© 2018 Philipp S. Holstein
© dieser Ausgabe 2018 Morisken Verlag München Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Lena Geppert und Thomas Peters
Korrektorat: Theresia Riesenhuber
Satz: Peter Sommersgutter
Umschlag: Christian Griesbeck
Wolfgang Schütte (www.wolfe.de)
Druck: Alfred Nordmann, Petah Tikva/Israel
ISBN: 978-3-944596-17-4 (Print)
ISBN: 978-3-944596-18-1 (E-Book)
Morisken-Verlag.de
»Gott ist ein Komödiant, der vor einem Publikum spielt,
das zu ängstlich zum Lachen ist.«
Voltaire
Prolog
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 13:45 Uhr
Du bist es
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 14:04 Uhr
Paul und Klaas
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 14:22 Uhr
Leevke
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 14:32 Uhr
Was hat er denn?
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 14:45 Uhr
Erleuchtung
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 15:01 Uhr
Vorbereitungen
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 15:23 Uhr
Erste Schritte
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 15:47 Uhr
Die erste Begegnung
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 16:15 Uhr
Therapie
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 16:37 Uhr
Büdelsdorf in Angst
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 16:48 Uhr
Besuch
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 16:57 Uhr
Komisch
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 17:13 Uhr
Jorg
Bushaltestelle ›Nikolaskirche‹ 17:22 Uhr
Epilog
Herr Krause, die Lieblingshummel von Paul Möhrenmann, hatte sich gerade auf dem Fenstersims niedergelassen, um die vom langen Flug recht angestrengten Flügel einmal ausgiebig zu strecken. Er spielte mit dem Gedanken, einen kleinen Abstecher zu den durchaus verlockend riechenden Balkonblumen zu machen, als ihn unvermittelt ein überraschend warmer, einschläfernder Sonnenstrahl traf und zum Verweilen bewog.
Die besagten Balkonblumen reagierten zu Recht gekränkt. Allen voran Brigitte, die vorwitzigste der vier Geranien, die sich eben noch so verführerisch, wie es ihr nur möglich war, gestreckt und gereckt und dabei kokett mit ihren roten Kelchblättern gewippt hatte. Obwohl die meisten Menschen es nicht wissen, ist die Geranie nämlich eine mindestens ebenso schön anzuschauende wie kränkbare Pflanze.
Herr Krause zeigte sich davon gänzlich unbeeindruckt.
Nicht nur, dass er schon den ganzen Tag Blütenpollen und Nektar gesammelt hatte, nein, die ersten Ausläufer einer Midlifecrisis hatten ihn fest im Griff.
Das Leben war nicht eben einfach für Herrn Krause gewesen. Als Ergebnis eines kurzen erotischen Abenteuers zweier Schmarotzerhummeln war er – ganz wie es die Natur dieser Gattung vorschreibt – von der Mutter unbeachtet in einer fremden Familie untergebracht worden, wo er das Leben eines Außenseiters fristete.
So oder so ähnlich stellte sich Paul Möhrenmann, der in diesem Augenblick sein Wohnzimmer betrat und die durchaus ansehnliche, wenn auch etwas dickliche Hummel auf seinem Fenstersims entdeckte, das zumindest vor.
»Ah, da bist du ja wieder«, begrüßte er das rundliche, schwarz-gelbe Hummelmännchen und fügte hinzu: »Verzeihung, ich wollte sagen: Willkommen zurück, Herr Krause!«
Er lächelte die Hummel aufmunternd an und wollte gerade zu einem der in letzter Zeit häufiger stattfindenden ›Gespräche unter Männern‹ ansetzen, als er durch das laute Knallen der Eingangstür seiner Wohnung aufgeschreckt wurde.
Mindestens ebenso irritiert wie fasziniert beobachtete Herr Krause den nun folgenden Auftritt von Simone, der Lebensabschnittsgefährtin Paul Möhrenmanns, die in gewohnter Lautstärke: »Paul, das ist doch wohl nicht dein Ernst!«, ausrief.
