Claudia Rossbacher
Steirerrausch
Sandra Mohrs neunter Fall
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Steirerquell (2018), Steirerpakt (2017), Steirernacht (2016), Steirerland (2015),
Steirerkreuz (2014), Steirerkind (2013), Steirerherz (2012),
Steirerblut (2011), Enter ermittelt in Wien (Band 2) (2016),
Enter ermittelt (2013), SOKO Graz – Steiermark (2017), Wer mordet schon in der Steiermark? (2015), Steiermark – 66 Lieblingsplätze und 11 Erlebnisstraßen (2013), Hillarys Blut (E-Book Only, 2016)
Steirermorde (E-Book Only, 2015)
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Hannes Rossbacher
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-5882-8
Für Sabine, Maria und all meine lieben Freundinnen und Freunde. Schön, dass es euch gibt.
Handlung und Personen der Kriminalgeschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der »Spuk von Trebian« und das Leben und Wirken von Maria Silbert (»Die Seherin von Waltendorf«) basieren auf dem Buch »Mutter Silbert. Ein Opfergang. Tatsachen, Berichte, Urkunden« (1959) von Rudolf Sekanek mit freundlicher Genehmigung des Reichl Verlages sowie auf persönlichen Erinnerungen der Enkeltochter von Maria Silbert, Gertraud Just, die Autorin Claudia Rossbacher im Jänner 2018 aufgezeichnet hat.
Des Weiteren diente die Geschichte »Das Medium Maria Silbert und dessen Hausgeist Nell« im Buch »Spuk in der Steiermark« von Gabriele Hasmann (2014) und deren Protagonisten (Medium Aniko und Jägerstochter Anna) als Vorlage – mit freundlicher Genehmigung des Ueberreuter Sachbuch-Verlages.
Ein Literaturverzeichnis und ein Glossar der steirischen beziehungsweise österreichischen Ausdrücke und Abkürzungen befinden sich am Ende des Buches.
Pfingstsonntag, 1. Juni 1873
Elfen und Feen,
ich hab sie geseh’n
und Zwerglein so klein …
Das kann doch nicht sein.
Schweig still, mein Kind!
Ins Bett nun geschwind.
Ich lüg aber nicht.
Da war dieser Wicht
und die Hand im Bett …
Mariele, sei nett!
Lass das Lügen sein,
und schlaf endlich ein!
Sonntag, 29. Oktober 2017, Graz
Der Klingelton holte Sandra Mohr unsanft in die Realität zurück. »Bitte nicht«, murmelte sie, zur einzigen Lichtquelle in ihrem Schlafzimmer blinzelnd. Im selben Augenblick kam der Abteilungsinspektorin des LKA Steiermark ihr Bereitschaftsdienst in den Sinn. Schlaftrunken griff sie nach ihrem Diensthandy und knipste die Nachttischlampe an. Auf dem Weg ins Wohnzimmer lauschte Sandra, was ihr Lubensky von der Landesleitzentrale zu berichten hatte.
Mordalarm im Bezirk Leibnitz. Ein männlicher Toter auf einem Weingut in Kitzeck im Sausal. Der Notruf war um 22.52 Uhr eingegangen. Bei der Anruferin handelte es sich mutmaßlich um die Mutter des Opfers. Die ältere Dame hatte verwirrt geklungen, immer wieder von ihrem toten Sohn gesprochen. Und von einer Jägerstochter. Einem bösen Weib, das die Seelen ihrer Opfer gefangen hält, teilte ihr Lubensky mit.
Sandra ließ sich auf die Couch fallen. »Jägerstochter? Seelen ihrer Opfer?«, wiederholte sie müde. »Was soll das denn bitteschön heißen? Hat die Anruferin die Täterin gesehen? Oder sie erkannt?«
»Kann sein. Oder auch nicht. Die Frau hat hauptsächlich wirres Zeug von sich gegeben. Der Kollege vom Notruf hat den Verdacht geäußert, dass sie alkoholisiert sein könnte. Oder auch dement …«
»Einen Toten gibt es aber schon«, vergewisserte sich Sandra und rieb sich mit dem Daumen und dem Zeigefinger ihrer freien Hand den Schlaf aus den Augen.
»Ja, den gibt es. Die Kollegen aus Heimschuh haben uns einen Leichenfund an der angegebenen Adresse in Kitzeck bestätigt. Es soll sich um den dort wohnhaften Weinbauer handeln, der augenscheinlich in seinem Weingartenhaus erschossen wurde«, berichtete Lubensky weiter.
Sandra aktivierte die Lautsprecherfunktion an ihrem Smartphone und notierte sich die Namen des Opfers und der Zeugin sowie die Adresse des Weinguts in Kitzeck im Sausal.
Ob die Frau nun alkoholisiert, dement oder auch nichts von alledem war, ganz bestimmt war sie traumatisiert. Ein Kind zu verlieren, war zweifelsohne der schlimmste Schicksalsschlag, der einem widerfahren konnte. Kein Wunder, dass man in einer solchen Situation verwirrt klang, überlegte Sandra.
Nur allzu gut erinnerte sie sich noch an die eigene Trauer, die sie vor fünf Jahren empfunden hatte. Nach ihrer Fehlgeburt in der elften Schwangerschaftswoche. Ihr Sohn hatte niemals das Licht der Welt erblicken dürfen, Sandra ihn nicht ein einziges Mal im Arm gehalten. Die Erinnerung an ihr Sternenkind, wie man diese Totgeburten auch nannte, schmerzte sie heute noch. Und dennoch konnte sie als Kinderlose das volle Ausmaß der nächtlichen Tragödie im südsteirischen Sausal höchstens ansatzweise nachvollziehen.
