Mit Beiträgen von
Patrick Matros, Richard Signer, Florian Scheimpflug,
Frederic Nicole, Klaus Haselböck und Josef Wiesauer
Vorwort
Inspiration
Motivation
Mit dem Bouldern anfangen
Die Geschichte des Boulderns
Boulderer im Portrait
Projekte und die Kunst des Scheiterns
Überblick über die Bouldergebiete der Welt
Warum Blöcke unseren Respekt verdienen
Bouldern mit Kindern
Wettkämpfe
Die Autoren
Danke
Oscar Eckenstein hatte eine Vision. Der britische Eisenbahningenieur und Kletterpionier ortete in der unscheinbaren Freizeitaktivität, die seine Kollegen »Bouldern« nannten, mehr als nur einen Zeitvertreib viktorianischer Gentlemen. An einem nach ihm benannten Felsblock in Wales versammelte er eine Gruppe Wissbegieriger, um ihnen das sogenannte »balance climbing« an der steilen Felsplatte zu demonstrieren. Eckenstein tarierte sein Gleichgewicht auf winzigen Fußtritten aus, ohne dass seine Hände den Fels berührten. Ein verblüffter Geoffrey Winthrop-Young konnte die seinen sogar zwischen Eckensteins Fingerspitzen und der Felsoberfläche hindurchführen.
Und damit niemand denkt, dass Boulderwettkämpfe eine Erfindung der Gegenwart seien: Im Jahr 1892 im pakistanischen Karakorum trennte sich Eckenstein von Sir W. M. Conroy und seinen Expeditionskollegen und zog alleine los, um sich die »exzellenten« Blöcke in der Nähe der Dörfer Askole und Biano anzusehen. In weiterer Folge organisierte er an diesen einen Kletterwettkampf unter den Dorfbewohnern und versprach dem Sieger ein Preisgeld in der Höhe einer Rupie. Eckenstein stellte fest, dass die besten der Einheimischen den damaligen Schweizer Führern im Klettern leicht überlegen waren.
Französische Alpinisten kletterten bereits 100 Jahre früher auf den Blöcken Fontainebleaus, bevor Eckenstein auf den Britischen Inseln in Erscheinung trat. Doch es bedurfte der großen gemeinsamen Anstrengung von Pierre Allain und seinen Kollegen, den sogenannten Bleausards, um den inhärenten Wert dessen zu demonstrieren, was bloß als Training für Unternehmungen in den Alpen gedacht war. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten Allain und seine Freunde zurück und hoben die Schwierigkeiten bis in die 1950er-Jahre kontinuierlich an.
Noch während Allain in Bleau seine Sohlen mit dem reibungsverbessernden Pulver namens »Pof«, dem aus Baumharz gewonnenen Kolophonium, einstaubte, betrat ich 1953 – damals ein dürrer und unathletischer Highschool-Junior in Atlanta, Georgia – in völliger Naivität die Welt des Felskletterns. Eine Kollegin von mir, die selbst Anfängerin war und nichts von der Geschichte des Kletterns wusste, zeigte mir diesen Sport. Ein Jahr später begann ich an der »Georgia Tech« zu studieren, wo ich in der damals verpflichtenden Turnklasse mein Talent fürs Seilklettern entdeckte. Am Ende des Semesters erlebte ich eine Offenbarung: Ich stellte mir Felsklettern als eine Art Gymnastik vor und die Boulder, auf denen es stattfand, als Übungsgeräte, an denen der Felsturner seine »Bewegungsküren« perfektionieren konnte. Von Anfang an war für mich klar, dass dynamische Bewegungen sowie die Verwendung von Chalk in diesem hypothetischen Sport einen fixen Platz haben sollten.
In den 1950er-Jahren war ich oft in den Tetons in Wyoming zugegen, wo ich längere Touren mit Seil und andere solo kletterte und an den Blöcken von Jenny Lake arbeitete. Yvon Chouinard, einer meiner Begleiter, erklärte mir, dass ich »boulderte«, eine Form des Kletterns, die er, Royal Robbins und einige andere schon seit einiger Zeit in Stoney Point in Kalifornien betrieben. Aufgrund meines damaligen Unwissens dachte ich, dass dieser Begriff von kalifornischen anstatt von britischen Kletterern in den 1880er-Jahren geprägt wurde.