Diese Wortkombination schien eine Art Begrüßungstanz zu sein, schlussfolgerte Herr Krause, der schon einige Male Begegnungen der beiden als stiller Beobachter hatte beiwohnen dürfen.
Simone zog die Augenbrauen zusammen.
»Und jetzt sag mir nicht, dass du schon wieder mit dieser Biene redest.«
»Tue ich nicht«, erwiderte Paul, entomologisch absolut korrekt.
»Tust du doch«, antwortete Simone, offensichtlich die Ergebnisse jahrhundertelanger Insektenforschung ignorierend. »Es kann ja wohl echt nicht sein, dass du den lieben langen Tag mit Dingen redest.«
»Er ist kein Ding. Und eine Biene ist er schon mal gar nicht. Er ist eine Hummel. Und sein Name ist Krause. Herr Krause.«
Simone sah Paul einen Moment lang an. Irgendwo zwischen Groß- und Kleinhirn spielte sie die verschiedenen Möglichkeiten der Eskalation durch. Die Option, möglichst schwere Dinge in Richtung des Kopfes ihres Partners zu werfen, verwarf sie rasch, und den Impuls, sich einfach schreiend und stampfend auf den Boden zu werfen, ließ ihr Unterbewusstsein glücklicherweise irgendwo auf halber Strecke annullieren. So stand sie einfach da und tat nichts.
»Ich weiß genau, was du da machst«, begann Paul seine wie immer schlecht durchdachte und überhaupt nicht vorbereitete Verteidigung. »Du machst dieses Frauending: dastehen und gucken. Dabei wartest du nur darauf, dass ich etwas mache. Weil du genau weißt, dass die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ich irgendwas Blödes mache, sehr hoch ist. Und ich möchte noch anmerken, dass so etwas nicht nur ziemlich gemein, sondern auch ausgesprochen sexistisch ist!«
Simones Kleinhirn wollte gerade das Signal zum Schmunzeln absenden, doch das Zornzentrum war schneller.
»Du und etwas falsch machen? Dafür müsstest du ja erstmal überhaupt etwas machen! Wie wäre es denn, wenn der feine Herr sich mal auf sein Studium konzentrieren würde, anstatt den ganzen Tag mit diesem Viech zu sprechen. So kommst du nie voran!«
»Herr Krause ist gerade erst gekommen«, erwiderte Paul erneut absolut korrekt und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Und um ehrlich zu sein, ist es mir ein bisschen unangenehm, dass du hier so rumschreist. Was soll er denn von unserer Art denken?«
Simone zeigte sich von der artenübergreifenden Diplomatie nur bedingt bis gar nicht beeindruckt und gewährte ihrem Impuls, laut zu werden, nun freie Durchfahrt: »HERR KRAUSE ist ein verkacktes Insekt! Aber wenigstens hat er ein Ziel: Er fliegt! Und wenn du nur ein kleines bisschen Ahnung von Hummeln hättest, wüsstest du, dass ER eine SIE ist.«
Das irritierte nun auch Herrn Krause, die jedoch keine weitere Energie für die Reflexion verwendete, da sie nur eine Hummel war und sich auf den Weg zu ihrem Nest machte. Nicht jedoch, ohne noch kurz die kokette Geranie Brigitte zu bestäuben, die sich danach irgendwie schmutzig, aber auch glücklich fühlte.
»Und erzähl mir jetzt nicht, dass du schon wieder irgendeine Geschichte im Kopf kommentierst«, sagte Simone, die ebenso entrüstet wie fasziniert beobachtet hatte, wie Paul den Flug der Hummel zu der Geranie verfolgte.
