„Die Emotionen anderer können ein Teil von uns selbst werden – können zu unseren Emotionen werden, so als würde das, was anderen zustößt, auf uns übergreifen. Um das zu empfinden, bedarf es keiner Anstrengung. Es geschieht einfach – automatisch, intuitiv und weitgehend unserem Willen entzogen […]. Die Fähigkeit, eine emotionale Verbindung zu anderen Menschen herzustellen, […] ist ein Großteil dessen, was uns zu Menschen macht.“

(Christian Keysers 2010, S. 10)

1. Einführung

Vielleicht kommt Ihnen diese Situation bekannt vor: Sie besuchen ein befreundetes Paar und kaum, dass Sie die Wohnung betreten haben, spüren Sie, dass etwas nicht stimmt: Vielleicht haben sich Ihre Freunde gerade gestritten oder der Haussegen hängt aus einem anderen Grund schief. Weil Sie höflich sein wollen, sprechen Sie die Situation und Ihr Erleben während Ihres Besuchs aber nicht an und bleiben eine Weile. Später fällt Ihnen dann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf, dass dieses Gefühl immer noch in Ihnen nachhallt, und das, obwohl Sie die Wohnung Ihrer Freunde schon längst verlassen haben.

Oder: Kennen Sie das Gefühl, frisch verliebt zu sein und dieses intensive emotionale Erleben mit der ganzen Welt teilen zu wollen? Auch dieses geteilte Lebensgefühl wird bei Ihren Zuhörern und Zuhörerinnen mit Sicherheit ein gut gelauntes „Echo“ hinterlassen, das über den Moment der eigentlichen Begegnung mit Ihnen hinausgeht.

Diese beispielhaft beschriebenen Stimmungseffekte können auch im Kontakt mit völlig fremden Menschen auftreten: Wenn Sie z. B. ein Zugabteil betreten und sofort dieses unangenehme Schweigen wahrnehmen. Da Sie einen Sitzplatz reserviert haben, setzen Sie sich dazu und sind so dieser Stimmung eine Zeit lang ausgesetzt. Auch hier werden Sie, wenn Sie aus dem Zug aussteigen, mit hoher Wahrscheinlichkeit die im Abteil herrschende Bedrückung „mitnehmen“ und für einige Zeit in sich tragen.

Unabhängig davon, ob wir eine angenehme oder eher unangenehme starke emotionale Situation erlebt haben, gibt es in uns so etwas wie ein grundlegendes Bedürfnis, ein solches Erlebnis teilen zu wollen, z. B. indem wir mit anderen darüber sprechen oder es durch eine Stimmung auf andere übertragen. Dieses Verteilen von emotionalem Erleben hinterlässt, wenn wir auf ein Gegenüber treffen, das aufmerksam und akzeptierend daran teilnimmt, eine emotionale Erleichterung bei uns: Wie gut tut es, wenn man der besten Freundin oder dem besten Freund, seinem Partner, seiner Partnerin oder einer anderen vertrauten Person erzählen kann, was einen bedrückt, und das eigene innere Erleben somit einen Ausdruck findet.

Ungeachtet dessen, ob Sie am Erleben einer anderen Person, Gruppe o. Ä. teilnehmen oder selbst Ihr Erleben (ver-)teilen: Das, was sie wahrnehmen, ist ein Effekt von Emparing oder besser: dem Emparing-Prozess.

1.1 Was ist Emparing?

Ich spreche auf den folgenden Seiten oft vom Verteilen von Emotionen oder auch (Lebens-)Gefühlen an unsere Mitmenschen und vom Teilhaben an den Gefühlszuständen anderer. Diese beiden umfassenden Aspekte bilden den Kern eines jeden Emparing-Prozesses und ermöglichen uns, spontan und augenblicklich an starken Emotionen wie z. B. Wut, Trauer, Angst oder Freude, Glück, Liebe etc. von anderen teilzunehmen.

Innerhalb des Emparing-Prozesses nehmen wir aber nicht nur die Stimmungen und Gefühle der anderen wahr, sondern machen uns diese auch zu eigen. Wir tragen sie sozusagen huckepack auf einem Stück von unserem Weg mit, was sie damit zu einem Teil unserer eigenen Stimmung und Gefühlswelt werden lässt. Je nachdem wie intensiv der Kontakt, die Beziehung und Bindung zu dem Menschen ist, mit dem wir das Lebensgefühl geteilt haben, und wie intensiv das Erlebte war, hallt es mal mehr und mal weniger, ähnlich einem Echo, in uns nach.

