Geschehnis und Einsicht an einer Lebenswende
Mit einem Ein- und Ausstieg von Annette Mäser
Die Erstausgabe erschien 1964 bei
Das Bergland-Buch Salzburg/Stuttgart
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1. Auflage
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Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries
Fotos: Archiv der Familie Schimke
ISBN 978-3-7112-0002-0
eISBN 978-3-7112-5001-8
PETER, CHRISTA UND HANNES
Einstieg
TRAUMBERGE
DAS WATZMANNLABL
WIMBACHGRIES
Gruppe Schmuck
Die Rufverbindung
Neue Zuversicht
Der Rückzug
IM EISBACHTAL
Die Hubschrauber
Noch ein Augenblick Hoffnung
DER BERICHT DES HARRY ROST
BEIM LIEBEN GOTT
DER WIRT VOM GEIERECK
Im Auftrag
In Sechseratmosphäre
Wieder berggerecht
Am Rande
ERE
Die Churfirsten
Von Überfluss und Mangel
Die Fergenwand
Das Menschliche
ÜBER ALLEM DER BERG
Wandel und Einsicht
Geschehnis und Schicksal
Immerwährende Wiederkehr
Ausstieg
»Denkst du nicht, dass alles Leben vom Berge kommt?« Ein alter Indianer war herangekommen und stellte mir diese – ich weiß nicht, wie weit reichende – Frage. Ein Blick auf den Fluss, der vom Berge herunterströmt, zeigte mir das äußere Bild, von dem diese Anschauung gezeugt war. Offenbar kam hier alles Leben vom Berge, denn wo Wasser ist, da ist Leben. Nichts war offenkundiger. Ich fühlte zu seiner Frage eine mit dem Wort ›Berg‹ anschwellende Emotion und dachte an das Gerücht über heimliche, auf dem Berge zelebrierte Riten. Ich antwortete ihm: »Jedermann kann sehen, dass du die Wahrheit sprichst.«
C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken
Der Einstieg im alpinistischen Sinne ist laut Duden der Punkt, an dem eine Kletterroute beginnt.
Helma und ich haben im übertragenen Sinn gleich beim Einstieg begonnen. Kein mühsamer, langer Zustieg war nötig. Wir durften sofort mit einer lustvollen Kletterei beginnen. Ich hatte ein Filmprojekt zu Helma Schimke geplant, und mit der Recherche stieg der Respekt vor dieser bekannten Alpinistin und Architektin. Was für eine beeindruckende und spannende Frau! Durch Helmas ehrliches und neugieriges Interesse an meiner Person sank in den ersten persönlichen Gesprächen schnell meine Scheu ihr gegenüber. Unglaublich offene Gespräche über »Gott und die Welt« folgten. Zwei sehr verschiedene Frauen waren wir, zwei Frauen, die Mutter und Tochter sein könnten, zwei Frauen mit völlig anderen Geschichten und Interessen. Und doch, so ähnlich im Denken, Fühlen und Erleben – unsere Basis für ein tiefes Verständnis füreinander.
Das Buch »Über allem der Berg«, ursprünglich erschienen 1964, habe ich nun zum dritten Mal von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen. Mein Exemplar, damals zufällig auf einem Flohmarkt erstanden, ist inzwischen übersäht mit Markierungen und Notizen. Das erste Mal las ich es bei der Recherche zum gleichnamigen Film, den ich 2002 zusammen mit Ulli Gschwandtner (Mag.a phil. Ulrike Gschwandtner, * 20. Juli 1965 in Werfen, † 3. Juli 2007 am Gasherbrum II in Pakistan, war Sozialwissenschafterin und Alpinistin) geplant und umgesetzt habe. Es war ein Herantasten an Helma Schimke und ihre große Liebe und Leidenschaft, die Berge. Diese Liebe haben wir nicht wirklich geteilt. Ich mag die Berge, gehe gerne wandern, begegne ihnen aber immer mit Respekt. Verbunden hat uns aber eine ganz bestimmte Einstellung zum Leben. Sehr oft, speziell am Beginn unserer Freundschaft, waren wir beide erstaunt über den Gleichklang unserer Gedanken, unserer Empfindungen. Helma hat des Öfteren zu mir gesagt: »eigenartig diese Verbindung, aber es passt einfach«. In mein Exemplar ihres Buches »Auf steilen Wegen« schrieb sie mir 2002, also bald nach unserem Kennenlernen: »Liebe Annette Mäser – die Begegnung mit Dir war aufregend, – dennoch empfand ich sie wie die Einkehr in einem warmen Nest! Ich freue mich auf alle Wiedersehens-Varianten! Deine Helma Schimke«.
Die vielen Autofahrten zu diversen Bergfilmfestivals schenkten uns unzählige Stunden, da hatten wir viel Zeit. Zeit zu plaudern, Zeit zu lachen, Zeit bei verschiedenen Wänden und Bergen an der Strecke stehen zu bleiben, zu schauen, zu erzählen.
Welche Freude, welche Lebenslust hat sie bei gemeinsamen Ausflügen, oft zusammen mit ihrer Familie, ausgestrahlt, sei es auf ihre Hütte in Tirol oder ein Kurzurlaub in ihre geliebten Dolomiten. Auch Auch als keine großen Touren mehr möglich waren: Helmas Freude, in den Bergen sein zu können, war ungebrochen und ansteckend. Zünftige Speckjausen mit dem obligaten Schnapserl gehörten genauso dazu wie die Tasche mit Bergführern und Wanderkarten, die vor, während und nach den Ausflügen ausführlich studiert wurden. Sogar bei den unvergessenen Hubschrauberflügen mit Gabriel, dem Piloten aus Wolkenstein, war die Kartentasche dabei – damit sich der Pilot nicht verfliegen könne. Ich höre noch die begeisterten Ausrufe, manch kleinen Juchizer beim Anblick der Dolomiten, den Einstiegen, Routen und Biwakplätzen der unzähligen Begehungen, die Helma hier im Laufe ihres alpinistischen Lebens gemacht hatte.