»Siehst du, kaum hast du seine Männlichkeit angezweifelt, fliegt er gekränkt davon, kippt sich Nektar rein und besorgt es irgendeiner dahergelaufenen Geranie, die kokett die Kelchblüten schüttelt – diese pelargonische Hure!«
»Paul … das war’s! Ich hätte viel früher auf meine Mutter und meine Freunde hören sollen. Aus dir wird nie etwas. Es ist aus!«, schrie die mittlerweile rot angelaufene Simone und knallte die Türe erneut. Diesmal von außen.
Herr Krause, die eigentlich ein Weibchen war, flog derweil noch immer irritiert ob der menschlichen Verhaltensweisen fort und verpasste dadurch den Beginn einer Reihe von Ereignissen, die Paul Möhrenmanns Leben von Grund auf ändern sollte.
Doch wie es glückliche Umstände manchmal so einrichten, sollte sie die gesamte Geschichte dennoch zu hören bekommen, wenn auch erst später.
Zunächst besann sich Herr Krause nämlich auf ihr naturgegebenes Talent und flog einfach weiter.
Immer gen Norden.
Immer weiter.
Denn manchmal, nur ganz selten im Leben, gibt es Einschnitte wie diesen, die, eine plötzliche Erkenntnis bergend, alles verändern.
Sie dachte viel nach.
Felder und Wälder, Meere und Seen wechselten sich unter ihr ab. Weiter und immer weiter trieb es sie, fort von Büdelsdorf. Eine Zeitlang reiste sie als gestreifter Passagier auf einer Fähre, doch die meiste Zeit flog sie.
Als es immer kälter wurde, suchte Herr Krause sich ein heimeliges Plätzchen für einen ausführlichen Winterschlaf und verbrachte die kalten Monate eingekuschelt in einem Holzlager an irgendeinem Fjord in Norwegen.
Sie lernte neue Freunde kennen und fand es eigentlich schön so hoch im Norden, doch eines Tages erwachte das Heimweh. Auch ein nagendes Interesse, wie es Paul wohl ergangen sein mochte, dem einzigen Menschen, der sich jemals ehrlich zugeneigt gezeigt hatte, unterstützte den Wunsch, nach Hause zu fliegen.
So flog Herr Krause den langen Weg zurück nach Büdelsdorf.
Schon aus der Ferne konnte sie den vertrauten Kirchturm erkennen und als sie diesen endlich erreicht hatte, suchte sie sich, eine Pause ersehnend, ein gemütliches Plätzchen in einem kleinen Riss im brüchigen Holz des verwitterten Wartehäuschens der Bushaltestelle, direkt unter dem Schild ›Nikolaskirche‹. Sie wollte gerade ein Nickerchen einlegen, als ein junger Mann das Wartehäuschen betrat. Er schien traurig. Irgendwie verzweifelt. Als noch ein zweiter Mann hinzukam, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Sie mochte den Anfang der Geschichte verpasst haben, aber was sie nun hörte, war schier unglaublich …
Es ging Pater Martin schon einmal besser.
Sein erster Tag als neuer Pfarrer der Büdelsdorfer Kirche war bereits morgen und er hatte noch nicht einmal eine Predigt vorbereitet.
Überhaupt schien in der letzten Zeit alles sinnlos, leer und ohne Hoffnung. Denn irgendwie war ihm unbemerkt der Glauben abhandengekommen.
Natürlich nicht erst seit gestern oder weil er noch keine Predigt vorbereitet hatte. Es war ein längerer Prozess gewesen, der sich bald nach dem Beginn seiner Ausbildung eingeschlichen und ihn, stetig stärker werdend, bis zu seinem Studienabschluss und durch seinen Pastoralkurs hindurch begleitet hatte. Nicht unbedingt besser hatte es die Bekanntschaft zu einer jungen Frau werden lassen, die als Hausdame im Pfarrhaus von Rabenau, einem kleinen Dorf in Sachsen, zu seiner und des Hauptpfarrers Unterstützung angestellt war. Sie entpuppte sich nicht nur als aufgewecktes und gebildetes Mädchen mit ganz fantastischen Beinen, sie war leider auch überzeugte Atheistin.