Bei aller beruflichen Routine ließ Sandra der Schmerz der Angehörigen noch immer nicht kalt. Ganz egal, wie oft sie das Leid der Betroffenen noch miterleben würde. Immerhin hatte sie gelernt, ihr Mitleid auf ein erträgliches Maß an Mitgefühl zu beschränken, um sich selbst zu schützen. Andernfalls hätte sie ihren Job bei der Mordgruppe wohl längst an den Nagel hängen müssen. »Ist das KIT schon verständigt?«, erkundigte sie sich und gähnte.
»Das Kriseninterventionsteam ist angefordert«, bestätigte Lubensky. »Der Notarzt ist bereits am Tatort. Die Tatortgruppe ist unterwegs, ebenso die Gerichtsmedizinerin. Chefinspektor Bergmann erwartet dich um Mitternacht vor seinem Wohnhaus.«
Sandra griff nach ihrer Armbanduhr, die sie erst vor einer halben Stunde auf dem Couchtisch abgelegt hatte. 23.25 Uhr zeigte diese an, als sie sie wieder um ihr Handgelenk band.
Just an diesem Vormittag hatte sie alle Uhren auf Winterzeit zurückgestellt, nachdem sie die gewonnene Stunde genüsslich verschlafen hatte. Das Joggen hatte sie an diesem stürmischen Herbstsonntag lieber bleiben lassen, stattdessen zu Hause auf dem Crosstrainer trainiert und sich danach endlich wieder einmal mit ihrer Freundin im Kaffeehaus getroffen. Seit Andrea verheiratet war, sahen sie einander nicht mehr so häufig wie früher. Höchstens noch einmal im Monat. Wenngleich Sandra vielbeschäftigt war, vermisste sie ihre beste Freundin gelegentlich. Aber so war das Leben nun einmal. Ein ständiges Kommen und Gehen. Sie seufzte unwillkürlich. Hauptsache, Andrea war glücklich mit ihrem Robert, dem Cobra-Polizisten, der sie im allerletzten Moment aus einem brennenden Haus geschafft und ihr damit das Leben gerettet hatte. Gute drei Jahre war das nun schon wieder her. Die Narben der Hauttransplantationen auf Andreas Rücken und auf ihren Oberschenkeln erinnerten immer noch an das Flammeninferno, das auch Sandra das Leben hätte kosten können. Wenngleich sie selbst mit einer Platzwunde und einer leichten Rauchgasvergiftung damals um einiges glimpflicher als die Freundin davongekommen war.
»Der Tatort liegt östlich, etwas unterhalb vom Ortszentrum von Kitzeck«, fuhr Lubensky fort. »Eine Funkstreife sollte direkt an der Straße bei der Zufahrt postiert sein.«
»Alles klar. Pfiat di, Lubensky!« Sandra trennte die Verbindung, um sich so rasch wie möglich anzuziehen und aufzubrechen.
In Graz war leichter Nebel aufgezogen, als Sandra kurz vor Mitternacht den schwarzen Audi A6 vor dem Wohnhaus des Chefinspektors abbremste. Außer ihr war in der Sackgasse hinterm Griesplatz keine Menschenseele zu entdecken. Dabei herrschte in dem traditionellen Migrantenbezirk höchst selten Ruhe.
Früher hatte es vor allem Steirer aus der Provinz nach Gries gezogen. Nachts auch Grazer, die ihr Vergnügen In den zahlreichen Erotikklubs des Grätzels suchten. Später, in den 1990er-Jahren, übernahmen vorwiegend Bosnier die verbliebenen Rotlichtlokale. Heute prägten Kebab- und Pizzaläden, Handy- und Asia-Shops, Wettcafés, Billigsdorfergeschäfte und Hinterhofmoscheen das Straßenbild. Steirisch oder gar Hochdeutsch hörte man hier kaum.
Sandra stellte den Motor ihres zivilen Dienstwagens ab. Sieben Jahre waren vergangen, seitdem Sascha Bergmann von Wien nach Graz gezogen war, rechnete sie zurück, damals völlig ahnungslos, in welches Wohnviertel es ihn verschlug. Seine Ansprüche schienen nicht besonders hoch zu sein. Sonst wäre er inzwischen längst umgezogen, überlegte sie, während sie auf Bergmann wartete. Leisten konnte er sich eine Wohnung an einer nobleren Adresse jenseits des Murufers allemal. Andererseits verbrachte der geschiedene Chefinspektor des LKA Steiermark, Abteilung Leib und Leben, ohnehin nicht viel Zeit zu Hause, wo niemand auf ihn wartete. Zudem war seine Mansardenwohnung gut geschnitten und ebenso ausgestattet. Wozu sollte er also den Aufwand eines Umzugs in Kauf nehmen? Für die paar Stunden, die er zum Schlafen heimkam, lohnte sich dieser wohl kaum.
Sandra war das nur recht. Ihre Wohnung lag unweit von seiner im Nachbarbezirk Lend. In wenigen Minuten war sie hier, um Bergmann abzuholen. So auch heute Nacht. Vielleicht war diese Nähe ja mit ein Grund, warum er nicht von hier fortzog, mutmaßte sie. Wobei die eigene Bequemlichkeit für ihn ganz bestimmt mehr zählte als ihre. Fragte sich nur, wo der Chefinspektor so lange blieb.
