Tells_Geschoss_RLY_cover-image.png

Res Perrot

Tells Geschoss

Ein verräterischer Fall für Wachtmeister Grossenbacher

390453.png

Zum Buch

Verbrannte Erde Aus Mangel an Verbrechen an Leib und Leben muss Wachtmeister Paul Grossenbacher von der Kriminalpolizei Zürich die Jagd nach einem Feuerteufel im Tösstal übernehmen. Immer wieder brennen Scheunen in der beschaulichen Region. Mit dem ihm eigenen Elan schafft er es, die Akte nach knapp fünf Minuten weiterzureichen. Als jedoch eine Wasserleiche im Katzensee auftaucht, gibt es plötzlich Arbeit für Grossenbacher. Die junge Frau wurde offensichtlich standrechtlich exekutiert. Seine Nachforschungen führen den Wachtmeister vom Stammtisch nach Bern ins Bundesarchiv, wo er tief in die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg eintaucht. Was er dort heraufbefördert, passt nicht allen ins Bild des geliebten Vaterlandes. Als Grossenbacher seine Wohnung um die Ohren fliegt, wird ihm klar, dass dunkle Kräfte versuchen, ihn an der Aufklärung des Falls zu hindern …

Res Perrot wurde 1960 als Berner in Zürich geboren. Aufgewachsen im Bernbiet, lebt er heute wieder im Kanton Zürich. Nach dem Besuch der Schule für Gestaltung in Bern arbeitete er als Grafiker, Art Director und Creative Director in verschiedenen Werbeagenturen, bis er sich selbstständig machte. Als Musiker tourte er mit diversen Formationen und war an einigen Schallplattenproduktionen als Bassist oder Produzent beteiligt. Seit ein paar Jahren widmet er sich neben dem Schreiben mit Hammer, Meißel und Leidenschaft der Bildhauerei. »Tells Geschoss« ist sein vierter Krimi im Gmeiner-Verlag.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Tells Rache (2017)

Tells Grab (2016)

Tells Söhne (2014)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

398105.png Instagram_Logo_sw.psd Twitter_Logo_sw.jpg 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © R. Babakin / fotolia.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5984-9

Vorbemerkung

Peter Noll musste in seinem Buch »Landesverräter« (erschienen 1980 im Verlag Huber, Frauenfeld) wegen der 50-jährigen Sperrfrist die Namen aller zum Tode Verurteilten ändern oder abkürzen. Auch Niklaus Meienberg musste sich in seinen Berichten über den Landesverräter Ernst S. an diese Regel halten. Für dieses Buch habe ich die geänderten Namen aus dem Buch von Peter Noll übernommen.

 

 

Prolog

»Nein, nicht!« Die Frau schreckt aus dem Schlaf. Sofort ist sie hellwach und weiß genau, was in diesem Augenblick geschehen ist. Das Nachthemd klebt ihr am verschwitzten Körper. Sie zittert. Es ist kalt. Sie hat geträumt. Ihr ist klar, dass sie schon wieder diesen bösen Traum hatte. Immer wieder die gleiche Geschichte. Seit über einem Jahr. In regelmäßigen Abständen, manchmal aber auch Nacht für Nacht. Sie kann die Geschichte auswendig, sie kennt sie. Es ist ihre eigene: im Traum früh am Morgen. Der Tag ist noch nicht richtig angebrochen, als sie von Männern abgeholt wird. Man fesselt ihr die Hände auf den Rücken und bindet einen Strick um ihre Fußgelenke. Er ist geradeso locker, dass sie noch gehen kann. Dann wird sie in einen Wald geführt. Es ist kalt. Sie friert, hat Angst. Die Männer begleiten sie. Sie gehen links und rechts neben ihr. Auf einer Lichtung halten sie an. Zwei Männer packen sie unter den Armen und schleifen sie durch das taunasse Gras zum gegenüberliegenden Rand der Lichtung, wo sie sie mit dem Rücken an einen Baum lehnen. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, sie an den Stamm zu binden. Sie halten sie mit den Händen fest. Ein Priester im schwarzen Talar begleitet die kleine Prozession und murmelt pausenlos. Sie glaubt, dass es Gebete sind. Sie hat keinen Pfarrer verlangt und trotzdem hält er sich hartnäckig an ihrer Seite. Sie versteht einzelne Worte. »Vergebung … Sühne … Sterben …« Die Männer verbinden ihr die Augen, halten sie weiterhin fest, sodass sie nicht umfallen kann. Ihre Knie zittern und drohen nachzugeben. Dann hört sie laute Befehle. Jetzt Schritte. Es sind viele Stiefel. Es muss eine Gruppe sein. Exerzierschritte. Und dann Waffenrasseln. Das Kommando bezieht Stellung.

Normalerweise erwacht sie schweißgebadet genau an dieser Stelle. Doch heute ist es anders. Sie träumt weiter, aber nur so lange, bis sie den lauten, knappen Befehl hört: »Feuer!«

Sie setzt sich auf und tastet nach der Streichholzschachtel. Etwas fahrig reißt sie ein Hölzchen an und schaut im aufflackernden Licht zum Wecker auf dem Nachttisch. Sie starrt ungläubig auf das Zifferblatt, dabei wird ihr klar, dass es eben so weit war. Sie weiß, heute ist es kein Albtraum mehr. Heute ist es passiert. Es ist kalt.