Gerade bei kleinen gemeinsamen Unternehmungen, wie zum Beispiel Spaziergänge am Buchberg bei Obertrum, konnte mir Helma eine ihrer wertvollen Lebensweisheiten vermitteln: »Je älter ich werde, desto intensiver empfinde ich, was Freude ist. Mit zwanzig Jahren war mir vieles selbstverständlich, wofür ich mit dreißig sehr dankbar bin.« (Helma Schimke, Auf steilen Wegen, S. 243) Diese Weisheit hat sie schon in jungen Jahren niedergeschrieben, sie hat sich dann im Laufe ihres Lebens manifestiert. Nicht wehmütig zurückschauen, was man alles konnte, sondern sich unbändig freuen über das, was noch möglich ist. Das hat sie mir bei den Ausflügen vorgelebt: Die große Freude am Hier und Jetzt. Ich hoffe und wünsche, dass ich das im Alter auch so sehen und leben kann.
Ihr Buch las ich das zweite Mal, um die passenden Zitate für den Film zu finden. Die Auswahl fiel schwer, denn ich liebe die poetische Sprache von Helma Schimke. Nun, beim dritten Mal Lesen, tauchten die meisten Fragen auf. Nun wird mir schmerzhaft bewusst, wie sehr Helma mir fehlt. Unzählige Male wollte ich sie anrufen, um Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Auch ertappe ich mich immer wieder beim Fotografieren einer schönen Wand, einer schönen Landschaft – für Helma. Auch das hatte sich zu einer Tradition zwischen uns entwickelt. Schöne Grüße von den Bergen schicken, an denen ich gerade vorbeifuhr, die ich gerade sah. Später dann in Helmas gemütlicher Stube Kartenmaterial wälzen, Fotos begutachten, Erlebnisse berichten. Ihr Interesse am Leben anderer war groß und ehrlich, nie hat sie sich in den Mittelpunkt gestellt.
Ich freue mich sehr über die Neuauflage ihres Buches »Über allem der Berg«. Helma Schimke erzählt mit ihrer unnachahmlichen, schönen Sprache über ihre Leidenschaft für die Berge. Sie lässt die Leserinnen und Leser teilhaben an ihren Gedanken, ihrem Lebensmut, ihren Ängsten und Freuden. Hier kommt eine starke Frau zu Wort, die sich nie als Pionierin gesehen hat, die es aber war. Sie hat im Frauenalpinismus Geschichte geschrieben, als Architektin gearbeitet zu einer Zeit, in der Frauen lieber am Herd gesehen wurden. Sie hat ihr Leben immer selbst in die Hand genommen und vielen Widrigkeiten getrotzt! Besser als in Helma Schimkes eigenen Worten kann man das nicht ausdrücken:
»Für uns Frauen ist nicht der Berg selbst das Schwierige, sondern was sich um ihn herum baut und sich gegen uns stellt. Niemand kann uns helfen, diese Widerstände zu überwinden. Im letzten sind wir immer allein. Doch war das zu meiner Zeit noch schlimmer als heute … Wichtig ist ja nur das eine: Das zu leben, was man ist …«
»Dieses schöne, süße, wilde Leben, wie macht es doch taumelig und stark zugleich! Was kümmern mich schon die erhobenen Zeigefinger und misstrauischen Blicke? Wie heißt es doch in Goethes Natürlicher Tochter? »Das Glück, und nicht die Sorge bändigt die Gefahr!« (Helma Schimke, Auf steilen Wegen, S. 291 und S. 263)
Freitag, 17. März 1961: Abendnachrichten mit Wetterbericht. Dann die Nummer 062552/2495.
»Bartholomä.«
»Bei Ihnen nächtigt heute Dr. Schimke aus Salzburg. Kann ich ihn bitte sprechen?«
»Moment …«
»Hallo, Helma?«
»Ja, Servus! Du wolltest mich doch anrufen!«
»Schon. Wir haben nur gerade noch Nachrichten gehört. Morgen geht’s endgültig los.«
»Fein. Ich drück die Daumen.«
»Der Wetterbericht ist tadellos. Der Schnee bei der Eiskapelle ist fester als das letzte Mal.«
»Habt ihr vorgespurt?«
»Ja … übrigens, wir sind zu dritt morgen.«
»Wieso?«
»Ein junger Deutscher ist da.«
»Geht ihr als Dreierseilschaft?«
»Ja.«
»Wirklich? Ihr kennt euch doch nicht!«
»Er wollte die Wand im Alleingang machen. Der weiß schon, was gespielt wird. Auch im Kaiser kennt er einiges, Totenkirchl-West und so. Außerdem ist der Bursch jung und sehr sympathisch.«
»Na fein. Dann macht es gut. Grüß den Gerhard.«
»Dank schön und pfiat di.«
Der Hörer liegt wieder in der Gabel.
Vor einer Woche um dieselbe Stunde hatte Konrad mich angerufen, um mir vor dem Einstieg in die große Wand noch zu sagen, es sei alles »okay«. Auch damals hatte er mit Gerhard Jungwirth, dem achtundzwanzigjährigen Diplom-Kaufmann, bis zur Eiskapelle vorgespurt, aber tags darauf etwa hundert Meter über dem Einstieg kehrtgemacht. Mittags waren sie wieder in die Stube gestolpert. Der riesengroße Schneerosenstrauß, den sie mir mitgebracht hatten, war zerzaust. In wirrem Durcheinander schauten neben Blüten auch Stängel, Ästchen und Wurzeln nach oben.