Dass wir Lebensgefühle spontan teilen, passiert so automatisch wie Atmen oder Schlafen. Wir tun es einfach, ohne darüber nachzudenken, z. B. in Beziehungen zu Liebespartnern und / oder Liebespartnerinnen, in Eltern-Kind-Gemeinschaften, unter Kollegen und Kolleginnen auf der Arbeit oder eben auch mit Fremden, mit denen wir zusammen auf etwas warten oder Zug fahren. Dabei ist uns der Emparing-Prozess manchmal bewusst und manchmal nicht: Sprich, es kann durchaus dazu kommen, dass wir am Lebensgefühl eines anderen unbemerkt teilhaben und uns zu einem späteren Zeitpunkt wundern, warum wir gerade in einer bestimmten Stimmung sind.

Um diesem ganz besonderen Prozess, der uns mit anderen Menschen verbindet, einen Namen zu geben, habe ich die Begriffe Empathie und Sharing miteinander verbunden zu Emparing. Dabei steht Empathie für das spontane empathische Einfühlen in einen anderen und Sharing1 für das Teilen eines Gefühls sowie das Teilhaben an einem (Lebens-)Gefühl. Die praktische sowie theoretische Auseinandersetzung mit diesem Prozess ist für mich eine Folge aus der Beobachtung, dass Menschen sich nicht nur spontan in andere hineinversetzen können oder an den Lebensgefühlen anderer nicht wertend teilnehmen, sondern dass wir auch spontan und ungelernt Lebensgefühle von anderen anteilig in uns aufnehmen, mittragen und umgekehrt eben auch auf andere verteilen.

Um Ihnen den Emparing-Prozess sowohl umfassend vorzustellen als auch facettenreich zu veranschaulichen, werde ich im Folgenden immer wieder auf Fallbeispiele aus meinem Alltag und der Beratungspraxis zurückgreifen.

1.2 „Am schlimmsten ist, wenn niemand (mehr) da ist“

Ich erinnere mich an einen heißen Sommertag vor einigen Jahren – damals wohnte ich mit meiner Tochter in einer eng bebauten, ehemaligen Arbeitersiedlung einer kleinen Stadt. An diesem Morgen wollte ich gerade zur Arbeit gehen, als ein Krankenwagen in unsere Straße einbog und direkt vor dem uns gegenüberliegenden Haus anhielt. Ich sah, wie Ärzte und Krankenpfleger ins Haus eilten, meinen Nachbarn, Herrn Weber2, auf einer Trage in den Wagen transportierten und daraufhin abfuhren. Das Ganze ging in solch großer Geschwindigkeit vor sich, dass ich kaum reagieren konnte. Zusammen mit einigen Passanten blieb ich erstaunt und hilflos zurück. Kurz vorher hatte er noch seinen 70. Geburtstag gefeiert.

Am nächsten Tag erfuhr ich von den Kindern meines Nachbarn, die aus dem fernen Ruhrgebiet angereist waren, dass er noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben war. Seine Frau, die genauso alt war wie er – sie hatte gerade eine Operation an der Hüfte gut überstanden –, blieb allein zurück.

An den Tagen und Wochen, die folgten, saß Frau Weber meistens den ganzen Vormittag in ihrem kleinen Garten vor dem Haus und redete mit jedem, der vorbeiging und ihr bekannt war; oft auch mit denen, die sie nicht kannte. Viele hielten kurz an, erkundigten sich nach ihrem Ergehen und bekundeten ihr Beileid. Sicherlich waren diese wenn auch meistens nur kurzen Gespräche einigen ihrer Gesprächspartner*innen unangenehm: Vielleicht, weil ihnen das Thema Angst machte, weil sie in Eile waren oder weil es sie zu sehr berührte, sich mit diesem tiefen Leiden und dem plötzlichen Verlust eines geliebten Menschen auseinanderzusetzen.

