Über die Autorin

Dr. Sally M. Winston ist Gründerin des Anxiety and Stress Disorders Institute of Maryland in Towson, das sie zusammen mit Dr. Steven Shearer leitet. Als erste Vorsitzende des medizinischen Beirats der Anxiety and Depression Association of America (ADAA) wurde sie mit dem renommierten Jerilyn Ross Clinician Advocate Award ausgezeichnet. Begehrt sind auch die Workshops, die die erfahrene Psychologin seit Jahrzehnten gibt. Außerdem ist sie Koautorin des Buchs What Every Therapist Needs to Know About Anxiety Disorders.

Über den Autor

Dr. Martin N. Seif war von 1977 bis 1991 im Vorstand der von ihm mitgegründeten Anxiety and Depression Association of America. Heute ist der vom American Board of Professional Psychology zugelassene kognitive Verhaltenspsychologe stellvertretender Direktor des Anxiety and Phobia Treatment Centers am White Plains Hospital und Dozent am New York Presbyterian Hospital. Außerdem hat er eine eigene Praxis in New York und in Greenwich (Connecticut). Er ist Koautor des Buchs What Every Therapist Needs to Know About Anxiety Disorders.

Sally M. Winston & Martin N. Seif

Tyrannen in meinem Kopf
Zwangsgedanken überwinden – ein Selbsthilfeprogramm

Über dieses Buch

Frei sein von der Tyrannei aufdringlicher Gedanken 

Beinahe jeder Mensch denkt unwillkürlich Dinge, die er gar nicht denken will. Doch einigen Menschen gehen diese Gedanken nicht wieder aus dem Kopf. An der Bahnsteigkante kommt ihnen in den Sinn: „Und wenn ich jetzt springe?“ Sie springen nicht, grübeln aber fortan darüber nach, ob sie selbstmordgefährdet sind. Oder ihnen schießt durch den Kopf, sie könnten jemandem Gewalt antun und fragen sich immerfort, was ein solcher Gedanke über sie „verraten“ könnte. Aufdringliche Gedanken machen Angst und verursachen nicht selten Scham. 

Unwillkürliche Gedanken sind keine bewussten Entscheidungen, ihr Inhalt lässt keine Rückschlüsse auf den Charakter eines Menschen zu. Und je intensiver Sie sich bemühen, einen Gedanken loszuwerden, umso hartnäckiger setzt er sich fest. Die Autoren entlarven viele Annahmen über zwanghafte Gedanken und stellen wirkungsvolle Techniken vor, sie zu überwinden. Das beschriebene Selbsthilfeprogramm ermöglicht ein Leben frei von der Tyrannei aufdringlicher Gedanken.

Sally M. Winston, Gründerin des Anxiety and Stress Disorders Institute of Maryland. Langjährige Erfahrung als Klinikerin und in der Weiterbildung von Therapeuten.

Martin N. Seif, PhD,ist stellvertretender Direktor des Anxiety and Phobia Treatment Center in New York und arbeitet in eigener Praxis.

Copyright: © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2018

Copyright © der Originalausgabe: 2017 by Sally M. Winston and Martin N. Seif.

Translated from the English: Overcoming Unwanted and Intrusive Thoughts. A CBT-Based Guide to Getting Over Frightening, Obsessive, or Disturbing Thoughts.
First published by: New Harbinger Publications, Inc.

Coverfoto: © NLshop – iStock

Übersetzung: Claudia Campisi

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz: Peter Marwitz, Kiel (etherial.de)

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2018

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-720-9

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-820-6 (EPUB), 978-3-95571-822-0 (PDF), 978-3-95571-821-3 (MOBI).

Für Mort, Carla, Maggie und Molly
— S. W.

Für Samantha, Laura, Sam, Clare, Ruta und Adam
— M. S.

Einleitung

Haben Sie schon einmal ganz friedlich an einer Bahnsteigkante gestanden und plötzlich, aus heiterem Himmel gedacht: „Ich könnte runterspringen und sterben!“? Oder ist Ihnen der Gedanke durch den Kopf geschossen: „Hey, ich könnte diesen Typen da auf die Gleise schubsen!“?

90 Prozent aller Befragten würden mit Ja antworten.

Aber uns brennen noch weitere einschlägige Fragen unter den Nägeln. Befürchten Sie, dass Ihre Gedanken Sie dazu verleiten könnten, etwas Schreckliches zu tun? Oder werden Sie von dem Gedanken geplagt, dass Sie ohne es zu merken bereits etwas Schlimmes getan haben? Oder glauben Sie, dass es etwas zu bedeuten hat, wenn Sie auf solche Gedanken kommen? Oder bringt ein Gedanke Sie schier um den Verstand, weil Sie ihn einfach nicht aus Ihrem Kopf herauskriegen? Oder graut Ihnen davor, dass diese bizarren, abstoßenden oder brutalen Szenen, die sich immer und immer wieder in Ihrer Vorstellung abspielen, ein Zeichen dafür sein könnten, dass Sie total verkorkst sind und sich deswegen schämen müssten? Hoffen und beten Sie, diese Gedanken mögen niemals mehr wiederkehren? Aber sie kehren wieder und hören nicht auf, Sie zu bedrängen. Sie haben sich in Ihren Kopf hineingebohrt und stecken fest.