»’s Wetter wär ja gut gewesen, aber die Schneeverhältnisse …«
Konrad hatte die Fäustlinge missmutig in die Sitzecke geworfen. Gerhard, beherrscht und bedächtig wie immer, an den Brillen hantierend: »Na ja, gar so schlecht war der Schnee auch wieder nicht.«
»Aber verteufelt warm ist es gewesen.«
»Das schon.«
Beim Essen einigte man sich. Am nächsten Tag, es war ein Sonntag, wollten sie eine »Kontrolltour« unternehmen und sich über Schneelagen, Schneehöhen, Schneearten und Wächtenbildungen nochmals genau informieren.
»Wie wär’s mit der Kleinen Reib, Konrad? Wenn wir ein gutes Glas mitnehmen?«
»Wenn’s neblig ist, nützt das beste Glas nix.«
»Und wenn’s schön ist?«
»Dann könnte man ja gleich das Hocheck machen. Da sieht man hinein in die Wand, kann sich die Wächten anschauen und den Schnee beurteilen …«
Bierschaum hatte dann schließlich den letzten Groll der Alpensöhne erstickt, und bei gemeinsamem, gemächlichem Brillenputzen und wechselweisem Gähnen war das Watzmann-Hocheck bald beschlossene Sache gewesen.
Die Fensterscheiben spiegelten den Sonnenuntergang, als der klapprige VW des Gefährten wie glücklich erschrocken davonzuckelte. Wir hatten das originelle Vehikel – es war noch ein »Reichsjahrgang« – mit List und Schiebetechnik ermuntert.
Was war weiter geschehen?
In knapp viereinhalb Stunden hatten dann der große, breite Blonde und der kleinere, schmale Dunkle einander bei Sonntagshimmelblau von Hammerstiel und der Schappachholz-stube aus auf den Gipfel des Hochecks gejagt. Selten einmütig das abendliche Urteil: so gut wie keine Wächten, fester, zuverlässiger Firn auch in den oberen Regionen. Also nächstes Wochenende auf alle Fälle. Wir waren für diesen Zeitpunkt zwar mit von G. verabredet. Doch wenn das Wetter wirklich schön bleiben sollte, würde er wohl entschuldigen.
Wieder Wartezeit und viel Arbeit. Tägliche Wetterberichte. Dienstagabend war noch einmal »letzte« Lagebesprechung gewesen.
»Helma will auch diesmal nicht mit.«
»Endgültig?«
»Wir haben schon genug gehächelt deswegen.«
»Nur weil du nicht trainieren konntest?«
»Ich spiel keinen Hemmschuh.«
»Aber du hast dich doch am meisten drauf gefreut.«
»Nicht das erste Mal umsonst.«
»Geh, sei nicht fad …« und: »Wenn du wieder in Form bist, gehen wir noch einmal mit dir in die Ost. Heuer liegt der Schnee noch lang!«
Als wollte er fragen, ob das ein Trost für mich sei, hatte mich Gerhard mit Steuerprüferblick über die Brillenränder hinweg gemessen und einen winzigen Notizkalender gezückt: »Wo gäb’s da noch einen günstigen Termin?«
Es wird wieder ein unruhiger Abend mit dem unerschöpflichen Thema Watzmann-Ostwand. Betrachtungen, genussvolle, Pedantisches über Routen, Bandbreiten, Hangneigungen, Schneehöhen, Ausquerungsmöglichkeiten ins Watzmannkar. Eventuelles über einen Direktdurchstieg vom Dritten auf das Vierte, auf das Fünfte Band, über den Pfeiler weg, der aus einer riesigen Felsbirne emporwächst und sich oben an den Wächtenrand lehnt; Begehung des Dritten Bandes bis zur Biwakschachtel und Ausstieg durch die Gipfelschlucht bei unsicherem Wetter; Rückzugsmöglichkeiten. Fragen der Ausrüstung für Freibiwaks im Wettersturz: Daunenjacken, Perlonsäcke, Abseilschlingen, Eishaken, Primuskocher. Ersatzbenzin, Taschenlampe … Erwägen, verwerfen, vorschlagen, abraten, bedenken. Ein aufgeregtes Palawer wie vor einem Polterabend. Dann jener Donnerstagnachmittagsanruf.
»Sitzung, Gitsch. Kann nicht zum Essen kommen.«
»Alsdann, Servus, Chef. Wird’s Mitternacht?«
»Nein, bestimmt nicht. Morgen, du weißt. Apropos morgen: Könntest du mir den Rucksack packen?«
Natürlich konnte ich das. Doch zuerst, wie alle Tage, das Kinderabendbad: Schenkelchen in Seifenschaum, Rüschenhemdchen, Kullertränen, Geschrei und das »Müde-bin-ick-geh-zurr-Ru«, dann dreimal ein Fläschchen.
Halb sieben, Atempause. Das Telefon.
»Könntest du mich abholen, Gitsch?«
»Ja, und?«
»Fahrn wir doch gschwind auf den Gaisberg!«
»Es ist halb sieben! Die Sitzung – um halb acht …«
»Sei ein Bursch!«
Sterne im Blauschwarzen, die Watzmannsilhouette im letzten Schimmer des rotvioletten Kulissenhimmels. Wühlender Nachtwind über dem kurzhalmigen Wiesenboden und in den zausigen Fichtenästen. Wieder der langgewohnte Tiefblick auf die irrlichternde Stadt. Kleiner Rundgang zur Hütte mit der Holzterrasse, zum Fernsehturm und zum Parkplatz. Im Süden, kaum gegliedert, verschwommen, der dunkle, breite Rücken des Tennengebirges, etwas rechts davon der Hohe Göll.
