Yoko Ogawa
Aus dem Japanischen übersetzt
von Sabine Mangold
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Kohaku no matataki« bei Kodansha, Tokio.
© Yoko Ogawa 2015
© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2019
Alle Rechte vorbehalten
Yoko Ogawa wird durch das Japan Foreign-Rights Centre vertreten
Umschlagmotiv: Vanessa Skotnitsky / Arcangel
Umschlaggestaltung: Sieveking · Agentur, München
eISBN 978-3-95438-105-0
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
An heiteren, warmen Nachmittagen, wenn ich Lust habe, Herrn Bernstein zu treffen, brauche ich ihn nur auf einer der Bänke zu suchen, die hinten im Park vor den Bäumen aufgereiht sind. Er sitzt stets auf der mittleren, wohin der Schatten des Laubs nicht reicht, bevorzugt in der vollen Sonne. Den verknöcherten Rücken gekrümmt und den Kopf leicht geneigt, verharrt er ganz still, wobei nur sein linkes Auge zum Licht emporblickt.
Von der Terrasse des Salons aus lasse ich meinen Blick durch den Garten schweifen, und wenn ich seine Silhouette entdecke, gehe ich behutsam auf ihn zu.
»Guten Tag.«
»Ah, Sie sind es. Geht es Ihnen gut?«
»Ja.«
Ich nehme an seiner rechten Seite Platz.
Seine Stimme ist sehr leise. Selbst wenn er überrascht ist, lacht oder sich ärgert, gibt er kaum mehr als ein Hauchen von sich. Wenn er von jemandem, der sich in einiger Entfernung aufhält, etwas möchte, wartet er geduldig, bis die Person nahe genug ist.
Es fiel denjenigen, die ihn gefunden haben, sofort auf, dass mit seiner Stimme etwas nicht in Ordnung war, und sie schickten ihn zu einem Spezialisten, aber irgendwann hatte jemand entschieden, da sei nichts mehr zu machen.
»Das hat Mutter uns verboten.«
Er erklärte, dass lautes Sprechen und geräuschvolle Taten zu »Mutters Verboten« gehörten, so als wäre sie immer noch an seiner Seite.
Mutters Verbote. Diese Worte sagte er noch leiser als alle anderen, zaghaft zwar, aber mit großer Zuneigung. Wer ihm zuhört, versteht sofort, wie sehr er seine Mutter geliebt hat.
Ich mag seine Art zu sprechen. Sie erlaubt mir unter dem Vorwand, ihn so besser zu verstehen, seinem Gesicht ganz nah zu kommen. Dann kann ich mich dem Gefühl hingeben, der einzige Mensch zu sein, der dieses geheimnisvolle, kaum noch hörbare Hauchen vernimmt, das durch nichts und niemanden gestört werden kann, weder vom Wind, der die Blütenblätter streift, noch von den Bienen, die sich darin verbergen.
Wir unterhalten uns eine ganze Weile.
Hin und wieder dringen aus den geöffneten Fenstern der Residenz die Töne einer Violine, die gestimmt wird, oder einer Arie, die jemand einübt.
»Aha … So ist das … Und dann?«
Wenn ich ihm beipflichte, klingt auch meine Stimme, als würde ich die Anweisungen seiner Mutter befolgen. Sie wird zu einem Wispern, das ich in seine Ohrmuschel hauche.
Wenn der Schatten, der den Lauf der Sonne begleitet, sich über unsere Füße legt, rücken wir eine Bank weiter. Ich vergewissere mich, dass das Sonnenlicht auch hier auf sein Gesicht fällt.
Wir sitzen in diesem Garten, ohne dass ich die Sonne direkt sehen kann, aber die Luft flimmert, als würde der azurblaue Himmel sich darin auflösen. Im Sonnenlicht gibt es Wellen und Wirbel, und auf dem Moos glitzern Tautropfen. Das Licht scheint sich durch die breite Allee zu ergießen, um auf den Zweigspitzen eine goldene Gischt zu hinterlassen.
Sogar während wir uns unterhalten, blickt sein linkes Auge nicht in meine Richtung. Wie sein Name besagt, hat es die Farbe von Bernstein. Ein kühl glänzender, durchscheinender Augapfel, in dessen Zentrum ein goldenes Licht entspringt. Welche schicksalhafte Fügung hat ihm wohl in jungen Jahren, als seine Pupille noch tiefschwarz war, den Namen »Bernstein« eingebracht? Vielleicht hat er sich in seinem linken Auge kristallisiert.
Andere Bewohner spazieren an uns vorüber und nicken zum Gruß. Herr Bernstein bemerkt sie nicht, da er ins Sonnenlicht starrt. Auch sein rechtes Auge, das wahrscheinlich jahrzehntelang über die Maßen strapaziert wurde, um das linke zu entlasten, vermag sich nur schwer zu akkommodieren, sodass mein Spiegelbild bloß schemenhaft darin zu erkennen ist und bei jedem Blinzeln zu verschwinden droht.
Ich entdecke in seinem Haar Flusen von Pusteblumen, die sich, von irgendwoher herangeweht, dort verfangen haben, und zupfe sie sanft weg.
»Pardon.«
Er wirkt verlegen, und einen Moment lang entspannen sich die Züge um seinen Mund. Wir ziehen um auf die letzte Bank, wo die Sonnenstrahlen gerade noch hinreichen. Mittlerweile sind wir so eingespielt, dass wir uns ohne weitere Verständigung im selben Atemzug erheben, um den Platz zu wechseln. Die Schatten sind länger geworden, und mir fällt auf, dass sich die Färbung des Himmels verändert. Ist ein leichter Wind aufgekommen? Das Licht flackert über dem Rasen. Auf der eisernen Pforte im Westen flattern die Spatzen auf und nieder.
Ganz gleich auf welcher Bank Herr Bernstein sitzt, sein linkes Auge dreht sich reflexhaft dorthin, wo es am hellsten ist. Das einfallende Licht lässt die geheimnisvollen Einschlüsse in den goldenen Schichten noch deutlicher hervortreten, und sie wecken in mir das Bedürfnis, sie herauszuklauben, um sie aus der Nähe betrachten zu können oder mit dem Zeigefinger durch die Bindehaut dort hineinzustechen. Die Fingerspitze würde dann endlos in der tiefen Stille seines Innern versinken.