Als ich in den folgenden Jahren immer mehr Kraft aufbaute, stellte ich mir vor, dass Kletterer irgendwann zu fernen Plätzen reisen würden, nur um unberührte Bouldergebiete zu entdecken. Der Aspekt des Entdeckens machte für mich einen großen Teil des Boulderns aus, und allein in Amerika gab es Tausende Gebiete, die noch niemand je betreten hatte. Ich hatte kein Interesse daran, das zu wiederholen, was andere vor mir gemacht hatten. Für mich zählte in erster Linie das Entdecken neuer Boulder sowie Lösungen für unbekannte Boulderprobleme zu finden. Vor allem bevorzugte ich Boulder, bei denen das Abspringen kein allzu großes Risiko darstellte.
Ich hatte keine Ambitionen, mich in dem zu versuchen, was man heute »Highballing« nennt, und legte meinen Fokus beim Bouldern auf Schwierigkeit und Stil ohne Gefahr. Dennoch wurde meine Begehung des über zehn Meter hohen Thimble Spire in den Black Hills in South Dakota im Jahr 1961 fälschlicherweise als Versuch interpretiert, das Bouldern in höhere Gefahrenbereiche zu treiben. Meine Intention war jedoch eine andere: Ich wollte sehen, wie weit ich bei meiner Free-Solo-Erkundung bereit war zu gehen. Für mich ging es beim Thimble nur um den technischen Aspekt, den das Klettern in meinen Augen erfordert, Gefahr hatte in meiner Vision des Boulderns keinen Platz.
Dennoch hat sich das »Highballing« zu einem anerkannten und sehr spektakulären Bestandteil des Boulderns entwickelt. Bis zu welchem Grad diese Entwicklung auf steigendes Wettbewerbsdenken zurückzuführen ist, ist fraglich.
Für mich und die wenigen »ernsthaften« Boulderer der damaligen Zeit entwickelte ich ein simples Bewertungssystem, bestehend aus drei Schwierigkeitsstufen. Das System sollte komplex genug sein, um neue Kletterer für den Sport zu begeistern, ohne eine »Jagd nach Zahlen« zu verursachen. Zumindest war das meine Hoffnung. Als das Bouldern mit der Zeit populärer wurde, entstanden nuanciertere und stärker auf Konkurrenz ausgelegte Systeme. Parallel dazu stiegen auch Hingabe, investierte Zeit und aufgewendete Energie. Anstatt von Stunden verbrachten Boulderer nun Tage, ja Wochen damit, die Schwierigkeiten auf den Skalen nach oben zu schrauben, während sie gleichzeitig über die minimalen Differenzen auf denselben sinnierten.
1987, im Alter von 50 Jahren, hatte ich meine letzte ernsthafte Boulderphase. Zu dieser Zeit gab es bereits eine Menge Boulderer, die viel besser waren, als ich es je war. Seit damals ist auch die Zahl derer, die sich am Bouldern erfreuen, dramatisch gestiegen. Die Community in Amerika in den 1950er-Jahren war winzig, und es schien mir damals nicht vorstellbar, dass sich der Sport in einem solchen Ausmaß entwickeln würde. Trotzdem erfüllt mich die Popularität des Boulderns mit Freude.
Das erst relativ kürzliche Auftauchen von künstlichen Kletterwänden erinnert mich an meine ursprüngliche Sichtweise, das Bouldern als eine Form des Turnens zu sehen, bei der die Felsblöcke als Trainingsgeräte fungieren. Darüber hinaus hauchen Boulder, die für die Kletterhallen designt werden, dem Konzept des »Spielplatzes«, das seine Ursprünge im Europa des 19. Jahrhunderts hat, neuen Atem ein. Damals maßen sich junge Erwachsene sonntags im Hasenheide-Park in Berlin in Disziplinen wie Leiter-, Seil- und Stangenklettern. Meiner Meinung nach sind Spielplätze sowohl für Kinder als auch für Erwachsene da.