Es ist der 7. Dezember 1944, kurz nach 6 Uhr, und es ist genau so kalt im Zimmer wie draußen vor dem Haus. In den Glocken des Weckers spiegelt sich die kleine Flamme wider. Doch sie achtet nicht auf das Lichtspiel und hält das Feuer an den Kerzenstummel. Tränen rinnen ihr über die Wangen. Neben dem Wecker steht in einem kleinen Bilderrahmen eine gerahmte Fotografie auf der Marmorplatte des Nachttisches. Das Schwarz-Weiß-Bild zeigt einen stolz in die Kamera blickenden Mann. Fein herausgeputzt, im neuen Anzug mit steifem Hemdkragen, Krawatte und Einstecktuch. Die Brillantine im Haar glänzt selbst in der Dunkelheit, als säße er jetzt vor ihr im Zimmer. Mit verweinten Augen starrt sie auf das Bild. Energisch schüttelt sie das Hölzchen, bis die Flamme erlischt, und lässt sich wieder in die Kissen fallen. Der Platz neben ihr ist leer. Unberührt. Seit fast zwei Jahren. Der Anzug hängt im Kleiderschrank. Also doch keine Täuschung.

Ihr wird kalt. Sie zieht die Decke über den Kopf und schluchzt leise. Tränen tränken das grobe Leinentuch. Heulkrämpfe schütteln sie. Sie weint und versucht gleichzeitig, ihre Schmerzensschreie hinunterzuwürgen. Sie beißt ins Kissen. Es ist unvorstellbar, so ungerecht. Die unendliche Trauer reißt ihr beinahe das Herz aus der Brust. Sie fühlt sich alleingelassen, irgendwie verstoßen und verraten. Dabei kann sie absolut nichts dafür. Es ist nicht ihre Schuld. Sie ist immer noch fest davon überzeugt, dass es sich nur um einen Irrtum handeln kann. Eine Welle der Verzweiflung überrollt sie. Sie hat Angst. Was soll jetzt werden? Mit beiden Händen hält sie sich den Mund zu und hofft, dass man ihre Schreie im Haus nicht hört.

Als sie keine Tränen mehr weinen kann und sich etwas beruhigt hat, schlüpft sie aus dem Nachtlager, wirft einen Blick zum leeren Bettchen an der Wand des Schlafzimmers und tapst nur im Nachthemd und mit nackten Füßen zum Fenster hinüber. Sie schiebt den dicken Vorhang beiseite. Draußen ist es noch finster. Sie öffnet das Fenster und eisige Luft strömt in den Raum. Es riecht nach Schnee. Geräuschlos schließt sie den geöffneten Flügel und zieht den Stoff wieder vor. Dann geht sie zur Tür. Mit der Klinke in der Hand bleibt sie stehen, denn sie hat vergessen, was sie eigentlich wollte. Die Kälte schleicht den Boden entlang und frisst sich über die Fußsohlen in ihren Körper. Es ist ihr egal. Soll sie doch frieren. Am liebsten würde sie erfrieren. Dann wäre alles vorbei.

Nach einer Weile kommt wieder Leben in die erstarrte Bewegung. Sie lässt den Türgriff los und kauert sich zum Ofen hinunter. Mit klammen Fingern öffnet sie das Türchen und pustet vorsichtig in die Glut. Als die ersten orangen Punkte aufglühen, nimmt sie aus dem Weidenkorb eine Handvoll dünner Späne und einen Scheit. Beides schiebt sie sorgfältig ins Rohr. Für einen Augenblick verharrt sie vor dem Ofenloch und hört dem Knistern des Feuers und dem Knacken im Ofenrohr zu. Es klingt vertraut, und sie spürt, wie sich Wärme ausbreitet. Wenigstens hier scheint alles in Ordnung zu sein.

Beim Aufrichten stützt sie sich auf die Oberschenkel. Ein Stechen im Unterleib treibt ihr erneut Tränen in die Augen. Sie presst die Hände gegen den runden Bauch.

 

1

Samstag, 6. Januar

»Blödes Gefotzel!«, ärgerlich wischt sich Grossenbacher glitzernde Lamettafäden aus dem Gesicht. Jedes Mal, wenn jemand die Türe zum überheizten Aufenthaltsraum des Hotels aufstößt, bläst ein Windstoß dem Wachtmeister die Dekoration des künstlichen Weihnachtsbaumes um den Kopf. Der Weihnachtsschmuck mit den elektrischen Kerzen wartet, bereits etwas angestaubt, auf bessere Zeiten. Eigentlich genau wie Grossenbacher auch. Beide sollte man vielleicht, bevor sie noch ganz verstauben, in eine Kiste packen und auf den Dachboden stellen.

Trotz allem, hier ist der richtige Platz für Grossenbacher. Nicht ganz dabei und trotzdem alles im Blick. Und auch der richtige Ort, um seine Wunden zu lecken. Er ist allein. Nicht dass er der einzige Gast im Hotel wäre. Nein, er ist allein hier. Und das nicht nur hier im Hotel, auch sonst im Leben. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, es gab nur eine Schlussfolgerung: Anna hatte genug. Wollte nicht mehr. Die logische Folge nach der Trennung: die Scheidung. Kurz vor Weihnachten, und kurz und schmerzlos, wie man einem Freund für eine längere Reise Lebewohl sagen würde. Ein paar Worte vom Richter. Fertig.

Aus und Amen.

