Für Annas wilde Hühner –
und für Vanessa, die es zuerst gelesen hat
Sprottes Mutter fuhr zu schnell. Eine rote Ampel hatte sie schon überfahren, und die, auf die sie jetzt zufuhr, stand auch schon eine gefährlich lange Weile auf Gelb.
»Das schaffst du nicht!«, sagte Sprotte. Draußen schlenderten die Leute im T-Shirt an den Schaufenstern vorbei, und der Himmel über den Häusern war so blau, als hätte ihn jemand frisch angestrichen. Dieser Tag war höchstens zum Eisessen gemacht, aber bestimmt nicht, um irgendein verdammtes …
»Natürlich schaff ich das.« Ihre Mutter gab noch einmal Gas, aber sie schaffte es nicht – und musste so scharf bremsen, dass Sprotte der Gurt in die Schulter schnitt.
»Mam! Willst du deinen Führerschein loswerden? Du kommst sowieso zu spät.«
Ihre Mutter sah in den Rückspiegel und leckte sich etwas Lippenstift von den Vorderzähnen. »Ach ja? Und wer ist schuld, dass wir so spät dran sind? Wer musste unbedingt noch schnell mit sämtlichen Freundinnen telefonieren und eine halbe Stunde nach einer zerschlissenen Tigerhose suchen, mit der kein normaler Mensch mehr auf die Straße gehen würde?«
Sprotte strich über ihre Hose, die wirklich schon bessere Tage gesehen hatte, und sah aus dem Wagenfenster. Das Taxi roch nach kaltem Rauch und fremden Leuten. »Ich hab eben keine Lust, mir Brautkleider anzugucken. Und früher hast du von so was auch nichts gehalten. Bevor …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende: bevor der Klugscheißer aufgetaucht ist, bevor das Gerede mit dem Heiraten losging, als auf unserem Klo noch keiner Autozeitschriften las und ich noch das große Zimmer hatte. Sprotte musste das alles nicht aussprechen. Ihre Mutter wusste sowieso, was ihr im Kopf herumging, und das schlechte Gewissen, das sie deswegen hatte, verbesserte ihre Laune nicht gerade. Sie warf einen grimmigen Blick in den Rückspiegel und zupfte sich die Haare aus der Stirn.
»Entschuldige, dass ich meine Meinung geändert habe! So was würde dir natürlich nie passieren! Mein Gott, ich wollte eben, dass du dabei bist! Dass du mir beim Aussuchen hilfst! Du sagst mir doch sonst auch immer, was ich anziehen soll.«
Die Ampel sprang auf Grün, und der Fahrer hinter ihnen, ein kleiner, kahlköpfiger Kerl, der kaum über sein Steuer gucken konnte, hupte, als Sprottes Mutter nicht sofort losfuhr.
»Ja, ja, ich fahr ja schon. Sieh dir diesen Giftzwerg an. Überall sind sie, alles Giftzwerge.«
Ihre Mutter wechselte so abrupt die Fahrbahn, dass ihr der Kahlkopf den nackten Finger zeigte, aber sie bemerkte es nicht mal. Seit Tagen war sie nun schon so – seit sie und der Klugscheißer den Hochzeitstermin festgelegt hatten.
»Ich versteh’s immer noch nicht.« Sprotte hatte sich geschworen, nicht wieder damit anzufangen, aber sie konnte es einfach nicht lassen. »Warum musst du ihn heiraten? Es reicht doch schon, dass er jeden zweiten Tag –« Sie biss sich auf die Lippen. Schluss.
Ihre Mutter umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel ganz weiß waren. Als ob Sprotte nicht genau wusste, dass der Klugscheißer auf die Idee gekommen war. Er war ganz verrückt aufs Heiraten und alles, was dazugehörte, und deshalb mussten sie sich an diesem wunderbaren, frühlingswarmen, himmelblauen Nachmittag Brautkleider ansehen. Dabei hatte Sprottes Mutter höchstens fünfmal in ihrem Leben einen Rock getragen, von einem Kleid ganz zu schweigen.
»Er sagt, er möchte mich einfach gern in so einem Ding sehen«, murmelte sie. »Er sagt, ich werde wunderbar darin aussehen.«
Sprotte konnte sich vorstellen, wie er dreingeblickt hatte, als er das gesagt hatte. Wenn der Klugscheißer romantisch wurde, bekam er diesen unglaublich lächerlichen Gesichtsausdruck – als schmelze sein Gesicht vor Rührung wie ein Stück Butter in der Sonne. Mit dem Gesichtsausdruck konnte er Sprottes Mutter zu allem überreden, sogar zu einer weißen Hochzeit mit allem Drum und Dran, wie er es gern ausdrückte.