Und jetzt, 100 Jahre, nachdem die Begriffe »Boulder« und »Problem« erstmals in der Kletterliteratur erwähnt wurden, hat Bernd Zangerl, einer der herausragendsten Vertreter dieses Sports, nun dieses Buch herausgegeben. Mögen die Leser inspiriert sein, sich die Hände einzuchalken, und sich an den Bouldern erfreuen!
Ich liebe die Berge, das Gefühl von Aussicht und das Oben-Sein. Stürmende Gedanken kommen zur Ruhe, und der Blick ist auf das Wesentliche gerichtet.
Wie leitet man das Thema »Bouldern« am besten ein? Für manche ist es Leistungssport, für andere Lifestyle, für die einen heißt es hartes Training, für die anderen Natur genießen, die einen machen lieber einen Flashversuch, wollen also den Boulder im ersten Versuch lösen, die anderen setzen sich Tage, Monate oder Jahre mit einem Projekt auseinander. Die einen machen lieber gemütlich ein paar Züge in der Sonne, die anderen verharren in eisiger Kälte und warten auf optimale Bedingungen.
Fest steht aber, dass Bouldern immer etwas sehr Persönliches ist. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und nicht minder mit dem eigenen Geist ist oftmals eine Herausforderung, stets aber eine Bereicherung. Um diesen Sport zu veranschaulichen, sei an dieser Stelle somit auch eine sehr persönliche Einleitung gewählt, nämlich anhand meiner eigenen Geschichte, meiner eigenen Einleitung in diese Königsdisziplin des Kletterns.
Aufgewachsen in Flirsch am Arlberg, einer kleinen Gemeinde im tirolerischen Stanzertal, versperrten die Berge immer schon meinen Blick in die Ferne. Im Norden stand wild zerklüftet und eindrucksvoll die 2800 Meter hohe Eisenspitze. Wenn der Gipfel einmal abbrechen sollte, so dachte ich mir, landet dieser direkt auf unserem Haus. Wenn ich in den Süden blickte, stand der Riffler vor mir. Mit seinen 3168 Metern war er die höchste Erhebung der Verwallgruppe. Im Osten waren die Gipfel etwas niedriger, dennoch war das Blickfeld begrenzt, und im Westen versperrte der Arlberg die Sicht. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als hinaufzuklettern, um zu sehen, was dahinter liegt.
Seit meiner frühesten Kindheit waren die heimatlichen Berge mein Ziel, und schon in jungen Jahren stand ich mit meinem Vater auf so manchem Gipfel der Lechtaler Alpen. Ich war gerade einmal acht geworden, da erkletterte ich die Eisenspitze, eine Tour, die mir bis heute in Erinnerung blieb. Ich liebe die Berge, das Gefühl von Aussicht und das Oben-Sein. Stürmende Gedanken kommen zur Ruhe, und der Blick ist auf das Wesentliche gerichtet. Das Klettern war für mich auch eine Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen. Wer geht als Jugendlicher schon gern zur Schule? Ich wollte die Welt entdecken. Meine Vorliebe galt damals den Büchern des deutschen Kletterers Reinhard Karl. Seine spannenden Erzählungen vom Yosemite Valley faszinierten mich und regten zum Träumen an. Ich wollte auch fremde Länder bereisen und unbekanntes Terrain entdecken. Mein wöchentlicher Lichtblick waren damals jeweils das Wochenende und mein Freund und Bergführer Peter Grissemann, der mir das Klettern zeigte. Immer gab es eine alpine Wand, die er durchsteigen wollte, und wenn das Wetter schön war, zogen wir gemeinsam los. Jede Kletterreise war ein Erlebnis für sich, und wir durchlebten wilde Abenteuer in der Marmolada-Südwand, am Grand Capucin und im heimatlichen »Koasar«, dem Gebiet des Wilden Kaisers. Damals war es mir im Grunde genommen egal, wohin die Reise ging, ich wollte einfach nur weg von zu Hause, weg aus meiner gewohnten Umgebung. Ich wollte klettern gehen und Neues entdecken. Heute zieht es mich immer noch in die Ferne. Immer noch will ich die Welt entdecken. Nur die Dimensionen meiner Berge haben sich mittlerweile geändert. Früher wollte auch ich die großen Gipfel und Wände durchsteigen, heute gilt meine Liebe den Boulderblöcken.