Diese schrecklichen, nervigen und beängstigenden Gedanken, die sich Ihnen aufzwingen, haben einen Namen: belastende aufdringliche Gedanken bzw. Zwangsgedanken (intrusive Gedanken in der Fachsprache). Wer hat sie? Ganz normale, anständige Menschen. Wenn Sie von beunruhigenden Gedanken gequält werden – die Sie nicht haben wollen und die Sie niemandem erzählen können –, dann lesen Sie dieses Buch: Es könnte Ihr Leben verändern.

Unsere erste Botschaft lautet: Sie sind nicht allein. Millionen andere erleben dasselbe. Nette Leute denken fiese Dinge. Herzensguten Menschen kommen die brutalsten Ideen. Menschen, die ganz und gar nicht verrückt sind, haben völlig verrückte Einfälle. Sie alle haben wiederkehrende Gedanken, die sich nicht abstellen lassen.

Über den Daumen gepeilt, gibt es allein in den USA mehr als sechs Millionen Menschen, die mindestens einmal im Leben von belastenden aufdringlichen Gedanken tyrannisiert werden. Das Schweigen, die Angst, die Schamgefühle darum verstärken das Leid und führen in die Vereinsamung, denn viele gutherzige Menschen wissen nicht, dass es noch viele andere gibt, denen es genauso geht, und schleppen ihre Last allein mit sich herum.

Unsere zweite Botschaft lautet: Sie sind ausgesprochen mutig. Sie hatten den Mut, dieses Buch zu kaufen, in die Hand zu nehmen und bis hierhin zu lesen. Weil Sie glauben, dass Ihre störenden Gedanken etwas zu bedeuten haben und gefährlich sein könnten, setzen Sie alles daran, sie aus Ihrem Kopf zu vertreiben. Bestimmt haben Sie schon alles Mögliche in dieser Richtung unternommen.

Im Zuge Ihrer Anstrengungen sind Sie wahrscheinlich auf eine sehr frustrierende und wichtige Wahrheit gestoßen: Gedanken verdrängen zu wollen funktioniert bei Ihnen nicht. Das funktioniert bei niemandem.

Daher lautet einer unserer Grundsätze: Wenn Sie weiterhin immer dasselbe tun, bekommen Sie immer dasselbe (Forsythe & Eifert 2007). Umgekehrt heißt das: Probieren Sie etwas anderes aus, dann werden Sie auch etwas erreichen. Der Fehler liegt nicht bei Ihnen, sondern an Ihrer Methode, dies möchten wir als Erstes klarstellen. An dieser Stelle setzt unser Buch an. Was die Not unserer Meinung nach erheblich lindert, ist die Einsicht, dass man nicht allein ist, das Benennen der Gedanken beim Namen sowie ein angst- und schamfreier Umgang damit. Darüber hinaus werden wir Sie auf den aktuellen Wissensstand bezüglich belastender aufdringlicher Gedanken bringen und Ihnen erzählen, welche verschiedenen Arten es davon gibt, wodurch sie genährt werden und welche Methoden am besten helfen, wenn man sich das Leben nicht von diesen Endlosschleifen vermiesen lassen will.

Gut zu wissen: Der Fehler liegt nicht bei Ihnen, sondern an der Art, wie Sie mit Ihren Gedanken umgehen..

Das Folgende ist eine ganze typische Rückmeldung, wie wir sie des Öfteren von Menschen erhalten, nachdem sie über belastende aufdringliche Gedanken aufgeklärt wurden:

„Seit mehr als elf Jahren habe ich eine Angststörung und die meiste Zeit auch intrusive Gedanken. Meine Therapeutinnen kennen sich damit nicht gut aus, und Sie wissen ja, wie mühsam es ist, wenn man versucht, mit anderen darüber zu sprechen.

Ihr Artikel über aufdringliche Gedanken hat mir neue Hoffnung gegeben, vor allem deshalb, weil Sie klarstellen, dass Gewalt oder Sex häufig eine Rolle spielen. Ich dachte, ich wäre geisteskrank und verkorkst – einfach inakzeptabel. Es beim Namen genannt und so klar und deutlich beschrieben zu sehen ist die reinste Offenbarung und bestärkt mich darin, mir Hilfe zu holen.“

Allerdings kommt man bei belastenden aufdringlichen Gedanken gar nicht so einfach an Hilfe. Gespräche mit teilnahmsvollen, aber verständnislosen Freunden oder Familienangehörigen führen meist nicht weiter, sondern verschlimmern die Situation eher noch. Wer es wagt, offen darüber zu sprechen, erhält meist keine adäquate Reaktion. Und von allein verschwindet das Problem leider nicht. Deshalb braucht man ein Selbsthilfebuch, das sich ausschließlich diesem Thema widmet.