Seit fast einem Jahr war sie nun schon mit ihm zusammen. Noch nie hatte sich ein Mann so dauerhaft bei ihnen eingenistet. Seine Autozeitschriften lagen neben dem Klo, seine Haare hingen in der Bürste und beim Frühstück aß er Sprotte die Nutella weg. Ganz eingezogen war er noch nicht bei ihnen. Zwei, drei Tage die Woche schlief er noch in seiner eigenen Wohnung, falls man das eine Wohnung nennen konnte, direkt über seiner Fahrschule, aber nach der Hochzeit würde sich das natürlich auch ändern. In Vorbereitung auf diesen großen Tag hatte Sprotte ihr Zimmer räumen müssen, weil das Ehebett, das der Klugscheißer ausgesucht hatte, nicht in das Zimmer passte, in dem ihre Mutter bisher geschlafen hatte.
Sprotte stemmte die Füße gegen das Armaturenbrett. Da war der Laden. Er war nicht allzu groß. Im Schaufenster standen zwei brautkleidweiße Puppen, die mit leerem Lächeln in den Frühling hinausblickten, und vor der Tür wartete schon der Klugscheißer. Er sah gerade auf die Uhr, als sie an ihm vorbeifuhren.
»Ich werd zu spät kommen!«, sagte Sprotte, als ihre Mutter am Straßenrand einparkte. Das kam auch noch dazu. Um fünf Uhr war sie mit Fred verabredet. Sie wollten ins Kino gehen, zusammen mit Frieda. »Wehe, du kommst wieder zu spät!«, hatte Fred ihr heute Morgen in der Schule gedroht. »Dann geh ich mit Frieda allein ins Kino und wir setzen uns in die hinterste Knutschreihe.« Sprotte hatte ihn dafür gekniffen und gelacht. Schließlich war es albern, eifersüchtig auf die beste Freundin zu sein. Aber manchmal ist man albern, auch wenn man es nicht will. Und Fred und Frieda trafen sich zurzeit ziemlich häufig, weil Fred Mathe-Nachhilfe brauchte und Melanie Frieda dafür vorgeschlagen hatte. Heute war so ein Nachhilfetag – und Sprotte wollte wirklich nicht zu spät ins Kino kommen. Nicht wegen ein paar dämlicher weißer Kleider.
Der Klugscheißer trug natürlich wieder einen seiner grässlichen Musterpullover (SRPs nannte Fred sie: Sportreporterpullover), und wahrscheinlich stand er sich schon eine ganze Weile vor dem Laden die Beine in den Bauch, denn er war immer pünktlich, das heißt, eigentlich war er immer zu früh, mindestens eine Viertelstunde.
Er schien genauso nervös zu sein wie Sprottes Mutter. Ständig fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, es stand schon in alle Richtungen. »Na endlich!«, rief er ihnen entgegen. »Ich dachte schon, ihr kommt nicht.«
»Du meine Güte, ich hoffe, diese Minutenzeterei gibt sich noch!«, flüsterte Sprottes Mutter ihr zu, während sie auf ihn zugingen. »Vielleicht sollte ich ihm die Uhr verstellen, damit er auch mal zu spät kommt. Was hältst du von der Idee?«
Sprotte verkniff sich ein Kichern. Auf dieselbe Idee war sie auch schon gekommen.
»Was grinst ihr so?« Der Klugscheißer musterte sie misstrauisch, als sie neben ihm standen. »Habt ihr zwei wieder über mich gelästert?«
»Nein, kein Wort, kein Sterbenswörtchen!«, antwortete Sprottes Mutter und gab ihm einen Kuss.
Sprotte hasste es, einzukaufen. Es langweilte sie zu Tode, von Geschäft zu Geschäft zu gehen und in irgendwelchen Umkleidekabinen in schlecht sitzende Hosen zu steigen. Manchmal nahm Frieda sie mit – oder Melanie –, wenn die zwei der Meinung waren, dass ihr Oberhuhn mehr als eine zerschlissene Tigerhose und eine Reithose mit Beulenknien besitzen sollte. Melanie versuchte immer wieder, Sprotte auf den Geschmack zu bringen. Für sie gab es nichts Schöneres auf der Welt, als Hunderte von Kleiderständern nach einem einzigen T-Shirt zu durchforsten, aber Sprotte würde so etwas immer für Zeitverschwendung halten.
