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Der Landdoktor
– Staffel 3 –

E-Book 21-30

Christine von Bergen

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-987-8

Weitere Titel im Angebot:

Wo bist du, Angela?

Nur Dr. Brunner weiß, was ihr wirklich fehlt

Roman von Christine von Bergen

»Ich weiß, was du willst«, sagte Dr. Matthias Brunner liebevoll zu Lump, dem Deutschen Drahthaar, der in der Stube des Arztehepaars unruhig hin und her lief. »Aber bei diesem Wetter schickt man im wahrsten Sinne des Wortes keinen Hund vor die Tür.«

Den ganzen Tag schon versteckten sich die Schwarzwaldhügel hinter schwarzen Wolken. Und das mitten im Sommer.

»Schade«, meinte Ulrike Brunner seufzend mit bedauerndem Blick in den strömenden Regen. »Ich hätte gern nach dem schweren Essen noch einen Spaziergang gemacht.«

Der Landdoktor rückte auf der Holzbank näher an seine Frau heran, legte den Arm um ihre Mitte, die mit den Jahren etwas voller geworden war, und zog sie an sich.

»Ich finde es ganz gemütlich hier«, sagte er mit der Zärtlichkeit, die er auch noch nach mehr als dreißig Ehejahren für sie empfand. »Wann gestatten uns meine Patienten schon einmal eine solch ungestörte Zweisamkeit?« Er hob sein Glas, wollte gerade mit seiner Frau anstoßen, als das Telefon klingelte.

»So viel zur ungestörten Zweisamkeit«, erwiderte Ulrike trocken. »Bestimmt ein Notfall.«

*

Ein paar Minuten später saß der Landarzt in seinem Kombi und fuhr zu Familie Häferle. Die Tankstelle und das Wohnhaus der Häferles lagen nur wenige Kilometer vom Praxishügel entfernt, wie die Ruhweiler die Anhöhe nannten, auf der der Landarzt lebte und praktizierte.

Schwarze Wolken hingen wie prall gefüllte Säcke über dem Tal und verschluckten jedes Licht. Feiner Nieselregen erschwerte die Sicht. Selbst die Umrisse der nächsten Bäume lösten sich auf. Matthias musste sich konzentrieren.

Monika Häferle war schon seit Jahren seine Patientin, eine ziemlich anstrengende Patientin, wie er sich eingestehen musste. Wie oft hatten ihr Mann oder ihre älteste Tochter Angela ihn nachts aus dem Bett gerufen, weil sie angeblich einen starken Asthmaanfall hatte oder einen neuen Schmerzschub im Knie. Und wie oft hatte sich dieser Notruf als recht übertrieben herausgestellt. Die Mittfünfzigerin und Mutter zweier Töchter verfiel gern in Selbstmitleid. Was jedoch noch schlimmer war: Sie neigte dazu, ihre Familie durch ihre Krankheiten an sich zu binden. Aber auch solche Patienten brauchten ihn, das wusste Matthias nur zu gut, weniger in medizinischer als in psychologischer Hinsicht.

Mit brennenden Augen starrte der Landdoktor durch den Feuchtigkeitsschleier und versuchte, ein Licht auszumachen. Nach der nächsten Kurve sah er dann das Haus der Häferles hell erleuchtet an der Landstraße liegen.

Er war noch nicht aus seinem Wagen gestiegen, als sich schon die Haustür öffnete. Axel Häferle eilte ihm entgegen. Über seinen Schlafanzug hatte er eine Hose gezogen. Der rechte Ärmel seiner Jacke wehte wie eine Fahne im böigen Wind. Der Tankstellenbesitzer hatte vor zwei Jahren bei Holzarbeiten den Arm verloren.

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Herr Doktor«, begrüßte ihn der Ehemann seiner Patientin. »Monika keucht und keucht … Wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen.«

»Keine Sorge, Ihrer Frau wird es gleich besser gehen«, beruhigte er den aufgeregten Mann.

Dann eilte er die Treppe hinauf ins Obergeschoss, aus dem bereits die gequälten Atemzüge seiner Patientin an sein Ohr drangen.

Monika Häferle saß aufrecht im Bett. Sie kämpfte um Luft. Die rechte Hand presste sie auf den Hals. Ihr Gesicht war bleich, in ihren Augen stand blanke Angst. Und gerade diese Angst war es, die den Asthmapatienten das Atemholen zusätzlich erschwerte. Das wusste der Landdoktor aus seiner langjährigen Erfahrung.

Auf der Bettkante saß Angela, die älteste Tochter des Ehepaares. Beschützend hatte sie den Arm um die zuckenden Schultern ihrer Mutter gelegt. In ihren großen nebelgrauen Augen stand die gleiche Angst geschrieben.

»Ich kann nicht mehr, und ich will nicht mehr«, stieß Monika zwischen den heftigen Atemzügen hervor.

Der Luftmangel hinderte sie daran weiterzureden, aber Matthias wusste genau, was sie ihm sagen wollte. Es war nicht das erste Mal, dass seine Patientin andeutete, ihrem Leben ein Ende machen zu wollen, womit sie ihre Familie stets in helle Panik versetzte. Auch jetzt sahen ihr Mann und Angela ihn Hilfe suchend an.