Das Ehepaar war fünfzig Jahre lang verheiratet gewesen und hatte dabei kaum einen Tag getrennt verbracht. Vier Kinder hatten sie gemeinsam aufgezogen, einen Krieg überstanden, alles verloren und ganz viel wieder aufgebaut. Immer wieder staunte ich über die privaten Details, die Frau Weber preisgab.

Sie erzählte häufig, wie es ihr ging: Dass sie nicht gut geschlafen hatte, dass sich das Haus leer anfühlte, sie sehr traurig war, dass sie viel weinte und dass ihr Mann ihr fehlte. Sie hatten immer viel miteinander geredet und oft etwas zusammen unternommen.

Manchmal hatte ich den Eindruck, als versuche sie die Leere, die der Tod hinterlassen hatte, mit Worten zu füllen. Denn diese Situation war nicht einfach für sie als eine Person, die nie allein gewesen war. Aber das Haus zurückzulassen, um zu den Kindern zu ziehen – das konnte sie sich nicht vorstellen. Hier war doch ihr Zuhause.

Mit welcher Kraft Frau Weber nach und nach ihr Leben wieder in die Hand nahm, erstaunte mich. Die Arbeiten im Haus, von denen sie früher steif und fest behauptet hatte, nur ihr Mann könne diese erledigen, führte sie jetzt selbst aus. Sie hievte ihr Fahrrad in den kleinen Unterstand, stellte die Mülltonne an die Straße und entfernte das Unkraut auf dem Gehweg … Auch dauerte es nicht lange, bis sie sich ein reges Netz aus Menschen aufgebaut hatte, mit denen sie spazieren, in die Kirche oder zum Friedhof ging oder die ihr beim Einkaufen halfen und ihr die schweren Wasserkisten ins Haus trugen. „Wissen Sie …“, sagte sie an einem Nachmittag zu mir, an dem ich mal wieder in ihrem Garten saß und selbst gebackenen Kuchen aß, „… das Schlimmste ist doch, wenn niemand mehr da ist, mit dem man reden kann oder der mit einem den Moment teilt.“

Und damit hatte sie wohl recht. Vielleicht war diese Aussage für mich sogar der Anstoß, dieses Buch zu schreiben und dem folgenden Gedanken intensiv zu folgen: Was ist es genau, das uns so guttut, wenn wir mit anderen in Kontakt sind, und was hilft uns tatsächlich in schweren Zeiten?

In meiner psychologischen und pädagogischen Beratungspraxis habe ich viele Menschen kennengelernt, die sich nur sehr mühsam und schwer von Schicksalsschlägen wie einer Trennung oder dem Tod eines geliebten Menschen erholten. Einsamkeit, so fanden US-Wissenschaftler heraus, ist genauso schädlich wie Rauchen oder Alkoholmissbrauch. In einer Langzeitstudie mit über 300.000 Teilnehmern konnte ein Zusammenhang zwischen einem höheren Sterberisiko und Einsamkeit festgestellt werden (siehe Cacioppo, Fowler, Christakis 2009). Wichtig hierbei ist, dass es dabei nicht auf die objektive Einsamkeit ankommt, also für wie lange eine Person tatsächlich allein ist, sondern darauf, wie einsam sich ein Mensch tatsächlich fühlt (ebd., S. 977–991). Wie gut Menschen mit dem Alleinsein umgehen können und wie erschütternd sich Schicksalsschläge auf ihre Leben auswirken können, hängt von vielen Faktoren ab und ist oft von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es scheint aber so, dass es Umstände und Verhaltensweisen gibt, die viele als hilfreich erlebt haben.

Um zu verdeutlichen, was uns in schwierigen Situationen hilft, möchte ich erneut auf meine zuvor erwähnte Nachbarin Frau Weber zurückkommen und ihr Verhalten nach dem Tod ihres Mannes genauer betrachten:

Als Erstes fällt auf, das sie den Mut hatte, sehr aufrichtig und offen über ihre Befindlichkeiten zu sprechen. Sie ging zweitens sehr häufig in den Kontakt mit anderen Menschen. Und drittens war jede ihrer Ansprachen sehr eindrücklich geprägt von ihrer Trauer und ihrem Weg in ein Leben ohne ihren Mann. Durch diese drei Faktoren konnte sie ihr Lebensgefühl des Alleinseins sowie das der Trauer konstruktiv mit ihren Mitmenschen teilen und aus ihrer Kriese den Weg zurück in einen lebendigen Alltag finden.