Es ist Januar. Ganz genau der Sechste. Es ist ungemütlich, der Wind heult um die Hausecken und peitscht den Schneeregen gegen die Fenster. Hudelwetter, hätte Grossenbachers Mutter dazu gesagt. Kalt, nass und unfreundlich. Der Wachtmeister macht für ein paar Tage Ferien im abgelegenen Hotel la Chaux-d’Abel. Entspannen und ausruhen war die Absicht, eventuell auch etwas Langlauf. Er hat absolut keine Ahnung von diesem nordischen Wintersport, doch sein Arzt hat ihm dringend zu etwas mehr Bewegung oder gar Sport geraten. Doch zum Glück hat ihm das Wetter einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Es regnet wie aus Kübeln, und Schnee hat es weit und breit keinen auf den Jurahöhen. Was Grossenbacher nur recht ist, jedoch kann im ringhörigen Gebäude auch keine Rede von Ruhe sein. Kinder rennen mit Drei-Königs-Kronen auf dem Kopf durch die Hotelgänge, und immer wenn der Wind eine Pause macht, hört man das Geklapper von Pfannen und Töpfen aus der Küche nebenan. Und für den Fall, dass die Küchenmannschaft wider Erwarten einmal eine Pause macht, so knattert bestimmt ein Bauer mit seinem Traktor und scheppernden Milchkannen auf dem Anhänger am Gasthaus vorbei.

»Ach, jetzt tun Sie nicht so, mein Lieber«, die Frau, welche auf der anderen Seite des runden Salontischchens sitzt, hat sich bei ihrer ersten Begegnung als Marie-Louise aus Zumikon bei Zürich vorgestellt. Sie zieht die Weißweinflasche aus dem Eiskübel und verteilt den Rest auf die beiden Gläser. »Was haben Sie gegen diesen schön geschmückten Baum? Ist doch wunderbar gemütlich hier. Etwas Tradition ist doch heimelig, oder nicht?«

Als keine Antwort kommt, hebt sie das Glas und meint: »Na, machen Sie nicht so ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, mein lieber Paul. Ist doch alles nur halb so schlimm. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, das Wetter wäre besser – wir hätten uns kaum kennengelernt. – Prost!« Mit spitzen Lippen nippt sie am Wein und der Augenaufschlag über dem Glasrand gleicht einem Erdbeben. Als sie das Glas zurückstellt, bleibt ein Lippenstiftabdruck zurück.

Grossenbacher zupft sich Glitzerfäden aus dem Mund, brummt etwas Unverständliches und nimmt ebenfalls einen Schluck. Er spürt, wie der Alkohol in seinem Körper aufsteigt, und hat das Gefühl, dass seine Ohren mit den Kerzen auf dem Kunstbaum um die Wette leuchten. Er kennt die blonde Frau erst seit drei Tagen. Man hatte sie im Speisesaal, da das Hotel zu dieser Jahreszeit gut gebucht ist, aus Platzmangel zusammen an einen kleinen Tisch gesetzt. Was Grossenbacher nicht besonders freute, aber was konnte er gegen die gewichtigen Worte der fülligen Hotelbesitzerin ausrichten. Also fügte er sich wohl oder übel in sein Schicksal und erträgt seit diesem Moment mit Engelsgeduld das nie versiegende Mitteilungsbedürfnis der gepflegten, nicht mehr ganz jungen Frau.

Es regnet seit drei Tagen ununterbrochen. Die Hotelgäste lungern entsprechend missgelaunt und untätig in den Räumlichkeiten herum oder rücken vor dem Cheminée im Aufenthaltsraum zusammen. Sie beschäftigen sich mit Kartenspielen, Klatsch und Tratsch, dem Inhalt des Weinkellers oder gleich mit allem zusammen. Bereits nach dem dritten Tag zeigt die Weinkarte beängstigende Lücken.

Das Hotel, ein klobiger alter Steinkasten auf einer sanften Anhöhe in der Nähe von La Ferrière, hält nichts von dem, was einem die hoteleigene Website verspricht. Nämlich: Ruhe, Erholung und Freude an der Natur.

»Jetzt seien Sie nicht so ein Miesepeter. Geben Sie sich einen Ruck und machen Sie das Beste aus der Situation. Wir leiden doch alle unter dem Wetter.« Sein Visavis kontrolliert im Puderdosenspiegel die Deckkraft des Lippenstiftes.

»Ein Lift wäre auch kein Luxus«, brummt Grossenbacher. Sein Zimmer liegt ganz oben unter dem Dach, was jedes Mal vier Stockwerke hinauf oder hinunter bedeutet und den Wachtmeister arg ins Schnaufen bringt. Eigentlich ist das schon Sport genug, denkt er und stellt sein leeres Glas etwas unsanft auf den Tisch. Als endlich wieder einmal eine Hotelangestellte auftaucht – Grossenbacher hegt schon seit einiger Zeit den Verdacht, dass sie sich absichtlich versteckt halten; sei es, um den Weinkeller vor großer Leere zu schützen, oder weil sie schlicht zu faul sind –, hebt er ruckartig die Hand und deutet mit dem Finger auf die ebenfalls leere Weinflasche. Die Kellnerin verschwindet durch die Seitentür, und Grossenbacher ist nicht sicher, ob sie seine Bestellung gesehen hat, da wieder Lametta sein Gesicht bedeckt.

»Wo waren Sie denn heute Nachmittag? Ich habe Sie nirgends gesehen.« Seine Tischnachbarin dreht mit dem Finger eine Locke und versucht erneut einen Augenaufschlag.

»Eh, nun, ich brauchte etwas frische Luft. Ich hatte Angst, dass mir die Decke auf den Kopf fällt.«

»Sie sind mir einer. Ein richtiger Verräter!« Und an die versammelte Gesellschaft gerichtet fährt sie mit erhobener Stimme fort: »Habt ihr das gehört? Paul, mein geschätzter Tischnachbar, hat sich heute aus dem Haus geschlichen, ohne uns etwas zu sagen, ohne jemanden einzuladen und ohne mich mitzunehmen. Ist das nicht unerhört?«

Ein Dutzend Köpfe dreht sich zu ihnen um und doppelt so viele weinselig glänzende Augen funkeln den Wachtmeister vorwurfsvoll an.

