Über dieses Buch:
Mesa Verde Nationalpark, Colorado. Die Parkrangerin Anna Pigeon ist erst wenige Wochen in Mesa Verde stationiert, als der Park von mehreren mysteriösen Todesfällen erschüttert wird. Als hoch oben auf dem Felsplateau in der alten Indianerstadt der Anasazi die Leiche ihres Kollegen gefunden wird, beginnt für Anna ein Wettlauf gegen die Zeit. Sie ist sich sicher, jemand wollte ihn zum Schweigen bringen. Auf ihrer Suche nach der grausamen Wahrheit gerät Anna zwischen alle Fronten …
Packend und rasant – der dritte Band der fesselnden Krimireihe um die Parkrangerin Anna Pigeon mit ihrem untrüglichen Gespür für die Abgründe menschlichen Handelns: »Barr kennt und liebt ihre Landschaft und schreibt darüber mit dem Einfühlungsvermögen einer wahren Naturfreundin.« The Washington Post
Über die Autorin:
Nevada Barr wurde 1952 in Yerington, Nevada geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, bevor ihre Liebe zur Natur sie als Rangerin in verschiedene Nationalparks führte. Dies inspirierte sie zu ihrer Serie über Anna Pigeon, die mehrfach preisgekrönt wurde – unter anderem erhielt der erste Band, »Die Spur der Katze«, den renommierten Agatha-Award als bestes Debüt – und international erfolgreich ist. Nevada Barr lebt heute in Mississippi.
Bei dotbooks bereits erschienen:
Die Spur der Katze
Einer zuviel an Bord
Weitere eBooks der Anna-Pigeon-Reihe sind in Arbeit:
Feuersturm
Paradies in Gefahr
Blutköder
Wolfsspuren
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eBook-Neuausgabe Dezember 2018
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1995 by Nevada Barr
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel Ill Wind bei G. P. Putnam's Sons, New York.
Copyright © der deutschen Ausgabe 1999 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Published by Arrangement with Nevada Barr Paxton.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Sopotnicki
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-95824-475-7
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Nevada Barr
Zeugen aus Stein
Anna Pigeon ermittelt
Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel und Christine Strüh
dotbooks.
Inhaltsverzeichnis
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
Lesetipps
Für Deb und Ed,
ohne die ... Ich darf gar nicht dran denken!
Keine Gräber. Das beunruhigte Anna. Menschen starben. Wenn man die Leichen nicht aufaß, verbrannte oder per Post an einen Freund schickte, mußten sie irgendwo untergebracht werden. Jedenfalls müßten zumindest Knochen da sein. Eine Zivilisation, die sechshundert Jahre lang lebte und starb, hätte sogar einen ganzen Berg Knochen hinterlassen müssen.
Keine Friedhöfe. Und plötzlich keine Menschen mehr. Gerade hatten sie noch gekocht, gewebt und den Boden bestellt, und am nächsten Tag – alle weg. Es standen noch Töpfe auf der kalten Asche, Türmatten vermoderten in den Hauseingängen, Werkzeuge lagen achtlos neben halbfertigen Arbeiten.
Also: eine Invasion, eine Armee, die alle massakriert hatte? Aber wo waren dann die eingeschlagenen Schädel? Die gesplitterten Knochen? Oder Zähne, die wie ausgesäte Maiskörner auf der Erde lagen?
Eine Seuche, die amerikanische Variante der schwarzen Pest? Zwei Drittel der Bevölkerung tot. Die Überlebenden verlassen die zerstörten Siedlungen – und schleppen Tausende von Leichen mit? Sehr unwahrscheinlich. Schon gar nicht in einer Gesellschaft, die das Rad noch nicht kannte.
Wenn Menschen und ihre Lebensweise erst in ein Erklärungsschema gepreßt wurden, war sowieso alles zu spät. Aber dennoch – Leichen mußte es geben. Anna konnte sich keine Zivilisation vorstellen, die der nächsten Generation keine Leichen und keinen Müll hinterließ.
Jemand schlug mit der Hand auf den wackligen Resopaltisch, und Anna zuckte zusammen.
»Wo warst du?« zischte Alberta Stinson, Chefin der Fremdenführer für die Chapin Mesa.
»Überall – nur nicht hier, Al«, flüsterte Anna. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um die Träume wegzuwischen, und sah dann verstohlen auf ihre Armbanduhr. Die Personalkonferenz dauerte schon volle zwei Stunden. Es gab keinen Kaffee mehr. Doughnuts waren gar nicht angeboten worden.
Alberta Stinson bohrte Anna den Zeigefinger in die Rippen. »Bleib bitte wach! Die Jungs müssen sich mal wieder austoben.« Alberta – oder Al, wie sie allgemein genannt wurde – bezeichnete die Verwaltungsvertreter von Mesa Verde immer respektlos als »die Jungs«. Stinson wog fünfzehn Pfund mehr, als in den Frauenzeitschriften für ihre Größe empfohlen wurde, und ihre graumelierten Haare sahen aus, als hätte sie sich mit einer Zickzackschere daran verkünstelt. Sie leitete Besichtigungen, hielt Vorträge, wanderte durch die unzähligen Ruinen der Mesas. Ihr Gesicht war vom Wetter gegerbt, und um die Augen hatte sie lauter kleine Fältchen, weil sie immer in die grelle Sonne blinzelte. Soweit Anna wußte, gab es im Leben dieser Frau nur zwei Leidenschaften: Sie wollte herausfinden, warum »die Alten« verschwunden waren, und sie wollte dafür sorgen, daß jeder, der die Überreste ihrer Kultur zerstörte, ebenfalls verschwand.
Anna zog Albertas gelben Notizblock zu sich her. Unter ihre Kritzeleien – Galgen, Schlingen und andere Folterinstrumente – schrieb sie: »Kann leider nicht helfen. Bin nur 'ne kleine GS-7. Kein Biß.«
Al schnaubte ärgerlich.
Dreißig Minuten waren vergangen, seit Anna sich innerlich verabschiedet hatte, und es wurde immer noch hitzig debattiert. Der Kongreß hatte Geld zur Verfügung gestellt, und zwar nicht zu knapp. Das Geld war dafür gedacht, die veraltete Wasserleitung zu ersetzen, die die Wohnhäuser und die öffentlichen Gebäude des Mesa Verde National Park versorgte. Seit Mai dröhnten schwere Maschinen durch die historische Landschaft, begleitet von heftigen Auseinandersetzungen. Jede Woche wurden irgendwelche Sitzungen anberaumt oder abgesagt.
Die gereizte Stimmung verpestete die Wüstenluft genauso wie der vom Bagger aufgewühlte Staub. Wie in jeder Kleinstadt sickerte das Gift nach unten durch. Die Herrschenden führten Krieg, die Bauern ergriffen Partei. Selbst die Aushilfskräfte, die nur für die Hochsaison eingestellt waren, versammelten sich in verschwörerischen Grüppchen, hetzten gegen irgendwelche Kollegen, und mit jedem Glas Bier wuchs die selbstgerechte Empörung.
Anna war neu in Mesa Verde und deshalb noch von keiner Fraktion vereinnahmt worden. Aber die ständigen Spannungen zerrten an ihren Nerven und verstärkten ihre Tendenz zur Einsiedelei.