Ich fühle, wie Konrad diese Stunde da heroben braucht, um zwischen Akten, Dienst im Richtertalar und einer Winter-durchsteigung der Watzmann-Ostwand einen Augenblick zu sich selber zu finden.
Ich schlage den Mantelkragen hoch. Die Nachtarbeiten und eine verschleppte Grippe hatten mir während der letzten Wochen zugesetzt.
»Ob das Rippenfell …?«
»Patscherl. Schlaf dich richtig aus morgen, und am Samstag fährst zum Forstrat. Machts eine kleine Eingehtour, die wird dir guttun.«
Ein Klaps auf meine Schulter und, wie gewohnt, ein zuversichtlicher Stups am Ellenbogen. Er schiebt mich neben sich durch das niedrige Gesträuch, hüpft bubenhaft über das verfallene Mauerwerk des einstigen Gaisberghotels und führt gelenkige Gleichgewichtsübungen auf runden Wackelsteinen vor: »Granit ist das keiner!«
Ein Weitsprung. »Schade, dass du nicht mit dabei bist. Uns freut’s allein nicht recht.«
»Ihr ergänzt euch doch so gut. Gerhard ist ruhig, überlegend …«
»Ich vielleicht nicht?«
»Konrad!«
Eine Locke fällt ihm in die Stirn. Die schmal umrandeten Gläser, der mächtige Nasenrücken, das ausladende Kinn mit der Mittelkerbe stechen unternehmend ins Dunkel. Dann die gewohnte Handbewegung: Vom Hinterkopf her gleiten die gespreizten Finger durch den zerzausten Haarschopf vor zur Stirne, verhalten über der Nasenwurzel, zeichnen einen unbestimmten Bogen über Wangen und Ohren, kreisen langsam um den Haarwirbel am Scheitel, dann fällt der Arm wie abwinkend nach unten: »Aber im Karakorum bist’ dann dabei!« Wieder wühlen die Finger im Haar, wieder das unbestimmte Kreisen in der Luft: »Du, verrückt schön wird das sein! Wir müssen nur in getrennten Seilschaften gehn, und die Eisflanke vom Diran g’hört uns!«
Das war Konrad: Besessen von der Überzeugung, dass ihm das Leben keine unüberwindlichen Hindernisse in den Weg stellen könnte, beherrscht vom Willen, möglichst vieles auf einmal zu tun und jedes einzelne Ziel dann mit geballter Kraft anzusteuern. Ihn schüttelte jene Unruhe, die nur einer kennt, der glaubt, fünf Leben gleichzeitig leben zu müssen. Nichts war ihm fremder, als zögern, langsam gehen, und nichts beseelte ihn nachhaltiger, als »in Form« zu sein, auf dem Hochreck, auf Skiern, im Paragrafendickicht und im steilen Fels. Undenkbar für ihn, sich mit dem Normalmaß abzufinden. Alles Herkömmliche forderte seinen ungestümfröhlichen Widerstand heraus. Ein Gartenzaun war eben da, um im Sprunge genommen zu werden … »Wie fad, durch eine Tür zu gehn!«, und ein Spaziergang, der nicht zugleich auch Training bot, war unsinnig: »Beim Gehen schlafen, das lern ich nie!« Konrad glich einem Automobil, dem der »kleine Gang« fehlt.
Wir stehen wieder vor dem Wagen.
Fernlicht. Kupplung. Wir rollen bergab. Die Lichter der Zistelalm. Und hier der Tiefblick zur Stadt. Mit abgewürgtem Motor halten wir. Vor uns das Bergrund: Staufen, Untersberg, Watzmann, Roher Göll.
»Schau dir das an! Wir könnten … wir sollten …« Tief atmend beugt er sich aus dem Fenster.
»Weißt, wenn wir dann über Gilgit fliegen oder über den Nanga, über die Nadel vom Masherbrum, oder wenn wir das Basislager unterm Diran …«
»Bitte, zieh die Handbremse an!«
»Ah ja. Aber du, wir müssen jetzt wirklich trainieren. Das mit den Wallisern im Mai muss klappen. Nix mehr davon: keine Zeit und so. Mit der Vernunft allein kommt man im Leben nicht weit.«
Wir halten vor der Residenz.
Mit wehendem Mantel springt Konrad über den linken Kotflügel, dreht sich auf dem Gehsteig wie ein Kreisel und verschwindet winkend in der Toreinfahrt: »Servus, mach’s gut. Pfiat di!«
Es war später geworden als geplant. Noch ein Rundgang zu den Kinderbettchen: Glühwangen und Samtwimpern, gleichmäßige Atemzüge wie immer. Die Stube der Eltern und die gewohnten Fragen. Gute-Nacht-Tätscheln. Nun der Rucksack Konrads für die Tour! Beim Packen dient jeweils ein Zettel an der Innenseite des »alpinen Schrankes« als Gedächtnisstütze. Drei Rubriken sind zu beachten: FELS, EIS und KOMBINIERT. Die letzte ist die längste, und nach ihr habe ich mich heute zu richten.