Meinen ersten Boulder bin ich eigentlich unfreiwillig geklettert, nämlich im Jahr 1995, als ich am Beginn des Kletterns stand und mir das Wort »Bouldern« noch nie untergekommen war. Dietmar Siegl, ein guter Freund von mir, hatte am Stimpenstein im Klettergarten Schnann die fünf Meter hohe und stark überhängende Route Flatline erstbegangen, und sie galt damals als der ultimative Klettertest im Tiroler Oberland. Ich wollte diese Route unbedingt klettern, konnte aber den Haken nicht einhängen, da mir die Kraft dazu fehlte. Nach ein paar Versuchen legte ich das Seil beiseite und probierte es ohne Seilsicherung: Ich kletterte höher. Plötzlich hing ich an der Dachkante, vier Meter über dem Boden, und musste einen sogenannten Heel Hook, bei dem die Ferse an einer Kante eingehängt wird, hoch über meinem Kopf machen. Ich schaute hinunter auf den Boden. Jetzt darf ich nicht mehr stürzen, dachte ich, und setzte zur Flucht nach oben an. Zittern. Herzklopfen. Plötzlich war ich oben, ein Freudenschrei: Ich war meinen ersten Boulder geklettert. Nachdem ich nach 1995 fast alle Spielarten des Bergsports durchprobiert hatte, legte ich 1999 Seil, Sitzgurt und Karabiner auf die Seite. Der Fokus hatte sich geändert. Vielleicht war es auch der Blickwinkel. Dabei verbrachte ich nur ein paar Stunden in diesem Wald oberhalb des kleinen Dorfes Cresciano im schweizerischen Tessin. Am Südfuß des Pizzo di Claro, zehn Autominuten von der Stadt Bellinzona entfernt, entdeckten Kletterfreunde und ich in diesem Jahr Tausende Felsblöcke, die wie von Gottes Hand unter die Kastanienbäume gelegt schienen. Boulderblöcke in den verschiedensten Formen, Farben und Dimensionen: ein Spielplatz für Groß und Klein. Für uns gemacht, um uns daran zu versuchen. Die Natur hinterließ auf jedem Stein meistens einen Fußabdruck. Diesen galt es zu finden und zu »decoden«, es ging darum, eine Route zu finden, die wir klettern konnten. Wir haben uns mit Leitern und Bürsten auf die Suche gemacht und haben die Felsen fein säuberlich von Laub, Ästen und Moos befreit. Es war so spannend, als ob man ein Weihnachtsgeschenk öffnen durfte. Was war wohl dahinter? Welche Gelegenheiten für eine Kletterei würden sich auftun? Ein Aufleger, eine Leiste oder Delle? Ein »Fingernagelzwicker«, ein »Hautentsorger« oder doch ein guter Zangengriff? Wir putzten mit Stahlbürsten und Messingbürsten, mit großen und kleinen, dicken und dünnen Bürsten und mit herkömmlichen Zahnbürsten natürlich. Zuerst putzten wir nur einzelne Felsen. Aus kleineren Sektoren wurden größere, und irgendwann putzten wir ganze Gebiete wie das Averstal zum Beispiel, den Bachsektor in Brione, Chironico und das Maggiatal. Sogar im Himalaja habe ich geputzt. Eins weiß ich: Es waren Boulder, die ich geputzt habe, sehr viele. Eine große Menge Staub landete in dieser Zeit in meinen Lungen, es war harte, schweißtreibende Arbeit. Alle, die mitgearbeitet haben, können ein Lied davon singen. Aber es gab auch Orte, da war das Putzen nicht nötig: in den Rocklands zum Beispiel. Dieses endlose Blockfeld in Südafrika war und ist der felsgewordene Traum eines jeden Boulderers. Einfach herumlaufen, Blöcke finden, Linien scouten, Griffe anschauen, klettern. Nicht anders war es in Hueco Tanks in Texas und den Buttermilks in Kalifornien.
