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Josephine Rowe

Ein liebendes,
treues Tier

Roman

Aus dem Englischen von
Barbara Schaden

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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»A Loving, Faithful Animal« bei University of Queensland Press, Brisbane.

© Josephine Rowe 2016

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Miguel Sobreira / Arcangel

Umschlaggestaltung: Sieveking · Agentur, München

eISBN 978-3-95438-103-6

Inhalt

1. EIN LIEBENDES, TREUES TIER

2. DIE KÜSTENJAHRE

3. MOLE

4. FLUCHTMODUS

5. MADRUGADA

6. FEUERSCHUTZ

Für N.

Hier ist das Haus voll Kindheit,
geschrumpft auf einen dünnen roten Stolperdraht.
Keine Sorge. Nenn es doch einfach Horizont
& es bleibt für immer unerreichbar.
Hier heißt heute. Spring.

OCEAN VUONG

1.

EIN LIEBENDES, TREUES TIER

Es war der Sommer, in dem ein Pottwal krank in die Bucht trieb und tot am Strand von Mount Martha angeschwemmt wurde. Es war der Sommer, in dem die besten Zeichentrickfilme aus dem Programm genommen und durch Golfkriegsberichte in Infrarot-Bildern ersetzt wurden, und in dem deine Mutter sich Sprüche angewöhnte wie Ich war mal wirklich hübsch, wisst ihr? und Mann, war ich mal mutig! Während du gedacht hast, mutig sein heißt, nicht zu heulen, wenn einen die Nachbarstochter mit spitzen roten Fingernägeln in den Arm krallt, bis es zu bluten anfängt und sie selber aufschreit, weil ihr graust. Du warst noch dumm genug, dir einzubilden, das heiße siegen.

Ungefähr zu dieser Zeit tauchte dein Onkel Tetch immer öfter in der Garage auf. Am Neujahrsmorgen hast du das Rolltor hinaufgeschoben, um dein Fahrrad zu holen, und da stand er, barfuß neben dem Ölfleck, den das Auto deines Vaters zurückgelassen hatte. Die Garage war bestens aufgeräumt und sah aus wie aus dem Baumarktkatalog.

Pass auf, hast du Tetch gewarnt. Hier laufen jede Menge Spinnen rum. Rotrückenspinnen.

Weiß ich, sagte er und hielt dir einen seiner Schuhe hin, um dir die zertretenen Spinnenleichen an der Sohle zu zeigen.

Ich will nur mein Rad holen.

Tetch ging zur Wand, wo das Fahrrad stand, und schob es raus.

Ich hab die Klingel repariert, sagte er und ließ sie bimmeln.

Bei Onkel Tetch stimmte irgendwas nicht ganz, da waren sich alle einig. Andererseits stimmte bei allen irgendwas nicht so ganz – deine Schwester Lani konnte ihre Beine nicht zusammenhalten, und du hattest diesen Knoten in der Brust, der einfach nicht verschwinden wollte. Das seien nur Wachstumsschmerzen, wurde dir versichert, der Knoten ginge bestimmt bald weg; Tatsache war, dass er immer fester wurde. Und dann auch noch Belle, die arme Hündin. Was mit Belle passierte, war einfach nicht fair.

Als dein Vater fortging – Anfang Dezember, wenn die Sommersprossen wiederkommen und die Küche nach Insektengift stinkt –, schickte Tante Stell eine Postkarte, auf der stand: Es ist besser, geliebt zu haben und zu verlieren, als für immer mit einem Irren zusammenzuleben. Deine Mutter fand das so gut, dass sie die Karte auf den Kühlschrank stellte, und dort stand sie bis nach den Feiertagen, die kleinste ihrer kleinen Racheaktionen, zwischen lauter Weihnachtskarten mit Schnee, Rentieren und Kamelen.

Die Karte steht übrigens noch immer da, einsam und diskret stolz der hektischen Entweihnachtung des Hauses trotzend. Deine Schwester und du, ihr habt den ganzen Vormittag Lametta und Lichterketten aufgewickelt und Kunstschnee von den Fensterscheiben gekratzt, während Lani sich beschwerte: Warum! Scheiße! Müssen immer wir das machen?

Mum würdigt sie keines Blickes. Du weißt ganz genau, warum, sagt sie. Weil es Unglück bringt, wenn man es nicht wegräumt. Ru beschwert sich nicht, oder, Ru? (Nein.)