Früher wäre er längst Zigarette rauchend vor dem Haus gestanden und hätte auf sie gewartet. Und nicht umgekehrt sie auf ihn. Dennoch war die überzeugte Nichtraucherin heilfroh, dass er dieses Laster vor einigen Jahren abgelegt hatte. Seiner Tochter zuliebe. Auch wenn die mittlerweile Elfjährige die meiste Zeit bei ihrer Mutter, dem Stiefvater und ihrem kleinen Halbbruder in Wien verbrachte.
Himmelherrschaftszeiten! Was trieb Bergmann bloß so lange? Hatte Lubensky ihn nicht verständigt? Oder war er womöglich wieder eingeschlafen? Sandra beugte sich über den Beifahrersitz, schaffte es jedoch noch immer nicht, bis zur Mansardenwohnung des zweistöckigen Wohnhauses hinaufzusehen. Sie stieg aus dem Wagen aus, ließ den Blick über die hellblau gestrichene Fassade unters Dach schweifen, um gerade noch wahrzunehmen, wie das Licht hinter zwei Gaubenfenstern erlosch. Bergmann war demnach endlich auf dem Weg nach unten. Gähnend kehrte sie hinters Steuer zurück und schaltete Radio Steiermark ein.
Der heftige Herbststurm, der bis zum Nachmittag durch Österreich gefegt war, tobte inzwischen in Weißrussland weiter, berichtete der Nachrichtensprecher. Auch hierzulande hatten die orkanartigen Böen wie in Dänemark, Deutschland, Polen und in der Tschechischen Republik enorme Sachschäden hinterlassen. Etliche Dächer waren abgedeckt worden, Bäume umgestürzt. Eine hatte die Oberleitung der Bahnstrecke zwischen Bruck an der Mur und Mürzzuschlag beschädigt. Die Zugverbindung war voraussichtlich noch bis zum Mittag in beide Richtungen unterbrochen. So lange mussten Bahnreisende auf die Schienenersatzbusse ausweichen, die zwischen den hochsteirischen Städten verkehrten. Die meisten Stromausfälle waren mittlerweile behoben, fast alle betroffenen Haushalte in der Steiermark wieder ans Netz angeschlossen, meldete der größte steirische Energieversorger. Anders als im Norden und Osten Europas gab es hierzulande glücklicherweise keine Menschenleben zu beklagen. Zumindest keine, die dem Unwetter anzulasten waren, dachte Sandra, erneut gähnend. Dennoch wartete ein Toter auf sie. Und vermutlich eine ebenso schlaflose wie nebelige Nacht. Vor allem im steirischen Hügelland sei in den kommenden Stunden mit immer geringeren Sichtweiten zu rechnen, warnte der Radiosprecher. Höchste Vorsicht im Straßenverkehr sei geboten. Erst im Laufe des nächsten Vormittags sollte sich der Nebel allmählich wieder lichten und der Herbstsonne Platz machen.
Das Wetter spielte wieder einmal verrückt, dachte Sandra. In einer Welt, die von Leuten wie Donald Trump regiert wurde, der die globale Erwärmung für eine Erfindung der Chinesen und Klimaschutz für wirtschaftsfeindlich hielt, der die mühsam errungenen Umweltvorschriften in den USA wieder lockern und zu fossilen Brennstoffen zurückkehren wollte, war das nicht weiter verwunderlich. Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als die Beifahrertür jäh aufgerissen wurde.
Im nächsten Moment ließ sich Sascha Bergmann in den Sitz fallen, den obligaten Coffee-to-go-Becher in der Hand. »Fahr’ ma, euer Gnaden«, meinte er grußlos, nachdem die Autotür ins Schloss gefallen war.
Sandra überging den jovialen Spruch, mit dem seinerzeit die Wiener Fiakerkutscher ihre hochwohlgeborenen Fahrgäste angesprochen hatten, wie sie erst kürzlich wo gelesen hatte. Wortlos schaltete sie das Radio ab und startete den Motor.
Bergmann steckte seinen Mehrwegbecher aus biologisch abbaubaren Bambusfasern in die Getränkehalterung und schnallte sich an. Den Becher hatte ihm Sandra im vergangenen Februar zu seinem 43. Geburtstag geschenkt. Nicht nur, aber auch wegen des aufgedruckten Spruchs, der den Chefinspektor so treffend charakterisierte: »Nett kann ich auch. Bringt aber nix.« Abgesehen davon entfielen seither unzählige Einwegbecher, die sich früher immer im Auto gestapelt hatten, bis zumeist Sandra diese entsorgte.
Sie legte den Retourgang ein und wandte sich um, um in der kurzen Sackgasse zurückzusetzen.
»Wie lange dauert die Fahrt zum Tatort eigentlich?«, erkundigte sich Bergmann.
»Normalerweise eine Dreiviertelstunde. Heute Nacht aber bestimmt länger. Kommt darauf an, wie dicht der Nebel unterwegs ist«, bezog sich Sandra auf die aktuelle Wetterprognose.
»So genau wollte ich es gar nicht wissen.« Bergmann griff zu seinem Becher, um am Kaffee zu nippen.
Nach all den Jahren in der Steiermark ließ der Chefinspektor noch immer jegliche Ortskenntnis vermissen. Auch deshalb hatte Sandra den hundsmiserablen Autofahrer bisher nur ein einziges Mal ans Steuer des Dienstwagens gelassen. Bei ihrem ersten gemeinsamen Mordfall. Und das auch nur, weil damals ein Nasenverband ihr Sichtfeld eingeschränkt hatte. Danach nie mehr wieder.
Ohne jeden weiteren Kommentar legte sie den Vorwärtsgang ein und fuhr los.