Mir ist bewusst, dass es eine Illusion ist zu glauben, seine Stimme sei allein für meine Ohren bestimmt, denn bei ihm sind außer mir noch andere, die ihn genau verstehen können. Der wahre Grund für sein Flüstern ist nämlich, dass es sich an diejenigen richtet, die in den tiefen Schichten seines Bernsteinauges eingeschlossen sind.
Wenn auch die letzte Bank im Schatten liegt, beenden wir unser Gespräch und überqueren den Rasen, um zur Residenz zurückzugehen. Arm in Arm schlendern wir nebeneinander her.
»Also, dann bis morgen!«
»Ja, bis dann.«
Nachdem wir uns voneinander verabschiedet haben, geht jeder in sein Zimmer.
Die Mutter wollte, dass ihre drei Kinder einen neuen Namen annahmen, als sie aus dem Familienhaus in die Villa umgezogen waren, die Vater früher für seine Arbeit genutzt hatte.
»Von heute an vergessen wir unsere bisherigen Namen«, sagte sie mit strenger Miene, wobei sie jedem fest die Hand drückte.
»Wenn ihr es wagt, ihn auszusprechen, und sei es auch nur versehentlich …«
Sie machte eine bedrohliche Pause.
»… dann verwandeln sich die einzelnen Laute eures Namens in Samen, die sich augenblicklich in euren Wangen einnisten. Und es wird nicht lange dauern, bis unzählige Dornen hervorsprießen.«
»Was?«
Der ältere Junge schlug unwillkürlich die Hände vor den Mund.
»Und jedes Mal wenn ihr etwas sagen wollt, werden euch die Dornen schmerzhaft stechen. Sich in euer zartes Wangenfleisch bohren, hört ihr? Die Widerhaken werden so tief eindringen, dass man sie nicht mehr rausziehen kann.«
»Aber wieso?«
Die Besonnenste unter ihnen war die große Schwester. Der jüngste Bruder war noch zu klein, um es zu verstehen.
»Ein böser Hund hat uns verflucht. Es tut mir sehr leid.«
Die Mutter schüttelte den Kopf und seufzte.
Für die Kinder hatte das vermaledeite Wort, das nur selten ausgesprochen wurde, einen unheilvollen Klang. Sobald die Mutter es in den Mund nahm, verdüsterte sich die Stimmung sofort.
Im Laufe der Zeit wandelte sich der Fluch, der auf ihren Namen lastete, mehrfach: mal waren es Granatäpfel, die ihre Lippen durchscheuerten, mal wuchernde Schneidezähne, die sich durch ihr Kinn bohrten. Aber für den bösen Hund war das einerlei. Er lauerte stets jenseits der Mauer.
Deshalb waren sie gezwungen, sich neue Namen zu geben. Die Idee der Mutter war es, im »Illustrierten Wissenschaftslexikon für Kinder« zu suchen. Der Vater hatte ihnen den Bildband einmal zu Weihnachten geschickt, und da niemand je darin geblättert hatte, verstaubte er in der hintersten Ecke des Bücherregals.
»So, nun schließt die Augen. Geschummelt wird nicht!«
Zuerst war die Älteste an der Reihe. Sie schummelte natürlich nicht, sondern kniff die Augen so fest zusammen, dass sich ihr Gesicht zu einer faltigen Grimasse verzog, als sie das Lexikon in der Mitte aufschlug und mit dem Zeigefinger entschlossen auf eine Stelle wies. So wurde aus ihr Opal.
»Was für ein hübscher Name!«
Während die Mutter sich darüber freute, betrachtete Opal schweigend den kleinen gesprenkelten Stein unter der Kuppe ihres Zeigefingers. Sie wirkte etwas ratlos, wie sie den kleinen Stein, der plötzlich eine derart intime Bedeutung für sie hatte, beurteilen sollte.
War es bloß dem Zufall zuzuschreiben, das der Jüngste seinerseits das Lexikon im gleichen Abschnitt aufschlug? »Mineralien«. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sich die Seiten an dieser Stelle besonders leicht aufschlagen ließen. Jedenfalls fiel seine Hand auf einen Achat. Dem Foto nach zu urteilen, war dieser Stein schlichter als ein Opal.
»Der Stein verdankt seinen Namen der Ähnlichkeit mit einem Pferdekopf«, las sein älterer Bruder in der Bildunterschrift, und der Kleine tat ihm leid. Doch der scherte sich kein bisschen darum, sondern kletterte glücklich auf den Schoß seiner Mutter, wo er triumphierend seinen neuen Namen vor sich hin sang.
Als er selbst an die Reihe kam, war er zunächst erstaunt über den Umfang des Kinderlexikons, das er zum ersten Mal in den Händen hielt. Er empfand plötzlich ein großes Bedauern, dass er seinem Vater für dieses Geschenk niemals einen Dankesbrief geschickt hatte. Er fühlte eine schwere Last auf seinen Schultern, während er versuchte, aus diesem Wälzer ein Wort herauszupicken. Die Gestirne, das Wetter. Meerestiere, Insekten, Pflanzen, Wärme und Energie. Gasförmige, feste und flüssige Substanzen. Der menschliche Körper … Die Seiten waren in farbig gekennzeichnete Kapitel unterteilt. Als er die bunten Rubriken vor sich sah, die den komplexen Aufbau des Lexikons markierten, verschwamm alles vor seinen Augen. Er sagte sich, auch er müsse das Buch unbedingt im Kapitel über die Mineralien aufschlagen. Der Gedanke, ohne seine Geschwister im Weltall oder tief unten auf dem Meeresboden zurückgelassen zu werden, erschien ihm unerträglich. Er würde sogar einen Pferdekopf akzeptieren, sofern sie nur vereint blieben und er nicht als leichte Beute für den bösen Hund allein bliebe. Er senkte den Kopf, damit seine Mutter nicht bemerkte, dass er die Augen einen winzigen Spalt offen hielt und durch die Wimpern spähte, um das Buch an der gewünschten Stelle aufzuschlagen.
»Bernstein.«
Die Mutter verkündete das Ergebnis, bevor der Junge nachschauen konnte. Als er die Augen aufriss, wurde ihm schlagartig bewusst, dass es vor den »Mineralien« noch die Rubrik »Fossilien« gab. Verflixt, dachte er, aber nun war es zu spät.
»Was für ein vornehmer Name!«
Zufrieden streichelte die Mutter seinen Kopf.
Als sie an diesem Abend zu Bett gingen, las ihnen die große Schwester die Erläuterungen zu Opal, Achat und Bernstein vor.