Um einen Tisch aus Blech und Resopal – so wie man sie normalerweise bei irgendwelchen Festveranstaltungen für das Servieren lederner Brathähnchen aufstellte – saßen die maßgeblichen Mitspieler: ein ausgezehrter, gieriger Verwaltungsbeamter, mit einem guten Gespür für Zahlen und einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben; der Chief Ranger, ein wachsamer, strenger Mann, der den Park um jeden Preis aus dem mittelalterlichen sanitären Zustand heraus- und zu imposanten Besucherstatistiken hinführen wollte, was seiner Meinung nach durch ein besseres Wasserleitungssystem ermöglicht würde; Ted Greeley, der Tiefbau-Unternehmer, der verpflichtet worden war, dieses Projekt im angemessenen Zeitraum zu verwirklichen, und Al Stinson, Historikerin, Archäologin und Beschützerin der Toten. Oder jedenfalls Schützerin des Anspruchs der Wissenschaft an die Toten.
Als die Anasazi im zwölften Jahrhundert vom Hochplateau der Mesa Verde verschwanden, hatten sie ihre Geheimnisse mitgenommen. Stinson war fest entschlossen zu verhindern, daß Maschinen des zwanzigsten Jahrhunderts irgendwelche Spuren und Überbleibsel dieser Geheimnisse zerstörten, ehe sie genauestens untersucht worden waren. Da das gesamte Gebiet der Chapin Mesa eine Fundgrube war, bekamen die Archäologen schon Alpträume, wenn auch nur ein Loch für irgendeinen Pfosten gegraben wurde. Und dann war ein Tiefbau-Unternehmer engagiert worden, um über eine Strecke von siebzehn Meilen einen fast zwei Meter tiefen Graben auszuheben.
Der Auftrag wurde Theodore Roosevelt Greeley von Greeley Tiefbautechnik zugesprochen. Man bezahlte ihn fürstlich. Obwohl Greeley äußerlich jovial wirkte, hielt Anna ihn für einen hartgesottenen Kapitalisten. Für ihn galt vermutlich nicht mehr das alte amerikanische Sprichwort: Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer, sondern die modernere Variante: Nur ein profitabler Indianer ist ein guter Indianer.
Immer in Sorge um die Finanzen, tendierten der Verwaltungsmann und der Chief Ranger zu Greeleys Lager.
Anna und der District Ranger Hills Dutton waren als einzige der Anwesenden nicht direkt in die Auseinandersetzungen verwickelt. Dutton, ein großer, imposanter Mann, saß auf einem Klappstuhl am Ende des Tischs. Er hatte die Munition aus dem Magazin seiner Sig Sauer 9-Millimeter-Pistole entfernt und schien nun Kugel für Kugel zu inventarisieren.
»Anna?«
Der Chief Ranger nuschelte wie immer, und es dauerte einen Moment, bis Anna registrierte, daß sie gemeint war.
»Ja?«
»Irgendwelche Anmerkungen?« Der Chief Ranger wollte offensichtlich die Last der Verantwortung nicht alleine tragen. Niemand in diesem erhabenen Gremium interessierte sich auch nur im geringsten für Annas Meinung. Sie und Hills waren lediglich eingeladen worden, weil die Sekretärin sich weigerte, Kaffee zu holen.
»Tja – wenn alle nicht direkt benötigten Angestellten außerhalb des Parkgebiets wohnen würden, wäre das Problem schon beträchtlich kleiner.« Zu »nicht direkt benötigt« gehörten nicht nur die Leute, die in der Hauptsaison als Ruinenführer arbeiteten, sondern auch die Archäologen, die Leiter der einzelnen Abteilungen, die Verwaltungsleute, der Chief Ranger und der Parkdirektor höchstpersönlich. Annas Vorschlag wurde mit verdrossenem Schweigen aufgenommen. Sie freute sich, daß sie mit ihrer Idee alle vor den Kopf gestoßen hatte. Vermutlich würde es eine Weile dauern, bis jemand sie nochmal mit der Bitte um eine »Anmerkung« belästigte. Also konnte sie sich getrost wieder in ihre eigene Welt zurückziehen.
Wenn die Parkbesucher sich am Ende des Tages verabschiedeten und das Abendlicht die wissenschaftlich grelle Mittagssonne ersetzte, entfloh Anna dem ganzen Hexenkessel.
Sie fand es erholsam, dort zu sein, wo keine Leute waren. Nach ihren Jobs im Backcountry der Wildnisparks – Guadalupe Mountains .in Texas und Isle Royal in Lake Superior – kam ihr Mesa Verde mit über zweihundertfünfzigtausend Besuchern im Jahr richtig großstädtisch vor. Tagsüber, wenn die Ruinen der Öffentlichkeit zugänglich waren, konnte sie sich gar nicht weit genug entfernen, um dem ständigen Brausen des Verkehrs zu entgehen und dem Brummen der Busse, die mit laufendem Motor irgendwo herumstanden und ihre Touristengruppen ausspuckten.
Wenn der Park geschlossen wurde, zog sie sich unter dem Vorwand, auf Patrouille zu gehen, in den Cliff Palace zurück, wo endlich wieder Stille eingekehrt war. Cliff Palace gehörte zu den größten Anasazi-Siedlungen, die bisher entdeckt worden waren. Anna kletterte so hoch hinauf, wie offiziell erlaubt war. Dann setzte sie sich hin und lehnte sich mit dem Rücken an den noch warmen Stein der uralten Mauern, um sie herum Zimmer und Türmchen und Zinnen, versunkene Kammern, die mit Tunneln verbunden waren, und Plätze mit Steinvertiefungen für das Schroten von Korn.
Von diesem Pueblo hatte man einen Ausblick in die Weite des Landes – Mesas, Spitzkuppen und grüne Täler, dahinter das Blau ferner Bergketten, das in das Blau des Himmels tauchte. Die Luft war dünn und klar. Sie war so trocken, daß sie nur das scharfe Aroma von Pinon und Ponderosa in sich trug.
Von ihrem Platz hoch oben in den Ruinen schaute sie in den Cliff Canyon hinunter, zu den Felsbehausungen. Sie schienen nacheinander aufzutauchen, zuerst eine, dann zwei, dann ein halbes Dutzend, wie versteckte Bilder in einem Kinderrätsel.
Winzige Siedlungen schmiegten sich in die natürlichen Nischen unterhalb des Plateaus und wachten über die verschlungenen Täler. Fast alle blickten nach Westen oder Südwesten, wodurch sie die wärmenden Strahlen der Wintersonne einfingen und in der Sommerhitze Schatten boten. Die Städte waren mit großem handwerklichen Können erbaut, die Arbeit geschickter Steinmetze deutlich erkennbar an den handbehauenen Steinen. Die Wände waren verputzt und bemalt, dekorative Elemente wie Sterne und Handabdrücke verzierten den Sandstein. Die Hauseingänge hatten die Form von Schlüssellöchern. Leitern aus Zedernholz und Leder führten zu Räumen, die auf Simsen zwölf bis fünfzehn Meter über dem Schieferboden der Nische gebaut waren.