Montag, 30. Oktober 2017, Sausaler Weinstraße
Das Erwachen
Februar 1915, Waltendorf bei Graz
»Nun denn, lassen Sie es uns noch einmal versuchen, liebe, gnädige Frau.« Schobert löschte das elektrische Licht im Salon und nahm seinen Platz am Esstisch ein. Wie schon an den Abenden zuvor hatte sich auch heute wieder dieselbe Runde zur Experimentalsitzung eingefunden. Ihm gegenüber saß Mutter Silbert, welche die Wohnung in der Schörgelgasse mit ihren Kindern bewohnte, zu seiner Linken und Rechten zwei ihrer erwachsenen Töchter, Mitzi und Ella. Der treue Freund des Hauses warf einen Blick auf seine silberne Taschenuhr, klappte sie wieder zu und steckte sie in seine Westentasche zurück.
Alle Anwesenden streckten ihre Arme aus, legten die Hände auf die Tischplatte – die Finger so weit auseinandergespreizt, dass sich die eigenen Daumen und ihre kleinen Finger mit denen der Nachbarn berührten. Die spiritistische Kette war geschlossen, die Kräfte konzentriert.
Seit geraumer Zeit wusste Schobert, der sich bereits eine Weile mit Okkultem beschäftigte, um die medialen Fähigkeiten der nicht mehr ganz jungen, kränklichen Maria Silbert und bestärkte sie darin, diese weiterzuentwickeln. Doch hatte sich die tiefgläubige Frau bis vor wenigen Wochen stets beharrlich geweigert, ihre Gabe, die sie wohl von ihrer hellsichtigen Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte, zu schulen und zu nutzen.
Als kleines Mädchen hatte Mariele, wie man die geborene Maria Koralt damals nannte, immer wieder eine Hand neben ihrem Bett gesehen, die sie auch berührte und allerlei Schabernack mit ihr trieb.
Einmal wachte sie mitten in der Nacht auf, stand auf und weckte weinend ihre Eltern, in der festen Überzeugung, dass es brannte. Unaufhörlich rief sie unter Tränen, dass die Kinder verbrennen würden, wenn der Vater nicht gleich aufstand und ihnen zu Hilfe eilte. Die Eltern glaubten, Mariele hätte schlecht geträumt, fantasiere womöglich im Fieber. Also beschloss der besorgte Vater, den befreundeten Arzt zu holen. Kaum hatte er den Obstgarten durchquert, nahm er einen Feuerschein über einem der weiter entfernten Häuser wahr. Lichterloh stand das Haus bereits in Flammen, als er es erreichte und die schlafenden Bewohner durch seine Zurufe alarmierte. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihnen, ihre Kinder und die eigene Haut zu retten.
Wiederholt sah die kleine Mariele den Tod von Menschen in ihrer Umgebung vorher, die genauso ums Leben kamen wie in ihren Visionen. Oftmals begegneten ihr Elfen und Zwerge, von denen sie ihrem Herrn Vater jedoch nichts mehr erzählte. Er glaubte ihr ohnehin nicht, schalt und bestrafte sie für ihre vermeintlichen Schwindeleien, von denen das träumerische Kind einfach nicht abrücken wollte. Seit Mariele zur Schule ging, setzte es dafür sogar Rutenhiebe. Fortan verbarg sie ihre Gabe und verdrängte sie immer weiter aus ihrem Bewusstsein, bis sie wie eine Quelle oberflächlich verschüttet war. Tief drinnen aber versiegte diese Zeit ihres Lebens nicht.
Als Maria längst mit dem ehrenwerten Finanzkommissär Gustav Silbert verheiratet war und bereits fünf Kindern das Leben geschenkt hatte, von denen eines der Mädchen, Auguste, gestorben war, kam es wieder zu seltsamen Vorfällen, und ihre besondere Gabe drängte ans Licht.
Damals lebte die Familie Silbert im weststeirischen Voitsberg. Ein schreckliches Jahr lag hinter ihnen. Nach einem schmerzhaften Augenleiden erblindete Maria eines Abends schlagartig. 315 Tage musste sie in ständiger Nacht zubringen, bis ihr Augenlicht nach vielen bangen, verzweifelten Stunden und unzähligen Gebeten genau so plötzlich wieder zurückkehrte. Ihre maroden Füße machten ihr noch immer zu schaffen. Stock oder Krücken waren seit Langem ihre ständigen Begleiter. Einmal in der Woche brachte ihr treusorgender Ehemann seine fußkranke Frau zur Kurbehandlung nach Ligist. So auch an diesem Mittwochnachmittag im Frühjahr, als sich zu Hause gar merkwürdige Dinge zutrugen, an die sich auch Mitzi und Ella heute noch gut erinnerten.
Es war gegen 18 Uhr, als das Pianino plötzlich von alleine zu spielen anfing. Die erschreckten Kinder fanden keine Erklärung für dieses unheimliche Phänomen. Sie holten die Hausmeisterin herbei, um das Instrument gemeinsam zu untersuchen. Unaufhörlich schallte die harmonische Klaviermusik durch die Wohnung. Als sie schließlich die Deckel des Instruments hochklappten, sahen sie die Tasten und Hämmer auf- und niedergehen – wie von Geisterhand bewegt. Die Eltern, die aus Ligist heimkehrten, wurden Zeugen dieses unerklärlichen Klavierspiels in ihrem Heim, ebenso die Wohnungsnachbarin, die später hinzukam. Und damit nicht genug, stimmte gegen 20 Uhr auch noch die Geige im Zimmer mit ein und begleitete das Klavier völlig selbstständig, bis das wundersame Duett Stunden später verstummte.
