoon- oder Einsatztruppe raus, immer auf der Jagd nach VC- oder NVA-Vorhut oder Kundschafter. Es war sein Job, diese kaltzumachen, und er liebte es. Aber es war mehr ein schnelles Zielen und Schießen und man benötigte dafür nicht wirkliches Können, keine Strategie oder Taktik. Der befehlshabende Offizier schrie: »Scharfschütze rauf«, und sagte ihm, wo er gefordert wurde. Wie er es machte, war seine Sache. Hauptsache er erledigte seinen Job. Das war ja ganz okay, aber es gab ihm nicht das gleiche Gefühl wie mit einem fünfköpfigen Jäger-Killer-Team in den Dschungel zu ziehen und nach möglichen Zielen Ausschau zu halten, oder so wie er und Spiers als Kundschafter-Scharfschützen-Team nach einem bestimmten Ziel zu jagen. Das waren die guten Jobs. Carmody mochte es so am liebsten, nur sie beide. Zwei Kerle konnten ernsthaften Schaden anrichten, waren aber wesentlich schwerer zu verfolgen im dichten Dschungel. Es war wie das berühmte Katz-und-Maus-Spiel, für das Carmody lebte. Er war gut darin und wusste es. Er wollte nicht mal darüber nachdenken, wie viele Stunden er auf irgendwelchen Hügeln auf seine Opfer gelauert hatte, ohne sich zu bewegen, kaum atmend, sich selbst einnässend, damit er seine Position nicht verriet, während Käfer über ihn krabbelten und Schlangen nicht ahnten, dass er etwas anderes als ein Stück Holz war, und an ihm vorbeiglitten. Das war nicht für jeden etwas. Wenige hatten die Nerven oder die Geduld dafür. Besonders Jungs, die möglichst schnell einen Sieg fürs Team verbuchen und dann zurück zum Kamp wollten, um sich zu besaufen und ihren Sieg zu feiern. Carmody war lange genug bei den Marines. Er hatte jetzt einen Schreibtischjob und war nur dann draußen im Gelände, wenn er seine Beziehungen spielen ließ und Gefälligkeiten einforderte. Dort war er einer der Besten, als Schreibtischtäter war er völlig nutzlos.
Was war das?
Er sah etwas Blut auf einem Farnblatt. Frisches Blut. Doch das war nicht, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Da war etwas anderes. Im Gras sah er einen weißen Faden glitzern. Stolperdraht? Er gab Spiers das Zeichen zum Stehenbleiben und kroch auf dem Bauch näher heran. Er spürte das Wasser durch seine Ausrüstung dringen. Der Draht war mit nichts verbunden. Er lag einfach nur da. Mit der Messerklinge befreite er das Stück und nahm es in die Hand. Es war klebrig und doch irgendwie seidig. Er versuchte es zu zerreißen, doch das war nicht möglich. Zuerst dachte er an Spinnweben, aber das war es auch nicht. Es war auch kein Draht … nicht wirklich! Es war so etwas wie eine Angelschnur aus Kunststoff, nur sehr viel dünner. Er zerschnitt es mit seinem Messer, allerdings musste er es regelrecht durchsägen. Dabei war seine Klinge scharf genug, um Kehlen zu durchschneiden. Ein seltsames Zeugs. Es könnte ein neuartiger Draht sein, aber wenn dem so wäre, dann würden es die Viets kaum benutzen. Alles, was sie hatten, war erbettelt, geliehen oder gestohlen. Er winkte Spiers zu sich.
»Was ist das denn für eine Scheiße?«, fragte Spiers.
»Keine Ahnung. Vielleicht etwas Synthetisches.«
Spiers nahm es in die Hand und ließ es gleich wieder fallen. Es gefiel ihm nicht. Carmody schaut in die Bäume hinauf. Er spürte eine Bewegung. Für einen kurzen Moment dachte er, er hätte einen Schatten in den Baumkronen gesehen, aber da war nichts. Vielleicht war es ein Affe. Er starrte weiter beobachtend nach oben und spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, den er sich nicht erklären konnte. Es war unmöglich für einen VC, so hoch in den Bäumen zu sein, sechs Meter über dem Boden, und doch hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Das war lächerlich, natürlich, aber das Gefühl blieb, und das gefiel ihm gar nicht.
Spiers starrte ebenfalls nach oben. »Was ist los, Gunny?«, flüsterte er.
Carmody schüttelte den Kopf. »Nichts als meine Fantasie.«
»Bist du sicher?«
»Lass uns gehen«, sagte er. »Unser Tag ist jetzt noch nicht rum.«