Das waren keine Zelte, die man einfach abschlagen konnte, um lautlos in der Nacht zu verschwinden. Das waren Bauwerke, Kunst, Architektur. Wohnstätten, die für viele Jahrhunderte angelegt waren. Wenn diejenigen, die sie erbaut hatten, vertrieben wurden, hätten sich doch sicher die Sieger dort niedergelassen und sich an ihrer Eroberung gefreut!
Wenn also die Alten nicht ausgestorben waren, wenn sie nicht aus eigenem Antrieb gegangen waren, wenn sie nicht vertrieben wurden ...
Was dann? überlegte Anna.
Sehr mysteriös.
Stoff für Däniken.
Annas Funkgerät begann zu knistern, und alle am Tisch, Al eingeschlossen, sahen sie an, als hätte sie ein unanständiges Geräusch von sich gegeben.
»Entschuldigung«, murmelte sie.
Als sie den Raum verließ, hoffte sie insgeheim, daß eine Katastrophe passiert war: eine Schlägerei im Gemeinschaftshaus, wieder ein medizinischer Notfall im Cliff Palace, ein Busunglück – irgend etwas Schlimmes, damit sie nicht in die Sitzung zurück mußte.
»Siebenhundert, drei-eins-zwei«, beantwortete sie den Ruf.
»Könntest du bitte zum CRO kommen?« fragte Frieda von der Zentrale. Sie war die Sekretärin des Chief Ranger und Dispatcher für den Park, das heißt, sie war die Zentrale für den Funkverkehr. Immer ausgeglichen und professionell. An ihrer Stimme merkte man nie, ob einen im CRO – dem Chief Ranger's Office – ein Kind mit Nasenbluten oder der große Autodiebstahl erwartete.
»Bin schon unterwegs. Und vielen Dank«
»KFC siebenhundert, vierzehn-achtzehn.«
Das Büro des Chief Rangers war ein Gebäude aus Naturstein und nachgedunkelten Holzbalken. Wie beim Museum und den Häusern der höheren Parkangestellten handelte es sich um ein historisches Bauwerk, das im neunzehnten Jahrhundert vom Civilian Conservation Corps erbaut wurde, als der Spruch »viel Mühe, wenig Geld« noch wörtlich genommen wurde.
Anna stürmte durch die Fliegengittertür und stützte sich dann auf die Glasplatte des Tresens. Das Innere des hübschen kleinen Gebäudes war sehr bürokratisch in winzigkleine »Arbeitsbereiche« unterteilt und durch Teppichboden und billige Metallschreibtische zusätzlich verschandelt worden.
Frieda Dierkz blickte von ihrem Computer hoch. Sie war Mitte dreißig, hatte kurzes, asymmetrisch geschnittenes rotbraunes Haar, mehr Hüften als Schultern und mehr Köpfchen als alle anderen in der Abteilung Besucherschutz und Feuerbekämpfung. Mit einem Wort: Frieda war das Herz des Büros. Oder, noch besser: die »Königin des Büros«, wie es das computergeschriebene Schild an der Pinnwand über ihrem Schreibtisch verkündete. Anna vermutete, daß es einmal eine vielleicht noch nicht ganz vergangene Zeit gegeben hatte, in der Frieda gehofft hatte, Königin eines etwas privaten Reiches zu werden. Aber ein wenig attraktives Gesicht und – was vermutlich für Heiratspläne viel schädlicher war – eine Aura unerschütterlicher Kompetenz hatten aus ihr eine Karrierefrau gemacht.
Wahrscheinlich empfand Frieda das als Verlust, aber Anna sah es anders. Wer das Geld verdiente, erlebte ihrer Erfahrung nach auch die Abenteuer. Hilfspersonal – ob bei der Arbeit oder in der Küche – schien dazu verurteilt, das langweilige Herdfeuer hüten zu müssen.
»Also ...«, sagte Anna zur Begrüßung.
»Patsy hat angerufen. Tom ist im Park.« Wie immer war Frieda sehr sparsam mit Worten.
Patsy Silva war die Sekretärin des Parkdirektors, Tom ihr entfremdeter Ehemann. Ihr Exmann. »Was ist los? Laute Gitarrenmusik um drei Uhr morgens?«
»Selbstmorddrohungen und Pralinen. Die Pralinen wurden durch den Briefkastenschlitz gesteckt. Der Hund hat die Schachtel aufgerissen. Die eine Hälfte der Pralinen ist auf dem Bankauszug vom Mai geschmolzen. Die andere hat der Hund auf einen vierhundert Dollar teuren indianischen Teppich gekotzt.« Frieda lachte. Tom Silva war zwei Drittel lächerlich und ein Drittel mitleiderregend und für die Parkhüter mit polizeilichen Befugnissen ein Pfahl im Fleische, seit Patsy im vergangenen Winter eingestellt worden war. Hätten die beiden außerhalb des Parks gewohnt, dann hätte sich die Polizei von Colorado um die Sache kümmern müssen. Innerhalb der Grenzen des Parks fiel diese Aufgabe den Rangern zu.
Anna haßte Familienstreitigkeiten. Man konnte meist nicht definitiv sagen, wer »gut« und wer »böse« war. Die Rollen wechselten dauernd, und als Außenstehende hatte man im Grund keine Chance. »Wo ist Stacy?« Anna hoffte, einen zweiten Ranger zur Unterstützung mitnehmen zu können.
»Occupado. Im Cliff Palace hat es wieder einen ärztlichen Notfall gegeben. Eine ältere Dame.«
»Verdammt. Was erwartet Patsy denn von uns?«
»Daß jemand mit ihr redet, denke ich. Sie hat nichts Genaues gesagt. ›Unternehmt was, aber sagt nicht, daß ich es euch gesagt habe‹.«
Anna nickte. »Bin schon unterwegs.« Als sie schon fast an der Tür war, drehte sie sich noch einmal um. »Frieda, kann ich Piedmont heute abend besuchen?«
»Klar, wann du willst«, antwortete Frieda, die sich schon wieder ihrem Computer zugewandt hatte. »Wenn ich nicht da bin, geh einfach rein. Die Tür ist immer offen.«
Das Turmhaus war das malerischste, wenn auch nicht das praktischste der historischen Wohnhäuser. Es bestand aus einem runden Turm, in dem ein großes Schlafzimmer, die Treppe und ein kleines rundes Wohnzimmer untergebracht waren, und lag auf einem sanft ansteigenden Hügel westlich vom Museum, hinter den konventionelleren Häusern. Für eine Einzelperson wäre es ideal gewesen. Für eine Frau mit zwei Töchtern im Teenageralter war es in puncto Badezimmer und Stauraum eine Katastrophe.
Angeblich sollte Patsy wegen der Mädchen umziehen, sobald eine Dreizimmerwohnung frei wurde, und das Turmhaus würde dann zur Verfügung stehen. Wegen der allgemeinen Wohnungsnot war Anna, als sie vor acht Wochen ihren Dienst angetreten hatte, vom District Ranger vorläufig einem Gemeinschaftshaus zugewiesen worden, in dem normalerweise Frauen mit Zeitverträgen schliefen – bis sich eine bessere Möglichkeit auftat. Daher betrachtete Anna Patsys Wohnung beim Eintreten schon mit beinahe besitzergreifendem Blick.
