ISBN: 978-3-95573-913-3
1. Auflage 2018, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2018 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.
Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Der Tag hatte schneidenden Ostwind im Gepäck, der den Regen in kleine Eiskristalle verwandelte. Femke Ostendorf zog die dicke Mütze noch etwas tiefer über die Ohren und vergrub das Kinn in dem breiten Schal, den sie sich dreimal um den Hals gewickelt hatte. Was hatte der Wettermann im Radio gesagt? "Vormittags zwar kalt aber sonnig". Okay, kalt stimmte. Aber Sonne war das nicht, was da den Himmel verdüsterte. Bei solchem Wetter durfte man es sich nach dem Spaziergang ruhig neben dem Ofen gemütlich machen und ein paar Tassen schönen heißen Friesentee genießen.
Ein beinahe zärtliches Lächeln erschien auf Femkes Gesicht, als sie ihre Blicke rasch über die rotverklinkerte Fassade des Einfamilienhauses wandern ließ. Es war nicht groß, bot aber ausreichend Platz mit seiner gemütlichen Wohnküche, den zwei größeren Zimmern im Erdgeschoss und den drei kleineren im ersten Stock. Eben ein typischer Sechziger-Jahre-Bau mit Spitzdach, wie man sie überall in Ostfriesland finden konnte, umgeben von einem kleinen Garten, in dem irgendwann zwei oder vielleicht sogar drei Kinder spielen sollten.
Das heißt, nein, korrigierte Femke sich in Gedanken, es würde nicht irgendwann, sondern schon sehr bald hier der erste Sprössling einziehen. Ein kleines Mädchen, wie der Arzt bei der vorletzten Ultraschalluntersuchung festgestellt hatte, das Anfang Januar auf die Welt kommen sollte.
Immer noch vergnügt vor sich hinlächelnd, öffnete Femke die Haustür und trat in den kalten Dezembermorgen hinaus. Als sie zu ihrem Auto lief, das in der Einfahrt parkte, fiel ihr ein, dass der nette Herr Ecksen bestimmt am Küchenfenster stand und zu ihr hinübersah. Er winkte immer zu ihr herüber und freute sich sichtlich, wenn sie seinen Gruß erwiderte. Und richtig, als Femke hinüberblickte, sah sie den älteren Herrn am Fenster lächelnd winken. Sie winkte zurück, dann entriegelte sie ihren Wagen, nahm den Eisschaber und fing an, die Scheiben freizukratzen.
***
"Mathis!" In Fraukes Stimme schwang deutliche Empörung mit. Die Fäuste in die Seiten gestemmt, stand sie hinter ihrem Mann. "Guckst du dir etwa schon wieder die Augen nach der neuen Nachbarin aus?"
Mathis Ecksen war beim scharfen Klang der Stimme schuldbewusst zusammengezuckt, doch er widerstand dem Impuls, sich umzudrehen. Nein, ein wenig Vergnügen musste einem alten Mann doch vergönnt sein! Es tat sich ja sonst nicht mehr viel in seinem Leben, da war dieser morgendliche Gruß wie ein Sonnenstrahl, der kurz sein Dasein erhellte. Und überhaupt – was war schon dabei, wenn er seiner Nachbarin 'Guten Tag' wünschte? Ihr schien es nicht unangenehm zu sein, im Gegenteil. Mathis hatte den Eindruck, dass sie sich darüber freute. Und zudem war sie nett anzuschauen. Eine richtig frische Brise in der Straße, in der sonst ausschließlich ältere Paare wohnten. Alles Leute im Rentenalter oder kurz vor dem Renteneintritt, mit denen sich die Ecksens gut verstanden. Aber so ein bisschen Jugend tat der Gemeinschaft gut, fand Mathis.
Seiner Ansicht nach war es hier einfach viel zu ruhig. Das Einzige, das man tagsüber hörte, war das Bellen einiger Hunde oder im Sommer das Brummen diverser Rasenmäher. Die anderen Männer hatten ja auch nichts zu tun, weshalb man in der Straße die gepflegtesten Gärten von Norddeich sah. Nirgendwo gab es grünere Rasenflächen und buntere Blumenbeete als hier. Jetzt, im Winter, war es noch ruhiger, sah man vom Kratzen der Schneeschieber ab, die morgens, mittags und abends zum Einsatz kamen. Aber noch lag nur ganz wenig Schnee, den der Wind über die Straße in den Rinnstein trieb. Also tat sich draußen absolut nichts.