»Bernstein ist ein Fossil, das über Millionen von Jahren aus dem Harz von Kiefern oder Zedern entstanden ist. Es existieren auch Harze von längst ausgestorbenen Bäumen. Bernstein besitzt den Härtegrad eines Minerals und wird oft als Schmuck verwendet. In der Antike hielt man es für den erstarrten Kadaver eines Tigers.«
»Was ist denn ›Harz‹?«, fragte Bernstein.
»Etwas, das am Stamm eines Baumes herabfließt, so wie Blut, aber es ist nicht rot«, erklärte ihm Opal.
Bernstein war erleichtert, als er die Worte vernahm.
Auch wenn sein Name einer anderen Rubrik angehörte, so wusste er nun, dass Bernstein ein ebenso kostbares Juwel war wie der Opal und der Achat und ihnen wegen der langen Entstehungszeit in keiner Weise nachstand. Außerdem war ein toter Tiger immer noch besser als der Kopf eines Pferdes. Obwohl Achat solche Unterschiede noch gar nicht begreifen konnte, war Opal so rücksichtsvoll, die Passage hat Ähnlichkeit mit einem Pferdekopf zu verhaspeln.
In der ersten Nacht, die sie in ihrem neuen Heim verbrachten, wurden sie somit zu Opal, Bernstein und Achat. Ihre neuen Namen waren wie Relikte, die über einen unendlich langen Zeitraum tief verborgen in der Erde lagen, ohne dass jemand merkte, dass es sich um Personennamen handelte. Sie hatten sie selbst gewählt. Opal war zehn Jahre alt, Bernstein acht, und Achat würde bald fünf werden.
Nachdem sie das »Illustrierte Wissenschaftslexikon für Kinder« zugeschlagen hatten, schliefen die drei Geschwister zusammen im selben Bett. Es schien, als wären sie eins. Mit der Schwester in der Mitte, schmiegten sie sich dicht aneinander, den Kopf in der Halsbeuge des anderen und mit verschlungenen Beinen. Von nun an schliefen sie jede Nacht so und waren sich selbst genug.
In späteren Jahren, wenn man Bernstein nach der Herkunft seines Namens fragte, wurde ihm immer wieder aufs Neue bewusst, welche entscheidende Rolle der Zufall bei ihrer Wahl gespielt hatte. Wenn er eine Person mit einer Halskette aus Opalen sah, musste er natürlich sofort an seine Schwester denken. Ergriffen von dem zurückhaltenden Charme der Steine, ihrem sanften und warmen Glanz, wurde er von Erinnerungen heimgesucht, die ihm das Herz zusammenschnürten. In seiner Vorstellung erschien sie ihm immer als Ballerina. So wie sie im Frühsommer, wenn ihre Mutter Spätschicht hatte, leichtfüßig durch den nächtlichen Garten tanzte. In Spitzenschuhen, in die sie ihre Füße gewaltsam hineingezwungen hatte, weil sie zu klein geworden waren, das lange Haar zu einem Pferdeschwarz gebunden, in einem von ihrer Mutter handgeschneiderten Kostüm, schwebte sie, Pirouetten und Sprünge vollführend, über die Wiese. Sie kannte jeden Winkel des Gartens, die Senke des ausgetrockneten Teichs, die freiliegenden Wurzeln, die Löcher des Wieselbaus – ohne jemals zu stolpern, tanzte sie anmutig über alle Hindernisse hinweg. Sie begann mit einstudierten Figuren aus dem klassischen Ballett, die sie dann variierte, sodass eine völlig neuartige Choreografie entstand. Die kleine Krone, die mit schwarzen Haarklammern an ihrem Kopf befestigt war, konnte verrutschen oder die weiße Strumpfhose mit Erde beschmutzt sein, sie tanzte unverdrossen weiter … Jedes Mal wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um hoch in die Luft zu springen und wieder weich auf dem Boden zu landen, bebten die Flügel auf ihrem Rücken. Ihr Pferdeschwanz streifte Zweige und ließ sie erzittern. Aus den Sträuchern flogen Insekten auf, um sie hochleben zu lassen.
Der Mond schien auf ihren schweißglänzenden Hals und den Pferdeschwanz. Sein fahles Licht gewann, sobald es sie erreichte und sich von ihrem Atem erwärmt ausbreitete, an Leuchtkraft und ließ die umgebende Dunkelheit erstrahlen. So wie in einem Opal die regelmäßig angeordneten Kristalle das Licht in viele Farben brechen, ohne selbst je nach einer Eigenfarbe zu streben. Um der Ordnung willen sehnte sie sich nach Ruhe und fürchtete die Veränderung. In den sich unendlich überlagernden Schichten nahm sie langsam Form an.
Bernstein und Achat schauten ihr Hand in Hand durch das Fenster des Kinderzimmers zu. Wenn sie tanzte, verwandelte sich der Garten in ein Universum, das größer war als die Welt, die sie kannten. Für die beiden war der Garten immer ein weitläufiges Terrain, aber durch den Tanz ihrer Schwester gewann er an Tiefe. Wenn ihre perfekt gestreckten Beine das trockene Laub aufwirbelten und ihre Fingerspitzen nach einem Punkt im Raum griffen, wenn ihre Wirbelsäule einen eleganten Bogen beschrieb, dann traten Vertiefungen aus der Dunkelheit hervor. Manchmal, wenn sich ihre Silhouette hinter den hohen Ulmen verlor, die entlang der Ziegelmauer aufragten, sorgten sich die beiden Jungen, dass sie die Grenze überschreiten und ihnen abhandenkommen könnte.
Aber das geschah nie. Immer kehrte sie wohlbehalten zurück. Mit den Zehenspitzen ertastete sie den äußersten Rand ihrer Welt, sie verirrte sich jedoch nie auf die andere Seite. Um ihre kristalline Struktur zu bewahren, hätte sie sich niemals ein Zuwiderhandeln erlaubt. Gehorsam hielt sie sich an das Verbot ihrer Mutter.