Es heißt da, bei der Sache sein. Eine untadelige, lückenlose, vor allem nicht zu umfangreiche und möglichst gewichtsarme Ausrüstung zusammenzustellen ist – zumindest vor bestimmten Touren – eine kleine Wissenschaft. Die vielfältigen neuzeitlichen Materialien machen die Wahl schwer: Daunenjacken, Biwakpatschen, Fäustlinge aus Wolle und aus wasserabweisendem Kunststoff, Stutzen, Socken, Flanellhemden und Wollunterhosen, Anoraks, Pullover und perlonverstärkte Kniebundhosen; Eis- und Felshaken, Seil- und Reepschnüre, Pickel, Eisbeil und Karabiner, Biwaksack, Taschenlampe, Kocher, Benzin, Zündhölzer und Fotoapparat; Zucker und Traubenzucker, Trockenfrüchte und Suppenpakete, Schokolade, Kekse, Pumpernickel und Teesäckchen. Verbandzeug und Schnüre, Sonnencreme, Steigeisen und Spiritustabletten.
Ein Kunterbunt der Dinge und Gedanken: Da sind die verbogenen Steigeisenzacken, die gerissene Hammerschnur und das Seil. Es riecht nach Erde. Unversehens blättere ich im Kletterführer, bevor ich ihn in der Rucksackaußentasche verstaue, und unversehens gerate ich auch wieder einmal in jenen seltsamen Schwebezustand zwischen heute, morgen und Es-war-einmal, zwischen dem demütigen »Herrgott, vielleicht doch in diesem Sommer …« und dem unheiligen »Hol’s der Teufel, wenn diese Tour nicht bald einmal klappt«.
Ein kleines Kraftknäuel aus Zorn und Gebet spult sich in mir ab. Vertrug sich das alles mit dem Familienfrieden? »Wenn ihr nicht verrückt seid …«, würde ich Mutter morgen wieder hören. Haus und Wohnung, gesunde Kinder und gute Freunde – genügte das nicht? Warum denn immer diese Gipfelfernensucht? Schon waren die Vorbereitungen für eine Karakorumexpedition angelaufen, schon hatte man in Karachi um die Einreisegenehmigung angesucht. Listen, Preistabellen, Programmvorschläge und Korrespondenzen türmten sich. Der Diran war das Ziel.
Trainierte Konrad wirklich nur für die Götterberge? War er nicht eigentlich schon zwanzig und mehr Jahre »auf Expedition«, war sein Leben nicht überhaupt eine einzige Expedition? Wohin? Nach seinen Traumbergen. Wozu? Um »in Form« zu sein.
Wahrscheinlich strebt jeder Mensch in einem versteckten Winkel des Herzens lebenslang nach seiner (nie erreichbaren) »Höchstform«. Unerfüllte Wünsche werden dann oft – als eigene Ohnmacht und Unzulänglichkeit, als persönliches Versagen empfunden – zu Stacheln eines ewig bohrenden Ansporns, eine immer vollkommenere, bessere »Form« zu erreichen. Solche Menschen sind auf ruheloser Wanderschaft, einem von ihnen erträumten »höchsten Dasein« entgegen; auf ihr befand sich auch Konrad. Ein gelassenes Zu- und Abwarten kennt er nicht. Nur der regelmäßige zwölf- und mehrstündige Tiefschlaf befreit ihn von diesem rastlos »in Form kommen« wollenden Ich. Jeden Morgen sieht er sich wieder jener Tat, jener einzigen Stunde der Erfüllung entgegeneilen, vor der »Jahre des Lebens erlebnislos werden«.
Samstag, 18. März 1961.
Ein wolkenloser Himmel.
Wenn die drei, wie sie es geplant hatten, wirklich um ein Uhr nachts in Bartholomä aufgebrochen waren, mussten sie um zwei Uhr zur Eiskapelle gekommen sein, gegen fünf Uhr etwa ins Schöllhornkar, gegen acht Uhr wahrscheinlich in die Gegend des Dritten Bandes. Bei winterlichen Bergfahrten ließen sich die Kletterzeiten nicht so einfach berechnen. Doch war ich überzeugt, dass, halbwegs normale Verhältnisse vorausgesetzt, meine Vermutungen zumindest annähernd stimmten. Also konnte man die Seilschaft jetzt, gegen neun Uhr früh, von Bartholomä aus schon gesichtet haben. Ich musste mich vergewissern.
»Ich rufe aus Salzburg … ja … haben Sie mit dem Fernglas – wie, Sie haben noch nichts gesehen? Sie beobachten die Wand seit halb acht? – Ja, vielleicht sind schlechte Verhältnisse, und die drei sind noch nicht so hoch … ja, ja, gut, danke. Ja, ich rufe noch einmal an.«
Dass man von Bartholomä aus noch keine Spuren entdeckt hatte! Am Morgen lag die Ostwand im grellen Licht, die Stapfen waren im Schnee also sehr genau auszunehmen. Möglich, dass schlecht zu spuren war und die drei sich noch in jenen Wandabschnitten befanden, die nicht im Blickwinkel von Bartholomä lagen.
Wenn die Verhältnisse aber so übel waren, musste man doch annehmen, dass die Seilschaft umgekehrt war. Wahrscheinlich schon im Schöllhornkar. Hätten sie in diesem Falle nicht schon wieder in Bartholomä sein müssen?
Möglich war auch, dass sie ihren ursprünglichen Plan aus irgendeinem Grund geändert und statt der Kederbacherroute den Berchtesgadener Weg gewählt hatten. Obwohl davon doch während der letzten Woche nie mehr die Rede gewesen war. Außerdem … auch am Berchtesgadener Weg hätte man schließlich die Spuren entdecken müssen. Ich war ungewohnt unruhig an diesem Samstagvormittag. Nichts wollte so recht gelingen. Nur die notwendigsten beruflichen Arbeiten nahm ich mir vor. Zwischendurch immer wieder Überlegungen: Der Firn flimmert, blendet, aber … die Spuren …
Es blieb beim Vielleicht, Wenn und Aber. Fieberte ich? Es mochte das Wetter sein. März schrieben wir, und doch stülpte sich der leere blaue Flimmerhimmel wie eine Dunsthaube über die mittägliche Stadt.