»Frau Häferle«, sagte er in resolutem Ton, »so leichtfertig geht man nicht mit seinem Leben um. Asthma ist eine weit verbreitete Krankheit, und wenn Sie …« Den Rest des Satzes verschluckte er.

Wie oft schon hatte er ihr gesagt, bei einem nahenden Anfall sofort das Spray zu benutzen. Wahrscheinlich war es wieder leer. Rasch zog er eine Spritze auf, ergriff den Arm der Keuchenden, desinfizierte die Einstichstelle mit Alkohol und verabreichte ihr die Spritze. Danach fühlte er ihren Puls und nickte zufrieden. Er beobachtete, wie sich die Kranke langsam entspannte, ihr Atem kam weniger keuchend. Mit Monika Häferle entspannten sich auch zusehends deren Tochter und Ehemann.

»Möchten Sie etwas trinken?«, bot ihm Angela an.

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig«, lehnte er lächelnd ihr Angebot ab und wandte sich wieder an ihre Mutter. »Darf ich Ihr Nachthemd öffnen, um Sie abzuhorchen?«

Monika Häferle nickte stumm.

»Brrr, ist das kalt«, sagte sie in kläglichem Ton, als er ihr das Stethoskop auf die Brust setzte.

»Was können wir nur tun, um solch schwere Anfälle zu verhindern?«, erkundigte sich Angela besorgt.

Die Dreiundzwanzigjährige war ein auffällig schönes Mädchen mit langen blonden Locken.

Wie eine zarte Elfe, dachte der Landarzt auch in diesem Moment wieder. Er wusste jedoch, dass sie innerlich sehr stark war. Denn auf ihr lastete schon seit zwei Jahren die ganze Arbeit.

»Was ist denn hier los?«, klang es da vom Flur her ins Schlafzimmer hinein.

Gleich darauf erschien ein schwarzer verstrubbelte Kopf in der Tür.

»Geh wieder ins Bett, Jenny«, sagte Angela weich. »Mama hatte einen Anfall, aber jetzt ist alles wieder gut.«

Die jüngere der beiden Schwestern blinzelte in die Runde. Ihre aufgeworfene Oberlippe gab dem hübschen Gesicht der Sechzehnjährigen einen trotzigen Ausdruck.

»O Mann«, maulte sie verschlafen, drehte sich um und tappte davon.

»Ganz wichtig ist, dass Ihre Mutter jeden Tag regelmäßig ihre Medizin und das Spray nimmt«, beantwortete er nun Angelas Frage, ohne Jennys rüdes Verhalten zu kommentieren. »Ein Urlaub am Meer könnte auch Wunder wirken«, fügte er hinzu.

»Angela kann doch nicht weg von hier«, warf seine Patientin ein.

Er hob die Brauen. »Sie können doch mit Ihrem Mann allein fahren.«

»Nein, ohne Angela möchte ich nicht fahren«, entgegnete Monika Häferle mit nun fester Stimme. »Sie vergessen, dass ich auch noch Arthrose im Knie habe und meine Tochter mir an manchen Tagen sogar beim Anziehen helfen muss. Das kann mein Mann doch nicht mit nur einem Arm.«

Matthias sah Angela an, die ihm ein fernes Lächeln schenkte. In ihren großen Augen, denen der dichte dunkle Wimpernkranz noch mehr Tiefe gab, lag ein weher Zug, der ihm mehr verriet als alle Worte.

Die Arme, musste er wieder einmal denken. Welch schwere Last lag doch auf diesen schmalen Schultern.

»Wie dem auch sei, Frau Häferle«, erwiderte er ein wenig kühler. »Ich kann Ihnen nur raten, entscheiden müssen letztendlich Sie.« Er stand auf und steckte das Stethoskop in die Ledertasche. »Haben Sie noch Medikamente und Spray?«

»Angela hat vergessen, heute das Spray zu besorgen«, antwortete Monika nicht ganz ohne vorwurfsvollen Unterton.

»Ja, ich habe es wirklich vergessen«, gestand die junge Frau leise. »In der Tankstelle war so viel zu tun«, fügte sie noch leiser hinzu.

Er griff in seine Tasche und reichte ihr das Spray, welches er stets bei sich hatte. »Hier. Für den Rest der Nacht. Aber Sie sollten es auch nehmen«, fügte er in strengem Ton an ihre Mutter gewandt hinzu. »Ich weiß, dass Sie in diesen Dingen manchmal sehr nachlässig sind.«

»Wenn Angela oder mein Mann vergessen, es auf meinen Nachttisch zu stellen …«, verteidigte sich seine Patientin.

»Frau Häferle, verzeihen Sie, aber Sie sind nicht todkrank«, widersprach er ihr mit ernstem eindringlichem Blick. »Dafür können Sie selbst sorgen.«

»Ist ja schon gut«, erhielt er die gemurmelte Antwort.

»Ich begleite Sie hinunter, Herr Doktor«, bot sich Axel Häferle nun an, dem die spannungsvolle Stimmung im Schlafzimmer unangenehm sein mochte.