Achat sang ein selbst erdachtes Lied. Seine Stimme reichte zwar nicht an Opals Kunstfertigkeit heran, aber sein Gesang und ihr Tanz waren harmonisch aufeinander abgestimmt. Wurde die Melodie lebhafter, nahm auch die Geschwindigkeit der Pirouetten zu. Auf dem Höhepunkt sprang sie in einem Grand Jeté über den Teich. Verlangsamte sich das Tempo zu einem Adagio, dann neigte sie leicht den Kopf. Achat war imstande zu improvisieren und je nach Anlass aus dem Stegreif unzählige Melodien zu singen, die noch nie jemand zuvor vernommen hatte. Obwohl sein Wortschatz gering war und er keinerlei Kompositionskenntnisse besessen haben dürfte, sprudelte ein Lied nach dem anderen über seine Lippen. Er verbrachte mehr Zeit singend als sprechend. Natürlich sang er mit feiner Stimme. Im zarten Hauch seines Atems schienen die Tonfolgen wie Tröpfchen zu glitzern. Dieses wohlklingende akustische Glitzern war, sobald man es vernahm, schon wieder verklungen, ohne dass man Zeit für eine Notation gehabt hätte.
Von den drei Kindern war es zweifellos Achat, der seine Seele am meisten entfalten konnte. Anders als Opal und Bernstein, die fest davon überzeugt waren, dass es jenseits der Ziegelmauer keinen Lebensraum für sie gab, stimmte er sein Lied an, als würde er ein Pferd besteigen, mit dem er leicht beschwingt die Grenzen des Gartens überschritt. In seinen Liedern, in denen sich unbekannte Landschaften widerspiegelten, galoppierte er durch die weite Welt.
Schließlich sah auch Bernstein ein, dass ein Pferdekopf nichts Abstoßendes hatte, sondern eine fundamentale Weisheit barg. Obwohl der Jüngste eigentlich als der Schwächste gilt, war Achat viel härter als Opal und Bernstein. Wenn er zerbrach, zerbrach er in scharfkantige Fragmente. Seine im Innern verborgene Kraft vermochte alle Hindernisse zu überwinden, wie die Grenze aus einer Ziegelmauer und Bäumen.
Opals Tanz endete in der Mitte des Gartens mit einem Kniefall zu Füßen des Mimosenbaums, der seine weit ausladenden Zweige über dem Kind ausbreitete. Derweil hatten sich auch Achats Lippen geschlossen. Die beiden Jungen spendeten vom Fenster aus lautlos Applaus. Opal hob den Saum ihres Tutus und verneigte sich anmutig wie eine echte Ballerina.
Ihre Darbietung ließ trotz der Stille die Dunkelheit erbeben. Mimosenblüten hatten sich in ihrem Haar verfangen. Jedes Mal wenn Opal sich in dem nicht enden wollenden Applaus verbeugte, schwebten gelbe Flocken zu Boden. Die Bänder der Spitzenschuhe hatten sich gelöst und Blut sickerte durch die abgewetzten Zehenkappen.
Bernstein wurde die Angst nicht los, sein früherer Name könne ihm bei irgendeiner Gelegenheit aus Versehen herausrutschen. Je mehr er darauf achtete, umso weniger gehorchte die Zunge seinem Willen, und er versuchte sie im Zaum zu halten, indem er sie mehrmals täglich gegen die Schneidezähne presste. Seine schlimmste Befürchtung war, dass er sich im Schlaf verplapperte. Beim Einschlafen hatte er oft akustische Halluzinationen. Meistens handelte es sich um das Rascheln von Achats Haaren, die an seinem Ohr rieben. Er wusste, dass Opal nur die Augen geschlossen hielt und selbst nicht schlafen konnte. Er hatte einen immer wiederkehrenden Traum. In diesem Traum war sein Mund aufgrund der spitzen Dornen voller Blut, da er verzweifelt versuchte, mit seinen aufgeplatzten Lippen das Innere eines reifen Granatapfels zu erhaschen. Er verspürte eine unbändige Lust, mit der Zunge nach jenen Dornen zu tasten, die sich immer tiefer in sein Fleisch gruben. Wenn er wenigstens einen Fruchtkern aus dem aufgeplatzten Granatapfel kosten könnte!
Eines Tages nahm Bernstein heimlich Opals geliebte Häkelpuppe an sich und schloss sich in Vaters Arbeitszimmer ein, um dort ein Experiment durchzuführen. Es war ein staubiges Zimmer mit Wandregalen, vollgestopft mit Büchern, die einen sonderbaren Geruch verströmten. Da die Fensterläden lange Zeit nicht geöffnet worden waren, hatte sich auf den Kissen, dem Lampenschirm und der Tapete Schimmel gebildet. Selbst aus purer Höflichkeit konnte man diese Puppe, die ihre verstorbene Großmutter einst aus Wollresten gestrickt hatte, schwerlich als hübsch bezeichnen. Sie sah erbärmlich aus, was allerdings Opals Zuneigung nur vergrößerte, wenn sie ihren Schatz in den Armen hielt. An ihrem ockergelben Torso baumelten schlaffe Gliedmaßen herab, die Knöpfe, die als Augen dienten, hatten sich gelöst. Bernstein hatte sie aber wegen ihrer Lippen als Opfer auserkoren. Seine Großmutter hatte ihr an der Stelle, wo die Mundhöhle war, mit roter Wolle richtige Lippen aufgenäht. Diese hatten eine so intensive Farbe, dass sie an das Fruchtfleisch eines Granatapfels erinnerten. Bernstein rieb den Schimmelbelag vom Kissen, legte die Puppe darauf und bewegte ihre Lippen, um sie seinen früheren Namen aussprechen zu lassen. Es war ein lautloses Gemurmel. Ohne sich der Bedeutsamkeit des Geschehens bewusst zu sein, glotzte die Puppe unverdrossen aus ihren herunterhängenden Knopfaugen.
Er wartete ab, holte tief Luft und starrte angestrengt vor sich hin. Aber es geschah nichts, was auf die Machenschaften des bösen Hunds hindeutete. Weder gab es Anzeichen, dass etwas aus dem Mund erwuchs, noch rissen die Lippen auf. Wahrscheinlich klappt es nicht mit der Puppe, sagte er sich und hob sie vom Kissen hoch. Die einzig bemerkenswerte Veränderung an ihr war der blauschwarze Schimmelbelag, der nun an ihrem Rücken haftete, was sie noch kränklicher aussehen ließ. Enttäuscht packte er sie in Opals Spielzeugkiste und ließ sich nichts anmerken.
Dennoch blieb er auf der Hut und behielt die Situation im Auge. Opal schien den verschmutzten Rücken der Puppe nicht zu bemerken. Wie gewohnt sprach sie vor dem Zubettgehen mit ihr oder setzte sie auf einen Stuhl, damit sie ihren Tanzaufführungen zuschaute. Aber selbst dann ließ Bernstein die roten Lippen nicht aus den Augen.