Die langen Gespräche mit ihr hatten die Zweifel in Pater Martin und den Wunsch nach Nähe weiter wachsen lassen. Und so hatte er es vorgezogen, die junge Dame mitsamt ihren interessanten Gedanken und den fabelhaften Beinen in Rabenau zurückzulassen, als er seine erste Position als Hauptpfarrer in der Büdelsdorfer Nikolaskirche zugewiesen bekam.
Doch die Zweifel gärten noch immer.
Wie konnte es einen Gott geben?
Sollte wirklich jemand da sein, oder zumindest etwas, das ihn immer umgab und alles, wirklich alles wusste und kannte?
Ihn kannte?
Ihn liebte?
Wie kam es dann, dass er sich so alleine fühlte? Warum erfüllte ihn nun eine innere Leere, obwohl er vor einer Woche mit aufkommendem Tatendrang nach Büdelsdorf gereist war?
Er hatte schnell verstanden, dass er, ›der Neue‹, sich erst einmal beweisen musste. Die Büdelsdorfer waren eine verschworene Gemeinschaft und sie beobachteten Zugewanderte sehr genau. Seine Nachbarn standen noch immer unter Beobachtung – und die betrieben bereits seit drei Generationen eine Bäckerei im Zentrum der kleinen Stadt.
Als der Großvater seines Nachbarn damals aus dem nur fünfzehn Kilometer entfernten Schacht-Audorf nach Büdelsdorf gezogen war, hatten die Einwohner zunächst so getan, als verstünden sie seinen Dialekt nicht. Und Schacht-Audorf ist nur wegen der Straßenführung fünfzehn Kilometer von Büdelsdorf entfernt. Zu Fuß sind es fünf – die Kieler Straße entlang.
Und nun er, ein Pfarrer aus dem tiefsten Sachsen.
Das würde nicht eben einfach werden.
Wo war Gott, wenn auch er Ihn mal brauchte?
Er fühlte sich alleine.
Alleine und verlassen.
Der ältere Herr, der bereits seit einigen Minuten neben ihm saß, war gerade aus der alten Kirche gekommen und schien angestrengt nachzudenken. Auch er wirkte nicht gerade glücklich, sondern zerrissen und grüblerisch.
Eigentlich nur ein weiterer Beweis, dass es ›Ihn‹ nicht geben könne, dachte sich Pater Martin enttäuscht. Mehrere Jahre Theologiestudium, Fortbildungen in Pädagogik sowie Gesprächsführung und am Ende sitzt man irgendwo im Flachland Schleswig-Holsteins und sieht, dass auch Otto Normalgläubiger keine Hilfe findet, wenn er auf der Suche nach göttlicher Unterstützung eine Kirche aufsucht.
»Er antwortet nicht«, sagte Pater Martin. »Das tut Er nie.«
Sein Sitznachbar blickte kurz auf, musterte Pater Martin und dessen schwarzes Hemd mit weißem Kollar und murmelte: »Oh doch, das tut Er. Manchmal tut Er es.«
»Nein, das tut Er nicht«, entfuhr es Pater Martin fast ein bisschen ruppig. »Glauben Sie mir, mein lieber Freund, ich bin Pfarrer. Sollten Sie in Büdelsdorf leben, bin ich ab morgen sogar Ihr Pfarrer. Und ich sage Ihnen: Er antwortet nie. Deshalb ist es so frustrierend. Deshalb gehen Menschen wie Sie in Kirchen wie diese und kommen mit einem Gesichtsausdruck wie dem Ihren wieder heraus. Weil es so schwer ist, standhaft zu sein im Glauben. Weil man eben keine Hilfe bekommt.« Pater Martin stutzte kurz. »Sollte Er zu Ihnen sprechen, so wäre es vielleicht klug, mal einen Nervenarzt aufzusuchen.«
Der ältere Herr legte seine Stirn in Falten.