Der Wetterbericht von sechs Uhr früh war sehr schlecht gewesen. Das sorgte mich nicht. Auch wenn der angekündigte Wettersturz am Abend tatsächlich eintreten sollte, war das bedeutungslos. Die drei mussten dann ja längst in Wimbachgries eingetroffen sein. Selbst wenn die Verhältnisse in der Wand so schlecht waren, dass eine Dreierseilschaft sie an einem Tag nicht bewältigen konnte, bestand keine Gefahr. Allenfalls würden sie zurücksteigen zur Zellerhöhle, biwakieren und die Wetterlage des nächsten Tages abwarten, oder sie würden versuchen, die Biwakschachtel zu erreichen; da waren sie auf alle Fälle so lange geschützt, bis sich eine günstige Situation ergab und sie durch die Gipfelschlucht aussteigen konnten.
Ich war sicher: Um Menschen wie Konrad und Gerhard brauchte ich mich wegen eines etwaigen Wettersturzes nicht zu sorgen. Gewöhnt an schwierigste Winterfahrten, durch ein strenges Trainingsprogramm vertraut mit allem, was der Berg forderte, vertraut vor allem auch mit der Watzmann-Ostwand, im Regen, im Nebel, im Sonnenschein, waren sie keine Durchschnittsalpinisten: Touren wie die Längsüberschreitung des Grimming im Hochwinter, wie die vereiste Lacknerkante an der Bischofsmütze oder die kältestarrende Dopplerwand am Untersberg waren Stationen ihres Wintertrainings.
Wenn mein so temperamentsgeladener Konrad auch manchmal von etwas wie fröhlicher Draufgängerei nicht freizusprechen war, auf diese eine Bergfahrt, die Winterbegehung der Watzmann-Ostwand, hatte er sich gewissenhaft, bis ins kleinste Detail, vorbereitet.
Noch vorgestern Abend, am Donnerstag, hatte er mich nach der Sitzung gestellt: »Du, der Rucksack, ist er wohl in Ordnung?« Freitagmittag war er erst gegen zwei Uhr heimgekommen, und nach dem eiligen Mahl war dann nochmals Rucksackkontrolle. Das Wohnzimmer glich einer Sportartikelausstellung. Gerhard, der eben in voller Marschausrüstung eingetroffen war, floh händeringend ins Freie.
Doch wurde der Rucksackinhalt in Ordnung befunden. Ein liebevoll kräftiger Schulterklaps als Belohnung, Kämmen mit Fünffingertechnik, die übliche Brillensuche und: »Das wär’s! Empfiehl mich dem Forstrat. Und vergiss nicht aufs Sonntagfestessen gegen Abend!« Das Unikum von einem Volkswagenveteranen war davongepafft – diesmal ohne Schiebehilfe.
So war es Samstagmittag geworden. Kinderszenen lenkten mich etwas von den Watzmanngrübeleien ab. Christas umfangreiche Rokokopuppe war in Haferflocken, Zimt und Zucker gekippt, vor Schreck hatte sich Hannes in die Zunge gebissen: »Muddii, ich glaub, ich bin dodd!« Peters Trauergeschrei machte es mir schwer, zu entscheiden, welcher Schmerz nun der größte war.
Um zwei Uhr wieder Bartholomä:
»Ja, nochmals Salzburg. Wie? Was sagen Sie? Alle drei auf dem Gipfelgrat gesehen? Wirklich? Schon um halb zwei? Großartig. Danke. Danke vielmals.«
Um halb zwei schon oben? Eine prächtige Zeit! Ein Zwölf- Stunden-Durchstieg: Konrads Optimismus hatte sich wieder einmal bestätigt. Bei diesem herrlichen Wetter gab das jetzt sicher eine ausgiebige Gipfelrast, dann einen fröhlichen Abstieg und am Abend in Wimbachgries allenfalls einen kleinen großen Watzmannschwips, vor allem aber einen langen Schlaf. Sonntag vor zwölf Uhr also kein Eintreffen in Wimbachbrücke. Genauso war Konrads Zeitrechnung gewesen: spätestens Sonntag siebzehn Uhr das »Festmenü«.
Nun war ich ganz beruhigt. Nur diese Teufelsschwüle, irgendetwas passte mir nicht. Ob ich zu einer Eingehtour mit dem Forstrat überhaupt fähig war? Ich redete mir gut zu. Konrad würde sonst enttäuscht sein.
Einpacken, Kinderfragen, Kinderküsse, Schweißtropfen, Durst und endlich Abfahrt.
Wenig später: »Also, da sind Sie ja.« Forstrat von G. schüttelt mir die Hand. »Wo ist Ihr Mann?«
»In der Watzmann-Ost.«
»Was? Heute?«
»Ja, es war nicht mehr aufzuschieben. Seit Wochen dieses Schlechtwetter, dann der Schnee. Gute Verhältnisse gibt es jetzt erst: Seit halb zwei ist er schon oben mit zwei Gefährten.«
»Wie? Zu dritt, und schon durch?«
»Ja, ich erfuhr es gerade aus Bartholomä.«
»Oh, das ist dann gut. Das ist dann sehr gut.«
Ein großes gemütliches Wohnzimmer, Lärchenholz und grobes Leinen, ein dickbauchiges Cello, Bücher und Blumen. Eine zierliche, blonde, braun gebrannte Frau, Bohnenkaffee und Apfelstrudel, Kinderfotos und Tourenbücher. Das gibt schnell Kontakte. Viel zu früh mahnt der Hausherr: »Wenn wir das Horn probieren wollen, wird’s Zeit.«
Schweigend, mit weit ausholenden Schritten, stapft der Forstrat mit mir durch den Wald. 1936 Olympionike, gehört von G. auch heute noch nicht zum alten Eisen. Sein rhythmischer Langlaufschritt macht es sogar Trainierten schwer, an seiner Seite zu bleiben. Als es dunkel zu werden beginnt, eilen der Herr und sein Hund voraus.