Bernstein bekam es mit der Angst zu tun. Opal, die die Anweisungen ihrer Mutter stets befolgte, herzte ahnungslos ihre Puppe, die gegen das Verbot verstoßen hatte. Welch Schrecken würde durch ihre Glieder fahren, wenn sie erfuhr, dass ihr Liebling Opfer einer Bestie sein könnte. Würde der böse Hund nicht nur die Puppe, sondern auch Opal verwünschen? Sich nicht mit Wolle begnügen und stattdessen nach echten Lippen verlangen? Als er schließlich einsehen musste, dass er etwas getan hatte, was nicht wiedergutzumachen war, konnte er den Anblick, wie Opal ihre Puppe hätschelte, nicht länger ertragen. Bernstein befürchtete das Schlimmste, weshalb er eine günstige Gelegenheit abpasste und die Puppe aufs Neue entwendete. Er rannte zu den Ulmen, um sie über die Ziegelmauer zu werfen. Zwar hatte er große Angst, sich allein an den verbotenen Ort zu begeben, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um schwach zu sein.
Die Mauer war jedoch zu hoch für die Kräfte eines Achtjährigen. Die bemoosten Ziegel fühlten sich rau und kalt an. Außerdem behinderten ihn die hoch aufragenden Ulmen, deren Kronen den Himmel verdeckten. Alle Versuche scheiterten. Er packte die Puppe bei den Fußgelenken und schleuderte sie hoch in die Luft, aber sie flog jedes Mal gegen die überhängenden Äste, bevor sie die Mauerkrone erreichte, und landete dann wieder vor seinen Füßen. Da sich zum Schimmel nun auch Schmutz gesellte, wirkte die Puppe trauriger denn je. Die rote Wolle lockerte sich, was ihren Mund grotesk verzerrte. Er fragte sich, wann Opal und seine Mutter das Verschwinden der Puppe bemerken würden, und je hektischer er wurde, umso rabiater ging er mit der Puppe um, deren Gliedmaßen herumzappelten, als wollte sie sich aus seiner Gewalt befreien.
Schließlich nahm Bernstein einen so großen Anlauf, als wollte er selbst über die Mauer springen. Die Puppe flog empor und verfing sich in den Ästen. Verzweifelt versuchte Bernstein, den Stamm des Baumes zu schütteln, aber der regte sich kein bisschen. Mit gespreizten Beinen und kläglich herabhängenden Armen starrte die Puppe in die Luft. Die Astspitzen hatten sie fest im Griff. Bernstein blieb nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten.
»Herrje, es ist schon wieder passiert! Er hat etwas fortgeschleppt«, murmelte die Mutter unaufhörlich, als sie das Haus auf den Kopf stellte. Nachdem sie jeden Winkel nach der Puppe abgesucht hatte, setzte sie sich erschöpft auf den Boden. Da brachte es Bernstein nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen.
»Schon wieder ist jemand verschwunden.«
»Aber es ist doch bloß eine Puppe«, versuchte Opal sie zu beruhigen. »Ein altes Spielzeug aus Wolle.«
»Sie wird nicht mehr zurückkehren.«
»Das macht doch nichts! Ich bin schließlich schon elf. Alle Spielsachen, die nicht mehr gebraucht werden, verschwinden eines Tages, ohne dass man es bemerkt. Das alles wäre früher oder später sowieso passiert.«
»Irgendwo im Haus muss es einen Durchschlupf geben. Wir müssen unbedingt alle Fenster geschlossen halten!«
»Sei unbesorgt. Bernstein hat vorhin sämtliche Fenster und Türen geschlossen. Sogar die Vorhänge sind zugezogen.«
Opals Stimme klang wie immer sehr besonnen.
Schaudernd bemerkte Bernstein, dass man durch einen Spalt der Vorhänge einen Teil des Gartens erkennen konnte.
Die Ulmen lagen im Schatten, sodass die Stelle, an der die Puppe hing, nicht zu erkennen war.
»Sie hat sich bestimmt für uns geopfert«, sagte Opal mit gesenkter Stimme. »Weil sie uns liebt, ist sie an unserer Stelle zu dem bösen Hund …«
Die Mutter wollte etwas einwenden, aber es drang nur ein heiseres Röcheln aus ihrem Mund.
»Der Durchschlupf muss sehr klein sein. So klein, dass nur eine Puppe durchpasst. Also sind wir drei hier sicher. Schließlich sind wir viel größer als sie.«
Opal hatte das Verschwinden der Puppe richtig gedeutet, als hätte sie beobachtet, was Bernstein getan hatte. Ohne den Verlust des geliebten Spielzeugs zu beklagen, ihn aber auch nicht zu übergehen, hatte sie die Situation, in die ihre Puppe geraten war, nicht nur erkannt, sondern in ihrer ganzen Bedeutung richtig erfasst.
Wie Opal bemerkte, war die Wollpuppe nun zu einer Art Schutzpatron geworden, die mit starrem Blick zwischen Himmel und Erde schwebte, um den bösen Hund fernzuhalten. Selbst wenn ein Sturm tobte oder ein Vogel an ihr herumpickte, würde sie nicht herunterfallen. Im Herbst, wenn die Ulmen ihr Laub verloren, würde sie zwischen kahlen Ästen hängen, und im Frühjahr, wenn die Knospen treiben, in frisches Grün eintauchen. Von Regen und Schnee durchnässt, von der Sonne verfilzt, würde die Wolle vermodern und verrotten, bis die letzten Reste zusammen mit dem toten Laub vom Wind fortgefegt würden.
Hin und wieder stellte sich Bernstein unter den Baum, um den Verfall der Puppe zu begutachten. Er vergewisserte sich, dass sie weiterhin den Hund fernhielt. Selbst als sie im Lauf der Zeit jegliche Ähnlichkeit mit einer Puppe verloren hatte und ihre Überbleibsel nur noch einen undefinierbaren Klumpen bildeten, den man für einen Astknorren oder den Rest eines ausgedienten Vogelnests halten konnte, fiel sie nie herunter. Bis zu dem Tag, an dem die drei Kinder sich in die Welt jenseits der Mauer hinauswagten, erfüllte sie die ihr übertragene Aufgabe.
Kurz nach dem Vorfall mit der Puppe hatte Bernstein seinen früheren Namen vergessen. Er brauchte seine Zunge nun nicht mehr gegen die Zähne zu pressen, aus Angst, er könne sich im Schlaf verraten. Bis heute erinnert er sich nicht mehr daran.