»Schon gut«, wehrt Grossenbacher ab und verwirft dabei die Hände. »Von Verrat kann in diesem Fall absolut keine Rede sein. Ich habe nur einen kleinen Spaziergang bis zum Waldrand hinüber gemacht, um etwas frische Luft zu tanken und mir die Füße zu vertreten. Im Schatten der Bäume gibt es sogar noch gut und gerne drei Meter Loipe. Brauche ich dafür eine Bewilligung?«, wendet er sich wieder Marie-Louise, seiner Tischnachbarin, zu. »Gar mit schriftlichem Antrag?«

Die neue Flasche Weißwein wird serviert. Seine Tischnachbarin, eine Frau mit schwer zu bestimmendem Alter, mustert ihn mit einem Lächeln, welches ihre tadellosen Zähne präsentiert: »Nein, nein, mein Lieber. Aber vielleicht hätte ich Sie ja tatsächlich gerne begleitet.« Sie lehnt sich in ihren Stuhl zurück. »Wer weiß?«, fügt sie mit einem bezaubernden Augenaufschlag an.

»Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage.« Grossenbacher erschrickt ob seiner charmanten Antwort. Er schätzt sie auf Mitte 50 und wird den Verdacht nicht los, dass ein paar Sachen gekauft sind und nicht mehr dem Originalbausatz angehören.

»Lieber Paul«, säuselt die Blonde hinter ihrem Glas mit tiefer Stimme, »darf ich Sie etwas fragen?« Ihr Busen hebt und senkt sich dabei bedrohlich.

»Eh …« Grossenbacher nippt irritiert an seinem Glas und versucht, die Menge Weißwein zusammenzurechnen, welche er heute schon in sich hineingekippt hat. Es gelingt ihm nicht. Er ist sich nicht sicher, ob wegen des Alkohols, der sich schon ordentlich bemerkbar macht und einen Schleier über die getrunkenen Gläser legt, oder wegen der überreifen Ablenkung auf der gegenüberliegenden Seite des Tischchens. Dann fragt er sich noch, wovor er sich mehr fürchtet: vor der reifen Frucht ihm Gegenüber oder vor dem Magenbrennen, welches ihn aufgrund des Weins in der Nacht bestimmt heimsuchen wird.

»Darf ich das als ein Ja interpretieren?« Die Blonde lehnt sich verschwörerisch über den Tisch, sodass ihr Dekolleté einen faltenlosen Einblick freigibt. Er spürt ihren Atem im Gesicht, als sie meint: »Eigentlich ist es keine Frage, sondern vielmehr eine Bitte.«

Grossenbacher ist bei dieser Aussicht nicht fähig zu reagieren, geschweige denn, die Augen abzuwenden.

»Mein Lieber, Sie haben mir doch gestern beim Apéro erzählt, dass Sie bei der Polizei arbeiten. Nun, ich habe mir gedacht, vielleicht, nun ich weiß nicht, wie ich mich richtig ausdrücken soll, ich meine, damit Sie es nicht falsch verstehen. Nun …«, sie unterbricht sich und versucht sich noch einmal auf ihre Frage zu konzentrieren. »Also, nun, ich habe mir gedacht, ob Sie mir vielleicht helfen könnten.«

Die so selbstsichere Marie-Louise ist plötzlich eine andere Person. Ganz klein und verletzlich. Sie scheint tatsächlich verlegen, zupft ein Tüchlein hervor und putzt sich die Nase.

Grossenbacher weiß genau, was jetzt kommt. Freunde, Bekannte und Unbekannte haben irgendwelche juristische Probleme, welche er für sie lösen soll. Er hat das schon oft erlebt und hat absolut kein Interesse, etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Er hat Urlaub! Doch noch bevor er etwas entgegnen kann, fährt sie schon weiter: »Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, etwas Privates?« Die Frau hat sich wieder gefasst, entspannt sich und schlägt ihre wohlgeformten Beine übereinander. Auch hier scheint der Alterungsprozess beträchtlich gestört worden zu sein. Sie spricht jetzt ungerührt, beinahe distanziert und ohne eine Antwort abzuwarten. Geradeso, als wäre eben nichts gewesen. »Wie Sie vielleicht wissen, bin ich beinahe 14 Jahre verwitwet – ach, woher sollen Sie das denn wissen. Ich bin ganz durcheinander – entschuldigen Sie. Also, mein Mann ist 2004 bei einem Autounfall ums Leben gekommen …«

»Eh … nun, tut mir leid«, murmelt Grossenbacher. Seine Ohren brennen wieder.

»Nun, das muss es nicht. Sie haben ihn wohl kaum gekannt. Oder vielleicht doch?«

»Kaum.«

»Nun, Edi, mein Mann, war Anwalt. Nicht mit Gericht und so, nein, Wirtschaftsanwalt. Vielleicht sagt Ihnen die Anwaltskanzlei Bosshard & Partner etwas? Sie hat ihm gehört. Er hatte die Kanzlei von seinem Vater, der auch schon Jurist gewesen war, übernommen und in der Folge zu einer erfolgreichen Wirtschaftskanzlei um- und ausgebaut.«

Grossenbacher schüttelt den Kopf. Noch nie gehört. »Wie sagten Sie, Edi …?«

»Richtig, er hieß Eduard Friedrich, nach seinem Vater Friedrich Jakob.«

»Aha.« Grossenbacher zeigt eindeutig mehr Interesse am vollmundigen Weißwein als an der Familiengeschichte der üppigen Marie-Louise. Gut, ihre Beine waren nicht zu übersehen und nicht zu verachten, was aber noch lange kein Grund war, ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

»Nun …« Die Blonde reißt schwungvoll die Flasche aus dem Kühler. Wasser tropft ihr aufs Kleid. Sie wischt es mit der freien Hand weg und gießt die Gläser voll. »Sie haben mir doch gestern Abend erzählt, dass Sie bei der Polizei arbeiten. Und da habe ich mir überlegt, dass Sie mir vielleicht helfen könnten.«

Grossenbacher will sofort etwas erwidern, jedoch wird sein Einwand mit einer flüchtigen Handbewegung weggewischt, bevor er zu Wort kommen kann. Die Armreifen an Marie-Louises Handgelenk klirren dabei wie die Glöcklein an Rudolphs Rentiergeschirr. »Sagen Sie nichts, denn ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Aber hören Sie sich bitte erst einmal meine Geschichte an. Dann können Sie immer noch sagen, dass Sie das nicht interessiert. Einverstanden?«

Grossenbacher braucht gar nicht zu antworten, denn die Blonde spricht gleich weiter.