Lani lässt den Schaber fallen. Ha, sagt sie. Unglück. Als könnte es uns noch beschissener gehen als sowieso schon. Und Ru beschwert sich nur deswegen nicht, weil ihr nichts Besseres einfällt. Müsste jemand in ihrem Alter nicht Hobbys haben?

So, wie sie das sagt, klingt es nachgeplappert, sicher hat sie es von jemand Älterem übernommen. Grandma Mim vielleicht. Dabei hast du sehr wohl Hobbys. Sie sind bloß nichts zum Vorzeigen.

Ru hat eine lebhafte Innenwelt, nicht wahr, Schatz? Mum zitiert deine Kunstlehrerin, wörtlich.

Deine Schwester schüttelt den Kopf und wendet sich wieder dem künstlichen Raureif zu. Genau, eine lebhafte Innenwelt … Was soll das denn heißen?

Das heißt, mach nur weiter so, Mädchen. Du wirst schon sehen, was passiert. Ru, Liebes, kannst du mir mit diesen Weihnachtsmännern helfen?

Ich weiß nicht, warum wir uns überhaupt die Mühe machen, sagt Lani, leise genug, dass nur du es hörst, während du vom Stuhl steigst, um Mum die Deko abzunehmen.

Sie hat recht – mal abgesehen vom Fahrrad, war Weihnachten auch nicht viel anders als sonst: lahme Knallbonbon-Sprüche und Herumstochern in kalt gewordenem Grillhähnchen von Safeway, während im Wohnzimmer der Fernseher trübsinnig vor sich hin murmelt. Rotes und goldenes Lametta um die Antenne gewickelt, machte die Sache nur schlimmer.

Aber du sagst nichts. Sollen sie es doch miteinander ausmachen. Sollen sie wie Katzen übereinander herfallen, wenn es ihnen Spaß macht. Sobald du die ganzen Silberglasnikoläuse in ihre zerbröselnden Styroporsärge gepackt hast, gehört der Rest des Tages dir.

Jetzt steht Tetch in der Garage und sieht zu, wie du das Fahrrad über die sommerblonde Stoppelwiese schiebst. Toll fand er seinen Namen nie, das ist klar, aber er beschwert sich auch nicht. Du nimmst dir vor, ihn in Zukunft Les zu nennen, aber das ist gar nicht so einfach.

Okay, hat deine Mutter mal gesagt. Tetch mag nicht so schlau sein wie sein Bruder. Dafür ist er aber auch nicht so gemein.

Er ist ein bisschen jünger als dein Vater, und er hat nur acht Finger – die beiden Zeigefinger hat er sich abgesäbelt, um nicht nach Vietnam zu müssen. Ohne Schießfinger kann man nicht schießen. Die meisten Leute halten ihn wegen dieser Fingersache für einen Feigling, aber deine Mutter sagt, sie wüsste nicht, welcher Feigling in der Lage wäre, sich mit einer Bandsäge oder was eigenhändig zwei Finger abzuschneiden. Was er sich selber dabei dachte, keine Ahnung – sein Geburtsdatum war gar nicht ausgelost worden.

Sonst aber ist er harmlos. Täte keinem Tier was zuleide, außer um es zu erlösen, wie er es mal mit einem Fuchs gemacht hat, einem kleinen räudigen, der vor Juckreiz ganz wahnsinnig war. Heutzutage will er sich nur noch nützlich machen, hängt in der Garage rum und repariert Fahrradklingeln und so. Du hast dir zu Weihnachten gar nichts von ihm gewünscht, aber er hat ein gebrauchtes Malvern Star aufgetrieben, frisch gestrichen in Flaschengrün, ohne klappernden Kinderkram in den Speichen. Es ist das beste Nichtlebewesen, das du je besessen hast, und du fährst einhändig, legst die Hand genau in die Mitte zwischen die Hörnchen, als wäre es ein liebendes, treues Tier. Ein liebendes, treues Tier, das hat Dad immer über Belle gesagt. Es wird dir immer noch schlecht, wenn du an die Fellfetzen im Garten denkst, bis zum Zaun hin verstreut, so wie man manchmal ein zerfleischtes Kaninchen sieht oder ein Possum, aber nie einen Hund. Das war das Letzte, was ihr vier gemeinsam getan habt, eine grauenhafte Schnitzeljagd – Belles Reste einsammeln. Es war Dad, der das Ohr fand, ein einzelnes Ohr unter der Magnolie. Mit Seidenfell und völlig intakt, so perfekt, dass man am liebsten hineingesprochen hätte, als könnte sie noch hören, wie furchtbar sie vermisst wurde. Dad hob das Ohr ganz vorsichtig auf. Er hielt es in der flachen Hand und betrachtete es, und du hast seine Schultern zucken sehen; das hatten seine Schultern noch nie getan. Dann drehte er sich schnell um und marschierte ins Haus zurück. Er hatte Belle unter der Pyalong-Brücke gefunden, als sie noch ganz winzig gewesen war.