Alles hatte mit dem Tod der jüngeren Schwester angefangen. Sie war drei Jahre alt gewesen, als eines Tages ein streunender Hund durch den Park lief und ihr das Gesicht ableckte. Am nächsten Tag bekam sie hohes Fieber, worauf sich ihr Zustand so rasant verschlechterte, dass sie bald darauf starb. Der Arzt stellte eine Lungenentzündung fest, aber die Mutter hatte diese Diagnose nie akzeptiert.
»Die Zunge des Hundes war schuld!«
Sie beharrte auf ihrer Überzeugung, ohne sich von dem Arzt, der dies abstritt, belehren zu lassen.
»Schauen Sie! Die allergischen Flecken auf den Wangen. Genau da hat der Köter sie abgeleckt«, sagte sie und deutete auf die vom Fieber rot glühenden Wangen. So als wäre der Hund verantwortlich für die Krankheit ihrer jüngsten Tochter.
»Sehen Sie nicht die Spuren dieses abscheulichen Tieres in ihrem kleinen Gesicht?«
Seit diesem Tag sprach die Mutter von »ihrer Kleinen, die von einem Hund totgebissen wurde«. Im Park war die ganze Familie versammelt gewesen. Die beiden Schwestern flochten Halsketten aus Weißklee, die beiden Brüder schlugen Purzelbäume. Woher kam der Hund plötzlich? Es war ein herkömmlicher Straßenköter, dunkelbraun gescheckt, mit dürrem Schwanz und hängenden Ohren. Abgemagert bis auf die Knochen. Niemand hatte ihn vorher gesehen. Er war an den beiden Jungen vorbeigetrottet und hatte sich direkt vor ihre kleine Schwester gestellt, um ihr mit der Zunge über das Gesicht zu lecken. Er machte keine Anstalten, sie anzuspringen oder nach ihr zu schnappen. Vielmehr schien er allein dies im Sinn zu haben, als wäre es ein Ritual. Er war fast scheu. Seine lange, dicke Zunge passte überhaupt nicht zu seiner ausgemergelten Gestalt. Das Mädchen fasste sich an die Blumenkette und starrte den Hund an, ohne zu wissen, wie ihm geschah. Im nächsten Moment stieß die Mutter einen Schrei aus, rannte zu ihrem Kind und gab dem Hund einen mächtigen Tritt. Jaulend flog er durch die Luft. Die vier Geschwister schauten mit aufgerissenen Augen zu, wie der Hund zu Boden fiel, zusammen mit einem Schuh der Mutter.
Von dem Lärm angelockt, versammelten sich um sie herum Schaulustige, die aber nichts weiter zu sehen bekamen als vier erstaunt dreinblickende Kinder, ihre auf einem Bein hüpfende Mutter, die nach ihrem Schuh angelte, und einen am Boden liegenden Hund.
Auch wenn der streunende Hund und die Lungenentzündung offensichtlich in keinem Zusammenhang standen, nahm das Leben der Familie nach diesem banalen Vorfall eine dramatische Wende. Nichts war mehr wie zuvor. Als hätte der Hund sie in die Finsternis mitgenommen, hauchte das Mädchen im Morgengrauen sein Leben aus.
»Wir nehmen Abschied von ihr.«
Angeführt vom Leichenbestatter, stellten sich die Kinder in einer Reihe vor dem Sarg auf. Bernstein spähte hinein, um das Gesicht seiner von Trockeneis und Blumen umgebenen Schwester zu erkennen. Die Spuren auf ihren Wangen waren von Blumen verdeckt, sodass sich nicht feststellen ließ, ob dort tatsächlich die Spuren eines Hundes zu sehen waren. Ihm stieg ein leichter Geruch in die Nase. Ob so die Zunge des streunenden Hundes riecht, überlegte Bernstein. Opal nahm Achat auf den Arm, der aufgeregt um den Sarg herumgelaufen war. Was hatte ihre Mutter derweil getan? Bernstein besaß keine Erinnerung daran. Wahrscheinlich war sie bei ihnen gewesen, aber genauso hätte sie auch abseits stehen können. Er erinnerte sich lediglich an den seltsamen Geruch, der vielleicht von der Zunge des Hundes stammte, und daran, dass er Angst um seinen kleinen Bruder hatte, dieser könne sich auf seinen wackligen Beinen an der Kante des Sarges wehtun.
Auf dem Rückweg von der Trauerhalle entdeckten sie am Hintereingang des Parks einen Hundekadaver. Im feuchtkalten Schatten des Pumpenhäuschens lag das Tier auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt. Die trockene Zunge, die ihm aus der halb offenen Schnauze hing, hatte sich bereits verfärbt, aber Bernstein erkannte sofort, dass es der streunende Hund war. Auf seinem Bauch war ein Bluterguss sichtbar, der von Mutters Schuh stammen musste. Wie ein Schreckensmal prangte der blaue Fleck unterhalb des ausgemergelten Brustkorbs. Glücklicherweise hatten nur Opal und Bernstein den Kadaver gesehen. Sie wollten vermeiden, dass ihre Mutter erneut über das Tier herfiel. Deshalb huschten sie an ihm vorüber, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Kurz darauf wurde beschlossen, dass die vier übrig gebliebenen Mitglieder der Familie eine Reise unternahmen. Eine Reise ohne Wiederkehr, damit sie in einer Welt bestehen konnten, in der es die kleine Schwester nicht mehr gab.
Nach dem Abendessen besichtige ich mit Herrn Bernstein die aktuelle Ausstellung. Der Anbau, der Trakt A mit Trakt B verbindet, wird als Galerie genutzt, wo die Bewohner die Möglichkeit haben, ihre Werke zu zeigen. Letzte Woche waren es Kupferstiche, davor Skulpturen. Gestern erzählte uns eine der Künstlerinnen erfreut, dass sie einen Druck verkaufen konnte. Das kommt eher selten vor. Sie sagte, es sei ihr erstes selbst verdientes Honorar, seit sie vor zehn Jahren zum ersten Mal Rente bezogen hat. Die Käuferin des Exponats sei die Friseurin gewesen, die einmal im Monat vorbeikommt. Sie wolle den Druck ihrer Enkelin zur Hochzeit schenken.