Die folgenden Jahre waren von Visionen und persönlichen Schicksalsschlägen geprägt. So sah Mutter Silbert den Tod ihres Sohnes Karl genauso vorher wie den ihrer Mutter. In jenen Tagen erfuhr der gute alte Freund des Hauses, Postoffizial Schobert, von ihrem zweiten Gesicht, ihrem sechsten Sinn, ihrer besonderen Gabe, die sie vorerst nicht zu nutzen wagte.
Jahre vergingen, bis sich Mutter Silbert eines geselligen Abends bereit erklärte, nunmehr doch wieder Anschluss an die geistige Welt zu suchen. Zu Schoberts großer Freude sprach sie diesen Wunsch aus heiterem Himmel, ohne sein Zureden aus. Es mochte daran liegen, dass ihr Ehegatte Gustl und ihr jüngster Sohn August im vergangenen Jahr verstorben waren, ihr ältester Sohn Georg im Krieg vermisst wurde. Mutter Silbert musste sich und ihre sechs unversorgten Kinder nun alleine über Wasser halten. Tief in ihrem Inneren ahnte sie wohl, dass es der spirituelle Weg war, der ihrer göttlichen Vorsehung entsprach und dem sie folgen musste. Der gute Schobert stand ihr wie immer zur Seite, bestärkte und begleitete sie.
So saßen sie nun seit einigen Wochen allabendlich im engsten Familienkreis beisammen, die Hände zur Kette formiert, andächtig wartend, ob sich ein Geistwesen melden würde. Gemeinsam konzentrierten sie sich auf ihr Ziel, fixierten stundenlang die flackernde Kerze auf dem Tisch, die den Salon zusammen mit den anderen Kerzen ringsum in ein schummriges Licht tauchte. Wochenlang geschah gar nichts.
Bis zu diesem Abend im Februar 1815. Plötzlich waren deutliche Klopflaute zu vernehmen. Alle vier fuhren zusammen und blickten zur Tür hinüber. Doch von dort kam das Geräusch nicht. Es klopfte im Tisch, auf dem ihre Hände ruhten.
»Gott grüße dich, wer du auch seist!1«, sagte Schobert beherzt.
Wieder klopfte es aus dem Tisch. Dann kehrte Stille ein.
Nach einer Weile vergewisserte sich Schobert, dass alle Anwesenden das Geräusch auch gehört hätten, als es noch einmal klopfte. Ein einziges Mal nur. Das unbekannte Wesen aus dem Jenseits schien ihm zu antworten.
»Gott zum Gruß!2«, ergriff nun Mutter Silbert das Wort.
Wieder klopfte es. Diesmal waren es drei Schläge: Gott – zum – Gruß! Dann verstummten die Laute und sollten an diesem Abend nicht mehr wiederkehren. Kurz nach Mitternacht beendeten sie die Séance.
Mutter Silbert zeigte sich aufgewühlt, tief ergriffen, von einem feierlichen, ja erhabenen Gefühl durchdrungen. Am liebsten wäre sie hinausgelaufen, hätte voller Dankbarkeit Bäume und Sträucher umarmt, wäre von Demut erfüllt unterm Sternenhimmel betend auf die Knie gesunken. Von diesem Abend an war ihr weiterer, oftmals beschwerlicher Weg vorgezeichnet. Ihr Schicksal war besiegelt.
1 Zitat aus »Mutter Silbert. Tatsachen, Berichte, Dokumente« von Rudolf Sekanek, Der Leuchter Otto Reichl Verlag 1959 – Seite 51
2 Zitat aus »Mutter Silbert. Tatsachen, Berichte, Dokumente« von Rudolf Sekanek, Der Leuchter Otto Reichl Verlag 1959 – Seite 52
Montag, 30. Oktober 2017, Kitzeck im Sausal
Das alte Weingartenhaus war nicht annähernd so gut in Schuss wie das Herrenhaus. Die schmutzig graue Mauerfarbe und der Putz bröckelten an den meisten Stellen ab. Auch die braunen Rahmen und Läden der vergitterten Fenster hätten längst wieder einen neuen Anstrich vertragen. Es war wohl auch diese Patina, die dem kleineren Weingartenhaus etwas Düsteres, Unheimliches verlieh. Ebenso heruntergekommen sah der kleine, im unteren Bereich gemauerte Holzschuppen aus, der etwas abseits stand.
»Servus«, sprach Bergmann den Leiter der Tatortgruppe an der Eingangstür an.
Jörg Schöffmann wandte sich den Ermittlern zu. »Griaß eich!«
Sandra grüßte zurück.
»Was hast du für uns?«, erkundigte sich der Chefinspektor.
Der Kriminaltechniker trat zwei Schritte beiseite, ohne die Bretter unter seinen Füßen zu verlassen, und deutete auf das vergitterte Fenster neben der Tür, dessen Scheibe zerbrochen war.
Drinnen konnte Sandra die Gerichtsmedizinerin erkennen, die ihnen den Rücken zuwandte.
»Einiges«, antwortete Jörg Schöffmann. »Sicher bin ich mir schon mal, dass der Täter vor diesem Fenster gestanden ist, als er von draußen auf sein Opfer im Haus geschossen hat. Und zwar nur ein einziges Mal. Aus drei bis vier Metern Entfernung. Das Opfer wurde stehend von vorne in die Brust getroffen.«
»Das ist ja schon mal etwas«, meinte Bergmann. »Die Position des Schützen war also hier am Fenster«, wiederholte er, während er die zerbrochene Fensterscheibe hinter den Gitterstäben betrachtete.