Vielleicht hat ein Fuchs sie erwischt. Das sagte Karlee Howard mit den spitzen roten Fingernägeln.

Quatsch. Mit einem Fuchs wäre Belle spielend fertiggeworden.

Du weißt, was es war. Natürlich hast du gesehen, wie es schwarz und geduckt in dem Meer aus hohem gelbem Gras kauerte. Es entzieht sich mühelos dem Zielfernrohr der Farmergewehre, der Känguruschützen. Erwischt wird es allenfalls mit einer Kamera, am unscharfen äußersten Bildrand: ein schmaler Schemen, ein aufblitzender Schwanz. Obwohl Wissenschaftler und Großwildjäger mit Zelten und Fallen hinter ihm her sind. Diese Kreatur ist viel zu gewitzt, es meidet ausgelegte Schlingen und bewegt sich so leichtfüßig, dass es selten tief genug in die Erde einsinkt, um einen Fußabdruck, ja irgendeine Spur zu hinterlassen. Seine Losung vergräbt es offenbar. Die Spurensicherung ergibt nichts als ein paar Gras- und Haarproben, Gewebe aus den aufgerissenen Bäuchen massakrierter Haustiere. Ungenügende Beweislage.

Panther nennen es die Einheimischen.

Du weißt, dass es nicht der Panther deines Vaters ist, der während des Kriegs in einer Lattenkiste aus Sumatra hergebracht wurde, weil seine Mutter abgeknallt worden war, aus Angst oder Vergnügen. Ein Panther lebt, wenn er Glück hat, zwanzig Jahre, und dieses Pantherjunge aus Sumatra hatte kein Glück – natürlich nicht –, erst verlor es die Mutter, und dann wurde es eingefangen und nach Australien geschmuggelt, wo es ein einsames Maskottchendasein auf dem Militärgelände Puckapunyal führen musste. Es muss schwach geworden sein, zu Tode gelangweilt auf diesem Stützpunkt, wo es andauernd hinter Gittern saß. Sicher fragte es sich, wo seine Artgenossen waren, wann sie es endlich holen kämen. Bestimmt fürchtete es sich vor den nächtlichen Schreien, ungewohntem Vogelgekreisch und Eulenrufen, dem Gebrüll männlicher Koalas – Sprachen, die es nicht verstand. Unterdessen diente seine Silhouette als Zierde für alles, was sich nicht bewegte, aber auch für manches Bewegte: den Arm deines Vaters zum Beispiel. Als du klein warst, kletterte der tätowierte Panther geschmeidig und schön mit ausgefahrenen Klauen den Bizeps hinauf, und dein Vater konnte ihn brüllen und sich krümmen lassen. Aber je weiter der Krieg zurücklag, desto mehr verblasste er, die Konturen weichten auf und zerfaserten, und das Tier ging in die Breite und verlor seine Wildheit, weil die bewegten Muskeln unter ihm müde und sehnig wurden.

Was ist aus ihm geworden?

Dick geworden, Schatz. Freundlich und einfältig wie ein Labrador, aber er musste weg. Ausquartiert in einen Zoo im Norden.

Was immer auch Belle zerfleischt hatte – dieses andere Etwas, das durch die Gärten schlich, um Katzen oder Hennen zu meucheln, weil es die Beuteltiere und bazillenverseuchten Wildkaninchen satthatte –, Mum sagte, bevor es sich auch noch ihre Angoras holt, macht sie einen Bettvorleger draus. Um ihnen Belles grausiges Schicksal zu ersparen, zerrte sie den Kaninchenstall zum Haus herauf, wo sie ihn ständig im Auge haben konnte. Manchmal patrouillierte sie abends an der Grundstücksgrenze entlang, hinter der es nur Weideland und Brombeerdickicht gab – und Wesen, die sich darin versteckten.