»Das ist interessant.«
»Das ist nicht interessant, das ist Fakt«, erwiderte Pater Martin. »Glauben Sie mir, ich sollte es wissen und ich würde Ihnen so gerne sagen, dass ›Er‹ …« – dabei reckte er einen Finger gen Himmel – »da ist und alle unsere Schritte wohlwollend beobachtet, dass ›Er‹ …« – erneut Finger gen Himmel – »uns zuhört und uns liebt.« Pater Martin stockte. »Ich meine … ich verdiene mein Geld damit, dass ich Ihnen genau diese Dinge sage … allein, ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht mehr sicher.«
Der ältere Herr legte seine Stirn erneut in Falten.
Er wandte sich Pater Martin zu und begann zu sprechen: »Mein Name ist Baumann. Dr. Friedrich Baumann. Ich bin Psychiater. Und ich habe jahrelang geglaubt, alles erklären zu können. Ich glaubte nicht an eine höhere Macht. Schon aus beruflichen Gründen. Und lustigerweise habe ich mein Geld damit verdient, den Menschen genau das Gegenteil Ihrer Version zu erzählen: Sie glauben, jemand beobachtet Sie? Das ist eine Form paranoider Gedankenwelten, zumindest aber eine Wahnvorstellung. Manche Dinge sind Zeichen? Eindeutig eine Wahnwahrnehmung. Sie sprechen mit Ihrem Schöpfer? Auch dafür habe ich ein ganzes Bündel an Diagnosen parat. Und Tabletten! Wenn Menschen mir berichteten, dass Gott zu ihnen spricht oder der Teufel oder manchmal auch der Toaster, der Mixer oder die Autowaschanlage, dann hatte ich immer Antworten parat. Zwei, drei Gespräche, dann den Kopf von innen anschauen – MRT zum Tumorausschluss – danach Psychopharmaka, Gesprächstherapie. Im Anschluss eine kleine Reha mit Körpertherapie, Bogenschießen, Kunsttherapie und gestaltender Selbsterfahrung.«
»Hilft das denn?«, fragte Pater Martin.
»Nein«, antwortete Dr. Baumann. »Aber Sie haben hinterher ein paar schöne Tassen und Aschenbecher getöpfert, die Sie Ihrer Familie von der ›Kur‹ mitbringen können.«
Herr Dr. Baumann schnaufte tief.
»Und dann habe ich einen jungen Kerl kennengelernt. Deswegen war ich gerade auch in der Kirche, weil ich, ohne es zu wollen, nicht mehr ganz so überzeugt davon bin, dass es keinen Gott gibt, seit ich seine – Pauls – Geschichte kenne. Und nun zweifele ich. An allem, was mir bisher als richtig schien. Sollte ich jahrelang die Falschen behandelt haben?«
Pater Martin war nun seinerseits ehrlich irritiert.
»Aber Sie sind doch ein Mann der Wissenschaft! Statistik und Forschung sind die Grundlagen Ihres Tuns, oder? Was könnten Sie gehört haben, das einen solchen Wandel auslöst? Das muss ich jetzt aber wirklich wissen!«
Er stockte kurz, um dann fortzufahren: »Tatsächlich gibt es sogar zwei Gründe, aus denen ich Sie bitten möchte, mir von diesem Paul zu erzählen: Zum einen sind Sie der erste Büdelsdorfer, der überhaupt mit mir spricht, und zum anderen könnte ich, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben, ein bisschen Unterstützung in Sachen Glauben gebrauchen. Genau wie Sie unterliege auch ich der Schweigepflicht – und wo wir gerade dabei sind, würde ich mich freuen, wenn Sie im Gegenzug meine Zweifel für sich behielten.«
Dr. Baumann zögerte einen Moment, dann schien auch er die Vorteile eines solchen Gespräches zu erkennen, kramte aus seiner Tasche eine dicke Mappe handschriftlich beschriebener Blätter und zwei Flaschen Bier hervor. Eine davon gab er dem Pfarrer, der zunächst so aussah, als könne er nicht so recht etwas damit anfangen, dann jedoch mit den Schultern zuckte, umständlich den Verschluss öffnete und einen zaghaften Schluck nahm.