Ich stapfe bedächtig nach, halte mich an die Spuren, rieche bald Rauch, und schon wächst vor mir ein imposanter Holzbau in die Nacht. Ein Jagdhaus mit hübschen seitlichen Erkern, zwei Türmchen und einer – wie sich zeigt – urgemütlichen sauberen Stube. Prasselndes Holzfeuer empfängt mich, ein dampfender Teekessel, ein Duftgemisch aus Latschen, Harz und Räucherspeck.
Die mächtige Gestalt des Forstmannes hockt im flackernden Feuerschein vor dem breiten Ahorntisch. Von dem verwitterten Gesicht und den Falten, die sich wie Kerbschnitte über die Stirne ziehen, könnte in einer alten Fabel erzählt sein. Doch wie die breiten sehnigen Hände immer wieder Riesenscheite in den Schlund des Ofens schieben, wie sie den Brotlaib packen und hauchdünne Speckscheiben schneiden, das wirkt beruhigend erdnahe. »Den Rauch drückt’s nieder. Wär schad, wenn morgen nichts würde.«
Er horcht hinaus.
Der Wald ist jetzt unruhig geworden. Ein klagender Vogellaut dringt aus der Tiefe. Irgendwo jault ein Fuchs. Immer lebendiger wird es um die Hütte. Bald braust, singt, dröhnt es. Ein Fensterbalken schlägt zornig an die Block-wand. Dumpfes Gepolter im Kamin. Winselnd springt der Hund auf.
Der Forstrat erhebt sich nachdenklich, tappt etwas vornübergeneigt zur Tür und öffnet. Der Wind entreißt sie ihm, und heulend schlägt eine Schneefahne zu uns herein. Fichtenäste peitschen die Luft.
»Gut, dass die drei so früh oben gewesen sind.« Von G. setzt sich wieder zum Ofen:
»Ja, für eine Dreierseilschaft unglaublich schnell.«
»Müssen gute Verhältnisse gehabt haben, zumindest die besten in diesem Winter. War ja ständig Schlechtwetter. War’s schön, gab’s Lawinen. Festen Firn hat es erst jetzt!«
»Im unteren Wanddrittel unbedingt. Da ist viel Schatten. Das Eisbachtal ist ein richtiger Kältesee, ein eisiger Schlund. Zwanzig Grad sind da unten nicht selten, auch dann nicht, wenn es knappe vierhundert Meter höher in der Ostwand zehn oder fünfzehn Wärmegrade hat. Diese Temperaturunterschiede sind in der Watzmann-Ost eine Riesengefahr.«
»Hermann Buhl muss seinerzeit besonders günstige Verhältnisse gehabt haben.«
»Ja, es war fester Harsch. Eine Steigeisentour bis zum Gipfel. Dazu der Vollmond. Das war kein Leichtsinn. Lächerlich. Er hat einfach die Wandverhältnisse richtig eingeschätzt.«
»Sie sind doch knapp vor ihm auch allein durch?«
»Aber nicht über den Salzburger Pfeiler.«
»Dieses Alleingehen – warum eigentlich nur?«
»Weil’s schnell ist, und in der Ost bin ich ja zu Hause. Auch im Winter. Ein Zweiter verdoppelt da fast immer das Risiko.«
»Aber die seelische Belastung, wenn der Gefährte fehlt?«
»An das gewöhnt man sich schließlich.«
»Auch an die Wand im Alleingang?«
»Sie lockt immer wieder mit ihren zweitausend Metern in der Vertikalen und zweitausend Metern in der Horizontalen. Vor allem ist sie landschaftlich schön. Aufbau, Gliederung wunderschön. Sie verlangt nicht nur Technik. Man muss gehen können. Sie verlangt vor allem Instinkt, einen tierischen, ganz unverbildeten, die Intelligenz von Kühen.«
»Von Kühen?«
»Ja, oder von Schafen. Die Schafe vom Watzmannlabl, die sind seinerzeit im Frühjahr aus dem Eisbachtal tausend Meter hinaufgestackelt zu ihrer Sommerresidenz, findiger und selbstverständlicher als so ein heutiger Hakenspezialist. Und die Kühe von Funtensee gehen einfach heim, steigen ab, wenn sie riechen, dass es zwölf Stunden später schneien wird.«
»Nun ja, das Vieh. Wir sind doch ein bisschen anders geartet. Tierischen Instinkt haben wir eben nicht. Dafür doch einigen Ersatz.« Von G. kauert vor dem Ofen, schürt die Glut, legt Scheite zu, schweigt eine Weile. Völliger Gleichmut liegt in dem entspannten Gesicht. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, spricht er, während der Wald unter Sturmböen ächzt, bedächtig zögernd Satz für Satz wie vor sich hin.