Deine Fahrradmuskeln wollen noch nicht so recht – die staubigen Hügel strampelst du im Stehen hinauf, und die Sonne liegt warm wie Öl um deine nackten Schultern. Und obwohl deine Lunge wie Feuer brennt und eine Art Schlafsand in deinen Augenwinkeln entsteht, bricht diese Enge in deiner Brust plötzlich auf, und der helle Nachmittag ergießt sich hinein. Das neue Jahr wird besser. Ganz bestimmt. Unbedingt. Auf einer Kassette, die jemand für deine Schwester aufgenommen hat, gibt es ein Lied, das dir nicht mehr aus dem Kopf geht. Sogar wenn es so steil wird, dass du absteigen und schieben musst, ist das Lied noch da, hinter den Augen; es geht um eine Straße ins endlos Weite und darum, dass dir die ganze Welt offensteht.

Wo die Neubausiedlung entsteht, lässt die Steigung nach, die Straße wird wieder eben. An manchen Tagen tut es gut, dort herumzulaufen, auf die Dachskelette zu klettern oder durch die vielen Zimmer zu wandern, in denen noch nichts passiert ist. Die Howards bauen dort oben, sie wollen ein größeres Haus. Ein Billardzimmer, zwei Bäder und unzählige Schlafzimmer. Dort hat Karlee deinen Schneid getestet.

Du darfst sie nicht mehr treffen. Mum hat die Reihe verschorfter Halbmonde in der Nähe deiner Ellenbogenbeuge entdeckt – wie Bissspuren von einem fremdartigen Wesen mit fremdartigen Zähnen.

Wer war das?, wollte sie wissen. Warum um Himmels willen hast du sie das tun lassen? Dich so zu entstellen!

Du hast nicht geschrien oder so, hast völlig reglos in diesem Raum gestanden, von dem Karlee behauptete, dass hier bald ihr Zimmer wäre, und keinen Mucks von dir gegeben. Hast ihr Schnaufen an deiner Wange gespürt, während sie dich scharf beobachtet hat, ob du dir irgendwas anmerken lässt. Nichts. Sie hat fester gekrallt und dann zu fest. Als sie zurückgezuckt ist und sich hektisch die Nägel ausgepult hat, war es tatsächlich wie ein Sieg. Dann aber sagte sie: Jetzt du, und hielt dir den Arm hin, und du bist ausgestiegen. Schneid hattest du schon, aber eben nur diese eine Sorte.

Weichei, lachte sie.

Wie auch immer, jetzt darfst du sie nicht mehr treffen. Du wirst nie sehen, wie dieses Zimmer aussieht, wenn es Wände hat, wenn es ein Zimmer ist.

Du fährst weiter, vorbei am halb eingestürzten Heuschuppen, wo Matthew Collins seine Finger in Renee Tillman gesteckt hat, und wo der alte Schürfbagger zerfällt und im Boden versinkt wie ein totes Mastodon. Dann ist die Asphaltierung zu Ende, es geht weiter auf Kies, der sich unter den Reifen verschiebt, schließlich hört auch der Kies auf, und ein Feldweg mit tiefen Furchen beginnt, die dich zähneklappernd durchschütteln. Irgendwann siehst du nur noch drei Farbstreifen, Straße, Gras, Himmel, gewellt wie eine flatternde Fahne, und es ist, als sei die Zeit stehen geblieben, wie traumloses Schlafen oder waches Träumen, bis die Straße in einem Verhau aus krummen Zaunpfosten und Drahtrollen endet. Du hievst das Fahrrad darüber und schiebst es durch durstiges Gras auf eine Gruppe von Zypressen zu, die sich aus Heuschrecken und Staub erheben, eine stille grüne Insel. An der Zypressenrinde hängen die Hüllen von Zikadenlarven, und du achtest darauf, keine zu zerquetschen, als du dein Fahrrad an einen Stamm lehnst, dich auf dem Polster aus Zypressennadeln niederlässt und aus dem Bund deiner Shorts einen Lederbeutel hervorziehst. Als dein Vater fortging, hat er seine Rauchsachen vergessen – Zigarettenpapier, Filter und Streichhölzer, den Tabak, der nach süßem Portwein, Rum und Rosinen riecht. Du hast die Sachen an dich genommen, bevor deine Mutter oder Lani dir zuvorkommen konnte, denn eines weißt du: Zigaretten sind Macht. Eine Form von toxischer Magie, die einen Streit entfachen, einen Streit beenden kann. Zigaretten sind wichtiger als Milch, als Brot, als Uniformen oder Schulgeld. Das weißt du schon lang; das hast du verstanden, als du morgens mit Schulklamotten aus dem Haus gegangen bist, die haarscharf daneben waren; zwar waren sie sauber, hatten auch die richtigen Farben, aber das fehlende Schulabzeichen war eine klare Botschaft: arm. Dagegen warst du machtlos, du hattest nur die Wahl: fies werden oder stillhalten und so tun, als gäbe es sowieso nichts, was du unbedingt haben wolltest. Lani hatte sich schon für Ersteres entschieden; du hast genommen, was übrig war.