Bei alledem ging es immer um die Lösung des sogenannten Boulderproblems, und es wird auch in der Zukunft um die Lösung gehen. Das Ziel war immer, einen Weg auf die Spitze, zum Top eines Felsblockes, zu finden. Und irgendwann findet jeder seine Lösung. Der eine auf Youtube, der andere durch eigene Geistesanstrengung und unzählige schweißtreibende Versuche. Die Lösung zu finden war eben das Problem, und im Detail lag oft der Fehler. Der ganze Wald schien damals im Tessin voll von Boulderproblemen zu sein. Hinter jeder Ecke wartete ein Stück Granit auf uns. Nur die schönsten und interessantesten galt es zu finden.
Beim Bouldern entwickelt jeder seine Vorlieben. Der Balance-Akrobat bevorzugt runde Kanten, weniger schmerzempfindliche Boulderer halten bewusst Ausschau nach sogenannten Minikratzen, nach sehr kleinen und oft schmerzhaften Haltepunkten. Bei anderen wiederum fällt der suchende Blick auf Überhänge. Kraftvolle, mit Leisten am besten. Manche lieben technische Platten und Reibungsspielereien, wo feines Gespür und viel Gefühl gefragt sind. Da geht meist nichts mit roher Gewalt. Campusing, also das Klettern nur mit Armen und Händen, und weite Sprünge sind immer mehr in Mode gekommen, und heute, so scheint es jedenfalls, braucht man keine Blockierkraft mehr, sondern schwingt einfach zum nächsten Griff. Das Bouldern hat sich unglaublich rasant weiterentwickelt. Was vor Jahren noch als unmöglich galt – zumindest für einige von uns – ist heute State of the Art.
Auch die Boulderer selbst haben sich verändert. Waren es früher nur vereinzelte, mitunter bekiffte Individuen, sind es heute vielfach proper gestylte Breitensportler, die durch die Wälder streifen und bouldern gehen. Und gebouldert wird überall, zu jeder Jahreszeit. Im Winter fährt man in den Süden, im Sommer verlagert sich das gemeinschaftliche Bouldererlebnis ins Hochgebirge. Tessin, Silvapark, Hueco, Afrika, Bleau oder Bishop, im Sekundentakt schwirren Neuigkeiten und beeindruckende Fotos über die neuesten Begehungen und Meisterleistungen durchs Netz. Innerhalb weniger Jahre hat sich das Bouldern somit als Outdoorsport etablieren können. Hippe Kletterkleidung löste die kommerzielle Mode in der Boulderszene ab. Sogar das Bodenpersonal am Flughafen München weiß, was Crashpads sind, und checken diese problemlos für die Reise zu den Boulder-Hotspots ein. Boulderhallen schießen wie Pilze aus dem Boden: Vor allem bei den Jugendlichen boomt das seilfreie Klettern. Ein Event jagt den anderen, und ab 2020 ist der Bouldersport Teil der Olympischen Spiele. Der spielerische Zugang, die akrobatischen Bewegungen und die Dynamik begeistern Massen.
Und damals? Ich schreibe jetzt nicht: Damals war alles besser. Das darf jeder selber entscheiden. Es war einfach anders. Ruhiger auf alle Fälle. Es gab kein Guidebook, keinen Führer, keine Anhaltspunkte lenkten unsere Wege. Mit spärlichen Informationen machten wir uns auf den Weg und suchten nach Gerüchten. Intuitiv ließen wir uns treiben, liefen durch die Wälder. Ab und zu deuteten weiße Magnesiaspuren darauf hin, dass sich noch andere Menschen mit der gleichen Gesinnung in der Gegend aufhielten. Die Szene war damals klein und überschaubar. Man kannte sich, und wenn wir jemanden mit einer Matte getroffen haben, gab es ein Shakehands, und Informationen über die neuesten Begehungen und Projekte wurden gern getauscht. Damals, im Jahr 1999 im Tessin, liefen Dietmar und ich 30 Minuten an den schönsten Felsen vorbei, bevor wir endlich mit dem Klettern anfingen. Einmal begonnen, waren wir nicht mehr zu bremsen. Doch obwohl wir zu diesem Zeitpunkt bereits Routen im 10. Schwierigkeitsgrad (heute bekannt als 8a) geklettert waren, mussten wir schnell erkennen, dass beim Bouldern ein anderer Wind weht. Die Schwerkraft schien größer zu sein. An den meisten Felsen hatten wir keine Chance, obwohl sie in unseren Augen gar nicht schwierig aussahen. Oft schafften wir es nicht, die Füße an die Wand zu bringen. Ich war begeistert. Dieser eine Bouldertag öffnete mir die Augen, machte mir deutlich, was im Klettersport noch alles möglich sein wird. Heute weiß jeder, dass ohne den spielerischen Zugang, der dem Bouldern entspringt, der heutige Leistungsstandard im Klettern nicht möglich wäre.