Eventuell haben Sie schon mit einem Therapeuten über Ihre belastenden aufdringlichen Gedanken gesprochen oder haben sogar schon eine Diagnose, bei der Intrusionen zum Krankheitsbild gehören. Doch nicht alle Therapeuten wissen, was in diesem Fall zu tun ist. Oder vielleicht haben Sie Hemmungen, darüber zu sprechen. Wenn Sie bisher nichts gefunden haben, was hilft, dann ist dieses Buch genau richtig für Sie. Sie lernen ein praktisches und wirksames Programm kennen, das Ihnen zeigt, wie Sie leben können, ohne dass Ihnen vor Ihren eigenen Gedanken graut und Sie sich davon entmutigen und quälen lassen.

Wie Sie für sich das Beste aus diesem Buch herausholen

Denken Sie daran: Wissen ist Macht. Je mehr Sie über belastende aufdringliche Gedanken wissen, desto weniger werden Sie darunter leiden. Ganz sicher haben Sie den größten Nutzen von diesem Buch, wenn Sie es der Reihe nach, von Anfang bis Ende durchlesen. Da Sie es wahrscheinlich kaum abwarten können und sich unverzüglich an die Arbeit machen wollen, erklären wir von den ersten Seiten an, wie Sie sich von Ihren „Tyrannen“ befreien können, und fahren dann nach und nach fort damit. Betrachten Sie also die Anfangskapitel dieses Buchs als die ersten Schritte auf dem Weg zur Genesung. Es kann sogar sein, dass das schon ausreicht und Sie nichts weiter brauchen.

Kapitel 1 ist vollgepackt mit Fakten über belastende aufdringliche Gedanken inklusive den neuesten Informationen zu diesem Thema. In Kapitel 2 werden die verschiedenen Arten dieser störenden Gedanken ausführlich beschrieben. Kapitel 3 entlarvt die Ammenmärchen, die das Problem noch verstärken, und Kapitel 4 gibt Antworten auf häufig gestellte Fragen. In Kapitel 5 erfahren Sie, wie es kommt, dass bestimmte, zunächst flüchtige Einfälle sich dauerhaft als belastende aufdringliche Gedanken im Kopf einquartieren und welche Rolle Ihr Gehirn dabei spielt. Warum Ihre Anstrengungen erfolglos bleiben und viele der traditionellen Angstmanagementtechniken sogar kontraproduktiv sein können, erklären wir in Kapitel 6. Gute Erklärungen wirken therapeutisch!

Gut zu wissen: Je genauer man über belastende aufdringliche Gedanken informiert ist, desto weniger leidet man darunter..

In Kapitel 7, 8 und 9 erhalten Sie präzise Vorschläge, wie Sie Ihre Glaubenssätze und Einstellungen verändern können und wie Sie Körper, Geist und Seele dahin bringen, anders zu reagieren. Im Großen und Ganzen bauen die Informationen der einzelnen Kapitel aufeinander auf, damit Sie Ihre Kenntnisse bewusst und systematisch anwenden können. Nur so werden Sie die Schmerzen, die Verunsicherung, die Frustration und den Schrecken, die Ihre aufdringlichen Gedanken Ihnen bereiten, überwinden.

Manchmal reicht auch das beste Selbsthilfeprogramm nicht aus. Daher offenbaren wir Ihnen in Kapitel 10, wann es an der Zeit ist, sich professionelle Hilfe zu holen. Und im Einklang mit unserer Auffassung, dass wir uns und unsere Gedanken häufig zu ernst nehmen, haben wir uns in heiterer Manier erlaubt, im Anhang ein bombensicheres Rezept für fest haftende Gedanken vorzustellen.

Wird der Prozess leicht sein? Wahrscheinlich nicht, denn Sie müssen sich viele kontraproduktive Denkmuster wieder abgewöhnen und aufhören, Ihre störenden Gedanken zu unterdrücken und automatisch emotional darauf zu reagieren. Dafür erlernen Sie neue, konstruktivere Formen, wie Sie mit diesen trügerischen Tyrannen in Ihrem Kopf umgehen können. Und da diese neuen Verhaltensweisen zuerst gar nicht so selbstverständlich sind, müssen Sie sie trainieren. Wir werden Ihnen jedoch ganz genau erklären, wie das geht und wie Sie Ihre emotionalen Reaktionen umlernen können. Lernt man tanzen, indem man sich die Bewegungen in Büchern anschaut? Wohl kaum. Daher möchten wir Sie nun auf Ihre innere Tanzfläche bitten und Sie einladen, Schritt für Schritt herauszufinden, wo Sie danebentreten.