Derzeit stellt der Fotograf aus Zimmer 303 seine Werke aus. Wir schlendern durch die Passage und würdigen dabei jedes Bild. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen ausschließlich Stillleben. Der Fotograf ist ein freundlicher alter Herr, der sich zu Weihnachten oder bei Geburtstagsfeiern gerne bereit erklärt, Schnappschüsse von den Anwesenden zu machen. Jedoch haben seine Aufnahmen hier im Flur etwas Düsteres, Melancholisches. Ein aus der Suppe gezogenes Kräutersträußchen, ein mit Kreide gezeichneter Umriss auf einem Bürgersteig, Hufspuren im Schlamm neben einem morastigen Teich, eine Nabelschnur, eine erloschene Feuerstelle, der Lageplan eines überschwemmten Dorfes nach einem Dammbruch, ein abgelaufener Reisepass … In der Mitte der Galerie angekommen, fällt mir auf, dass alle Fotos verwaiste Dinge abbilden, die auf irgendeine Art und Weise zurückgelassen wurden.
Für gewöhnlich schweigen wir. Ich habe niemals einen Menschen erlebt, der Kunstwerke derart aufmerksam betrachtet wie Herr Bernstein, weder in einer Galerie noch in einem Museum. Irrtümlicherweise halten ihn die Leute oft für sehbehindert, aber das ist überhaupt nicht der Fall. Er hat nur eine ganz besondere Sichtweise, mit der er die Dinge um sich herum wahrnimmt. Er begnügt sich nicht damit, das Objekt vor seinen Augen zu erfassen. Vielmehr nimmt er es als ein Kontinuum von Augenblicken wahr, das sich von der Vergangenheit in die Zukunft erstreckt. Nur in seinem Inneren fließt die Zeit, so wie sie wirklich ist. Ich bin mir sicher, dass sein Auge allen Dingen auf den Grund sehen kann: der zerschmetterte Körper eines Selbstmörders, so wie er nach dem Sprung aus dem Fenster auf dem Bürgersteig liegt; das Rudel Hirsche, das sich zum Wassertrinken am Rande des Teichs sammelt; die Rathausuhr, die auf dem Grund des Stausees weiterhin die Stunde schlägt. Deshalb verweilt er auch so lange vor jedem Foto. Im Auge von Herrn Bernstein spiegeln sich die einzelnen Momente vergehender Zeit. Sein Leben verläuft viel langsamer als das der anderen Menschen.
Ich frage mich, ob sich die Bewohner, die nach dem Abendessen noch gerne im Salon miteinander plaudern, schon zur Nachtruhe zurückgezogen haben? Das bis eben vernehmbare Stimmengewirr und auch das Klavierspiel sind verklungen, im Vestibül ist wieder Stille eingekehrt. Obwohl es hier keine Fenster gibt, merken wir, dass draußen bereits finstere Nacht herrscht, nicht einmal das Mondlicht scheint. Vor uns im Halbdunkel, ganz am Ende der Halle, ist die Tür zum Trakt B gerade noch zu erkennen. Auch wenn sich der Trubel, der im Trakt A zu hören war, inzwischen gelegt hat, ist diese Stille nicht mit derjenigen vergleichbar, die in Trakt B herrscht. Es ist ein Bereich des Schweigens, denn hier wohnen die Bettlägerigen, die nicht mehr sprechen können. Wir folgen den Spuren der Ereignisse und nähern uns Schritt für Schritt der Stille.
Nach einer zwanzigminütigen Busfahrt vom Kurbad aus erreichten sie mit Müh und Not die Villa des Vaters, die auf einer Anhöhe lag. Die Kinder kamen zum ersten Mal her. Ihr Vater, der inzwischen mit einer anderen Frau eine Familie hatte, zeugte mit ihrer Mutter zwar vier Kinder, hatte sie aber nie rechtmäßig geheiratet. Er hatte nie bei ihnen gewohnt und das Verhältnis gelöst, als ihre Mutter mit dem vierten Kind schwanger war. Der Hauptgrund für die Trennung war eine Subarachnoidalblutung, von der er eine Behinderung zurückbehielt, aber die Beziehung war schon davor zerrüttet, sodass sie zum Scheitern verurteilt war.
Das alte zweistöckige Holzhaus in der Nähe eines abgelegenen Kurorts diente als Kompensation für Alimente. Ihr Vater besaß einen Verlag, der sich auf illustrierte Enzyklopädien spezialisiert hatte. Bevor Opal geboren wurde, hatte er eine Reihe von Bestsellern auf den Markt gebracht, aber irgendwann verloren die Kunden das Interesse daran. Ob es ein Zeichen der Zeit war oder am schlechten Management lag, lässt sich schwer sagen, jedenfalls war es zu spät, als er das Problem erkannte. Enzyklopädien waren nicht mehr gefragt. Sie wurden als Staubfänger in die hintersten Regalecken geschoben und dann irgendwann weggeworfen. Ihr Vater hatte sich nie von seinem wirtschaftlichen Bankrott erholt und verbrachte den langen Rest seines Lebens in Untätigkeit.
Die Kinder hatten noch nie einen von ihm herausgegebenen Bildband in der Auslage einer Buchhandlung entdeckt. Opal kannte den Namen des Verlags, der identisch war mit dem ihres Vaters, und jedes Mal wenn der Bücherbus vorbeikam, durchforstete sie ihn heimlich, doch ihre Erwartungen wurden regelmäßig enttäuscht. Nur einmal hatte sie einen Band entdeckt, aber das war weder in einer Buchhandlung noch in einem Bücherbus, sondern auf einem Sammelplatz für wiederverwertbaren Müll. Sie hatte auf dem Rückweg vom Ballettunterricht an einer Kreuzung nichts ahnend einen Haufen Altpapier gesehen und zwischen ausrangierten Zeitungen und Zeitschriften die zusammengeschnürte neunbändige Ausgabe von »Das Wunder des menschlichen Körpers« entdeckt. Sie wollte die Plastikkordel aufbinden, um sich die Ausgabe näher anzuschauen, aber der Knoten war so fest, dass sie ihn nicht lösen konnte. Es war, als würde ihr jemand mit dieser rigorosen Art der Verschnürung deutlich machen wollen, dass diese Atlanten nie mehr aufgeschlagen werden sollten. Die Buchrücken waren eingedrückt, die Ecken abgestoßen, die einzelnen Bände ununterscheidbar zu einem riesigen Klumpen zusammengequetscht. Der vergilbte Schnitt quoll zwischen den Deckeln hervor und bildete ein rätselhaftes Muster. Dennoch gelang es ihr, den Namen des Herausgebers zu entziffern. Da sie in den Bänden nicht blättern konnte, begnügte sich Opal damit, den welligen Schnitt mit den Fingern nachzuzeichnen. Da rutschte der Packen vom Müllhaufen und plumpste ihr vor die Füße. Sie hielt die Luft an, als hätte sie Schelte für einen begangenen Streich zu erwarten, und rannte dann los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie wollte so schnell wie möglich fort. Beim Laufen wischte sie sich mehrmals an ihrem Rock die Finger ab, aber ein klammes Gefühl blieb beharrlich an ihren Fingerkuppen.