Du weißt, wie viel Tabak du nehmen musst, du hast zugeschaut, wenn Dad sich am Küchentisch eine gedreht hat; in Gedanken war er irgendwo anders, weit fort vom Sonntagvormittag, von Pulverkaffee und aufgebackenen Brotkanten, von dieser Küche, die sich leise mit seinem Rauch füllte, von Rodriguez, dem Räucherzeug mit dem ekelhaften Erdbeeraroma, das Mum am Wochenende gern abbrennt. Du hast ihm in fetten und in mageren Zigarettenzeiten zugeschaut – drei Tage vor dem Zahltag drehte Dad sie so dünn wie Zweige. Jetzt kann aber ruhig eine fette Zigarettenzeit sein, denkst du, schließlich ist der Tabak schon mit getrockneten Orangenschalen versetzt, die ihn davor bewahren sollen, zu Staub zu zerfallen. Du drehst eine bleistiftdicke Zigarette, befeuchtest den gummierten Papierrand mit der Zunge, klebst sie zu. Nicht perfekt, ein bisschen klumpig, aber es geht schon.

Aus dem Versteck deines Zypressendunkels siehst du jeden Näherkommenden, lang bevor du selber gesehen wirst. Sofern sich nicht jemand bäuchlings durchs Gras an dich heranrobbt, was natürlich sein könnte. Aber jetzt ist Schlangenzeit, und da müsste man schon, um mit Dads Worten zu sprechen, dumm wie zehn Meter Feldweg sein. Kurz bevor er gegangen war, hatte er versprochen, mit euch zum Meer zu fahren, um den Wal zu sehen – bevor man sich geeinigt hätte, wie man ihn wieder fortschaffte. Du und Lani, ihr hattet nie einen aus der Nähe gesehen, weder tot noch lebendig. Letzteres wäre besser, aber fürs Erste täte es auch der tote. Es kam in den Nachrichten, dieses vom Meer ausgespiene Wunder. Überlegt wurde, ob man den Wal sprengen oder begraben oder durch Bucht und Meerenge zurück ins Offene schleppen sollte. Noch war Zeit. Morgen oder übermorgen, sagte Dad. Wir fahren hin. Aber dann passierte die Sache mit Belle, und am Morgen danach war das Auto weg, zusammen mit seinem Seesack – sicheres Zeichen dafür, dass er diesmal wieder was Längeres vorhatte –, und du hast vom Sofa aus gesehen, wie signalrote Seile um den Wal gespannt und der Kadaver mit Kränen zentimeterweise zurück zum Wasser gezogen wurde.

Die Zigaretten sind deine Privatrache, oder vielleicht sind sie auch etwas anderes: ein Locksignal, wie eine Fuchspfeife. Etwas, das deinen Vater auch gegen seinen Willen zurückbringt. Jetzt das brennende Streichholz ans Papier halten, tief einatmen, nicht husten. Nicht husten! Dann wird er mit langen Schritten den gelben Hügel heraufkommen und dir eine kleben. Das wäre das Harmloseste. Aber nicht mal das passiert.

Was ist dir zum Vermissen geblieben? Mehr, als dir wahrscheinlich in Erinnerung ist. Mehr als der Geruch nach Fichtenharz und Diesel. Mehr als bearbeitete Lederteile, mit deinem Namen eingestanzt, Tiere aus Flaschenkorken und Ostereifolie; seine Basteleien, um Hände und Geist zu beruhigen. Mehr als Auf-die-Schultern-gesetzt-Werden, damit du den Hasen im Mond besser sehen kannst; mehr als die Namen von Sternbildern und sieben Slangausdrücken für Pferd. Mehr als So muss man eine Kaktusfeige essen und So hypnotisiert man einen Wellensittich und So überlistet man Durst – man reißt sich einen Hemdknopf ab und steckt ihn in den Mund wie ein Bonbon. Mehr als Messertricks und Ammenmärchen und Scherzfragen – Was ist grün und hängt an der Wand? Soweit du dich erinnerst, hat er niemals aus einem Buch vorgelesen, er kann seine Gedichte und Lieder und Witze alle auswendig, um zu jeder passenden Gelegenheit etwas aufzutischen.