Wird der Prozess mühevoll sein? Wahrscheinlich. Aber welche Alternative haben Sie? Wie hoch ist Ihre Lebensqualität in diesem Moment? Wenn Sie tatsächlich begriffen haben, dass Ihre derzeitigen Ansichten über diese Gedanken und deren Bedeutung nicht von der Faktenlage gestützt werden, dann ist es leichter, als Sie vielleicht glauben. Wirklich, es ist anders, als Sie denken: Unerwünschte abstruse, schockierende und beunruhigende Gedanken sind vollkommen ungefährlich! Die Lösung besteht darin, eine ganz neue Beziehung zu den eigenen Gedanken einzugehen und vor ihnen weder Angst zu haben noch sich ihrer zu schämen. Allmählich werden Sie lernen, wie Sie diese Rabauken in Ihrem Kopf bändigen und ein Leben führen können, das frei ist von ihrer Tyrannei.

1. Wie man sich von belastenden aufdringlichen Gedanken befreit

Der Befreiungsprozess ist recht komplex. Als Erstes sollen Sie grundlegend etwas über Gedanken erfahren, was sie bedeuten und was nicht; und dann, wie es kommt, dass bestimmte Gedanken immer wiederkommen und sich festsetzen. Auch die Gründe zu kennen, aus denen eigentlich ganz harmlose Einfälle zur Qual werden oder sogar gefährlich erscheinen, ist hilfreich. Und schließlich werden Sie lernen, den aktuellen (kontraproduktiven) Bewältigungsstil, mit dem Sie die von den belastenden aufdringlichen Gedanken ausgelösten Schuldgefühle, die Angst, die Frustration und die Traurigkeit überwinden wollen, durch einen anderen zu ersetzen, der Gehirn, Körper und Gefühle so trainiert, dass Sie anders reagieren. Jeder einzelne Schritt auf diesem Weg wird eine Besserung herbeiführen und Sie nach und nach an Ihr Ziel bringen. Alle Schritte zusammen bilden den Weg in die Freiheit, den wir nun gemeinsam einschlagen wollen.

Beinahe jeder Mensch denkt unwillkürlich Dinge, die er gar nicht denken will. Etwas dringt in den ständigen Gedankenfluss ein, ist irgendwie unpassend, es läuft den eigenen Intentionen zuwider und stört. Das geschieht ganz häufig, und meistens verursachen diese „Eindringlinge“ kaum oder gar keine Beschwerden, denn man vergisst sie einfach sofort. Wer nicht darunter leidet oder sich deswegen keine Sorgen macht, empfindet diese kurzen Augenblicke höchstens als seltsam oder unangenehm, ist vielleicht erschrocken oder sogar amüsiert. So absurd oder abstoßend diese Einfälle manchmal sein mögen – nach ein paar Sekunden sind sie schon wieder verschwunden. Selten geht man darauf ein oder denkt weiter darüber nach. Es lohnt auch nicht, sie laut zu äußern (außer wenn sie wirklich witzig sind).

Gut zu wissen: Fast jedem Menschen drängen sich bestimmte flüchtige Gedanken auf.

Folgender Einfall kam mir, als ich gerade an diesem Abschnitt schrieb: „Hoffentlich fällt bei dem Gewitter der Strom aus, dann brauche ich nicht weiterzuarbeiten!“ Der Gedanke war im Nu vorbeigeflattert, und so machte ich mir nichts weiter daraus. Hätte ich jedoch an meinem Geisteszustand, meiner Motivation oder meinem Verstand gezweifelt, hätte ich das gar nicht erst aufgeschrieben, weil es mir peinlich gewesen wäre. Besorgt hätte ich mich gefragt, was der Gedanke wohl bedeuten möge. Dass ich etwa keine Freude an meiner Arbeit habe? Oder dass ich lieber in Rente gehen sollte? Dass ich gar kurz vor einem Burnout stand? Brauchte ich eine Ausrede, um mich vor dem Schreiben dieses Buchs zu drücken, weil ich depressiv war? Warum konnte ich mich nicht konzentrieren? Hatte ich mir den Stromausfall vielleicht unbewusst gewünscht? Stimmte etwas nicht mit mir?

Ich hätte auch darüber nachgrübeln können, ob der Gedanke eine ganz spezielle Botschaft für mich bereithielt: Wollte er mich vor einem bevorstehenden Stromausfall warnen, damit ich mir schleunigst Kerzen besorgen konnte? Indes, ich tat gar nichts, und der Augenblick ging vorüber. Mir war einfach einer jener Gedanken gekommen, die es nicht wert sind, dass man eine mögliche Bedeutung auch nur in Erwägung zieht. Also schrieb ich weiter.

Manchmal drängen sich Erinnerungen an aufdringliche Gedanken auf, und man schüttelt den Kopf. „Ach, das ist ja der Fahrstuhl, in dem mir neulich diese völlig abwegige Idee kam, ich könnte plötzlich etwas Unanständiges brüllen.“ Eine Zeit lang steckt dann jeder Fahrstuhl in diesem Gedanken an unanständiges Gebrüll fest. Solche Assoziationen haben jedoch keine Bedeutung, das menschliche Hirn fabriziert sie ganz automatisch. Es sind seltsame Erlebnisse, aber flüchtig und nichtig.