Der Vater hatte die Villa an dieser Stelle bauen lassen, weil das Thermalwasser des Kurorts als heilsam galt bei Unfruchtbarkeit und Atemwegserkrankungen. Der Legende nach hatte einst ein schönes Mädchen im Wald einen Asthmaanfall erlitten und war von einer Zibetkatze zu der Quelle geführt worden, in der es dann ein Bad nahm. Das Mädchen konnte so dem Tod entrinnen und die Zibetkatze verwandelte sich in einen schönen jungen Mann. Sie verliebten sich ineinander und die Frau gebar ein gesundes Kind. Vaters neue Frau hingegen war kinderlos geblieben.
Obwohl die kleine Stadt ohne nennenswerte Touristenattraktionen und eher unscheinbar war, hatte sie sich durch großzügig angelegte Thermalbäder und Sanatorien zu einem ansehnlichen Kurort entwickelt. Auf der Straße begegnete man immer wieder Frauen mit asthmatischen Kindern. Niemand wusste so recht, ob die Bäder wirklich halfen.
Empört hatte die Mutter die Villa, die ihr als Kompensation vermacht worden war, ignoriert, aber als sie merkte, dass es ein guter Ort war, um ein neues Leben anzufangen, war sie der unbekannten Ehefrau sogar dankbar. Ringsum erstreckten sich Lärchenwälder, die Nachbarhäuser lagen weit auseinander, und der riesige Garten war von einer Ziegelmauer umgeben. Außerdem sorgten die hoch gewachsenen Bäume und die wuchernden Büsche des über Jahre verwilderten Gartens dafür, dass das Haus verborgen lag. Man musste lange nach einer Stelle suchen, von wo aus man das blaue Schieferdach sehen konnte.
Die Mutter hatte den großen Raum im Obergeschoss als Kinderzimmer eingerichtet. Um die kahlen Wände zu verschönern, schnitten die Kinder aus Postkarten, Postern und Illustrierten ihre Lieblingsmotive aus: Eichhörnchen, Schlösser, Maiglöckchen, französische Porzellanpuppen, Pferdekutschen, Kaninchen, Schmetterlinge, Pilze, Schmuckkästchen. Eine Harfe spielende Schar von Engeln zierte den Türrahmen, eine Kathedrale thronte neben dem Kamin, ein Palast über dem Regal. Hier und da hingen Blumenbeete, die in voller Blüte standen und aus denen Zwerge und Faune hervorschauten, eine Prinzessin schlummerte auf einem Kräuterbett.
Die Kinder waren begeistert. Es störte sie nicht, wenn die Bilder verkehrt herum hingen oder sich überlappten, sie klebten alles so an die Wand, wie es ihnen in die Hände fiel. Ihre Mutter kümmerte sich derweil um die Stellen, an die sie nicht herankamen. Da das Bekleben der Wände nicht ausreichte, befestigte sie an der Decke Schnüre, an denen sie das Sternbild des Orion, einen Regenbogen, einen Satelliten und einen Heißluftballon aufhängte.
Achat hatte große Freude, über der Spüle den Leim anzurühren, wobei er die Tapezierbürste wild durch die Gegend schwang und dabei alles vollspritzte, aber seine Geschwister jagten ihm nur zum Spaß hinterher, keiner war ihm ernstlich böse. Für kurze Zeit konnten sie ihren Kummer vergessen: ihr Bedauern darüber, dass sie sich nicht von ihren engsten Freunden verabschieden konnten; die Angst vor diesem fremden Ort; den Anblick des unter Blumen begrabenen Antlitzes ihrer toten Schwester.
Als kein weißer Fleck mehr zu sehen war, gab sich ihre Mutter zufrieden:
»So, das wäre geschafft!«
Es war ein wunderbares Zimmer, bunt, fantasievoll, aber nicht chaotisch, eher wie ein gemütliches Nest aus vielerlei Materialien. Ein Nest ohne die geringste Schwachstelle, in dem man unbesorgt herumtollen konnte, ohne herauszufallen. Ob Engel, Zwerg oder Faun, immer behütete irgendeines der Wesen die Kinder.
Die Mutter schneiderte ihnen Kleider, die auf das Kinderzimmer abgestimmt waren. Sie hatte ihnen verboten, weiterhin ihre Sachen von früher zu tragen. Mehrere Tage lang ratterte unablässig das Tretpedal der Nähmaschine. Jedes ihrer Kleidungsstücke wurde kunstvoll veredelt. Auf Bernsteins Hose wurde ein Schwanz genäht, Achats Bluse zierten Flügel. Ein Hut, aus dem ein Horn wächst, ein Pullover mit einer Rückenflosse. Sie fertigte Unmengen von Accessoires: Filzkronen, Schwerter und Pappmasken, Gürtel mit Quasten. Gefertigt aus Dingen, die sie gerade zur Hand hatte. Trotz ihrer ernsten Absichten wirkte alles irgendwie drollig und leicht grotesk. Aus den Nähten der Schwänze, die aus zusammengesteppten Vorhangstreifen bestanden, quoll an einigen Stellen die Wattefüllung heraus, und der Hühnerknochen, der aus dem Hut ragte, verströmte einen seltsamen Geruch. Opals Krone knickte sofort ein, egal wie verzweifelt sie versuchte, sie ordentlich auf ihrem Kopf zu platzieren.
Die Kinder hielten sich strikt an die Anweisungen ihrer Mutter, von denen die wichtigste besagte, dass sie niemals das Anwesen verlassen und sich außerhalb der Ziegelmauer aufhalten durften.
»Es ist wegen dem bösen Hund, nicht wahr?«, fragte Opal.
»Ja. Der Hund lauert hinter der Mauer auf sein nächstes Opfer.«
Bei den Worten »hinter der Mauer« hob sie die Hand und wies aus dem Fenster, wobei ihr Arm den Heißluftballon streifte, der sich zu drehen begann. Den Ballon, in dessen Gondel eine Eule, ein Seelöwe und ein Maulwurf saßen, hatten sie aus einer Pralinenschachtel gebastelt.
»Niemals … auch nur einen Schritt …«