»Also …« Und plötzlich füllen sich ihre Augen wieder mit Tränen.

Grossenbacher denkt bei sich, dass ihr wohl alle Mittel recht sind, um ihn herumzukriegen: zuerst mit Alkohol abfüllen, dann freizügige Blicke auf einen getunten Körper gewähren und jetzt auch noch die gefühlsvolle Mitleidswelle.

»Entschuldigen Sie«, sie tupft sich mit dem Taschentuch die Augenwinkel, dann atmet sie einmal tief durch, sodass sich ihr gewaltiger Busen hebt, »um es kurz zu machen. Meine Tochter ist seit beinahe zwei Jahren spurlos verschwunden. Bis heute hat alles Suchen nichts gebracht. Niemand weiß etwas. Weder in der Verwandtschaft, in ihrem Freundeskreis noch sonst wer. Sogar ihre letzten Männerbekanntschaften – viele waren es ja nicht – habe ich abgeklappert und nach ihr befragt. Sie ist einfach nicht auffindbar. Selbstverständlich habe ich die Polizei eingeschaltet, aber sie konnte bis jetzt nichts ausrichten. Keine Spur, kein Anhaltspunkt, nichts. Es ist, als wäre sie abgetaucht oder vom Erdboden verschluckt. Und ich weiß beim besten Willen nicht mehr, was ich tun soll. Wenn ich ehrlich bin, erhalte ich vonseiten der Behörden nicht wirklich große Unterstützung. Dort denkt man, dass sie vielleicht ausgewandert, abgehauen sei, um irgendwo ein neues Leben anzufangen. Aber meine Tochter war, nein, ist nicht so. Das können Sie mir glauben. Sie hätte mich niemals im Ungewissen zurückgelassen. So ist sie nicht. Dazu müssen Sie wissen, wir hatten ein ausgesprochen gutes Verhältnis. Ein enges. Sie hätte es mir erzählt, wenn sie entsprechende Pläne gehabt hätte. Und jetzt treffe ich auf Sie, mein Lieber, und Sie machen mir neue Hoffnung.«

»Was mache ich …?« Grossenbacher verschluckt sich beinahe am Wein. »Ich habe gar nichts gemacht.«

»Oh, doch! Sie sind hier in dieses Hotel gekommen. Und dann hat man Sie an meinen Tisch gesetzt. Das muss doch ein Zeichen sein. Etwas wie Vorbestimmung, meinen Sie nicht?«

»Etwas wie was?«

»Ein Zeichen!«

»Nein.«

Tausende von Elektrokerzen am überdimensionierten Weihnachtsbaum in der Ecke blinken jetzt bunt. Besonders die roten scheinen Grossenbacher zu warnen.

Es wird zum Nachtessen gerufen. Sogar dabei findet Marie-Louise kein anderes Thema und redet weiter: »Nun, mein Lieber, ich bin überzeugt, dass meine Tochter entführt oder verschleppt wurde. Was sagst du dazu?«

Grossenbacher schaut sie erstaunt an: »Habe ich etwas verpasst?«

»Was meinst du?«

»Nun, haben wir beschlossen, uns Du zu sagen?«

»Du versuchst abzulenken. Aber nein, haben wir nicht. Entschuldige, es ist mir wohl einfach so herausgerutscht. Das kann passieren, wenn ich mich bei jemandem wohl und sicher fühle«, meint sie und hebt das Glas. »Ich bin Marie-Louise.«

»Nun gut. Marie-Louise, ich heiße Paul.«

Grossenbacher säbelt gemächlich ein Stück Waadtländer Saucisson ab und steckt es sich in den Mund. Dann kaut er langsam und genießerisch. Ungeniert schiebt er eine Gabel Lauch hinterher. Er unternimmt alles, um nicht sprechen zu müssen.

»Und?« Sie wartet immer noch auf eine Antwort.

»Nun«, schmatzt er, »was soll ich schon sagen. Warum sind Sie, eh … bist du so sicher?« Ihm rutscht die unbedachte Frage heraus – sie hat ihm doch eben das Du angeboten – und sofort büßt er für seine Unvorsichtigkeit.

»Ha, habe ich endlich dein Interesse geweckt«, frohlockt sie. Ihre Augen strahlen mit der Weihnachtsbeleuchtung um die Wette. »Vielleicht fange ich von vorne an. Also, es war so: Meine Tochter hatte ein schlimmes Jahr hinter sich. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie schlimm. Nun Lini, entschuldige, ich nenne sie seit ihrer Geburt so. Richtig heißt sie natürlich A…«

»Darf ich noch nachschöpfen?« Die Köchin ist mit einer dampfenden Platte aus der Küche gekommen und steht jetzt am Tisch.

»Oh, bitte.«

Beiden schaufelt sie einen Berg Gemüse auf den Teller.