Belastende aufdringliche Gedanken beginnen wie normale aufdringliche Gedanken, selbst die bizarren, absurden oder abstoßenden. Belastend wird ein ungewollter, weil Ekel erregender oder nerviger Gedanke erst, wenn man sich seinetwegen Sorgen macht oder gegen ihn ankämpft. Er verflüchtigt sich dann nämlich keineswegs. Im Gegenteil – jetzt geht es erst richtig los. Denn je besorgter man deswegen ist, je stärker man ihn ablehnt und aus dem Kopf herauszuschieben versucht, desto hartnäckiger stößt er zurück, sodass einem immer wieder dieselbe Idee, dasselbe Bild kommt. Bis er die Aufmerksamkeit irgendwann in eine andere Richtung lenkt. Er kommt überraschend angerauscht, erscheint so furchtbar, abstoßend oder ungeheuerlich, dass man das dringende Bedürfnis hat, ihn loszuwerden. Meist ist sein Inhalt tabu, aggressiv, sexuell, bedrohlich oder demütigend. Manchmal wird er mit dem Impuls verwechselt, etwas zu tun, was man eigentlich gar nicht tun will. Oder er wird zur Endlosschleife. Die Beschäftigung damit nimmt einen völlig in Anspruch, frisst alle Zeit, geistige Energie und Konzentration, sodass sich die Lebensqualität zusehends verschlechtert. Die Gedanken drängen sich immer wieder auf und werden immer mehr zur Belastung.

Je öfter sie kommen und je stärker sie werden, desto mehr Zweifel und Ängste lösen sie aus: in Bezug auf die eigene Sicherheit, Intentionen, Moral, Selbstbeherrschung und Zurechnungsfähigkeit.

1.1 Normale innere Stimmen

Im Geiste hören wir viele Stimmen, die sich miteinander austauschen und damit unser Innenleben interessant und farbenfroh machen. Sicher kennen auch Sie die kritische, wachsame Stimme, deren Urteile und Kommentare niemand jemals laut aussprechen würde. Oder die Stimme, die auf die Bemerkungen anderer über uns achtgibt, unsere körperliche Gesundheit abcheckt, die verbleibende Zeit für eine bestimmte Aufgabe ausrechnet und uns über unsere Gefühle aufklärt. Diese und noch viele weitere Stimmen gehören ganz selbstverständlich zu uns und begleiten uns, wenn wir unseren Tag planen, Entscheidungen treffen und uns auf die Anforderungen des Alltags einstellen.

Bei belastenden aufdringlichen Gedanken treten drei Stimmen besonders in den Vordergrund. Sie sind es, die mit ihren Äußerungen und der Art, wie sie miteinander kommunizieren, das Problem aufrechterhalten. Wir möchten, dass Sie sie anhand von konkreten Beispielen bei sich selbst erkennen lernen, denn nur so können Sie die entscheidende Wende in der Beziehung zu Ihren Gedanken vollziehen, die Sie von Ihren Qualen erlöst.

Dürfen wir Sie einander bekannt machen? Die drei Stimmen heißen „Der Bangemacher“, „Vermeintliche Beruhigung“ und „Stimme der Vernunft“. Und wie Sie gleich sehen werden, sind ihre Namen Programm. Was tun Sie, wenn sie unversehens auf Sie einreden, ob Sie wollen oder nicht? Wie gehen Sie damit um? Das werden wir Ihnen auf den folgenden Seiten verraten, indem wir die Stimmen in diversen Situationen zu Wort kommen lassen.

Beginnen wir unsere Vorstellungsrunde mit Dem Bangemacher. Er ist das Sprachrohr des Zweifels und der Angst. Hinter seinem ewigen Einwand „Aber wenn ...?“ verbergen sich sämtliche Befürchtungen, Bedenken und fehlgeleitete Schlussfolgerungen, die Tragödien und schlimme Enden prophezeien. Was er sagt, klingt irrational, lächerlich, richtig pervers und zuweilen sogar völlig durchgeknallt. Manchmal scheint er auf eine seltsam subtile oder vehemente Art vor etwas zu warnen. Er unterbricht, nervt, schockiert und gibt Widerworte. Wie sein Name schon sagt, erregt er Besorgnis. Diese Stimme meldet sich als erste, und zwar immer dann, wenn man sich von aufdringlichen Gedanken oder neuen Erfahrungen überfordert fühlt.