Darüber hinaus lassen sich natürlich noch weitere Faktoren benennen, die dabei helfen, seine Widerstandskräfte gegen schwere Lebenskrisen zu aktivieren. Wir bewegen uns hierbei in der erst seit einigen Jahren existierenden neuen psychologischen Wissenschaft der Resilienzforschung. „Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen“ (Welter-Enderlin 2006, S. 13). Die Fragen „Was hält uns gesund?“ und „Was macht uns stärker und somit widerstandsfähiger?“ sind dabei wohl die Kernfragen dieses Forschungszweiges. Laut der Ergebnisse von einer der ersten Arbeiten in der Resilienzforschung sind solche Menschen besser für schwierige Situationen gewappnet, die über eine große Portion Humor verfügen und über sich selbst lachen können (Berndt 2013, S. 82). Außerdem stärkt es uns, wenn wir mindestens einem Menschen begegnet sind, der uns so akzeptiert und unterstützt (hat), wie wir uns selbst sehen woll(t)en: indem er uns zugehört und verstanden hat. Viele von uns erinnern sich an solche Menschen, die uns in unserer Kindheit in einem besonderen Augenblick das Gefühl von Akzeptanz und Anerkennung geschenkt haben. Manchmal war es eine Lehrerin oder ein Lehrer, die oder der an unser Talent glaubte, als es nötig war. Bei anderen war es vielleicht eine nahe Verwandte oder ein Verwandter, der immer ein offenes Ohr hatte und auch in schweren Zeiten die Hoffnung aufrechterhalten hat.

Monika Schumann, Professorin für Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule Berlin, hat dazu Folgendes treffend formuliert: „Jemand muss ihnen (den Kindern, Anm. d. Autorin) Geborgenheit geben, ihre Fortschritte anerkennen, ihre Fähigkeiten fördern und sie unabhängig von Leistung und Wohlverhalten lieben. Das macht stark fürs Leben“ (ebd., S. 68).

Ein häufig verwendetes Schema in der Resilienzforschung ist das Modell der „7 Säulen der Resilienz“, welches den folgenden Faktoren (Säulen) zugrunde liegt:

  1. Optimismus,
  2. Akzeptanz,
  3. Orientierung auf die Lösung,
  4. Verlassen der Opferrolle,
  5. Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben,
  6. Netzwerke aufbauen,
  7. Zukunft planen und gestalten.

Die einzelnen Säulen bilden dabei das Fundament zur Entwicklung der Widerstandskraft.

Lassen Sie uns an dieser Stelle zur Veranschaulichung noch einmal auf die Situation und das Verhalten von Frau Weber zurückblicken – denn sie hat sich bei ihrer Lebenskrisenbewältigung eindeutig im Sinne der 7 Säulen verhalten. Zum einen hat sie durch den Dialog mit ihren Mitmenschen Bestätigung erhalten: Sie kommunizierte mit Menschen, die einfühlsam zuhörten und somit maßgeblich dazu beitrugen, dass sie ihre Situationen akzeptieren lernte. Gerade das wiederholte (Aus-)Sprechen über den Tod ihres Mannes trug bei meiner Nachbarin dazu bei, sich den Verlust immer wieder zu vergegenwärtigen und somit ihr Leben ohne ihren Mann Alltag werden zu lassen.

Diese neu gewonnene Akzeptanz ihrer Situation ermutigte sie, wieder die Verantwortung für ihr eigenes Leben und dessen Gestaltung zu übernehmen. All dies ging Hand in Hand mit dem bereits erwähnten Knüpfen neuer Kontakte und der damit einhergehenden Herstellung neuer Netzwerke und einem breiten Unterstützerpool: Menschen, die ihr schwere Wasserkisten trugen und sie sonntags zum Gottesdienst abholten. Sie suchte sich also bewusst Lösungsmöglichkeiten für ihre kleinen und großen alltäglichen Herausforderungen. Ihre Idee von einem Leben alleine gedieh, genährt von wachsendem Optimismus. Die wesentlichen Schritte aus der anfangs so lähmenden Trauer, heraus in einen neuen Alltag, war sie damit schon gegangen.