»Siehst du die schwarzen Pulveranhaftungen überall?«, fragte Jörg Schöffmann.
Bergmann beugte sich nach vorn, um das Fenster noch näher zu begutachten. »Ist das Schwarzpulver?«, fragte er.
»Höchstwahrscheinlich. Die chemische Analyse wird es weisen.«
Bergmann richtete sich wieder auf. »Tatwaffe habt ihr keine gefunden?«
»Bisher nicht. Aber falls es sich bei diesen Anhaftungen tatsächlich um Schwarzpulverspuren handeln sollte, können wir davon ausgehen, dass das Opfer mit einem Vorderlader erschossen wurde. Wir haben außerdem keine Patronenhülse am Tatort gefunden. Aber warten wir mal ab, bis die Spurensicherung abgeschlossen ist«, sagte Jörg Schöffmann.
»Wer schießt denn heutzutage noch mit einem Vorderlader?«, fragte Bergmann.
»Sportschützen«, antwortete der Kriminaltechniker. »Auch in Brauchtumsvereinen wird noch mit Vorderladern und Schwarzpulver geschossen.«
»Wie die Prangschützen in der Krakau«, erwähnte Sandra die traditionellen Schützengarden in ihrer alten Heimat.
»Der Täter hat also durch das Fenster geschossen«, sagte Bergmann.
Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. »Lage und Beschaffenheit der Glasscherben, die wir drinnen auf dem Fußboden sichergestellt haben, lassen eher vermuten, dass er zuerst das Fenster eingeschlagen und danach auf sein Opfer geschossen hat.«
Einmal mehr kam Sandra das Mädchen auf der Straße in den Sinn. »Waren Blutspuren am Fenster oder auf den Scherben?«, fragte sie. Möglicherweise hatte sich das Mädchen auf der Straße die Verletzung am Hals an der Fensterscheibe zugezogen.
»Nein. Wir haben die Scherben trotzdem sichergestellt, damit das Labor sie auf mögliche andere Materialanhaftungen untersuchen kann«, erwiderte der Kriminaltechniker.
»Vielleicht hat sich der Täter mit dem Lauf der Waffe und der Distanz zum Fenster verschätzt und es unabsichtlich eingeschlagen«, sagte Bergmann. »Das Opfer hat sich nach dem Geräusch umgedreht und wurde in die Brust getroffen.«
»Oder der Täter wollte auf sich aufmerksam machen. Möglicherweise sollte ihn das Opfer vor seinem Tod noch sehen und erkennen«, spekulierte Sandra.
»Oder die Täterin«, warf Bergmann ein. Der spöttische Zug um seinen Mund sprach dafür, dass er schon wieder auf das Mädchen anspielte, das er für ein Hirngespinst hielt.
»Er oder sie wollte den Mann nicht in den Rücken schießen, sondern von Angesicht zu Angesicht töten«, fuhr Sandra unbeirrt mit ihrem Tatszenario fort. »Was für eine Beziehungstat sprechen würde.«
»Gibt es denn Hinweise auf einen Raubmord?«, fragte Bergmann.
»Nein. Bis auf die kaputte Fensterscheibe ist nichts zu Bruch gegangen oder verwüstet. In keinem der Räume. In der Gesäßtasche des Toten haben wir seine Brieftasche mit fast 200 Euro gefunden. Sein Handy haben wir auch sichergestellt. Ziemlich alter Knochen. Außerdem befinden sich einige Wertgegenstände im Haus. Eine Kamera, elektronische Geräte und Antiquitäten. Mit der Täterin könntest du übrigens recht haben, Sascha. Es gibt Hinweise, dass der Mann nicht allein war, als er erschossen wurde. Auf dem Tisch sind zwei Weingläser und eine leere Flasche Wein gestanden. Außerdem haben wir einen digitalen Audiorekorder sichergestellt, unweit der Leiche auf dem Boden liegend. Er hat noch aufgezeichnet, als wir eingetroffen sind.«
»Wie bitte? Soll das heißen, es gibt eine Tonaufnahme von der Tat?«, fragte Bergmann überrascht.
Jörg Schöffmann nickte.
»Na, besser geht’s doch kaum«, zeigte sich der Chefinspektor hocherfreut.
Der Kollege schien weniger zuversichtlich zu sein. »Fürs Erste hat das Tondokument leider nicht die Aussagekraft, die wir uns erhofft hatten. Martin hat die Audiofiles gleich runtergeladen, und wir haben kurz reingehört. Anfangs ist ein Mann zu hören, bei dem es sich um das Opfer handeln dürfte. Er stellt Fragen und fordert jemanden zum Antworten auf. Wir hatten zuerst den Eindruck, als telefoniere er, weil keine Antworten zu hören sind. Nur Geräusche, Schritte, Pumpern … Dann plötzlich doch eine zweite Stimme, wenn auch nur sehr leise und schwer verständlich. Nicht so tief wie die Männerstimme. Schleppend, gedämpft, undeutlich. Als wäre diese Person betrunken oder durch eine Sprachstörung beeinträchtig.«
»Eine Frau?«, fragte Bergmann.
Jörg Schöffmann zuckte mit den Achseln. »Vermutlich. Vielleicht auch ein älteres Kind. Ich bilde mir ein, dass die Stimme einige Male hintereinander ›Mama‹ gesagt hat. Martin war sich da nicht so sicher. Wir müssen die Aufnahmen erst bearbeiten und analysieren.«
»Mama?« Sandra und Bergmann sahen einander an.