Besonders furchtbar fühlte sie sich in Geschäften, in denen man nach seinen Wünschen gefragt wurde, kaum dass man durch die Tür kam. Der Laden hier war eindeutig einer von dieser Sorte. Die Luft hinter der schweren Tür roch noch süßlicher als das Parfüm, mit dem Melanie sich einnebelte, wenn sie mit einem Jungen verabredet war. Sie waren die einzigen Kunden und die Verkäuferin hatte offenbar schon auf sie gewartet. Sprotte setzte sich auf einen der rot gepolsterten Stühle, die mit dem Rücken zum Schaufenster standen, und musterte die brautverkleideten Puppen, während die Verkäuferin ihre Mutter und den Klugscheißer durch den Laden führte.
Sprotte seufzte. Melanie würde keine Ruhe geben, bevor sie ihr jede einzelne Rüsche beschrieben hatte. Gelangweilt beugte sie sich über die Stuhllehne und strich mit den Fingern über das Kleid, das die blonde Schaufensterpuppe trug. Wie steif der Stoff sich anfühlte. Sprotte konnte Melanies Stimme förmlich hören: Wie lang war der Rock, Sprotte? Wie tief war der Ausschnitt? Nun sag schon. Die anderen Wilden Hühner würden nicht halb so interessiert sein, im Gegenteil – Wilma würde lästern, Frieda würde abwesend vor sich hin blicken und wahrscheinlich an Maik, ihren Freund, denken, und Trude, ja, Trude würde vermutlich diesen verklärten Gesichtsausdruck bekommen und etwas wie »Ach, wie romantisch!« hauchen.
»Sprotte!«
Sprotte fuhr aus ihren Gedanken hoch. Ihre Mutter stand vor ihr, in einem schneeweißen Irgendwas mit Rüschen und Stoffrosen an den Ärmeln, während die Verkäuferin mit einem eingefrorenen Lächeln auf dem Gesicht um sie herumhuschte und das Kleid zurechtzupfte. Sprotte kam sie vor wie eine der Hennen, die bei dem Wohnwagen, der den Wilden Hühnern als Bandenquartier diente, in ihrem maschendrahtumzäunten Auslauf herumpickten. Wenn man ihnen Löwenzahn zuwarf, rannten sie einem genauso hektisch um die Beine, wie diese Verkäuferin es bei Sprottes Mutter tat.
»Also, mir gefällt es!« Der Klugscheißer ließ sich auf den Stuhl neben Sprotte fallen. Er blickte ihre Mutter mit so verklärter Miene an, als wünschte er sich, sie würde dieses alberne weiße Kleid nie wieder ausziehen.
»Ja, wirklich!«, sagte er mit Nachdruck. »Du siehst wunderschön aus, Sybille, atemberaubend. Stimmt’s?« Er stieß Sprotte den Ellbogen in die Seite. Die Verkäuferin zupfte eine letzte Falte zurecht und trat dann zurück. Sie lächelte so selbstzufrieden, als gäbe es keine wichtigere Aufgabe auf der Welt, als Frauen in Brautkleider zu stecken.
»Also, ich weiß nicht«, murmelte Sprotte. Die Verkäuferin bedachte sie für ihre mangelnde Begeisterung mit einem eisgekühlten Blick, aber so etwas konnte Sprotte nicht erschüttern. »Nee!«, fügte sie ungerührt hinzu. »Du siehst irgendwie nicht aus wie du selbst in dem Ding.«
»Nun, das ist unter anderem der Zweck eines Brautkleides, mein Kind!«, stellte die Verkäuferin mit spitzen Lippen fest. Die Farbe ihres Lippenstiftes passte genau zur Farbe ihrer Fingernägel. »Es verzaubert seine Trägerin und lässt sie strahlen wie an keinem anderen Tag ihres Lebens.«
Sprottes Mutter blickte unbehaglich an sich hinunter.