Patsy Silva war mollig, mit den üppigen Rundungen einer Frau, die Kinder zur Welt gebracht hat. Ihre goldblonden Haare waren kurz geschnitten, und die Augen hatten wegen der gefärbten Kontaktlinsen ein unwirkliches Blau. Beim Anblick ihrer regelmäßigen Zähne, die durch den reichlich aufgetragenen pinkfarbenen Lippenstift noch betont wurden, wäre jeder Kieferorthopäde in Begeisterung geraten.
Patsy lächelte und zeigte mit einer fahrigen Handbewegung zum Wohnzimmer, wo jeder freie Zentimeter mit Klamotten und Zeitschriften bedeckt war. »Missy und Mindy sind gerade bei Frieda und sehen sich ein Video an«, sagte sie, als würde dieser Umstand einen überstürzten Aufbruch und die allgemeine Unordnung erklären. »Frieda hat eine tolle Filmsammlung, und die Mädchen können jederzeit kommen und sich bedienen. Das hilft.«
Anna nickte. Das idyllische Leben im Park war ideal für Erwachsene und kleinere Kinder, aber für Jugendliche, die einen langen Sommer vor sich hatten, konnte es eine Folter sein.
»Setz dich doch. Hier.« Patsy führte Anna in die Küche. »Kaffee oder irgendwas?« Diese Frage wurde, wie fast jeder Satz von Patsy, durch ein aufgesetztes Strahle-Lächeln unterstrichen. Dieses Lächeln war eher ein Versuch, die Leute zu besänftigen, als Ausdruck eines fröhlichen Gemüts. Jedenfalls empfand Anna es so.
»Eine Tasse Kaffee wäre nicht schlecht.«
Die Küche, der einzige viereckige Raum im Haus, war klein, aber praktisch, mit Holzschränken und einer Sitznische unter einem der beiden Fenster, wie im Diner. Anna nahm dort Platz, Patsy hantierte an der Mikrowelle herum. Anna mochte aufgewärmten Kaffee nicht besonders, aber die Leute schienen sich zu entspannen, wenn man ihre gastfreundlichen Bemühungen widerspruchslos annahm. Vielleicht hatte das etwas mit dem uralten Brauch zu tun, gemeinsam das Brot zu brechen. Oder vielleicht war es einfach angenehm, wenn man seine Hände und Augen beschäftigen konnte.
Patsy stellte die Tassen auf den Tisch, dazu eine Zuckerdose und ein Sahnekännchen in der Form einer Keramik-Ente mit blauem Kattunhäubchen.
»Danke.« Anna goß sich blaßbläuliche Milch aus dem Entenschnabel in ihre Tasse. Patsy knipste erneut ihr Lächeln an, aber es verschwand gleich wieder, weil es sie diesmal offenbar zu sehr anstrengte.
»Es geht um Tom«, sagte sie, als müsse sie etwas sehr Unangenehmes beichten.
»Pralinen.«
»Und ein Brief. Furchtbar. Wie kann man sich vor so was schützen? Die Polizei tut, als müsse ich froh sein, daß ich so einen netten Mann habe, der mir Geschenke macht!«
»Exmann.«
»Ja. Danke. Er bringt mich noch dazu, daß ich das vergesse. Exmann. Ex, ex, ex – wie bei ex und hopp, Schluß, aus, vorbei!« Sie strich sich mit den Fingern über die Schläfen – als wolle sie sich durch die akkurat frisierten Haare fahren, was sie dann aber doch bleiben ließ.
»Ist er denn mehr als nur lästig?« fragte Anna. Aufs Geratewohl hätte sie hinzufügen können: »außer, daß er dir Schuldgefühle macht?« Welche Frau bekam kein schlechtes Gewissen, wenn sie Blumen, Süßigkeiten und nächtliche Serenaden zurückwies?
»Ich hab schon befürchtet, daß du so was fragst«, antwortete Patsy und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück. »Ich weiß es nicht. Ich meine – eigentlich tut er ja gar nichts. Aber ich habe so ein komisches Gefühl, und das wird immer stärker. Verstehst du, was ich meine? Ich gehe nicht mehr auf dieses Blumengetue ein, und dann habe ich das Gefühl, als würde ich ihn dadurch an den Rand des Wahnsinns treiben. Dieser letzte Brief, der war, also ... der war echt ein bißchen irre.« Patsy entschuldigte sich mit einem besonders strahlenden Lächeln.
Patsy Silva hatte sich bestimmt im Verlauf ihrer siebenunddreißig Lebensjahre sehr oft entschuldigt und mit ihren Entschuldigungen und ihrem Lächeln versucht, die Wogen des Lebens zu glätten – da hätte Anna jede Wette gemacht. »Kann ich den Brief mal sehen?« fragte sie.
»Ja, ich hab ihn aufgehoben. Das habe ich immerhin seit der Scheidung gelernt. Alles, was irgendwie nervig ist, bewahre ich auf. Du kannst dir nicht vorstellen, wie blöd das klingt, auch in meinen Ohren, wenn ich irgendeinem Superbullen erkläre, was passiert ist, und der dann glaubt, seine Frau würde tot umfallen vor Entzücken, wenn er sie je so verwöhnen würde. Da ist der Zettel.«
Beim Reden hatte Patsy in einer winzigen Kommode gewühlt, kaum größer als für eine Puppenstube und mit einem Toilettenspiegel obendrauf. Auf jeder der Minischubladen klebte ein Enten-Abziehbild, das an das Sahnekännchen erinnerte. Aus der untersten Schublade angelte sie nun einen Zettel. Sie hielt ihn mit spitzen Fingern an einer Ecke, als wolle sie keine verräterischen Fingerabdrücke hinterlassen, und legte ihn auf den Tisch.
Da stand in kindlichen Druckbuchstaben, die kaum zu entziffern waren: »Was willst du, Pats? Ich hab dir alles gegeben. Ein Auto, schöne Klamotten, alles. Was willst du noch? Soll ichs machen wie dieser Typ da, von dem du mir erzählt hast, der jemand sein Ohr geschickt hat? Ich machs aber echt noch 'ne Nummer besser. Ich werd nicht ohne dich weiterleben, Pats. Kommt nich in Frage.«
»Und du glaubst, das ist eine Selbstmorddrohung«, sagte Anna. Für sie klang es eher, als würde er Patsy bedrohen, aber sie hatte keine Ahnung von Tom Silvas Innenleben. Da sie die Neue im Park war, kannte sie den ganzen Klatsch und Tratsch noch nicht.
»Ich wünschte, er meint Selbstmord!« antwortete Patsy schnippisch.
Anna gefiel dieser Tonfall besser als das ständige Superlächeln. Immerhin klang er echt.