»Wo war ich stehen geblieben? Ah ja, Lini hatte wirklich ein schlimmes Jahr hinter sich. Aber ich will hier gar nicht weiter darauf eingehen. Jedenfalls hatte sie sich ganz zurückgezogen und hielt auch zu mir nicht mehr so viel Kontakt wie früher. Bis sie mir eines Tages eröffnete, dass sie, um endlich auf andere Gedanken und mit sich wieder ins Reine zu kommen, den Jakobsweg begehen wolle. Sie hatte sich für die Pilgerreise nach Santiago de Compostela in Spanien entschieden. Sie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen und machte sich im folgenden Frühjahr auf den Weg. Sie hatte geplant, von Ostabat in Frankreich oder von Roncesvalles in Spanien nach Compostela zu wandern. Doch da hätte sie die Pyrenäen überqueren müssen, weshalb sie schlussendlich doch erst von Pamplona aus losmarschierte. Sie wollte sich Zeit nehmen. Sie wollte sich aus jeder größeren Stadt via Skype bei mir oder bei ihrer Freundin, einer ehemaligen Arbeitskollegin, melden. Wir hatten die Stationen Puente la Reina, Logroño, León und einige weitere Orte, ich weiß gar nicht mehr, wie sie alle heißen.« Marie-Louise unterbricht ihren Bericht und starrt auf den Teller. Mit der Gabel stochert sie lustlos in ihrem Essen herum.

Grossenbacher beobachtet sie von der Seite und sagt dann leise: »Sie hat sich nie gemeldet.«

Marie-Louise tupft mit ihrem Taschentuch die Augenwinkel und putzt sich nicht gerade elegant die Nase. »Nein.«

Grossenbacher legt sein Besteck auf dem Teller zusammen.

»Natürlich habe ich mit den spanischen Behörden Kontakt aufgenommen.« Sie lässt ihren Tischnachbarn nicht zu Wort kommen. »Natürlich bin ich nach Pamplona gereist. Auch weiter in die anderen Städte. Dann bin ich ihr von Compostela her entgegengefahren, in der Hoffnung, irgendwo auf sie zu treffen. Aber niemand hat sie gesehen. Kein Pilger ist mit ihr einen Abschnitt, ein Etappenstück gewandert. Ich habe zusammen mit einer Übersetzerin jede und jeden gefragt, überall. Nichts. Ich habe Fotos herumgezeigt, an allen Rastplätzen und Pilgerstationen ihren Steckbrief aufgehängt. Vergebens. Auch die spanische Polizei hat nichts herausfinden können. Erst habe ich gedacht, dass die das nicht so ernst nehmen. Doch der Polizeikommandant von León hat mich auf eine Patrouille mitgenommen. Und ich muss sagen, die haben keinen Winkel ausgelassen. In Astorga haben uns Pilger erzählt, dass ihnen auf dem Weg immer wieder Männer aufgefallen seien, die am Wegrand gestanden haben. Sie hätten die Männer während mehrerer Tage gesehen. Dabei sei besonders auffällig gewesen, dass sie nicht wie Pilger ausgesehen haben. Vielmehr seien sie sauber und frisch am Wegrand gestanden, geradeso, als wären sie mit dem Auto direkt vom Hotel hergefahren. In den Unterkünften der Pilger erzählte man sich Geschichten von Wegelagerern und Banden, welche Frauen kidnappten. Auch die Polizei hat davon gehört, konnte jedoch keine eindeutigen Beweise zu diesen Aussagen sammeln.«

Die Blonde redet ohne Punkt und Komma, bis Grossenbacher mit einem Vieille Prune im Schwenker zurück auf seinem Platz neben dem Christbaum kapituliert. Der wallende Busen wird mich sonst noch im Traum verfolgen, denkt er und laut sagt er: »Haben Sie, eh … Hast du ein Foto von ihr?«

Mit einem Wink zur Bedienung deutet sie an, dass sie die Gläser nachfüllen lassen möchte. Erst nach einem kräftigen Schluck sucht sie in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. Marie-Louise legt ein Bild von einem etwa 14-jährigen Mädchen auf den Tisch und dreht es so, dass Grossenbacher es sehen kann.

Er stutzt, als er das Foto betrachtet. »Du willst mir aber nicht erzählen, dass du dieses Kind allein auf den Pilgerweg nach Compostela hast gehen lassen?« Grossenbacher schüttelt ungläubig den Kopf.

»Nein, nein! Sie wollte den Weg mit einem Freund, einem guten Bekannten, wie sie ihn nannte, begehen.«

»Und was sagt dieser Freund zum Verschwinden deiner Tochter? Er war ja dabei.«

»Leider nein. Er hatte zwei Tage vor Abflug einen Unfall, eine Brandverletzung am Arm und deshalb die Reise absagen müssen.«

»Aha, und eh … Du hast dein Kind allein ziehen lassen?«

»Wieso? Was hätte ich dagegen tun sollen?«

»Zum Beispiel verbieten. Sie war ja noch ein Kind. Findest du das nicht ziemlich verantwortungslos?« Grossenbacher macht Anstalten, sich zu erheben. Das muss ich mir nicht länger anhören, denkt er. So ein blödes Geschnatter, so eine blöde Gans.

»Wo willst du hin?«, fragt Marie-Louise erschrocken.

»Damit will ich nichts zu tun haben …«

»Was ist denn auf einmal mit dir los?«

»Lass mich! Sei einfach froh, wenn ich nichts gegen dich unternehme.« Grossenbachers Stimme hat den Gillette-Modus erreicht.

Die Blonde steht auf und stellt sich Grossenbacher mit wogender Brust in den Weg. »Bitte entschuldige, dass ich mich in dir getäuscht habe. Es tut mir leid. Ich habe von Herzen gehofft, dass du mir helfen würdest. Darf ich wenigstens nach dem Grund deines Meinungsumschwungs fragen?«

»Sie war noch ein Kind.«

»Wer?«

»Deine Tochter.«

»Wie kommst du denn auf diese absurde Idee?«, will Marie-Louise ebenso empört wissen.