»Ich finde nicht, dass sie strahlt«, sagte Sprotte. »Ich finde, du siehst aus wie eine Puppe, Mam.«
Die Verkäuferin hatte Mühe, ihr Lächeln zu bewahren. Es hielt sich gerade noch in einem Mundwinkel. Sprottes Mutter runzelte die Stirn, trat vor den nächsten Spiegel und musterte sich. »Ja, das finde ich ehrlich gesagt auch«, stellte sie schließlich mit einem Seufzer fest. »Probieren wir ein anderes.«
Sie probierte noch sieben weitere Kleider und nicht bei einem waren sie und der Klugscheißer gleicher Meinung: Mal mochte Sprottes Mutter das Kleid, dann gefiel es ihm nicht, mal liebte er es, dann runzelte sie nur die Stirn und schüttelte den Kopf. Mit jedem abgelehnten Kleid verrutschte der Verkäuferin das geübte Lächeln etwas mehr, und als eine neue Kundin im Laden erschien, übergab sie die schwierige Kundschaft erleichtert an eine Kollegin. Es wurde später – später und später. Und Fred war mit Frieda bestimmt schon auf dem Weg zum Kino.
Als die zweite Verkäuferin auf die Idee kam, dass die Tochter der zukünftigen Braut doch vielleicht schon einmal ein paar wunderhübsche Kleider für Brautjungfern anprobieren könnte, hielt es Sprotte nicht mehr auf dem rot gepolsterten Stuhl.
»Mam, ich muss los!«, stieß sie hervor, ohne den flehenden Blick ihrer Mutter zu beachten. »Fred wartet schon mindestens eine Viertelstunde.« Dann stolperte sie aus dem Laden.
Auf der Straße holte sie erst mal tief Atem. Sie glaubte die parfümierte Luft aus dem Laden noch auf der Zunge zu schmecken. Durch das Schaufenster erhaschte sie einen letzten Blick auf ihre Mutter. Mit unglücklichem Gesicht musterte sie die Puffärmel, in die sie ihre Arme gerade schob, während der Klugscheißer auf sie einredete.
Niemals!, dachte Sprotte, während sie sich im Laufschritt auf den Weg zum Kino machte. Niemals steckt mich irgendwer in so ein Kleid. Wenn ich je heirate – und schon der Gedanke verursachte ihr Kopfschmerzen –, dann in meiner Reithose. Da fühl ich mich wenigstens nicht wie verkleidet.
Keine zehn Minuten waren es von dem Brautmoden-Laden bis zu dem Kino, in das Fred am liebsten ging, doch als Sprotte völlig außer Atem und mit grässlichem Seitenstechen dort ankam, war von Fred nichts zu sehen, und für einen bösen Moment dachte sie wirklich, er und Frieda wären ohne sie hineingegangen – bis ihr jemand von hinten die Augen zuhielt und »He, Oberhuhn, wieder mal zu spät?« zuraunte. Ach, es tat so gut, Freds Gesicht zu sehen nach all dem Tüll und all der Spitze.
»Wo ist Frieda?«, fragte Sprotte und sah sich suchend um.
»Hält die Plätze frei«, antwortete Fred, während er sie mit sich ins Kino zog.
In der Eingangshalle roch es nach Popcorn, heiß und fettig, und die Plakate an den Wänden machten neugierig auf die Bilder, die schon in der Dunkelheit warteten. Sosehr Sprotte es verabscheute, sich durch überfüllte Geschäfte zu schieben, so sehr liebte sie es, ins Kino zu gehen. Manchmal träumte sie davon, eine ganze Woche in einem der plüschweichen Sitze zu verbringen, zu warten, dass das Licht ausging, der Vorhang sich öffnete, und dann von einem Film in den nächsten zu schlüpfen.
»Und? Hat deine Mutter ihr Brautkleid?«, fragte Fred, während er sich eine Riesentüte Popcorn abfüllen ließ.
»Ach was! Die, die sie mochte, gefielen dem Klugscheißer nicht, und umgekehrt. Wie kommen die beiden bloß auf die Idee, dass sie so gut zusammenpassen, dass sie heiraten könnten? Sie mögen nicht mal dieselben Kleider! Mir fällt nicht eine Sache ein, die sie beide mögen. Keinen Film können die sich zusammen angucken, ohne dass der andere einschläft. Dieselbe Musik hören sie auch nicht, und wenn sie wegfahren wollen, streiten sie sich, wohin.«
»Na, so ist das eben. Gegensätze ziehen sich an. Ich zieh schließlich auch keine Reithosen an, nur weil du pausenlos darin rumläufst.«
Sprotte versuchte, ihm dafür den Ellbogen in die Seite zu stoßen, aber Fred wich nur lachend aus und zeigte der Frau, die gelangweilt vor Kino 3 stand, ihre Eintrittskarten.