Die zweite Stimme – Vermeintliche Beruhigung – ertönt als prompte Reaktion auf Den Bangemacher. Von dessen permanenter „Aber wenn ...?“-Fragerei irritiert, möchte sie das Unbehagen beseitigen. Doch sie erreicht ihr Ziel nie. Denn mit ihren nur scheinbar rationalen Argumenten kann sie höchstens kurzfristig Erleichterung verschaffen. Den Bangemacher bringt sie so jedenfalls nicht zum Verstummen. Im Gegenteil: Fast immer löst das bei ihm noch mehr Skepsis und weitere hypothetische Fragen aus. In Wahrheit versetzen seine besorgten Einflüsterungen Vermeintliche Beruhigung nämlich selbst dermaßen in Angst und Schrecken, dass sie eine nach der anderen abstreitet, infrage stellt, überhört, unterdrückt, beschwichtigt, wegdiskutiert, kleinredet oder umschifft. Sie gibt sich jede erdenkliche Mühe, und trotzdem lässt die Angst nicht nach. Oft wird Vermeintliche Beruhigung wütend auf Den Bangemacher oder schämt sich seiner und wünscht, er möge doch endlich verstummen. Sie befürchtet nämlich, die besorgten Einflüsterungen könnten ein Zeichen dafür sein, dass man verrückt, pervers oder unterschwellig wütend ist, dass etwas Schlimmes passiert oder man die Selbstbeherrschung verliert. Bei belastenden aufdringlichen Gedanken liefern sich Der Bangemacher und Vermeintliche Beruhigung besonders heftige Wortgefechte. Diese inneren Kommentare sind fester Bestandteil aller belastenden aufdringlichen Gedanken.

Gut zu wissen: Das Anstrengendste an belastenden aufdringlichen Gedanken sind oft die eigenen inneren Kommentare: die Wortgefechte zwischen Dem Bangemacher und Vermeintliche Beruhigung.

Als letzte möchten wir Ihnen Stimme der Vernunft vorstellen. Diese beobachtet die ständigen Dispute zwischen Dem Bangemacher und Vermeintliche Beruhigung aus der Ferne und hält sich eher zurück. Wohl wissend, dass Der Bangemacher von Natur aus so ist und Vermeintliche Beruhigung sich wirklich für nützlich hält, bleibt sie gelassen, unbeeindruckt und unberührt. Doch sie weiß auch, dass Vermeintliche Beruhigung den besorgten Einflüsterungen sogar noch Zunder gibt und damit den Prozess unbewusst am Laufen hält. Stimme der Vernunft ist anders. Sie lässt sich in nichts hineinziehen, spart sich ihre Kräfte für Wichtigeres auf und kann gut mit Ungewissheit leben. Sie ist neugierig und amüsiert sich manchmal sogar über Dinge, über die andere sich aufregen.

Stimme der Vernunft verkörpert die achtsame, mitfühlende Bewusstheit. Achtsamkeit ist ein Zustand offener und aktiver Aufmerksamkeit, die urteils- und wertfreie Wahrnehmung von Gedanken, Gefühle und Empfindungen in jedem gegenwärtigen Augenblick. Ermöglicht wird die achtsame Haltung durch eine innere Instanz, die sich zurücknehmen und das Geschehen in Echtzeit perspektivisch betrachten kann. Wir werden Ihnen zeigen, wie gut sich belastende aufdringliche Gedanken damit verscheuchen lassen und wie Sie diese Haltung bei Bedarf einnehmen können. Hören wir nun ein Beispiel für einen aufdringlichen Gedanken in der Diskussionsrunde der drei Stimmen.

Der Bangemacher: Was für ein süßes Kätzchen! Wie zart es ist. Und wenn ich es erwürge? Es wäre ein Kinderspiel.

Vermeintliche Beruhigung: So etwas würdest du doch niemals tun!

Der Bangemacher: Schau mal, meine Finger passen genau um seinen Hals.

Vermeintliche Beruhigung: Mach dich nicht lächerlich! Du bist ein guter Mensch und noch dazu ausgesprochen tierlieb.

Der Bangemacher: Woher willst du das so genau wissen? Was ist, wenn ich mich nicht beherrschen kann? Gestern erst wäre ich beim Autofahren beinahe ausgerastet.

Vermeintliche Beruhigung: Aber du warst doch bloß wütend und hast gar nichts getan. Hör auf, so etwas zu denken. Das wird schon nicht passieren.

Der Bangemacher: Es gibt immer ein erstes Mal, und ich frage mich, ob ich vielleicht ein bisschen krank im Kopf bin. Weshalb würde ich sonst auf solche Gedanken kommen?

Vermeintliche Beruhigung: Denk halt an etwas anderes. Und lass die Finger vom Kätzchen. Was du für verrückte Sachen denkst! Echt – verrückt.

Der Bangemacher: Du glaubst also, dass ich spinne?

Stimme der Vernunft: Dürfte ich mich hier bitte einschalten? Das sind doch nichts als Gedanken. Ich habe euch zwei beim Streiten beobachtet, mir eure Bemerkungen angehört. Und mir fällt auf: Je mehr ihr streitet, desto mehr regt ihr euch auf. Und umso eher entsteht dadurch ein echtes Problem, das Beachtung braucht. Doch in Wahrheit ist es bloß ein Gedanke, der sich zwar mit aller Macht aufzwingt, aber nichts weiter bedeutet. Das kann jedem Menschen passieren. Wie wäre es, wenn ihr die Existenz der Gedanken einfach zulassen würdet? Lasst die Gedanken Gedanken sein!

Gut zu wissen: Den inneren Kommentar wahrzunehmen und ihn loszulassen ist eine sehr effektive Methode, um sich von belastenden aufdringlichen Gedanken zu befreien.