Doch auch etwas anderes ist mit ihr in diesem Resilienzprozess passiert, etwas ganz Leises und Unausgesprochenes, um das es hier in diesem Buch vor allem gehen soll: Wenn wir einem Menschen offen und zugewandt begegnen, dann fangen wir über unser empathisches Vermögen an, seine Empfindungen und Lebensgefühle nachzuempfinden und somit an diesen teilzuhaben. Erinnern Sie sich doch einmal an Ihr eigenes inneres Echo von Trauer, als Sie bei einem Menschen waren, der gerade einen Schicksalsschlag erlitten hatte. Oder erinnern Sie sich an die Freude, die auf Sie überspringt, wenn jemand anderem etwas Gutes widerfahren ist. Emparing meint genau diesen Moment, der in dem Augenblick beginnt, in dem wir uns spontan füreinander oder für eine bestimmte Situation öffnen und mit dieser bzw. miteinander in Resonanz treten. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, den wir Menschen meist unbewusst aktivieren, indem wir unser Erleben verbal und non-verbal mitteilen. Durch dieses (Mit-)Teilen wird das grundlegende Lebensgefühl aufgeteilt, sodass andere dieses bewusst oder unbewusst wahrnehmen können und damit an unserem Leben teilhaben.

Letztendlich hatte Frau Weber nichts anderes getan, als sich mitzuteilen und ihre intensiven Gefühle von Trauer mit ihren Mitmenschen zu teilen. In gewisser Weise teilte sie sogar ihre Gefühle unter ihren Mitmenschen auf, sodass diese für sie nach und nach erträglicher wurden. Schnell hatte sie gemerkt, dass die Anteilnahme und das Sprechen darüber ihr halfen und guttaten. Somit war sie aktiv und auch bewusst in einen Emparing-Prozess eingetreten.


1  Dabei beziehe ich mich nicht nur auf das englische Wort sharing (dt. teilen), sondern auch auf einen Begriff aus der Gruppenpsychotherapie. Dort steht „Sharing“ für die dialogische Introspektion, eine Form von Selbstbeobachtung in einem Gruppenprozess, die ein Wechselspiel zwischen eigenem innerem Erleben und dem Teilnehmen an dem im Außen Erlebten darstellt.

2  Alle Namen von Klienten wurden aus Datenschutzgründen geändert.

2. Theorie des Emparing-Prozesses

2.1 Empathie + Sharing = Emparing

Wie im vorigen Kapitel deutlich wurde, verstehe ich Emparing als Vorgang des Aufteilens eines Lebensgefühls auf andere Menschen, unabhängig davon, ob dieses positiv oder negativ empfunden wird. Gemeint ist also ein eher unbewusstes Erleben wie Gefühle und Stimmungen, die auf andere überspringen, sich aufteilen und verteilen. Das kann sich intuitiv und nicht-sprachlich vollziehen, indem wir über einige Zeit einen Raum mit Menschen teilen, oder sprachlich und bewusst, in dem wir uns mit einzelnen Personen unterhalten und aktiv an ihrem Erleben teilnehmen. In beiden Fällen spielen die Elemente „Empathie“ und „Sharing“ eine entscheidende Rolle, denn sie sind die Grundelemente von Emparing.

Empathie steht in diesem Zusammenhang für unsere Fähigkeit der bewussten Einfühlung und des spontanen Mitgefühls und Sharing steht für unser Bedürfnis, mit anderen Menschen sein zu wollen, ein Teil von etwas (Größerem) zu werden oder an einer sozialen Bewegung3 teilzuhaben. Beide Aspekte gehören meiner Auffassung nach zusammen wie die Vorder- und die Rückseite einer Münze. Ohne Empathie kann es kein (An-)Teilnehmen am Erleben eines anderen geben. Und ohne das Erlebte mit anderen zu teilen ist es schwierig, Abstand vom Erlebten und den dazugehörigen Gefühlen zu nehmen. Dabei ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass gerade dieser Abstand einen Perspektivwechsel ermöglichen würde, der wiederum ein wichtiger Schritt hin zu emotionaler Entlastung und einer Befriedung des Erlebten sein könnte.

Das heißt, ohne Empathie und ohne Sharing ist die Wahrscheinlichkeit geringer, z. B. belastende Lebensgefühle akzeptieren und damit befrieden zu können. Diese starke und wechselseitige Verbindung der beiden Emparing-Komponenten wird besonders deutlich, wenn wir sie im Rahmen der psychologischen Arbeit oder der (psycho-)therapeutischen bzw. Beratungsarbeit betrachten.