Im Saal war es schon dunkel, doch zum Glück lief noch die Werbung. Sprotte hasste es, wenn sie den Anfang eines Films verpasste.
Frieda wartete in der vorletzten Reihe auf sie. Natürlich. Fred kaufte immer Karten für eine der letzten Reihen. Sprotte saß lieber vorn, ganz weit vorn, wo die Leinwand so groß war, dass sie einen fast verschluckte, aber Fred gab den Knutschreihen, wie er sie nannte, den Vorzug. »Na, wie war’s?«, flüsterte Frieda, als Sprotte sich auf den Sitz neben sie fallen ließ.
»Hör bloß auf! Du kannst dir keine –« Sprotte brach abrupt ab. Im Dunkeln hatte sie es zuerst gar nicht bemerkt: Friedas Haare waren kurz, kurz wie die eines Jungen, ach was, selbst Freds Haare, rot wie Fuchsfell, waren länger.
»Guck nicht so!« Frieda kicherte verlegen. »Sieht doch gut aus, oder?« Aber ein bisschen besorgt erwiderte sie Sprottes entgeisterten Blick nun doch.
»Wann hast du das denn machen lassen?« Am Morgen in der Schule waren Friedas Haare noch lang gewesen. Genauso lang wie die von Sprotte.
»Fass mal an«, sagte Frieda. »Fühlt sich gut an.«
Sprotte strich ihr über das dunkle Haar. »Fühlt sich an wie Hundefell«, stellte sie fest. »Oder wie eingeweichte Igelstacheln.«
Frieda kicherte. »Fred hat sie mir geschnitten. Du hättest sehen sollen, wie meine Mutter geguckt hat, als ich aus meinem Zimmer kam. Aber sie ist selbst schuld. Ich hab ihr schon tausendmal gesagt, ich will zum Frisör und mir die Haare abschneiden lassen, und immer wieder hat sie es mir verboten.«
Sprotte warf Fred einen ungläubigen Blick zu.
»Tja, ich hab verborgene Talente, Oberhuhn«, raunte er ihr zu. Dann griff er in seine Popcorntüte und stopfte sich selbstzufrieden den Mund voll.
»Na, jetzt weiß ich wenigstens, warum du in Mathe noch kein bisschen besser geworden bist. Haareschneiden ist da schließlich selten gefragt.« Sprotte konnte sich den Kommentar nicht verkneifen, obwohl sie sich lächerlich vorkam, schon während sie ihn aussprach. Andererseits … Frieda war zwar ihre beste Freundin, ja, sicher, ihre allerallerbeste Immer-und-ewig-Freundin, aber sie waren schon einmal in denselben Jungen verliebt gewesen und Sprotte hatte sich den ersten Herzschmerz ihres Lebens dabei eingefangen. Dieses Gefühl wollte sie wirklich nicht noch mal erleben – und schließlich war Maik, Friedas Freund, weit, weit weg, die zwei sahen sich gerade mal jedes zweite Wochenende …
»He, he, klang das da gerade etwa wie Eifersucht?« Fred flüsterte so leise in Sprottes Ohr, dass nur sie seine Worte verstehen konnte. Er griff noch einmal in sein Popcorn und schob ihr eine Handvoll in den Mund. »Ich steh nicht auf schwarzhaarige Frauen, hast du das vergessen?«, flüsterte er ihr zu. »Außerdem mag Frieda nur Jungs, die reiten können wie der Teufel. Und das«, er zog bedauernd die Schultern hoch, »das gehört leider nicht zu meinen unzähligen, unglaublichen Talenten.«
Sprotte musste lachen. So machte Fred es immer. Jeden noch so schweren Stein konnte er ihr von der Seele räumen, nur mit seinem schiefen Lächeln. Sie kam sich ziemlich dumm vor, vor allem, als sie sah, wie geknickt Frieda an ihren neu-kurzen Haaren herumzupfte.
»’tschuldigung«, murmelte sie und stemmte die Knie gegen den Sitz vor ihr. »Ich bin etwas durch den Wind wegen dieser Brautkleider-Hochzeits-Sache. Ich weiß auch nicht …«
Zum Glück war der Film, der nach weiteren endlosen zwanzig Werbeminuten folgte, so spannend, dass Sprotte alles für eine Weile vergaß: all die »Wie wird das bloß, wenn der Klugscheißer ganz bei uns wohnt?«-Gedanken, all die »Wieso will sie ihn bloß gleich heiraten?«-Fragen. Selbst Fred folgte dem Geschehen auf der Leinwand so gebannt, dass er ganz vergaß, warum er Karten in der vorletzten Reihe gekauft hatte, und als das Licht wieder anging, brauchten sie alle etwas Zeit, um zurückzukehren in das, was man so die normale, echte Welt nennt.