Patsy hatte Anna über die Schulter geblickt und den Brief noch einmal gelesen. Jetzt setzte sie sich zu ihr auf die Bank. Soviel Nähe fand Anna unangenehm. Schon früher, als sie noch in New York City gewohnt hatte, bevor Zachary, ihr Mann, ums Leben gekommen war, hatte sie sich in Aufzügen und in der U-Bahn immer genügend Platz erkämpft. Seit sie für den Park Service arbeitete und sich in weniger beengten Gefilden bewegte, war dieses Bedürfnis noch gewachsen. Ein halber Hektar pro Person und Stierhörner als Kommunikationshilfen – das erschien ihr in etwa angemessen für zwischenmenschliche Kontakte.
Sie wandte sich Patsy zu, als wolle sie sich ihr ganz intensiv widmen, und rutschte dabei ein Stückchen von ihr weg.
»Ich hab Frieda gesagt, es ist eine Selbstmorddrohung, weil mir das am einfachsten vorkam – verstehst du, ich dachte, dann hab ich einen besseren Grund, um anzurufen.« Patsy nahm ihre Kaffeetasse, starrte aber nur hinein. »Ich meine vor allem die Stelle mit dem Ohr – so wie van Gogh. Außer den Pralinen war da nämlich noch ein Briefumschlag, so einer von diesen kleinen, quadratischen, wie wenn man Blumen geschickt kriegt.«
Anna wartete und trank einen Schluck Kaffee, der durch die fettarme Milch grau und lauwarm geworden war. »Und was war mit dem Umschlag?« half sie nach.
»Ich hab ihn verbrannt.«
Die meisten Leute lockte man aus der Reserve, indem man einfach lange genug schwieg. Aber bei Patsy half das nichts – wahrscheinlich war sie schon zu lange das liebe Mädchen, das nichts sagte, wenn es nicht gefragt wurde. Also fragte Anna, was in dem Umschlag gewesen war.
»So ein kleiner bräunlicher Fetzen, wie Stoff, ganz weich, vielleicht wie Crêpe de Chine. Tom ist nicht beschnitten. Ich glaube, es war seine Vorhaut.«
Anna zuckte zusammen. Das kam ihr jetzt auch ein bißchen »irre« vor.
Eine Minute lang schwiegen sie beide. Ob Patsy spürte, daß Anna ihre körperliche Nähe beengend fand, oder ob sie nun, da sie alles losgeworden war, die Nähe nicht mehr brauchte – jedenfalls stand sie auf und ging zum Spülbecken, um ihren unberührten Kaffee wegzukippen. Dann setzte sie sich auf die Bank Anna gegenüber.
»Was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?« fragte Anna.
Patsy brach in Tränen aus.
Während Patsy Silva weinte, dachte Anna nach.
»Ich nehme nicht an, daß gegen Tom irgendwelche Suchmeldungen oder Haftbefehle ausstehen?« erkundigte sie sich hoffnungsvoll.
Patsy schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«
Anna wußte nicht, ob Patsy sich entschuldigte, weil sie immer noch weinte, oder weil ihr Ehemann kein polizeilich registrierter Verbrecher war. »Ich lasse ihn trotzdem überprüfen. Man kann nie wissen.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Vielleicht eine einstweilige Verfügung, um dir den Kerl vom Hals zu halten. Ich werde der Sache nachgehen, ob du nachweisen mußt, daß du belästigt worden bist, und was nötig ist, um zu verhindern, daß er nach Mesa Verde kommt.«
»Es ist schon zu spät. Er ist hier«, wimmerte Patsy. Sie klang wie ein kleines Mädchen, das gerade einen Poltergeist gesehen hat. »Er hat einen Job bei dem Bauunternehmer, der die neuen Rohre verlegt.«
Die Wasserleitung. Inzwischen war Anna fast versucht, das Ding persönlich in die Luft zu sprengen. Vielleicht war das Parkpersonal ja seit Jahrzehnten zerstritten – es konnte schließlich nicht ohne Folgen bleiben, wenn man in einer isolierten Welt lebte, in der man sein Geld mit nichtvorhandenen Toten verdiente–, aber seit Anna hier arbeitete, war die Wasserleitung der Blitzableiter.
»Hast du einen neuen Freund?« fragte Anna unvermittelt.
Patsy machte ein gequältes Gesicht. »Nicht so richtig«, antwortete sie, ohne Anna in die Augen zu sehen.
Also hatte sie jemanden. Die typische Dreiecksbeziehung bahnte sich an. »Weiß Tom Bescheid?«
»Nein! Ich weiß doch selbst noch nicht genau, was läuft.« Patsy lächelte verschämt. Anna ächzte innerlich.
»Red du mit ihm«, flehte Patsy sie an.
»Klar«, versprach Anna.
»Vielleicht auch mit seinem Chef. Mit diesem Mr. Ted Soundso. Der wirkt ganz vernünftig.«
»Ted Greeley. Ja, kann ich machen.«
»Aber sorg dafür, daß er nicht rausgeschmissen wird. Missy und Mindy kommen nächstes Jahr in die Highschool, da sind wir auf seine Zahlungen angewiesen.«
Anna unterdrückte einen Seufzer. Diese Familiendramen. »Ich muß los«, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr über der Spüle. »Dienstschluß.«
Patsy lachte zum erstenmal richtig. »Hills hat sein ganzes Überstundengeld in einen neuen Jeep gesteckt. Ich finde das super – er ist so süß, wenn er in den Haushaltssitzungen um Geld bettelt.«
»Mach's gut«, sagte Anna, setzte ihren Rangerhut auf und blickte sich noch einmal in der Wohnung um, die sie demnächst zu übernehmen hoffte.
»Ich werd alles ... alles Persönliche, was Tom mir schickt, aufbewahren und dir geben«, versprach Patsy und hielt die Tür auf.
»Ich kann's kaum erwarten.«
Jetzt ging der Sommer richtig los.
Es gab keine Ruhe für die Müden – oder hieß es »die Bösen«? Anna konnte sich nicht erinnern. Auf jeden Fall gab es keine Ruhe für diejenigen, die sich eine Wohnung mit anderen teilen mußten.
Ihre Aktentasche, in der sie Strafzettel, Landkarten und Broschüren mit sich herumtrug, stieß gegen die Gittertür, und Anna schrappte sich den Ellbogen. Gleichzeitig wurden ihr Gehör und ihr Geruchssinn attackiert – von den Greatful Dead beziehungsweise von einer Küche, die sogar beim abgehärtetsten Gesundheitsinspektor Entsetzen hervorgerufen hätte.
Von Anfang an war für Anna klar gewesen, daß es bei dieser angeblich provisorischen Unterbringung nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder sie nahm die Situation hin, wie sie war, oder sie mußte die Mama spielen. Da sie weder die Begabung noch die Lust zum Mamaspielen hatte, watete sie seit viereinhalb Wochen, also seit der Ankunft ihrer Mitbewohnerinnen, knietief durch ungespültes Geschirr und leere Bierdosen. Aber das Chaos war nicht so schlimm wie der Lärm. Nachdem ein paarmal die Fetzen geflogen waren, hatte Anna wenigstens ein eigenes Zimmer bekommen, doch die Wände waren so dünn, daß Anna manchmal das Gefühl hatte, sie würden die Klangwellen nicht abfangen, sondern leiten.