1.2 Warum sich Gedanken festbohren

Es gibt ein paradoxes Phänomen, das die Psychologen Daniel Wegner (1994) und Lee Baer (2001) „ironic process of the mind“ bzw. „imp of the mind“ (dt: Kobold im Kopf) nennen, Letzteres in Anspielung auf die Kurzgeschichte „The imp of the perverse“ (dt.: „Der Alb des Perversen“) von Edgar Allen Poe. Man versucht, nicht an etwas zu denken, und denkt dann aber noch stärker daran. Wie ironisch: Ihr Geist kann ganz schön boshaft sein! Es folgt eine einfache Übung, bei der Sie merken, wie sich das anfühlt.

 ÜBUNG

Beobachten Sie den paradoxen Prozess bei sich selbst 

Sie brauchen für diese zweiteilige Übung knapp zehn Minuten. 

1. Teil 

Stellen Sie einen Wecker auf zwei Minuten. Setzen Sie sich bequem hin, machen Sie die Augen zu und achten Sie auf das, was Sie denken, fühlen, hören und riechen. Denken Sie ruhig an alles Mögliche, wirklich: alles, außer – eine einzige Sache. Denken Sie auf gar keinen Fall an Mohrrüben! Nicht an das Wort, nicht an den Geruch, auch nicht an den Geschmack von Mohrrüben. Alles, was Mohrrüben enthält, ist verboten, also Schluss mit Rüblikuchen, Karottensalat und erst recht mit Bugs Bunny! Auch die Farbe Orange ist ab sofort tabu. Schalten Sie jetzt den Wecker ein und halten Sie Ihre Gedanken so gut Sie können von den Mohrrüben fern! 

Wie gut haben Sie die Aufgabe bewältigt? Die meisten Menschen geben an, nicht ganz mohrrübenfrei gewesen zu sein. Die Bemühung, nicht an Mohrrüben zu denken, hat das Gegenteil bewirkt. Nicht an etwas zu denken ist tatsächlich sofort zum Scheitern verdammt. Denn je stärker Sie versuchen, Ihren Kopf von Mohrrüben frei zu halten, umso hartnäckiger wird der Gedanke daran. Nicht an Mohrrüben denken zu wollen ist also eine Möglichkeit, genau daran zu denken. 

2. Teil 

Stellen Sie den Wecker auf fünf Minuten. Ihre Aufgabe besteht nun darin, Ihren Kopf fünf Minuten lang von Mohrrüben frei zu halten. Setzen Sie sich wie zuvor bequem hin und gestatten Sie sich, an alles zu denken außer an Mohrrüben. Immer dann, wenn Sie an Mohrrüben denken, müssen Sie den Wecker erneut auf fünf Minuten stellen. Sie brauchen einfach nur fünf Minuten lang nicht an Mohrrüben zu denken. Seien Sie ehrlich! Achtung, fertig, los! 

Wie ist es Ihnen ergangen? Die meisten Menschen geben an, dass Sie schon nach ein paar Sekunden an Mohrrüben denken und den Wecker neu stellen mussten. Und dann ist wieder dasselbe passiert. Das mag eine Weile so gehen, doch dann scheint die Aufgabe unmöglich. Sie sind frustriert, genervt und sogar wütend. Und mit jedem Mal ist der Gedanke an Mohrrüben schneller wieder da. Fast niemand hält die fünf Minuten durch. Die meisten brechen die Übung ab, während der Wecker munter weitertickt.

Was aber haben Sie getan? Sie haben eine „Gedankenklette“ produziert! Inhaltlich ganz unschuldig und harmlos – es geht um Mohrrüben –, hat sie sich aber in Ihrem Kopf festgeklebt. Dabei machen Sie sich gar nichts aus Mohrrüben, sie sind Ihnen total egal. Nur weil Sie sich so sehr mit Ihrer Aufgabe abmühen, müssen Sie dauernd an Mohrrüben denken. Der Versuch, Ihr Denken zu beherrschen, ist nach hinten losgegangen. Das ist der paradoxe Prozess: So, wie eine Schlinge sich umso enger um den Hals zieht, je heftiger man sich loszureißen sucht, so hartnäckig kehren belastende aufdringliche Gedanken wieder, je stärker man gegen sie ankämpft. Durch die Energie, die Sie auf den Kampf verwenden, bleiben sie erst recht haften. Sie wollten die Gedanken abwehren, aber diese schlagen zurück!

Der Bangemacher: Bei Mohrrüben muss ich immer an Sex denken. Das passiert mir bei allem, was so geformt ist. Wer kommt denn auf solche Gedanken? Ich ekle mich vor mir selbst!

Vermeintliche Beruhigung: Im Prinzip geht es um ein neutrales Thema. Denk an etwas Neutrales.

Der Bangemacher: Ich kann nichts dagegen tun.

Vermeintliche Beruhigung: Lenk dich einfach ab. Konzentriere dich auf etwas anderes.