2.1.1 Empathie-Begriff in der Psychologie

In der Entwicklungspsychologie wird in Bezug auf Empathie häufig von einer Gefühlsansteckung gesprochen, die in der frühen Zeit der Mutter-Kind-Beziehung zu beobachten ist. Diese wird als Grundlage sowie notwendiges Durchgangsstadium für die Entwicklung der (späteren) Fähigkeiten zur Einfühlung / Empathie angesehen. Nach tiefenpsychologischer Auffassung identifizieren sich Kleinkinder zunächst mit den Stimmungen und Emotionen ihrer Bezugspersonen, bevor sie lernen können, sich als selbstständige Wesen mit ihren eigenen Gefühlen abzugrenzen.

Damit verbunden ist Theodor Lipps’ „Einfühlungstheorie“ – die wohl bekannteste Empathietheorie –, welche die Empathie als grundlegende Fähigkeit des Menschen ins Zentrum des Philosophierens und der Psychologie gerückt hat. Dabei definiert Lipps Einfühlung als „[…] einen Grundvorgang beim unmittelbaren Verstehen von Ausdruckserscheinungen. Einfühlung ist ein inneres Mitmachen, eine imaginierte Nachahmung des Erleben des anderen. Empathie ist damit die Basis für Mitmenschlichkeit“ (vgl. Dunst C. 2012, S. 15 f.).

Unabhängig davon, ob wir die Fähigkeit zur Einfühlung nach entwicklungspsychologischer Auffassung erst langwierig erwerben müssen oder ob wir schon von Anfang an damit ausgestattet sind: Diese Verbindung zwischen zwei Personen funktioniert losgelöst von einer konkreten zwischenmenschlichen und damit tatsächlichen Begegnung. Zum Beispiel können wir uns auch in den Gemütszustand eines Autors einfühlen, wenn wir sein Buch lesen; ohne dabei direkt mit ihm zu kommunizieren. – Im Emparing-Kontext bedeutet das: Wir haben an seinem Lebensgefühl teil. Und auch die Emotionen einer bildenden Künstlerin oder von Musikern und Komponistinnen können wir teilen, wenn wir ihre Werke betrachten bzw. anhören. So können wir z. B. im Moment einer Aufführung oder Lesung vorübergehend sogar selbst ein Teil des emotionalen Ausdrucks eines Künstlers oder einer Künstlerin werden.

Das Teilen von Lebengefühlen kann man somit als eine Voraussetzung ansehen, sich in jemanden einzufühlen und Empathie entwickeln zu können. Die Teilhabe an dem Erleben anderer ermöglicht vor allem aber auch konstruktiven Kontakt und Beziehung. Dass dies gerade in therapeutischen und interventionellen Kontexten äußerst hilfreich sein kann, zeigt die Tatsache, dass das Prinzip des Sharings, z. B. im Rahmen von Selbsthilfe- oder Peer-to-Peer-Gruppen, und die Empathiearbeit bereits seit vielen Jahren genutzt und erfolgreich eingesetzt werden.

2.1.2 „Sharing“ in (Psycho-)Therapie & Beratung

In unterschiedlichen gruppenpädagogischen und gruppentherapeutischen Ausrichtungen der humanistischen Pädagogik und Psychologie, wie z. B. der Personzentrierung, spielt das Phänomen des Sharings (auch dialogische Introspektion oder Erfahrungsaustausch) als ein eigenständiger Prozessabschnitt im Lern- und Veränderungsprozess eine wichtige Rolle. Hier wird in der Phase des Sharings großer Wert auf das abschließende, integrierende und einordnende freie Gespräch der Teilnehmer*innen untereinander gelegt. Alle Formen einer Analyse des Geschehens, z. B. Bewertungen, Ratschläge, Tipps oder gar „Besserwisserei“, sind hier explizit nicht erwünscht. Das Sharing dient in diesem Arbeitsabschnitt des Gruppengeschehens vor allem dazu, den Aspekt der Gleichheit zwischen Protagonisten und Gruppenmitgliedern durch das gleichberechtigte Teilen von Lebenserfahrungen wiederherzustellen.