In einen selbstgenähten, knöchellangen Sarong gekleidet hatte sich Jamie Burke malerisch auf einem der Sofas ausgestreckt. Jennifer Short, die andere Frau, mit der Anna das Haus mit den drei Zimmern teilte, lümmelte sich auf dem anderen, als sollte demnächst eine Pyjama-Party stattfinden. Jamie und Jennifer waren intelligente, lustige, interessante Frauen. Wenn Anna nicht gewußt hätte, wie sie sich im häuslichen Umfeld verhielten, hätte sie die beiden bestimmt sehr nett gefunden.
Als sie unbemerkt in ihr Zimmer schlüpfen wollte, ertönte der Befehl »Stop! Stehenbleiben!« Das war Jamie. Sie gehörte zu den zahlreichen Aushilfskräften, die jeden Sommer eingestellt wurden, um Führungen durch die Felsenstädte zu machen. Deshalb war sie – nur vorübergehend, wie Hills immer wieder versicherte – Annas Mitbewohnerin in Far View.
Gehorsam blieb Anna stehen, die Aktentasche in der Hand.
Jamie war Ende zwanzig. Sie sah aus, als hätte sie schon immer Sport getrieben. Ihre kräftigen Hüften und muskulösen Beine ließen sie untersetzt wirken, was noch betont wurde durch den breitkrempigen Hut und die klobigen Schuhe der National Park Service-Uniform, die sie bei der Arbeit trug.
Ihr Gesicht paßte gar nicht zu ihrer sonst eher plumpen Erscheinung: ein perfektes Oval mit makelloser Haut, hellblauen Augen und einem sinnlichen Mund. Jamies knielange Haare – fein, glatt und blauschwarz – waren zu einem mit rotem Wollgarn verstärkten Zopf geflochten, ganz im Stil der Apachen.
Jamie behauptete immer, sie habe die blauschwarzen Haare von ihrer Mutter geerbt, die halb Cherokee war, aber Anna vermutete, daß sie gefärbt waren. In einer Frauenwohngemeinschaft gab es keine Geheimnisse. Jamies Körperhaar war alles andere als rabenschwarz.
»Was ist los?« fragte Anna, bemüht, ihre Müdigkeit nicht zu sehr zu zeigen.
»Stacy mußte heute morgen eine alte Dame aus Cliff Palace rausführen. Wo warst du?«
Anna ignorierte den vorwurfsvollen Ton. »Was war das Problem?«
»Atembeschwerden. Die Frau hat keine Luft mehr gekriegt. Wie bei dem alten Mann letzte Woche.«
»Stimmt.« Anna wartete.
»Sie sind sauer. War ja auch nicht anders zu erwarten.«
Jetzt kam Anna nicht mehr mit. Der Krankentransport letzte Woche hatte doch hervorragend geklappt. Die Ehefrau hatte sogar ein rührendes Dankschreiben geschickt. »Die Familie des Mannes ist sauer?«
»Nein!« Jamie dehnte das Wort, als wäre Anna schwer von Begriff. »Die Alten. Die Anasazi. Man sollte den Park schließen–außer für die Eingeborenen. Hier ist nicht der Wilde Westen, das sind heilige Stätten. Wir dürften eigentlich gar nicht hier sein.«
Jamie Burke hatte sich in den wenigen Wochen, die Anna sie kannte, von einem Drama ins nächste gestürzt: Sie hatte einen AIDS-Test machen müssen, hatte sich mit einem unbekannten Senator aus Florida verlobt und war in eine Affäre mit einem verheirateten Mann verwickelt gewesen, die so geheim war, daß sie nur erfunden sein konnte. Das Thema Wasserleitung war wieder einmal ein gefundenes Fressen für sie.
»Ah. Die Chindi.« Anna war sich nie ganz sicher, ob das Navajo-Wort einfach nur ›Geister‹ bedeutete oder ganz speziell ›böse Geister‹. »Kann sein. Hör zu – ich muß mich erst mal von diesem Mordinstrument befreien.« Sie deutete auf ihren Revolver, zog eine Grimasse und ging den Flur hinunter.
Nachdem sie die schwere Pistole und die engen Schuhe abgelegt hatte – beides gehörte zur NPS-Uniform Klasse »A« –, war sie innerlich gleich weniger aggressiv. Und nachdem sie sich ein Glas Mirassou Pinot Blanc eingegossen hatte, fühlte sie sich friedfertig genug, um sich den beiden im Gemeinschaftszimmer anzuschließen.
Der Fernseher lief, war aber leise gestellt. Jamie beschimpfte Vanna White, die bei der Sendung »Glücksrad« die Buchstaben umdrehte. Es war ein allabendliches Ritual, das nie seine erheiternde Wirkung verfehlte.
»Arme wie Zahnstocher. Sieh dir das mal an!« rief Jamie. »Ich finde sie überhaupt nicht hübsch. Findest du sie hübsch? Wer in aller Welt findet diese Frau eigentlich hübsch? Fräulein Zahnstocherarme! Fräulein Weißbrot!«
Anna schlug die Beine unter und kuschelte sich in den alten Sessel. Der Raum war im frühen Zahnarzt-Wartezimmer-Stil eingerichtet, aber durchaus zweckdienlich. Anna, barfuß, in rosaroten Jogginghosen und einem übergroßen Herrenhemd, umgeben von den Budweiser trinkenden Mädchen – oder Frauen, die aus der Perspektive einer Vierzigjährigen wie Mädchen aussahen –, hatte das Gefühl, als sei sie wider Willen in eine Zeitmaschine geraten. Selbst der billige Südweststaatenstoff von Jamies Sarong erinnerte sie an die indischen Tagesdecken, die sie während der Studienzeit für unzählige Zwecke verwendet hatte. Eine Woge des Selbstmitleids überschwemmte sie, und sie hatte das Gefühl, als wäre ihre eigene Welt so tot wie die der Anasazi. Sie vermißte Christina und Alison, mit denen sie in Houghton, Michigan, zusammengewohnt hatte, als sie auf der Isle Royal arbeitete.
Chris war der Fels in der Brandung gewesen: freundlich, sanft und stärker, als Anna es für sich selbst je zu hoffen wagte. Alison, ihre Tochter, war mit ihren sechs Jahren wie ein kleines Kätzchen mit viel Grips – unwiderstehlich und fast ein bißchen einschüchternd.
Unter dem Vorwand, daß Mesa Verde für sie einerseits eine Art Beförderung bedeutete und ihr andererseits die Möglichkeit gab, in den geliebten Südwesten zurückzukehren, war Anna weggezogen. In Wirklichkeit hatte sie sich aus dem Staub gemacht, weil sie wußte, daß Chris verliebt war, aber nicht mit ihrer Geliebten zusammenziehen würde, wenn das bedeutete, daß sie dafür Anna im Stich lassen mußte. Also hatte Anna Chris im Stich gelassen.
Ich bin eine blöde Heilige, dachte Anna verdrossen, während sie zuschaute, wie Vanna beim »Glücksrad« die E's umdrehte.
Aber der Job in Mesa Verde war nicht übel. Obwohl sich Anna manchmal eher wie eine Krankenschwester vorkam statt wie ein Ranger.
Mesa Verde war ein alter, traditioneller Nationalpark. Schon 1906 war klar, daß die alten Felsenstädte zwar größtenteils bereits ihrer Kunstschätze beraubt waren, aber dennoch einen wichtigen Teil des amerikanischen Erbes darstellten und bewahrt werden mußten.