Auch Dr. Baumann öffnete seine Flasche und nickte Pater Martin zu, als er zum ersten Schluck ansetzte.
»Wissen Sie, ich arbeite seit Jahren als Psychiater. Mein Spezialgebiet sind ›Erleuchtete‹. So nennen wir Patienten, die glauben, eine göttliche Stimme gehört, einen besonderen Auftrag erhalten zu haben oder Ähnliches. Und ich bin da durchaus erfolgreich. Sogar die Universitäten in Kiel, Lübeck und Hamburg überweisen mir regelmäßig schwierige Fälle. Ich war bereits in Talkshows zu Gast und habe im Radio viele Interviews gegeben. Vor einiger Zeit unterschrieb ich einen Verlagsvertrag, um ein Fachbuch über genau diese Patientengruppe zu schreiben. Ich sammelte fleißig Patientenhistorien – und glauben Sie mir, das Buch war fast fertig –, da besuchte mich auf Empfehlung eines Kollegen ein junger Mann, der angab, bis vor Kurzem die Stimme Gottes gehört zu haben. Bei den meisten Patienten kommt durch die Stimme eine unglaubliche Bedeutung in ihr Leben. Bei Paul war das anders, er wollte sie einfach loswerden. Also beschloss ich, mein Fachbuch mit dem Titel ›Wahn und Religion – Gott sei Dank spricht er nicht‹ noch um Erzählungen aus Patientensicht zu erweitern. Daher lud ich meine Patienten und interessante Fälle von Kollegen zu ausführlichen Interviews ein. Auch besagten Paul, einen eher simpel gestrickten jungen Mann aus unserer Gegend. Es stellte sich heraus, dass mich dieser Fall mehr beschäftigte als andere. Und ehrlich gesagt ist er auch ziemlich witzig. Ich habe also mehr und mehr recherchiert, mit Paul, seinen Eltern und Freunden gesprochen und es ist eine unglaubliche, aber auch unterhaltsame Geschichte geworden.
Mein ursprünglich geplantes Buch liegt jetzt im Schrank. Ich habe stattdessen, natürlich mit Pauls Zustimmung, seine Erlebnisse aufgeschrieben. Das neue Buch heißt nun ›Erleuchtung in Büdelsdorf‹ und ich werde es morgen beim Verlag einreichen. Nachdem ich heute früh die letzten Zeilen geschrieben hatte, beschloss ich, mich aufs Feld zu setzen und bei zwei Bierchen nochmal über alles zu lesen. Nun ja, ich bin hier ausgestiegen und habe mir gedacht, wenn du schon an der Kirche bist, kannst du Gott ja mal kurz für diese famose Begebenheit danken. Irgendeine flapsige Idee halt. Und dann war da plötzlich dieses Gefühl, irgendwie friedlich und bedrohlich zugleich; vertraut und fremd. Ich habe mich nicht alleine gefühlt, obwohl die Kirche leer war. Und irgendwie wusste ich plötzlich, dass Gott Pauls Geschichte auch lustig findet. Und richtig.«
Herr Krause lauschte angeregt. Hatte sie gerade den Namen Paul gehört? Ihr Paul? Wie war es ihm wohl ergangen, seit sie aus Büdelsdorf weggeflogen war? Da die Zeit nicht drängte und die Mittagssonne gerade so schön in das Wartehäuschen schien, beschloss sie, dem Gespräch zu folgen. Und wann, dachte sie sich, gibt es schon mal eine Geschichte, die so beginnt: Sitzen ein Priester, dem der Glaube abhandengekommen ist, ein Psychiater, der glaubt, ohne es zu wollen, und eine Hummel an einer Bushaltestelle …
Das konnte ja nur interessant werden!