Während Dietmar und ich nach diesen ersten Versuchen offene Finger und Blutergüsse an den Händen hatten, lagen unsere Kollegen noch gemütlich in der Sonne. Erst am Abend legten die beiden los. An diesem Tag lernte ich meine erste wichtige Boulderlektion: Man muss warten können und Ruhe bewahren, überlegt an die Sache herangehen. Das Timing muss passen. Und der Wind und der Mond. Die Haut und die Bedingungen sowieso. Und man muss seinem inneren Gefühl vertrauen. Ich lernte an diesem Tag, wie ich bestimmte Linien trotz aufgerissener Fingerkuppen lösen konnte. Die Reibung wurde gegen Abend immer besser und entfachte nochmals unsere Motivation. Zu guter Letzt versuchten wir, eine Route ohne Verwendung unserer Hände hochzukommen. Das Versuchen und Scheitern, Kämpfen und Schaffen – es machte großen Spaß. Damals im Tessin, da habe ich mich verliebt. In die Landschaft, die Berge und die wunderschönen Kastanienwälder mit den Tausenden Felsblöcken, die nur darauf warteten, von uns entschlüsselt zu werden. Das Tessin ist seither meine zweite Heimat. Auch heute bin ich noch regelmäßig in seinen Wäldern und Tälern unterwegs und suche nach der perfekten Linie. Vom Tessin aus eroberte ich dann die ganze Boulderwelt. Zusammen mit meinen Freunden besuchte ich die verschiedensten Kontinente. Das Crashpad war fortan mein ständiger Begleiter, an die 1000 Erstbegehungen habe ich seitdem gemacht. So wie ich selbst hat jeder Boulderer und auch jeder Boulder seine eigene Geschichte. Die eine ist länger, die andere kürzer. Manche sind spektakulär, andere strahlen Ruhe aus. Dieses Buch erzählt die Geschichten und die Geschichte des Boulderns, begleitet zu den beliebtesten Klettergebieten und stellt die vielen verschiedenen Facetten des Sports dar – immer nahe dran am Pulsschlag des Boulderns.
Diese innere treibende Kraft bewirkt, dass ich mich plötzlich an Griffen festhalte, die ich vorher gar nicht wahrgenommen habe.
Wer fünf Stunden Reisezeit auf sich nimmt, um dann an irgendeinem unbekannten Felsblock zwei Züge zu probieren, die noch von niemandem gelöst worden sind, wird allgemein wohl als verrückt erklärt. Für mich war es normal. Wenn die Motivation überhandnimmt, verliert der Mensch jeglichen Sinn zur Realität.
Es gibt viele Gründe, um auf die Berge zu steigen. Noch mehr Gründe gibt es, um einen Boulder zu erklimmen. Seit Langem diskutieren die Philosophen über die Quellen des menschlichen Tuns, aber was auch immer die Beweggründe sein mögen: Lass den Alltag hinter dir und habe Freude daran.
Motivation ist unsere innere Energiequelle jeglichen Tuns. Besonders beim Bouldern bedarf es dieser Quelle, wenn man seine Grenzen immer und immer wieder verschieben möchte. Wer nach dem hundertsten Fehlversuch nochmals aufsteht und alles gibt, versteht, was ich meine. Immer motiviert zu sein, ist der Wunschtraum eines jeden Sportlers, aber es liegt in der Natur der Sache, dass dieser Dauerzustand nie erreicht werden kann. Es braucht auch Tage, um sich zu besinnen, zu erholen und die nächsten Ziele zu fixieren – und die Motivation wieder aufleben zu lassen.