»Das Foto.«

»Was ist mit dem Foto nicht in Ordnung? Da ist sie etwa 14 oder 15 … Aha, jetzt verstehe ich. Aber nein, mein lieber Paul, das Bild ist, was sage ich, vielleicht 20 Jahre alt. Leider habe ich keine neueren Bilder von ihr. Alle Fotos jüngeren Datums habe ich den spanischen Behörden überlassen. Das ist das einzige Bild, welches ich noch von ihr habe.«

Grossenbacher fixiert über ihre Schulter hinweg einen Punkt an der Wand des Cheminée-Raumes. Dabei spürt er, wie ihm einiges mehr als das Nachtessen und der Vieille Prune hochkommt. Er hat von Anfang an gewusst, dass er von all dem nichts wissen wollte.

»Bitte setz dich noch einmal, mein lieber Paul«, bettelt die Blonde, »es tut mir leid. Das ist mehr als ein riesen Missverständnis. Meine Tochter ist längst erwachsen. Sie wäre, oh, sie ist, vergangenen September 35 geworden.«

Der Alkohol ist Grossenbacher definitiv zu Kopf gestiegen, als er sich bereit erklärt, der Sache nachzugehen, sobald er wieder in Zürich im Büro ist. Er will nur weg. Er will einfach nur seine Ruhe. Und er verspricht auch nichts Genaues, bevor er die vier Treppen in sein Zimmer unter dem Dach hinaufstolpert. Denn trotz seiner momentan etwas bodenlosen Verfassung ist er sicher, dass er, wenn die Polizei bis jetzt nichts gefunden hat, sicher auch nichts finden werde. Wie auch! Erschwerend kommt hinzu, dass die Tochter in Lieli, also im Kanton Aargau, wohnt und in Spanien verschwunden ist. Also ist es eine Sache zwischen der Aargauer und der spanischen Polizei, die ihn eigentlich nichts angeht.

Ein paar Tage später, wieder zurück im Büro, die kurzen Neujahrsferien sind vorüber, stellt er ein paar halbherzige Nachforschungen an. Er informiert sich mehr pro forma und hofft, dass sich die Frau nicht mehr bei ihm melden werde. Aber da hat er sich gewaltig getäuscht. Die üppige Marie-Louise ruft ihn in der Folge mindestens einmal pro Woche an.

2

Etwa 25 Jahre früher

»Halt, wo willst du hin«, schrie ihm der Meisterknecht hinterher.

Er hörte nicht hin und rannte, als ginge es um sein Leben.

»Du gehst sofort wieder an deine Arbeit«, drohte Meisterknüttel, wie er von allen heimlich genannt wurde, »wenn du nicht willst, dass ich dich melde.« Der alte Widerling wirkte atemlos und spuckte den Priem auf den Boden, dass die braune Soße aufspritzte. Leiser, weil der Kleine bereits außer Hörweite war, grunzte der Knecht: »Und du weißt, was dann geschieht. Elender Taugenichts. Verdammter Höllenhund! Aus so einem wie dir wird sowieso nichts. Wie auch?« Wieder spuckte er den Tabaksaft aus.

Das kannte Luzius. Das hatte man ihm oft genug gesagt. »Aus so einem wie dir wird sowieso nichts.« Doch er hörte nicht auf den alten Sadisten und spurtete dem Dieb hinterher. Ein groß gewachsener blonder Flegel. Der Chef der Clique im großen Schlafsaal und damit unantastbar. Besonders für die Kleinen. Und Luzius gehörte zu den Kleinen. Der Blonde wollte eben mit einem höhnischen Grinsen und seiner Beute in der Scheune verschwinden. Luzius schlüpfte hinterher und bekam den Widersacher im Halbdunkel zu fassen. Der hochgeschossene blonde Bursche, genau wie Luzius Waise aus dem Heim, hatte ihm den Korb mit seiner halben Tagesernte Erdbeeren gestohlen, um damit sein eigenes Tagessoll erfüllen zu können. Zum Glück hatte er es noch rechtzeitig bemerkt.

»Du gibst mir sofort meine Erdbeeren zurück«, hatte er den Dieb angeschrien und gleichzeitig versucht, ihm den Korb aus der Hand zu reißen. »Das sind meine! Die habe ich geerntet. Du kannst deinen Korb selber füllen, verdammt!«

»Versuch es doch, du Zwerg. Wie du siehst, gehören sie jetzt mir. Schau selber, wie du dein Soll zusammenkriegst«, grinste der Blonde höhnisch und hielt den Korb hoch. Mit der anderen Hand versuchte er, Luzius abzuschütteln.

»Gib her, verdammt!« Mutig stürzte sich der Kleine auf den Blonden. Denn er wusste genau, was ihm drohte, sollte er sein Tagessoll nicht erfüllen: Isolierkammer ohne Nachtessen. Der gefürchtete kleine Raum mit der dicken Tür befand sich im Keller unter der Küche. Er hatte weder Fenster noch eine andere Lichtquelle. Dazu stank es nach vergammelten Küchenabfällen wie im Fresstrog drüben im Schweinestall. Er hatte bis heute noch keinen erlebt, der nicht zahm wie ein Lamm aus dem Bunker zurückgekehrt war. Er musste seine Ernte verteidigen, koste es, was es wolle. Lieber ging er das Risiko ein, Schläge, Prellungen oder gar ein blaues Auge einzufangen, als eine Nacht im Loch verbringen zu müssen. Er durfte sich den Diebstahl nicht gefallen lassen. Denn wenn er das durchgehen ließe, arbeitete er in Zukunft für zwei. Das waren die Regeln. Das war ihm klar. Brutal waren die ungeschriebenen Gesetze unter den Heimkindern. Und er wäre nicht der Erste, dem es so ergehen würde.