Dein Vater. Sein Kopf ist eine Gespensterfalle. Wenn er den Mund aufmacht, muss er alles daransetzen, dass sie ihm nicht unter Geheul entkommen. Aber sehen kann man sie, wie sie in der Dunkelheit hinter seinen Augen hin und her huschen wie ein balinesisches Schattenspiel. Nachts lässt seine Wachsamkeit nach. Pech für die anderen. Jetzt ist er irgendwo unterwegs. Verplempert seinen Silvesterabend in einem schäbigen, heruntergekommenen Zimmer mit einem Laken als Vorhang und einer Matratze, getränkt von Männerschweiß. Du hast solche Zimmer gesehen. Wie kann es dort besser sein als zu Hause? Diese traurigen, vergammelten Zimmer, aus denen ihn Mum immer wieder herausgeholt hat, während ihr beide, du und Lani, im Auto gewartet habt. Zu Tode gelangweilt, Malzbonbons lutschend, in gestohlenen Wartezimmer-Zeitschriften blätternd – 20 Tipps für den Wechsel!! – und nicht begreifend, wie sie es immer wieder schaffte, ihn aufzuspüren. Nicht begreifend, warum sie ihn überhaupt aufspüren wollte. Wochenlang hörte sie nichts, dann kam eines Morgens ein Anruf, ein Hinweis, und sofort war sie elektrisiert. Schule fällt aus, sagte sie, heute brauch ich euch beide. Wofür genau, wusstet ihr beide nicht – um mit Parkmünzen in der Hand auf einen herannahenden Kontrolleur zu lauern? Mum zog im Rückspiegel ihren Lippenstift nach und bauschte sich das Haar – Okay, Mädchen, drückt die Daumen –, dann stieg sie aus und hastete die Stufen eines abstoßend wirkenden Hauses hinauf.

Dumme Kuh, sagte Lani, sobald Mum in diesem Wohnheim verschwunden war. Es ist total peinlich; er schlägt sie ja doch bloß wieder.

Wenn man sie in solchen Augenblicken sah, mit verklebter Wimperntusche und abgetretenen Absätzen, konnte man sich kaum vorstellen, dass sie mal jung gewesen war, Schwimm-Pokale und ein Model-Portfolio von Vivien’s hatte. Die Beweise dafür, dass es dieses Leben gegeben hatte, waren zum größten Teil anderswo – verpfändet oder konfisziert oben im Norden, das hieß: Das-Haus-meiner-Kindheit, das hieß: Großeltern. Diese Leute, die nur als zittrige Handschrift auf Geburtstagsund Weihnachtskarten in Erscheinung traten, in Gestalt wattierter Kuverts mit einem Geschenk darin: Glitzerbriefpapier oder Bücher, die du schon vor Jahren gelesen hattest. In der Absenderadresse saß das Wort Merewether wie eine Giftspinne. Diese Merewether-Villa, pflegte Dad zu sagen – dabei war es gar keine, Mum bestand darauf: das ist doch keine Villa, wirklich nicht –, dort war alles.

Zum Vorzeigen hatte sie jetzt nur noch einen Polarfuchspelz und ein Foto von sich auf dem Fahrersitz der berühmten grünen Corvette, ein paar Jahre bevor sie sie verkaufen musste, um ein Darlehen zurückzuzahlen. Die Corvette strahlte, die cremefarbenen Türen sahen aus wie Flügel, und das Verdeck war zurückgeklappt. Du bist auch schon vorhanden, als leichte Wölbung unter ihrem orangefarbenen Kaftan, Baby Lani sitzt auf ihrem Schoß wie eine Puppe. Auf dem Foto ist nicht zu ahnen, was noch kommt. Und sie ahnt auch nichts. Sie lacht hinter ihrer Audrey-Hepburn-Sonnenbrille und hat keine Ahnung, dass sie die Brille eines Tages brauchen wird, um Blutergüsse und schlaflose Nächte zu verbergen.

Dies ist Exponat A im Museum Möglicher Zukünfte: das Leben, das sich glatt wie Atlasseide hätte entrollen können, hätte sie nur ihre schlanken Beine in den schönen Wagen zurückgeschwungen, den Mann mit der Kamera stehen lassen und wäre schnellstmöglich in die entgegengesetzte Richtung davongebraust. Dein Vater hätte ja das Foto behalten können.