Dr. Baumann setzte seine Lesebrille auf, zog einige Notizen heraus, blätterte ein wenig, schmunzelte, blätterte weiter.
»Vielleicht fangen wir mit dem Tag an, an dem Paul das erste Mal eine fremde Stimme in seinem Kopf hörte.«
»Du bist es.«
Paul Möhrenmann, der mittelmäßig begabte Student des Maschinenbaus der Fachhochschule Büdelsdorf, hörte diese Worte nicht zum ersten Mal in den letzten vierundzwanzig Stunden. Zugegebenermaßen waren sie zuletzt in einer eher unangenehmen Situation an ihn gerichtet worden: Sie bildeten, ergänzt um den kleinen, aber nicht ganz unwichtigen Zusatz ›nicht‹, das Finale der letzten Diskussion mit seiner neuerdings ehemaligen Freundin.
Davor hatte sie eine kleine Abhandlung darüber gehalten, was sie von einem Kerl erwarte, speziell von einem, der sie kurz zuvor gebeten hatte, seine Frau zu werden: »Ach Paul, ich wünsche mir, mein Leben mit einem Mann zu verbringen, der mich versteht. Der mich so sieht, wie ich wirklich bin, der eine Familie versorgen kann und mich jeden Tag mehr liebt und den ich liebe und … du bist es … nicht.«
Paul hatte, wie er fand, auf ausgesprochen erwachsene Weise reagiert. Er hatte wortlos die Wohnung verlassen und seinen besten Freund angerufen. Bereits eine Stunde nach dem missglückten Versuch, die ›Frau seines Lebens‹ von der langjährigen Freundin zur Verlobten upzugraden, traf er Klaas an der nächstgelegenen Tankstelle und die beiden begannen, sich bei allerlei Geschichten aus der Vergangenheit ausgiebig dem Alkohol zu widmen.
Knapp zwanzig Stunden später erwachte Paul aus einem tiefen Schlaf.
»Du bist es«, dröhnte es in seinen Ohren.
Paul reckte sich. Die Augen fest verschlossen, rieb er sich den schmerzenden Schädel.
»Du bist es!« Diesmal deutlich lauter und bestimmter.
»Geht das nicht leiser?«, stammelte Paul, die Augen noch immer verschlossen, woraufhin eine freundliche weibliche Stimme ihm antwortete: »Schon, aber dann merken wir nicht, wenn Sie wieder versuchen, Ihre Kotze einzuatmen.«
Erst jetzt stellte Paul fest, dass neben der dröhnenden Stimme in seinem Kopf auch ein beständiges Piepsen und Surren zu hören war. Außerhalb seiner geschlossenen Augenlider bewegte sich etwas und weder die Bettdecke noch das Kissen fühlten sich vertraut an. Es roch nach Desinfektionsmittel und Plastik.
Er öffnete die Augen und schaute einer hübschen blonden Frau in einem weißen Kittel in die Augen.
»Guten Morgen!«, sagte diese mit einer aufgesetzt und zynisch wirkenden Freundlichkeit.
»Entschuldigung … ich war noch nicht ganz wach … was bin ich?«, fragte Paul.
»Hm, lassen Sie mich nachdenken. Ich würde sagen: nackt, verwirrt und eingenässt. Zumindest waren Sie das vorgestern Abend, als die Polizei so freundlich war, Sie in unserer Notfallambulanz abzuladen. Jetzt sind Sie nur noch nackt und verwirrt – soweit ich das beurteilen kann.«
Sie lüftete kurz die Decke und schaute skeptisch.
»Ja, alles trocken«, fasste sie zusammen.
Paul zuckte zusammen und versuchte instinktiv, die Hände schützend in Richtung seiner Leistengegend zu bewegen, riss dabei einen Infusionsständer um und verzog schmerzhaft das Gesicht, als die Kanüle aus seinem Arm gerissen wurde.
»Was ist passiert?«, fragte er, während er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. »Bin ich …? Ach, fuck … das ist ein Krankenhaus!«