War ein Kind am Tatort gewesen? Oder doch eine Frau? Schon wieder kam Sandra das Mädchen auf der Straße in den Sinn. War sie diese mysteriöse Jägerstochter, von der Agnes Haidegger gesprochen hatte? Möglicherweise hatte sie Zugriff auf Schusswaffen, konnte vielleicht auch damit umgehen. Hatte sie den Weinbauer erschossen, sich verletzt und war nun auf der Flucht? Oder war sie eine Komplizin des Täters? Oder doch ein weiteres Opfer und damit eine wichtige Zeugin? Sandra hätte vorhin schneller reagieren, aussteigen und sie ansprechen müssen, warf sie sich nun vor. »Ist auch der Begriff ›Jägerstochter‹ gefallen? Oder ›böses Weib‹? War von ›verlorenen Seelen‹ die Rede?«, fragte sie.
Genauso verwundert, wie Jörg Schöffmann sie ansah, hätte sie ihn nach dieser Frage umgekehrt wohl auch angesehen.
Wenigstens war Bergmann, der gerade der Gerichtsmedizinerin durchs kaputte Fenster zuwinkte, kurzfristig abgelenkt.
»Wie gesagt, wir haben nur reingehört«, erwiderte der Kriminaltechniker. »Martin wird den Ton so gut es geht bearbeiten, damit wir die Aufnahme analysieren können«, wiederholte er. »Es war auch noch lautes Poltern zu hören, als würden Türen zugeschlagen, Sesseln gerückt und Ähnliches. Außerdem Stöhnen, Ächzen, Wimmern …«
»Dann hat da drinnen doch ein Kampf stattgefunden?« Bergmann hatte sich ihnen wieder zugewandt.
»Das Audiofile lässt darauf schließen, aber drinnen finden sich keine Spuren eines Kampfes.«
»Sex vielleicht?«, fragte Bergmann.
»Der müsste dann aber ausgesprochen wild gewesen sein.«
»Soll ja vorkommen …«
»Wir haben uns auch noch jene Stelle angehört, bei der die Amplitude am größten ist, also das lauteste Geräusch der Aufnahme.«
»Der Schuss?«, fragte Sandra.
»Genau. Und keine fünf Sekunden vor dem Schuss birst Glas. Unmittelbar danach ist ein abgeschnittenes Wort zu hören: ›olln‹ oder ›ülln‹.«
»Olln … ülln? Was könnte das heißen?«
Jörg Schöffmann zuckte mit den Schultern. »Alles Mögliche könnte das heißen. Das Wort oder der Satz davor sind größtenteils vom Schussgeräusch überlagert und daher unverständlich. Mal schauen, ob wir was Sinnvolles herausfiltern können.«
»Kannst du schon sagen, wann genau dieser Schuss gefallen ist?«, wollte Bergmann wissen.
»Kann ich. Der Rekorder speichert die Dateien unter dem Datum und der Beginnzeit der Aufzeichnung ab. Währenddessen läuft der Timecode mit. Martin hat daraus 22.46 Uhr errechnet. Die Tatzeit lässt sich in diesem Fall bis auf die Tausendstelsekunde genau eruieren«, sagte der Kriminaltechniker.
»22.46 Uhr reicht mir völlig«, meinte Bergmann. »Der Notruf ist um 22.52 Uhr eingegangen. Dazwischen liegen sechs Minuten. Das ist zwar kein Rekord bei der geringen Distanz zwischen Herren- und Weingartenhaus, aber das kommt schon hin. Eine alte Frau ist schließlich kein D-Zug. Gell ja, Sandra?«
Sandra ignorierte die Provokation des Chefinspektors, die völlig unangebracht war. Nur, weil sie einmal nicht ganz fit war, zog er sie auf. »Und wenn da drinnen eine Geisterbeschwörung stattgefunden hat?«, sprach sie den Gedanken aus, der ihr vorhin in den Sinn gekommen war.
»Eine Geisterbeschwörung?« Kopfschüttelnd wandte Bergmann seinen Blick ab, als zweifle er endgültig an ihrem Verstand.
»Der Mann stellt Fragen, bekommt vorerst aber keine Antworten. Nur Klopfen und Poltergeräusche. Dann diese unverständliche Stimme … Das hat mich an eine Doku über paranormale Phänomene erinnert, die ich mal gesehen habe«, sagte Sandra. Das weiß gekleidete Mädchen, das bei Nacht und Nebel auf der Straße aufgetaucht und wieder verschwunden war, passte ebenso gut in eine Spukgeschichte. Nur, dass diese Person vorhin real gewesen war. Oder vielleicht doch nicht?
»Eine Geisterbeschwörung wäre schon denkbar«, erwiderte Jörg Schöffmann.
»Wie bitte? Kommst du mir jetzt auch noch mit Gespenstern daher? Ausgerechnet du? Der Analytiker schlechthin?«, fragte Bergmann, allmählich verzweifelnd.
»Die Tonaufnahme lässt diesen Schluss zu.«
»Moment einmal, es waren doch zumindest zwei Personen anwesend«, wandte Bergmann ein. »Das Opfer und der Täter.«
Jörg Schöffmann zuckte mit den Schultern. »So viel kann ich bestätigen. Ob außerdem noch jemand da war, kann ich noch nicht sagen«, wiederholte er. »Wir haben lediglich Stimmen gehört, die wir erst analysieren müssen.«
»Und wenn der Mann doch telefoniert und dann den Lautsprecher am Handy eingeschaltet hat?«, ließ Bergmann nicht locker.
Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. »Wenn es sich bei dem Mann um das Opfer handelt, hat sein letztes Handygespräch laut Anrufliste am Nachmittag stattgefunden.«
»Könnten die Stimmen nicht auch aus dem Radio oder dem Fernseher gekommen sein?«, suchte Bergmann nach einer vernünftigen Erklärung.
»Jedenfalls waren beide ausgeschaltet, als die Kollegen am Tatort eingetroffen sind. Es gibt zudem ein Messgerät, wie es Geisterjäger gern verwenden, um die Existenz fremder Energien nachzuweisen.«
»Was?« Bergmann kam aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. »Und wer hat deiner Meinung nach geantwortet? Hui Buh, das Schlossgespenst?«, fragte Bergmann.
Jörg Schöffmann grinste. »Wir finden bestimmt noch logische Erklärungen«, meinte er.
»Um welches Messgerät handelt es sich eigentlich?«, blieb Sandra bei den Fakten.
»Ein sogenanntes Trifeldmeter. Es misst niederfrequente magnetische und elektrische Felder sowie Radio- und Mikrowellen.«
»Könnte ein Weinbauer damit nicht auch etwas Bodenständigeres anstellen als Geister zu jagen?« Bergmann wehrte sich standhaft gegen jede paranormale Theorie.
»Er könnte zum Beispiel Störfelder wie Wasseradern und Elektrosmog aufspüren. Ist das für dich bodenständig genug?«, fragte Jörg Schöffmann.
»Ich dachte, dafür gibt es Wünschelruten«, witzelte Bergmann.
»Tja, damit muss man aber auch erst einmal umgehen können«, erwiderte der Kriminaltechniker amüsiert.
»Na schön. Wir haben also das Handy des Opfers und diese Tonaufnahme. Immerhin …«, gab sich Bergmann fürs Erste zufrieden.
»Wir haben auch seinen Laptop sichergestellt. Er war im Herrenhaus. Meine Leute haben sich dort bereits umgesehen. Spuren, die auf ein Verbrechen hinweisen, gibt es nicht. Auch keine Schusswaffen. Der junge Weinbauer will auch nichts davon wissen.«
»Josef Brand?«, fragte Sandra nach.
»Genau. Ich hab ihn vorhin schon gebeten, sich im Weingartenhaus umzuschauen, ob etwas fehlt oder irgendetwas verändert worden ist. Bevor wir hier alles umgedreht haben. Die alte Frau war für uns ja nicht mehr ansprechbar, nachdem der Arzt sie behandelt hat.«
»Und? Ist ihm etwas aufgefallen?«
»Nichts. Außer dem Offensichtlichen«, bezog sich Jörg Schöffmann auf die Leiche und die sichtbaren Spuren des Verbrechens am Tatort. »Er hat mir auch bestätigt, dass es sich bei der Stimme auf dem Audiofile um die Stimme seines Stiefvaters handelt.«
»Und die andere Stimme?«
»Hat er nicht erkannt.«
»Habt ihr seine Fingerabdrücke genommen?«, erkundigte sich Bergmann weiter.
»Nein. Das wollte ich später in einem Aufwasch zusammen mit den beiden Frauen erledigen. Falls es ihr Gemütszustand erlaubt.«
»Lasst uns doch mal hineingehen«, sagte Bergmann. »Mir friert hier langsam der Hintern ab. Kommst du mit, Jörg?«
Sandra folgte den Männern durch die Holztür, die gerade hoch genug war, dass sich Bergmann als Größter von ihnen nicht den Kopf anschlug, ohne diesen einziehen zu müssen.
Sandras Hoffnung, dass es im Haus warm sein würde, erfüllte sich leider nicht.
»Können wir uns die Leiche ansehen?«, sprach Bergmann die Gerichtsmedizinerin an, die mit ihrem Laptop am Tisch saß.
Doktor Jutta Kehrer blickte auf. »Nur zu, ich bin fürs Erste mit dem Patienten fertig«, sagte sie mit einer einladenden Geste, machte jedoch keinerlei Anstalten aufzustehen. »Wo wart ihr eigentlich so lange?«
»War gar nicht so einfach, in dieser Waschkuchl hierher zu finden«, beschwerte sich ausgerechnet Bergmann. Als wäre er nicht die ganze Fahrt über mit seinem Smartphone beschäftigt gewesen, sondern selbst am Steuer gesessen.
»Der Nebel ist erst in der letzten Stunde so dicht geworden«, sagte Jörg Schöffmann. »Als wir hier angekommen sind, war die Sicht noch um einiges besser als jetzt. Wenn das so bleibt, pfiat di Gott …«, spielte er auf die bevorstehende Rückfahrt an.
Sandra befürchtete, dass er recht hatte. Wenngleich es allemal einfacher war, zurück nach Graz als hierher zu finden.
Sie blickte sich in der Stube um. Die zugedeckte Leiche lag etwa zwei Meter vom Fenster entfernt. Die bäuerliche Einrichtung – ein Sammelsurium aus verschiedenen Epochen von der Biedermeiersitzbank bis zum kleinen Flatscreen-Fernseher an der Wand – vermittelte dennoch ein stimmiges und gemütliches Ambiente. Sie hielt ihre Handflächen über die blau glasierten Ofenkacheln, die anders als erwartet etwas Wärme abstrahlten. Allerdings nicht mehr genug, um den gesamten Raum zu heizen, der an die 20 Quadratmeter maß. Zudem zog es kalt beim zerbrochenen Fenster herein. Fröstelnd wandte sie sich der Leiche zu.