Aber sie fuhr nicht davon. Stattdessen verkaufte sie das Auto und versuchte jede einzelne Nacht ihres Lebens, deinen Vater aus dem Dschungel, aus dem Sumpf zu holen, fort vom Lärm unsichtbarer Gewehrschüsse, von unheimlichen Lichtern zwischen Bäumen.

Als Lani fünf oder sechs war, schon alt genug, um zu begreifen, was das Geschrei bedeutete, das du noch nicht verstehen konntest, kletterte sie oft zu dir ins Gitterbett, krümmte sich um dich wie eine Muschelschale – Groß C klein c – und flüsterte dir zu, dass es bald vorbei wäre. Sie summte dir alle Melodien vor, die ihr einfielen – Werbejingles, Lieder aus der Schule –, um das Zerschmettern von Geschirr zu übertönen, den dumpfen Schlag, der vielleicht von dem an die Wand knallenden Kopf deiner Mutter kam. Später warst du diejenige, die zu deiner Schwester ins Bett schlüpfte und Aufnahme fand, ein oder zwei Jahre lang. Kopf an Schwanz, Sardinen auf Toast, bis sie abgebrühter war und ihr Trost zur Handelsware wurde, die du dir mit Geld oder Gefälligkeiten – wie Abspülen – erkaufen musstest. Und irgendwann hattest du ihrer Begehrlichkeit gar nichts mehr anzubieten (Ich les diese bescheuerten Vampirbücher doch nicht mehr, du blöde Kuh), und sie sagte, sie habe es satt, mit deinen Scheißfüßen in ihrem Scheißgesicht aufzuwachen. Irgendwann warst du selber zu alt für so was und, mit zwölf, auch zu stolz. So war das.

Du hast ein Bild im Kopf, bist aber nicht ganz sicher, wie es dorthin gelangt ist. Vielleicht stammt das Foto auch aus den Corvette-Jahren, dieses allerdings ist schwarzweiß: zottelige Männer, die im Halbkreis um eine große Grube stehen. Als Betrachter kann man ihre Gesichter nicht erkennen; man sieht sie nur von hinten, und sie haben einander locker die Arme um die Schultern gelegt. Man sieht auch nicht, was in der Grube ist. Aber irgendwie weiß man es und wüsste es lieber nicht. Im Vordergrund zwei gekreuzte Gewehre; sie sind mit dem Lauf voran in die Erde gerammt und bilden ein X. Das eine Gewehr gehört deinem Vater. Das und der Panther und das Gesicht deiner Mutter: das ist alles, was du vom Krieg weißt.

Nach drei fetten Zigaretten ist dein Hirn nikotinbenebelt, und der Nachmittag sirrt vor Hitze. Du scharrst mit der Ferse die abgefallenen Zypressennadeln zu Häufchen. Manchmal bleiben Sachen hier zurück – Bierflaschen, Knochen, ein angesengtes Stück Schlauch, einmal eine schmuddelige Baumwollunterhose in einer zusammengeknüllten Karodecke –, und du weißt, dass der Platz nicht nur dir gehört. Aber heute sind hier nur die zurückgelassenen Hüllen von Zikaden, die jetzt sechs Wochen Zeit haben, um herumzufliegen, Lärm zu machen und Sex zu haben, bevor sie sterben – ein sehr mieser Tausch nach sieben untätigen Jahren unter der Erde.

Mum hat eine ganze Kollektion davon in Reih und Glied auf dem Küchenfensterbrett liegen, was Lani absolut widerlich findet. Tante Stell stimmt ihr zu; das kann man überhaupt nicht anschauen, sagt sie, eine Parade aufgeschlitzter Rücken, da juckt es sie gleich überall. Aber Mum sagt, das sind Glücksbringer. Für sie teilt sich die ganze Welt in Glückspilze und Pechvögel, dich und deine Schwester eingeschlossen. Lanis Geburtstag ist am vierten (Pech), deiner am einundzwanzigsten (Glück). Es bringt eine gewisse Verantwortung mit sich, dieses Glück, man muss gut darauf aufpassen, es könnte sich abnutzen oder ausdünnen beim Erwachsenwerden.

An den höheren Ästen hängen noch mehr Zikadenhülsen. Hinaufzuklettern ist nicht weiter schwer, noch nicht mal mit eingenebeltem Kopf. Sieben ist eine gute Zahl. Sie geben ihren Halt an der Baumrinde nicht kampflos auf, manche verlieren dabei auch ein Bein oder zwei. Aber die restlichen Beinchen haken sich in die weiche Baumwolle deines T-Shirts und halten sich fest, als wüssten sie, wer du bist, und vertrauten dir jedenfalls.