»Jeder Ersatz versagt, wenn der Mensch in der Entscheidung steht, auch die Technik. Die natürlichen Bindungen machen den Menschen. Maschine und Atom, ja, ja, das ist alles ungeheuer, großartig. Aber für den Menschen bleiben doch die Erde, das Feuer, das Meer, der Wind, der Berg. In dieser Welt, nicht in der atomaren, muss er sich entscheiden, auch dann, wenn er auf dem Mond gelandet ist. Wir betrügen uns in diesen Dingen nicht ungestraft.«
Noch ein Scheit wird in den Ofen geschoben.
»Wir Alten sind dazu da, an das Natürliche zu erinnern, an den Glauben und an die Ehrfurcht. Auch an die Ehrfurcht vor dem Berg, die am Beginn des Alpinismus stand. Schauen Sie sich doch die Gesichter der Alten an, der Ersten: Kugy, Pfannl, Zsigmondy und der Burgener, der Whymper, der Pfann. Da ist Bescheidenheit, Glaube und Achtung vor dem Natürlichen. Keiner von ihnen hätte sonst mit den damaligen Mitteln solche Leistungen vollbracht.«
Die monotone Stimme setzt aus. Es ist, als ob mein Gastgeber sich zu so vielen Worten hätte zwingen müssen, und fast widerwillig, scheint es mir, fährt er fort: »Ich bin kein Naturapostel, kein Gesundbeter, aber Verstand und Technik sind nicht alles, sind nicht der einzige Ersatz für den verloren gegangenen Instinkt. Dieser Modealpinismus, dieser Rummel um Modewände – das kann, das wird nicht so weitergehen. Ich bin der Letzte, der die Jugend kritisiert, habe selber drei erwachsene Kinder, habe immer viel Jugend um mich. Aber man wird sich um diese Jugend kümmern müssen. Sie muss auch in solchen Dingen geführt werden, sie wird sich überzeugen lassen müssen.«
Es war schon spät geworden, als ich meine Kammer bezog. Erregt, hellwach, »bebilderte« ich auf meine Art, was ich da eben gehört hatte: Technik – Instinkt – Schafe – Kältegrade und Wärmezonen.
Draußen war der Teufel los. Plötzliche Stille, dann wieder, als ob Holzscheite an die Hüttenwand flögen. Wütendes Bellen, schlurfende Schritte zur Tür. Deutlich dringt das schrille Heulen des Sturmes herein. Angeln knarren; der Forstrat weist den Hund auf seinen Platz. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, dann ist wieder Ruhe im Nebenstübchen.
Ob die drei Watzmanngeher schliefen, oder ob sie feierten in der Wirtsstube von Wimbachgries? Vielleicht war der Schnee schlecht gewesen beim Abstieg, und sie mussten biwakieren? Aber nein. Bis Wimbachgries würden sie sich auf alle Fälle leicht durchgerauft haben. Aber selbst wenn sie wirklich aus irgendeinem Grund die Hütte nicht mehr erreicht hatten, sie würden jetzt windgeschützt in einer Schneemulde im Biwaksack liegen. – Doch warum dachte ich ständig an die Watzmanngeher? War nicht alles geklärt?
Ruhige Atemzüge von nebenan. Auch ich musste jetzt endlich schlafen. Fürchtete ich mich? Wovor schon? Seit wann ertrug ich das Alleinsein nicht? Gefühlsattacken. Schlechte Verfassung. Das ständige Schlafdefizit machte sich bemerkbar. Mich fröstelte. Ich zog die Decke über die Schultern. War es denn so kalt? Diese Schlaflosigkeit! Ich wehrte mich aus Leibeskräften gegen die Folter. Doch alles erschien schwierig, unlösbar, immer neue Widerstände wuchsen drohend aus dem Dunkel. Wahrscheinlich rächte sich jetzt, dass ich mir seit Jahren nicht die rechte Ruhe gegönnt hatte. Ich musste mein Leben ändern …
Wieder hörte ich den Forstrat nebenan. Die Hüttentür ging. Schnell musste er sie wieder geschlossen haben. Ein paar Worte zum Hund. Ich zündete die Kerze an. Erst halb fünf! Schade. Noch eine ganze Ewigkeit …
Es war sieben Uhr, als es an der Tür pochte.
»Guten Morgen! Miserabel ist’s draußen.«
»Gehn wir?«
»Ja. Weit werden wir aber nicht kommen.«
Davon war auch ich bald überzeugt. Mit wildem Jaulen jagte mir der Wind Schneewolken ins Gesicht, als ich ins Freie trat. Es sprang mich an wie ein Tier. Die Handflächen vor Mund und Augen, machte ich kehrt und zog den Türflügel hinter mir zu. Der Forstrat stellte eben den Teekessel auf den Tisch.
Eine Viertelstunde später wühlt der Hund in der Spur seines Herrn durch mehligen, grundlosen Schnee. Die hohe Gestalt, einige Meter vor mir, bis zu den Oberschenkeln ist sie in Schneestaub eingetaucht, wirkt fremd, gedrungen und klein. Mit kräftigem Schwung reißt von G. bei jedem Schritt die Skispitzen hoch, weit greifen die Arme aus. Vergnügt winselnd bleibt uns der Hund auf den Fersen. Ich spüre, wie nach langer Zeit wieder einmal meine Wangen glühen. Vor dem undeutlichen Schattenbild eines Steinquaders bleibt der Forstrat stehen. »Gnug is’s.«
Den Schneekranz von den Lippen saugend, den kalten Staub aus den Ohren wischend, stelle ich mich in den Windschatten: »Schon nichts mehr zu sehen von unserer Spur.«
Endlich haben wir auch die eisverkrusteten Steigfelle abgeschnallt und verstaut. Sicher gleitet der Forstrat dann vor mir durch das nebelige Nichts. Konrad hätte sich gewundert: »Verrückt! Hat er einen Kompass im Kopf?«