Es war ziemlich umständlich, nach Mesa Verde zu kommen, und die Besucher hatten das nötige Geld, sich so etwas leisten zu können. Demzufolge war die Klientel überwiegend älter, mit goldenen Kreditkarten und teuren Wohnmobilen. Senioren mit schwachen Herzen und Lungen aus San Diego, aus Florida und von der texanischen Südküste fanden sich das erstemal seit vielleicht dreißig Jahren in einer Höhenlage wieder. Wenn man Drogenhunde einsetzte, würden sie, so vermutete Anna, mehr Nitroglyzerintabletten erschnüffeln als sonstige Substanzen.
Es hatte bereits zwei Todesfälle gegeben – beide Male ältere Besucher mit Herzkreislaufbeschwerden –, und elfmal mußte der Krankenwagen gerufen werden, davon fünfmal zum Cliff Palace. Und es war erst Anfang Juni.
Anna trank den letzten Schluck Wein, lehnte sich zurück und merkte, wie der Alkohol ihre Gehirnwindungen lockerte.
Jennifer kam mit einer frischen Dose Bier zum Fernseher zurück.
Jennifer Short hatte ein rundes Gesicht, schöne Haare, schlechte Haut und trug zuviel Make-up. Nach einem einsemestrigen Kurs an der Tennessee State University hatte sie jetzt ihren ersten Sommerjob in einem Nationalpark angetreten, als Parkhüterin mit gesetzlichen Befugnissen. Jennifer war eine typische Südstaaten-Belle aus Memphis, eine Spezies, die Anna eigentlich schon für ausgestorben gehalten hatte: Magnolienblüten, ein beschütztes Leben und Angst vor jeder Maus. Gute Voraussetzungen, um die Jungs dahinschmelzen zu lassen.
Anna hatte noch nicht entschieden, ob Jennifers Allüren sie ärgerten oder faszinierten. Einerseits war es interessant, ihr dabei zuzusehen. Andererseits konnte es einen bei dem Job hier das Leben kosten.
»Jamie, ich hab das arme kleine Ding gesehen, von dem du geredet hast«, sagte Jennifer in ihrem Südstaaten-Singsang.
»Sie hat ein unglaublich hübsches Gesicht – aber ihre Figur! Ich könnte so nicht leben. Die Highschool wird für sie bestimmt die reinste Hölle. Es wäre ein Akt der Barmherzigkeit, wenn man solche Kinder gleich nach der Geburt ertränken würde. Ich will ja nicht herzlos klingen, aber ich meine es ernst – um ihrer selbst willen. Ich würde so nicht leben wollen. Echt nicht.«
Niemand sagte etwas dazu, alle starrten auf Vanna. Jennifer hatte von Bella gesprochen, der Tochter von Stacy und Rose Meyers. Anna merkte, daß sich eine tiefe Traurigkeit in ihr auszubreiten drohte, und war deshalb erleichtert, als ein lautes Klopfen ihre Gedanken unterbrach. Sie machte keinerlei Anstalten, sich aus ihrer zusammengekauerten Haltung zu erheben. Jennifer sprang auf. »Ich seh nach!« rief sie. In ihrer ersten Woche im Park hatte sie verkündet, sie habe sich vor allem deswegen für den Parkhüter-Job entschieden, weil sie heterosexuelle Männer treffen wollte.
Einen Moment später kam sie mit zwei Aushilfs-Feuerwehrleuten von der Helikopter-Crew, auch Helitacker genannt, zurück. Da es im Park so viele Ruinen und Kunstwerke gab, mußten alle Brände im Keim erstickt werden. Dafür waren die Wildnis-Feuerwehrleute mit ihren Hubschraubern zuständig. Bulldozer und andere schwere Maschinen, die normalerweise zur Feuerbekämpfung eingesetzt wurden, wären für die Kulturdenkmäler hier im Park extrem schädlich." Man versuchte also frühzeitig zu verhindern, daß sich die Flammen ausbreiteten. Wenn es gerade nirgends brannte, wurden die Helikopter außerdem bei eventuellen Rettungsaktionen eingesetzt, um kranke oder verletzte Besucher aus den weniger zugänglichen Ruinen zu evakuieren.
Jimmy Russell und Paul Summers waren jung und athletisch, wie die meisten der Aushilfs-Feuerwehrleute, die im Sommer hier arbeiteten, und sofort knisterte das Wohnzimmer vor sexueller Energie. Russells durchtrainierte Arm- und Rückenmuskulatur kam durch ein knappes T-Shirt gut zur Geltung. Auf dem T-Shirt war ein fliegendes Insekt abgebildet, das ein gelbes Hemd aus feuerfestem Nomex trug. Jimmy stammte aus Kentucky und kaute seine Wörter wie Tabak. Summers war unglaublich blond mit einem Surfer-Haarschnitt und feinen Gesichtszügen. Irgendwie schaffte er es, in abgetragenen Levis und einem weiten, zerknitterten Oxfordhemd vornehm zu wirken. Er brachte das Trankopfer mit: in jeder Hand einen Sixpack Coors Light.
»Hallo, Anna.« Paul lächelte sie an, und sie ärgerte sich, weil sie sich geschmeichelt fühlte.
Russell riß eine Bierdose auf und nahm im Schneidersitz auf dem Teppich Platz. Jamie rückte auf dem Sofa ein Stück zur Seite und begann, ihm die Nacken- und Schultermuskeln zu massieren.
Laßt den Balztanz beginnen, dachte Anna mürrisch und erhob sich: Es war Zeit, Piedmont zu besuchen.
Auf dem Weg durch die Küche schnappte sie sich die Flasche mit dem restlichen Mirassou Blanc.
Frieda Dierkz hatte ein Haus im sogenannten Personaldorf, nicht weit vom Wartungsgelände und vom Museum/Hauptquartier. Die Häuser waren klein, weiß verputzte Zwei- oder Drei-Zimmer-Häuschen, mit dem Charme und den Nachteilen des Baustils der vierziger Jahre. Hier wohnten die Festangestellten mit den besseren Jobs: GS-4, GS-5 und GS-7. Wer noch besser gestellt war, beanspruchte eine Unterbringung in einem der schönen historischen Gebäude beim Hauptquartier. Auch das Gemeinschaftshaus der Feuerwehrleute gehörte zum Personaldorf, ebenso die beiden schon etwas älteren Trailer, die jeden Sommer an die Ruinenführer vermietet wurden.
Frieda wohnte im Haus Nr. Vierunddreißig. Die meisten der kleinen Vorgärten waren mit Unkraut und Gräsern überwuchert. Ihr Ringelblumenbeet und der gepflegte Rasen wirkten im Juniper-Land ein wenig fehl am Platze.
Ein schwarzer Labrador mit traurigen Augen lag auf ein paar frisch ausgegrabenen Ringelblumen. Er wedelte halbherzig mit dem Schwanz, als Anna kam.