Auf den grünen Baumarmen reitend, möchtest du sie am liebsten alle aufbewahren, vielleicht zwischen den Seiten eines schweren Buchs pressen wie Eukalyptusblüten – vielleicht gehen auch die weiten Wiesen und der endlose Himmel der letzten Dezemberstunden darin ein. Wenn du die Augen schließt, kannst du das Bild einen Moment lang festhalten, und es ist perfekt; gleich darauf aber beginnen die Ränder zu zerfließen, und es löst sich alles auf. Nach einer Weile tut es richtig weh in den Augen, zu grell und zu leer, und der Nachmittag lässt sich nicht am Verrinnen hindern, unmöglich.

Du zündest dir noch eine an und lässt das Streichholz zu einem Miniaturkohlestift niederbrennen, zum Zeichnen. Auf die Innenseite des Streichholzbriefchens.

Im Kunstunterricht zeichnest du Habitate. Nicht Landschaften: Habitate. Orte, die warten. Wenn du es schaffst, sie einladend genug zu machen, könnten dort Menschen und Tiere einziehen.

Sehr elegant, diese Bäume, diese Hügel, sagt Miss Dawes. Aber meinst du nicht, mit ein paar Schafen oder so wäre alles noch hübscher?

Die kommen später, sagst du. Irgendwas kommt; aber keine Schafe. Aus der Ferne sehen Schafe immer aus wie Parasiten.

Parasiten?

Ja, wie Zecken. Oder flauschige Läuse.

Ist mir nie aufgefallen. Aber du darfst das ganze Blatt verwenden, weißt du? Wir haben stapelweise Zeichenpapier, du musst nicht alles in eine Ecke quetschen.

Okay, sagst du, obwohl du es gernhast, wenn etwas klein genug ist, dass man es notfalls schnell auskritzeln, wieder zurücknehmen kann.

Sie beugt sich vor, um das fein schraffierte Eukalyptuswäldchen zu studieren, die wirbelnde Nachtluft, wie die fedrigen dunklen Haarkringel in ihrem Nacken, die jetzt schweißfeucht an der Haut anliegen. Was weißt du über dich in solchen Momenten? Du atmest ihren Geruch nach Wald, nach kühler Erde ein – ihre Hände sind voller Flecken vom Ton, den sie in großen Klumpen auf einer Steinplatte geschlagen hat. Ton zum Töpfern. Aber die Jungen rollen nur stumpfe Schwänze daraus, schleimig vom Schweiß ihrer Handflächen, und treiben damit die Mädchen vor sich her. Miss Dawes ist kaum älter als Lani, aber sie schreit nie. Sie fragt sich nur laut, wie es kommt, dass sie sich mit der Anatomie so gut auskennen. Das lässt ihre idiotischen Gesichter dunkelrot anlaufen.

Wie wär’s mit Pferden?, flüstert sie verschwörerisch. Lässt zwei Finger über dein Blatt galoppieren. Als wärst du ein Kind.

Ja, vielleicht Pferde, sagst du achselzuckend. Am Schluss.

Okay, sagt sie. Am Schluss. Wenn sie dafür bereit sind, oder?

Eine lebhafte Innenwelt, hat sie geschrieben. Aber das schreibt sie vielleicht bei jedem, den sie nicht versteht. (Du bist mir eine!, sagt Tante Stell manchmal und zieht dich zu einer einseitigen Umarmung an sich. Zu alt für Teddybären, zu jung für Wölfe, wie?)

Du reißt das letzte Streichholz an der Reibfläche an, hältst es an das Heftchen und lässt die Skizze von der Flamme verzehren. Nie gerät etwas so, dass es echt aussieht.

Ein heißer Wind rüttelt an deinem Baum, der letzte Nordwind des Jahres. Er kommt aus dem Landesinneren, aus der Wüste, und wird den Hume Highway entlang wehen, bis nach Melbourne hinein, wird auf seinem Weg zum Meer Feuerwerksrauch und Radio-Countdowns und halb gare Vorsätze einsammeln und dann alles über der Bass-Straße auskippen. Es kommt dir alles vor wie ein letztes Mal, ein allerletztes, als wäre nicht einfach ein Jahr vorbei, sondern ein ganzes Jahrhundert. Eine Welt. Deshalb singt sich alles, was dort unten im Gras lebt, seine Insektenseele aus dem Leib.