Motivation war in den ersten Jahren keines meiner Probleme. Nach meinem ersten Bouldertag unternahm ich alles, um so schnell wie möglich wieder ins Tessin fahren zu können. Ich war vom Bouldervirus infiziert. Um so oft wie möglich bouldern zu können, brauchte ich einerseits Zeit und andererseits Geld für die Fahrten. So bündelte ich meine Vorlesungen an der Uni auf ein paar Wochentage, an den übrigen kletterte ich. Außerdem nahm ich Gelegenheitsjobs an, um meine Leidenschaft finanzieren zu können.
Ich ließ mich auch dazu hinreißen, meine Ernährung auf Haferflocken mit Milch zu beschränken und exzessiv Plasma zu spenden, um mehr Geld fürs Bouldern zur Verfügung zu haben. In der Rückschau empfehle ich diesen Weg aber keinem.
Nachdem meine Leidenschaft entfacht war, nutzte ich jede Gelegenheit, um ins Tessin zu fahren. Anstatt Crashpads verwendete ich zu Beginn eine ausrangierte Bettmatratze. Oftmals lag sie nur pro forma am Einstieg. Wir konnten nur bouldern, wo das Absprunggelände nicht zu gefährlich war und man bei einem Sturz mit keinem Fußbruch rechnen musste. Der Dämpfungsfaktor meiner Matratze war einfach zu bescheiden. Dies bremste unsere Freude aber nicht, und ein Jahr später bekam ich mein erstes Crashpad, gesponsert von einem Landecker Schlosserei-Unternehmen. Noch heute bin ich dankbar für diese Möglichkeit.
Meine Freunde und ich gingen fortan bei jedem Wetter bouldern. So tuckerte zum Beispiel mein VW Jetta im wilden Schneetreiben und mit Ketten, überladen mit fünf Passagieren, ebenso vielen Rucksäcken, Crashpad und Matratze, mit 30 Stundenkilometern dem Tessin entgegen. Winter. Wilde Abenteuer. Schöne Erinnerungen.
Den Boulder-Tagesrhythmus haben wir damals für uns optimiert. Wir starteten bereits um fünf Uhr in der Früh, frühstückten um 8.30 Uhr in Bellinzona und nutzten bereits die kühlen Vormittagsstunden zum Bouldern. Über Mittag ließen wir uns die Tessiner Sonne auf den Bauch scheinen, um dann am Nachmittag nochmals angreifen zu können. Oft boulderten wir mit Lampen bis spät in die Nacht und kamen erst gegen Mitternacht wieder nach Hause. Dieses Spiel trieben wir bis Anfang Juni. Dann mussten auch wir uns eingestehen, dass das Bouldern mit steigenden Temperaturen immer mühseliger wurde. Griffe, an denen wir uns im Winter noch halten konnten, fühlten sich dann an wie Schmierseife, und wir rutschten von den Tritten.
Es war Zeit, neue Felsen zu suchen. Nachforschungen wurden angestellt. Nochmals durchkämmten wir die heimatlichen Gebirge. Fast jeden Alpenpass haben wir gesichtet, die Zentral- und Ostschweiz systematisch durchquert. Die Suche führte uns in die schönsten Täler und weit ins Hochgebirge. Wenn wir fern am Horizont Felsen vermuteten, sind wir dorthin gelaufen. Gab es Gerüchte über Felsen, so sind wir denen nachgegangen. Überall, wo es Hinweise auf Blöcke gab, wo auch nur eine geringe Chance bestand, irgendetwas zum Bouldern zu finden, da waren wir. Gefunden haben wir natürlich viele Felsen. Aber die wenigsten haben uns begeistert. Wir waren in dieser Hinsicht sehr anspruchsvoll. Das ist auch heute noch so.