»Hi, Taco.« Sie blieb stehen und tätschelte ihm den Kopf. Der Hund gähnte, um seine Dankbarkeit zu zeigen. »Wo ist Piedmont?« fragte Anna, während sie das hängebackige Hundegesicht zwischenbeide Hände nahm. »Sag bloß nicht, du hast ihn aufgefressen.«
»Nein, er lebt!« Frieda war an die Tür gekommen und blieb hinter dem Fliegengitter stehen. Ein großer getigerter Kater lag so entspannt auf ihrem Arm, daß er fast wie tot wirkte. Mit der freien Hand stieß Frieda die Fliegengittertür auf und ließ Anna herein.
Anna tauschte die Weinflasche gegen den Kater, vergrub ihr Gesicht in dem weichen Nackenfell und atmete tief ein. »Ahhh. Vielen Dank. Genau das hab ich gebraucht.«
»Für mich?« Frieda beäugte die offene Flasche.
»Das Motto des Park Service: Immer was mitbringen, was man mit andern teilen kann.«
Während Frieda in die Küche ging, um Gläser zu holen, setzte sich Anna schon auf die Couch, die genauso aussah wie die bei ihr zu Hause in Far View. Der Kater machte es sich auf ihren Knien bequem.
Aushilfskräften war der Trost von Haustieren nicht gestattet. Solange Anna also in einem Haus für Aushilfen wohnte, mußte sie ihren Kater bei einer Festangestellten unterbringen, die das Privileg einer »richtigen« Wohnung genoß.
Frieda kam mit zwei billigen Weingläsern zurück und goß beide voll.
»Wenn du gerade beschäftigt bist, können Piedmont und ich auch raus in den Garten gehen«, bot Anna an. »Ich brauche heute abend dringend eine Dosis Katzenmedizin.«
»Ich weiß auch nicht, was ich ohne Taco tun würde«, meinte Frieda. Sie legte ihre Füße auf den zerkratzten Couchtisch und trank einen kräftigen Schluck.
»Aber Taco ist nur ein Hund«, flüsterte Anna dem Kater ins Ohr.
Frieda lachte. Das passierte selten, und es klang überraschend nett – wie das Lachen, das Anna und ihre Schwester Molly immer das »Prinzessinnen-Lachen« genannt hatten, als sie noch Kinder waren. Es erinnerte an das Klingeling kleiner Silberglöckchen. Anna und Molly hatten diese Art von Lachen sogar geübt, waren aber nie weiter gekommen als zu einem mädchenhaften »Ti-hi-hii«. Glöckchen waren für Prinzessinnen. Und offenbar für die Dispatcher von Mesa Verde.
»Wenn ich dich mit deiner Katze sehe, kann ich mir kaum vorstellen, daß du dieselbe erbarmungslose Person bist, die armen alten Damen im Rollstuhl einen Strafzettel verpaßt, wenn sie ohne Genehmigung auf dem Behindertenparkplatz parken«, sagte Frieda.
Das sollte zwar neckisch klingen, aber Anna war trotzdem getroffen. »Das würde ich nie tun!« protestierte sie, fügte aber sicherheitshalber hinzu: »Woher soll ich denn wissen, ob jemand behindert ist? Es könnte schließlich auch der Footballspieler Joe Namath sein, der da parkt.«
»Namath ist behindert«, erwiderte Frieda. »Kaputte Knie.«
»Dann braucht er einen Berechtigungsschein.«
Wieder lachte Frieda ihr Silberglöckchenlachen Dann tranken sie beide schweigend ihren Wein. Piedmont, der keine Lust mehr hatte, angebetet zu werden, sprang von Annas Schoß. Kurz darauf hörte man ein schlappendes Geräusch aus dem Badezimmer: Piedmont labte sich an seiner Milchschüssel.
»Was weißt du über Tom Silva?« fragte Anna. So ganz konnte sie die Arbeit noch nicht ausblenden.
Frieda überlegte einen Moment. »Patsy war schon geschieden, als sie eingestellt wurde – letzten Herbst, im November, glaube ich. Die Mädchen wohnen erst seit Mai bei ihr, seit die Schulferien angefangen haben, deshalb war Tom bisher nicht oft da – jedenfalls nicht so, daß man ihn richtig kennengelernt hätte. Ich hab ihn nur einmal zu Gesicht gekriegt. Sieht gut aus. Jünger als Patsy, würde ich mal annehmen, aber nicht viel – fünfunddreißig oder so. Vielleicht wirkt er aber auch nur jünger. Er hat diese wunderbare Olivenhaut, die praktisch unverwüstlich ist.«
»Kommt er die Mädchen besuchen?«
»Öfter als Patsy lieb ist. Ihrer Meinung nach ist das nur Show. Ich vermute, daß sie ihn unter anderem deshalb verlassen hat, weil er sich überhaupt nicht um die Mädchen gekümmert hat. Wahrscheinlich ist er ein schrecklicher Kindskopf. Einmal hat sie gesagt, sie hätte es nicht gepackt, die alleinerziehende Mutter von drei Teenagern zu sein. Zum Glück arbeitet er als Dachdecker oder Zimmermann für einen Betrieb in Grand Junction. Da muß er zwei Stunden fahren, und das hält ihn auf Distanz.«
»Der Typ, der die neue Wasserleitung verlegt, hat ihn eingestellt«, sagte Anna.
»Auweia.«
»Ja. Auweia.« Piedmont kam zurück und legte sich aufs Sofa, gerade außerhalb von Annas Reichweite. Sie gab sich damit zufrieden, seine Schwanzspitze festzuhalten. Gelegentlich zuckte Piedmont ungehalten, um sein Mißfallen zu demonstrieren.
»Er schmollt« meinte Frieda, und Anna nickte. Sie saßen eine Weile da, ohne etwas zu sagen. Es war kein behagliches Schweigen, zumindest nicht für Anna. Dafür kannte sie Frieda noch nicht lange genug.
»Meinst du, Silva ist gefährlich?« fragte Anna schließlich.
»Vielleicht. Nein – eigentlich glaube ich das nicht. Er kommt mir eher vor wie ein Angeber.« Der sich zum Beispiel die Vorhaut abschneidet, dachte Anna, sagte aber nichts. In der Park-Welt blieb das Privatleben der einzelnen zwar selten privat, aber soweit sie wußte, war Silvas Penis bisher noch nicht öffentlich erörtert worden.
»Das eine Mal, als ich ihn gesehen habe, kam er mir allerdings vor wie ein ziemlicher Opportunist.«
»So eine Art Elster? Bringt die Beute nicht um, hat aber nichts dagegen mitzuessen, wenn jemand anderes die Arbeit erledigt?«
»Stimmt genau. Du hast es erfaßt. Er sieht sogar aus wie eine Elster: Er zieht sich zu gut an, redet zu laut, hat einen großkotzigen Gang.«
Wieder schwiegen sie. Diesmal war es ein bißchen leichter, aber nach ungefähr einer Minute hielt Anna es nicht mehr aus. »Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, sagte sie, wobei sie Piedmont sanft am Schwanz zupfte. »Ich will heute abend noch meine Schwester anrufen, und in New York ist es jetzt schon zwanzig nach neun. Danke, daß ich kommen durfte.«
»Danke für den Wein!« erwiderte Frieda und begleitete Anna zur Tür.