Der Bangemacher: Solche Gedanken kommen mir aber ständig. Vielleicht bin ich wirklich ein Ferkel.

Vermeintliche Beruhigung: Das ist ja, als würde ich gegen eine Wand anreden! Warum hältst du nicht einfach die Klappe und hörst mir zu?

Vermeintliche Beruhigung möchte, dass Der Bangemacher mit seinen belastenden aufdringlichen Gedanken aufhört. Sie versucht, ihm zu helfen, aber das funktioniert nicht. All seine Gedanken stoßen bei ihr auf Widerstand. Der Bangemacher kann nicht anders. Die Gedanken machen, was sie wollen.

Gut zu wissen: Genährt von der Energie, mit der man gegen sie ankämpft, bohren sich Gedanken erst so richtig fest.

1.3 Welche Gedanken sich festbohren

Es sind die Gedanken, die man am wenigsten haben möchte, die haften bleiben und sich festbohren. Na klar! Und eigentlich ganz logisch. So denken friedliebende, liebenswürdige Menschen, die Sanftmut schätzen, andere rücksichtsvoll behandeln, ein ruhiges Leben führen und Gewalt richtiggehend verabscheuen, geradezu zwanghaft an Gewaltszenen. Werden sie von dem Gedanken überfallen, andere zu verletzen, bekämpfen sie ihn natürlich mit allen Mitteln – weshalb er sich festsetzt. Szenen, bei denen Kinder missbraucht, Katzen aus dem Fenster geschleudert oder Babys fallen gelassen werden, sind wiederum vorzugsweise Thema der Gedanken von Menschen, die sich für die Schwachen unserer Gesellschaft einsetzen. Religiöse Menschen werden von Gott lästernden Einflüsterungen und Glaubenszweifeln geplagt. Und bei allen gilt dasselbe Prinzip: Je heftiger man sich gegen die Gedanken wehrt, desto hartnäckiger schlagen sie zurück – und bohren sich fest.

Mit neutralen Gedanken wie zum Beispiel an Stühle, Obstsalat oder Bäume ist es anders: Niemand schert sich um sie, niemand bekämpft sie – und folglich bleiben sie auch nicht haften.

Der Inhalt belastender aufdringlicher Gedanken ist also das Gegenteil dessen, was Sie denken möchten. Er widerspricht Ihren Werten, Wünschen und charakterlichen Eigenschaften. Er ist das genaue Gegenteil von Ihnen.

Gut zu wissen: Belastende aufdringliche Gedanken bleiben haften, weil Ihre Bemühungen, sie abzuschütteln, sie erst recht anfeuern.

1.4 Aufdringliche Gedanken versus Impulse

Befürchten Sie, dass Sie Ihre aufdringlichen Gedanken in die Tat umsetzen könnten? Das kommt von dem anstrengenden Schlagabtausch, der immer dann entsteht, wenn man sich gegen die Gedanken zur Wehr setzt und sie sich immer hartnäckiger wiederholen und schließlich haften bleiben. Durch die damit verbundenen intensiven Emotionen wie zum Beispiel Panik, Ekel, Wut, manchmal auch Scham fühlen sich die Gedanken wie Impulse an, als würde man mit aller Macht dazu angestachelt oder geradezu forciert, die Beherrschung zu verlieren, sich lächerlich zu machen oder seinen Hals zu riskieren. Das ist sehr beunruhigend, aber machen Sie sich keine Sorgen: Es ist nur eine Illusion, ein Papiertiger, nichts als blinder Alarm. Ihr Gehirn stößt Warnsignale aus, obwohl gar keine Notwendigkeit dazu besteht.

Zwanghafte Gedanken entstehen nicht durch zu wenig Selbstbeherrschung (das wäre Impulsivität), sondern durch ein übertrieben starkes Verlangen nach Kontrolle. Meist haben die Betroffenen ein Problem mit Zweifeln oder Ungewissheit. Zählen Sie eins und eins zusammen – der Versuch, etwas zu beherrschen, das sich nicht beherrschen lässt (in diesem Fall Ihre Gedanken), plus ein Verlangen nach der absoluten Gewissheit, dass nichts Schlimmes passieren wird – und Sie erhalten die Formel für belastende aufdringliche Gedanken.

Impulsive Menschen handeln, bevor sie denken. Zwanghafte Menschen denken zu lange nach. Leider fühlen sich belastende aufdringliche Gedanken oft wie Impulse an und lösen ein Verlangen nach Kontrolle aus. Wir werden später darauf zurückkommen, wenn wir uns mit dem Thema Angstgedanken und dem davon ausgelösten veränderten Bewusstseinszustand beschäftigen. An dieser Stelle ist erst einmal wichtig: Impulsivität und zwanghaftes Denken sind zwei entgegengesetzte Pole eines Kontinuums: Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, auch wenn Ihr Gefühl etwas anderes sagt.

Gut zu wissen: Obwohl sich Impulse und aufdringliche Gedanken ganz ähnlich anfühlen, sind sie grundverschieden.