Fred war der Erste, der aufstand und sich das Popcorn vom Pullover schüttelte. »Nun seht mal da!«, sagte er, als sie sich zu dritt durch das Menschengedränge in der Eingangshalle schoben. »Entdeck ich da nicht noch ein Wildes Huhn? Gab es heute speziellen Hühner-Rabatt oder ist das Kino hier seit Neuestem euer Bandenquartier?«
Es war Wilma, die er entdeckt hatte. Drüben an der Popcorntheke lehnte sie. Freds Bande, die Pygmäen, nannten sie nur das Pistolen-Huhn, weil unter Wilmas Jeansjacke, die sie bei jedem Wetter trug, immer eine Wasserpistole steckte. Wilma war später als die anderen vier Hühner zur Bande gestoßen und übernahm seither mit Vorliebe und großem Geschick alle Spionage-Aufgaben. Wenn es etwas über die Pygmäen auszukundschaften gab – denn Fred sprach mit Sprotte natürlich kein Sterbenswörtchen über die Bandenangelegenheiten der Jungen –, machte Wilma sich auf den Weg. Die anderen Hühner hatten schon so manches Mal den Verdacht gehegt, dass sie sich unsichtbar machen konnte, so leicht fiel es ihr, den Jungen ihre Geheimnisse abzulauschen. Allerdings war sie in den letzten Monaten mehr mit dem Theaterkurs der Schule beschäftigt gewesen als mit Pygmäen-Geheimnissen. Frieda und Sprotte waren schon lange nicht mehr der Meinung, dass es das Spannendste auf der Welt war, die vier Jungen zu ärgern, und inzwischen war eben auch Wilma zu dieser Einsicht gelangt. »Wir werden wohl tatsächlich erwachsen«, hatte sie beim letzten Bandentreffen der Wilden Hühner festgestellt und dabei so verblüfft dreingeschaut, als wäre sie ganz sicher gewesen, dass ihr dieses Schicksal erspart bleiben würde.
»Mit wem unterhält sie sich denn da?«, fragte Frieda, während sie sich hinter Fred und Sprotte zum Tresen durchkämpfte. Wilma unterhielt sich so angeregt, dass sie Fred und ihre beiden Mithühner immer noch nicht bemerkt hatte. Melanie wäre sehr enttäuscht gewesen. Es war kein Junge, der neben dem Pistolen-Huhn stand, sondern ein Mädchen aus ihrer Parallelklasse: Leonie, die wie Wilma am Theaterkurs teilnahm. Zurzeit probten sie gerade wieder ein neues Stück, Shakespeare natürlich. Die Lehrerin, die den Kurs leitete, hielt nichts von anderen Stückeschreibern, auch wenn sie dadurch schon einige Kinder aus dem Kurs getrieben hatte. Shakespeare war schließlich alles andere als leicht auswendig zu lernen. Wilma allerdings tat nichts auf der Welt mit größerem Vergnügen. Sprotte war nicht ganz sicher, welches Stück sie gerade übten. Soweit sie sich erinnerte, hieß es Wie ihr wollt oder Was euch gefällt. Oder so ähnlich.
Fred fischte das letzte Popcorn aus seiner Tüte, zielte sorgfältig und warf es Wilma an den Kopf. Wilma drehte sich so abrupt um, als hätte sie den Strahl ihrer eigenen Wasserpistole ins Gesicht bekommen.
»Na, Pistolen-Huhn!«, rief Fred, während er sich zwischen zwei Jungen hindurchschob, die ihm kaum bis zum Bauchnabel reichten. »Ausnahmsweise nicht wachsam? Und dann auch noch unterwegs mit einem Nicht-Huhn?«
Wilma schien das tatsächlich für ein mittelschweres Verbrechen zu halten, denn sie warf Sprotte und Frieda einen so zerknirschten Blick zu, als erwartete sie, dass die zwei sie im nächsten Moment aus der Bande verbannten.
»Was, eh, was macht ihr denn hier?«, stammelte sie. »Ich hab gedacht, Sprotte muss heute Brautkleider angucken.«