Nichts außer der Nachbarin, die jetzt sorgfältig sämtliche Scheiben ihres Wagens freikratzte. Allerdings sorgte sich Mathis etwas, denn seiner Meinung nach sollte eine Frau in ihrem Zustand nicht mehr arbeiten gehen. Gut, sie war selbstständig, da hatte sie Verpflichtungen. Trotzdem fand er, dass sie sich mehr schonen sollte.
"Bildest du dir wirklich ein, du könntest mit dem jungen Ding anbandeln?", fragte Frauke hinter ihm und riss ihn damit aus seinen Gedanken. "Vergiss es, mein Guter. Die Dame ist viel zu jung für dich. Du machst dich bloß lächerlich."
Mathis sog scharf die Luft ein, während er zusah, wie die hübsche Nachbarin in ihr Auto stieg und losfuhr. Als der Wagen aus seinem Blickfeld verschwunden war, drehte er sich endlich zu Frauke herum.
"Ich will doch nur freundlich sein", versuchte er ihr zu erklären. "Die junge Frau grüßt schließlich auch immer sehr freundlich. Soll ich weggucken und so tun, als hätte ich sie nicht gesehen?"
"Nein, das sollst du nicht", erwiderte Frauke ungeduldig. "Aber du musst nicht jeden Tag am Fenster stehen und auf sie warten."
"Und was soll ich deiner Meinung nach tun?"
Frauke trat an die Spüle und ließ heißes Wasser ein, um das benutzte Frühstücksgeschirr abzuwaschen.
"Kümmere dich um den Garten, geh spazieren, bau einen Hasenstall", zählte sie auf, was Mathis zu der verwunderten Frage veranlasste, was sie denn mit einem Hasenstall sollten.
Frauke hob die Schultern, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
"Ist ja nur ein Vorschlag. Such dir halt eine Arbeit. Du musst dich nur mal umsehen."
Nur mal umsehen! Mathis musste nicht nachsehen, er wusste, dass alles in Ordnung war. Außerdem zeigte der Kalender den neunundzwanzigsten November an, draußen war alles gefroren. Die Rabatten neben dem Gartenweg waren mit Reisig abgedeckt und die Rosen geschnitten, Schnee lag noch nicht, sodass das Wegräumen vorläufig auch nicht nötig war.
"Nimm dir ein Beispiel an den anderen Männern in der Straße", bearbeitete Frauke das Thema weiter, während sie mit kräftigen Bewegungen den Abwasch erledigte. "Die langweilen sich nicht am Fenster, sondern haben Hobbys. Hinnak von nebenan puzzelt unheimlich gerne, sagt seine Frau und der Herr Ochtendunk, vorne aus der Drei, baut Schiffsmodelle. Er hat schon eine ganze Kriegs- und Kreuzfahrtflotte zusammen."
Mathis verzog angewidert das Gesicht. In seinen Gedanken entwickelten sich Bilder der Innenansicht des Hauses. An den Wänden aller Zimmer, sogar auf dem Gästeklo, hingen gepuzzelte Bilder, angefangen bei 'Dürers betenden Händen' bis zu klebrig süßen Katzenbabybildern in mit rosa Seide bespannten Weidenkörbchen. Und überall auf den Kommoden, dem Fernseher, in der beleuchteten Wohnzimmeranbauwand standen kleine Schiffsmodelle, die er Gästen in epischer Breite vorstellte.
"Hier seht ihr die komplette Armada des spanischen Königs Philipp und gleich daneben die der russischen Kriegsmarine von …"
"Neulich war ein Mann im Fernsehen, der hat das Schloss Neuschwanstein aus Streichhölzern zusammengebaut", drängte sich Fraukes Stimme in Mathis’ Gedankengänge. "Das sah wunderschön aus."
Na toll, dachte Mathis schaudernd, nichts wie weg, bevor sie will, dass ich hundert Päckchen Streichhölzer kaufen gehe.
"Hört sich interessant an", sagte er eilig und wandte sich zum Gehen. "Ich schau mal, ob ich den kaputten Hocker noch mal richten kann."
"Was willst du denn mit dem?", rief Frauke ihm hinterher. "Dann nimm dir lieber ein Buch und lies mal was."
Mathis murmelte etwas, das sowohl Zustimmung als auch Ablehnung sein konnte und floh aus der Küche. Eiskalte Luft schlug ihm entgegen, als er auf die Terrasse hinaustrat. Raureif verzuckerte die Äste der Bäume und die braunen Blütenballen der Hortensien, die erst im Frühjahr abgeschnitten wurden. Der Atem bildete weiße Wölkchen vor seinem Mund. Ratlos sah Mathis sich um. Was sollte er nur mit dem langen Tag anfangen?