Blind vor Wut stürzte er sich auf seinen Gegner, biss die Zähne zusammen und schlug zu. Er war ein geübter Kämpfer. Klein, wendig und schnell. Rücksichtslos hämmerte er dem Großen die Fäuste ins Gesicht. Blut spritzte, und er bekam sogar Oberwasser. Obwohl sein Widersacher mehr als einen Kopf größer war, gelang es ihm irgendwie, ihn zu Fall zu bringen und sich auf ihn zu werfen. Doch wie er oben auf dem Blonden kniete, um auf ihn einzudreschen, griff ihm dieser in den Schritt.

Keine Reaktion.

Der Blonde wartete auf einen Schrei. Man konnte es seinen Augen ansehen. Doch es geschah nichts. Beide erstarrten mitten in der Schlägerei. Das Gesicht, das der Blonde schnitt, als er ein zweites Mal durch die weite Anstaltshose ins Leere griff, würde er nie mehr vergessen. Etwas zwischen Staunen und unendlichem Unverständnis. Nur in seinen Augen schimmerte etwas. Zuerst Erstaunen, dann Verwirrung und zuletzt Versuchung.

Es war der Blonde, der sich zuerst fasste und reagierte: »Uh …«, heulte er los, »was ist denn das, verdammte Scheiße? Das gibt’s doch nicht! He, allemal herkommen«, schrie er, so laut er konnte.

Es gelang ihm nicht, dem Blonden das Maul zu stopfen, indem er ihm rasch so viele Erdbeeren in den Mund schob, wie er nur konnte. Doch er war selber perplex, konnte kaum denken. Immer noch eine Faust zum Schlag erhoben, war mit ihm etwas geschehen, was er nie für möglich gehalten hätte. Und dieses Etwas hinderte ihn daran, erneut zuzuschlagen.

Der Blonde spuckte, hustete und wand sich unter seinen spitzen Knien. »Kommt her!«, brüllte er wie ein Schlachtschwein. Roter Erdbeersaft spritze Luzius ins Gesicht. »Das müsst ihr sehen. Alle!« Und plötzlich lag keine Spur von Panik mehr in seiner Stimme: »Dieser verdammte Scheißkerl! Kommt und schaut, er hat keinen Schniedel. Es ist ein Mädchen. Pfui! Ein beschissenes kleines Mädchen.« Und damit rammte er dem vor Schreck Erstarrten sein Knie in den Magen. Der Kleine wurde auf den Boden geschleudert und wand sich im Erdbeermus.

Ein brutaler Tritt ins Gesicht folgte. Es dauerte eine Weile, bis Luzius verstand, was geschehen war. Vorsichtig befingerte er seine Lippe. Sie war jetzt dick geschwollen. Der Eisengeschmack im Mund kam vom Blut und nicht von den Erdbeeren. Mit dem Ärmel wischte er sich den Rotz unter der Nase weg. Was hatte der Blonde eben geschrien? Er sei ein Mädchen? Benommen schüttelte er den Kopf und verstand nichts mehr.

Hatte man ihn nicht immer Luzi gerufen? Vielleicht hieß er gar nicht Luzius, wie er immer geglaubt hatte. Hieß er vielleicht Luzia? Oder sogar Luzifer, wie man ihn oft verhöhnte?

Luzia.

Er ist eine sie?

Was danach genau geschah, wusste er nicht mehr so genau, denn die wilde Rauferei hatte plötzlich an Wichtigkeit verloren und an den Auslöser, die gestohlenen Erdbeeren, verschwendete er keinen Gedanken mehr. Das Leben hatte ab sofort eine neue Dimension erhalten. Jetzt, wo er wusste, dass alles ganz anders war, dass alles, was einmal Gültigkeit gehabt hatte, nicht mehr zählte, musste er schnell lernen. Er musste schnell umdenken.

Und Luzia lernte schnell. Denn vieles um sie herum ergab plötzlich einen Sinn. Sie begriff, dass es Männchen und Weibchen gab, etwas, das sie bis jetzt nicht gekümmert hatte, und sie verstand auf einmal, was der Hofbauer mit dem Stier machte, wenn er ihn zu den Kühen führte. Die Beobachtung, welche sie neulich in der Waschküche gemacht hatte, ergab plötzlich einen Sinn. Der Blonde trieb es mit Jungs. Und damit verstand sie den wahren Grund, weshalb er ihr die Erdbeeren gestohlen hatte. Er wollte, dass sie ihm in die Scheune nachrannte. Er wollte, dass sie sich rauften, sodass er ihr ganz bewusst, aber wie zufällig in den Schritt greifen konnte. Folglich musste er schwul sein. Das Wort hatte sie schon oft gehört, aber nicht gewusst, was es bedeutete. Sie hatte den Blonden in der Waschküche gesehen und damit die Bedeutung des Wortes gelernt. Und damit hatte sie den Blonden in der Hand.

Nun, da sie wusste, dass sich nicht nur die Welt um sie herum verändert hatte, erkannte sie auch, dass sie noch einmal ganz von vorn anfangen musste. Sie war kein Junge. 13 Jahre ihres Lebens hatte sie geglaubt, dass sie einer wäre. Sie hatte Kleider wie ein Junge getragen. Ebenso hatte sie die Haare kurz geschnitten und im Nacken ausrasiert. Und sie fluchte genauso viel und oft wie die anderen Jungs.

Aber jetzt konnte ihr das egal sein.

Scheiß drauf, dachte sie.