Man könnte unsere Suche nach den richtigen Felsen unter ein biblisches Motto stellen: Wer suchet, der findet. Wir fanden unsere Gebiete, in denen wir uns jahrelang ausgetobt haben und wo eine Erstbegehung der anderen folgte. Das Averstal, der heutige Magic Wood, der Silvapark und das Gampernun, sie alle wurden zu meinem Wohnzimmer, das ich mit meinen Freunden teilte. Jeder suchte seine »Linie« und eine nach der anderen wurde entschlüsselt. Aber innerhalb weniger Jahre haben sich die Hausgebiete von früher zu Hotspots entwickelt und sind heute oftmals Tummelplatz für viele Menschen aus aller Welt.
Kletterer sollten Vagabunden sein, hat schon Oscar Eckenstein, Kletter- und Boulderpionier aus dem Jahre 1895, gemeint. Unbewusst nahm ich mir diese Einstellung zu Herzen und suchte überall nach der perfekten Linie, egal ob im peruanischen Hochland, im Himalaja oder entlang der unendlichen Küstenbereiche Norwegens. Jedes Mal, wenn ich ein neues Gebiet finde, erinnert es mich an meinen ersten Bouldertag in Cresciano. Immer noch überkommt mich diese nervöse Neugierde, wenn ich mich auf die Suche mache. Laufen und suchen. Suchen und laufen. Der Versuch, eine Ordnung in die neue Welt zu bringen, die bis vor Kurzem noch unendlich weit entfernt war. Angelangt am Ziel, herrscht ein Gefühl von Freude, die Luft scheint elektrisierend, und die Spannung steigt, bei jeder Biegung, bei jedem Block. So muss sich Kolumbus gefühlt haben.
Bouldern kann man ja im Grunde überall, aber die Felsqualität muss einfach passen.
An irgendeinem Stück Fels ein paar harte Moves machen, das ist für mich nach wie vor uninteressant. Als ich mit dem Bouldern begann, hatten wir unser eigenes Bewertungssystem: Es geht, es geht vielleicht, es geht nicht. Aussagen über die Qualität des Climbs oder der Bewegungen wurden mit dem Stern-System gemacht. Zehn Sterne waren unser Traum, das Ziel, das es zu finden galt. Der Schwierigkeitsgrad mit Nummer, so wie wir es heute kennen, kam erst später ins Spiel. Zuvor ging es um die Linie. Um die Erstbegehung. Es galt, die schönsten zu finden. Die perfekte Linie, ohne genau zu wissen, was die perfekte Linie tatsächlich ist. Aber auf einmal steht das »Ding« vor dir, und du weißt es. Ob es sich dann um den weltschwersten Boulder oder um eine Aufwärmübung handelt, wird in diesem Moment zur Nebensache. In diesem Moment spielt es auch keine Rolle, ob der Boulder machbar ist oder nicht. Ohnehin war es viel interessanter, etwas zu versuchen, was auf den ersten Blick unmöglich aussah. Denn was ist schon unmöglich? There are only limits when you accept them.
Zu diesem Moment, in dem plötzlich alles möglich ist, dahin bringt einen Boulderer seine Motivation. Diese innere treibende Kraft bewirkt, dass ich mich plötzlich an Griffen festhalte, die ich vorher gar nicht wahrgenommen habe. Es bedarf oft einer ungeheuren Vorstellungskraft, so fern scheint der erfolgreiche Durchstieg. Wenn die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg auch noch so gering ist, reicht das mit der entsprechenden Motivation aus, um den Boulder dennoch zu versuchen.
Im Kopf ist plötzlich alles nur eine Frage der Kraft, alles nur eine Frage der Zeit. Und wenn es nicht an der Kraft liegt, dann einfach an der fehlenden Beweglichkeit, um einer Bewegung das nötige Momentum zu verleihen. Aber das Entscheidende ist: Woran es auch liegt, dass eine Linie momentan noch nicht klappt, sie ist nicht unmöglich. Die Motivation wird begleitet von einer unvorstellbaren Lust und Freude, die mich treibt. Ich liebe den spielerischen Zugang zu den schwierigsten Problemen, ich liebe die Einfachheit, die das Bouldern bietet, das spielerische Sich-Herantasten an den Fels.