»Achten Sie darauf, dass Ihre Frau nicht zu unselbstständig wird«, gab der Landdoktor ihm bei der Verabschiedung mit auf den Weg. »Sonst wird die Belastung für Ihre ältere Tochter zu groß. Angela schaut jetzt schon ziemlich durchsichtig aus.«

»Angela ist stark«, versicherte Axel Häferle ihm stolz und voller Zuversicht. »Wenn wir sie nicht hätten…«

*

Am nächsten Morgen warf Angela einen Blick auf die Nachttischuhr.

Schon halb sechs. Zeit, um aufzustehen. Um sieben Uhr musste sie die Tankstelle öffnen, vorher ihrer Schwester das Frühstück machen. Ihre Eltern frühstückten erst später.

Nur noch ein paar Minuten, dachte sie. Nur noch ein paar Minuten ruhig liegen und sich an den Tag mit seinen Aufgaben und Pflichten gewöhnen. Sie hatte nur vier Stunden Schlaf bekommen. Bis nach Mitternacht war sie bei ihrer Mutter geblieben, die ihr im Flüsterton von ihren Verehrern in der Jugend erzählt hatte.

Das war das Lieblingsthema von Monika Häferle. Angela kannte die Geschichten bereits auswendig, tat ihrer Mutter zuliebe jedoch so, als würde sie stets neue Aspekte an ihnen entdecken. Dabei hatte ihr Vater an der Seite seiner Frau tief und fest geschlafen, und Monikas Augen hatten verschwörerisch gefunkelt. Solch intime Stunden mit ihrer Ältesten liebte sie über alles. Angela schmunzelte in sich hinein.

Dann gab sie sich einen Ruck und stand auf. In ihrem Badezimmer, sie bewohnte ein hübsches Apartment im Haus ihrer Eltern mit eigenem Eingang, schaute ihr aus dem Spiegel ein müdes Gesicht entgegen. Bleiche Haut, erschöpft blickende Augen, und ihr Haar hatte auch seinen ehemaligen Glanz verloren. An diesem Morgen sah sie wieder einmal älter aus, als sie war. Wie so häufig in letzter Zeit. Dazu kamen die Schmerzen. Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Schwindel und immer wieder andere Beschwerden. Heute Morgen dröhnte ihr der Kopf, als würde ein Orchester in ihm spielen.

Während sie unter der Dusche stand, versuchte sie, dies zu ignorieren. Hastig zog sie sich an und lief hinüber ins Haupthaus, wo sie den Tisch deckte und eine Schale mit Müsli befüllte, jedoch nicht mit der Sorte, die ihre Schwester am liebsten mochte. Gestern war sie nicht zum Einkaufen gekommen. Sie hoffte, Jenny würde es dennoch essen. Wenige Minuten später wurde sie eines Besseren belehrt.

»Du weißt genau, dass ich diese Körner nicht mag«, maulte ihre Schwester mit unausgeschlafener Miene. »Außerdem machen die nur noch dicker. Ab heute esse ich morgens nur noch Obst«, fügte sie mit trotziger Miene hinzu.

Angela lächelte nur.

Wie oft schon hatte Jenny versucht, ihren Babyspeck loszuwerden. Sie selbst hatte im Alter ihrer Schwester keinen gehabt, aber Jenny kam auf ihre Mutter und ihren Vater, die beide zum Übergewicht neigten.

»Was macht Jimmy?«, erkundigte sie sich, um das Schweigen in der Küche zu unterbrechen.

Umgehend blitzten Jennys dunkle Augen zornig auf.

»Warum, glaubst du, will ich zukünftig nur noch Obst essen?«, platzte es ihr heraus. »Für Typen wie Jimmy bin ich zu dick. Der steht auf ganz Schlanke mit dünnen Beinen. Aber sag mal, macht es dir eigentlich Spaß, in dieser Wunde herumzurühren?« Sie warf ihr trockenes Stück Brot auf den Tisch und sprang auf.

»Entschuldige«, erwiderte sie hastig. »Du hast recht, das war eine blöde Frage. Ich bin halt noch nicht ausgeschlafen«, fügte sie zwinkernd hinzu.

»Das solltest du aber«, entgegnete Jenny spitz. »In ein paar Minuten musst du die Tankstelle aufschließen.«

Angela öffnete den Mund, hatte schon eine rüde Zurechtweisung auf den Lippen, dann jedoch schwieg sie.

Warum sich aufregen? Der Krach mit ihrer Schwester gehörte in dieser Phase zum Alltag. In gewisser Weise verstand sie Jenny ja sogar. Sie neidete ihr die Figur und dass sie so viele Verehrer hatte, die sie jedoch auf Abstand hielt. Für die Liebe hatte sie keine Zeit.

*

»Ich bin’s, Claudia.«

Angela ließ sich mit dem Telefon aufs Sofa fallen.

»Schön, dass du dich meldest«, begrüßte sie ihre ehemalige Kollegin aus Freiburg.

»Störe ich?«

»Nein, ich freue mich. Nach getaner Arbeit bin ich gerade reingekommen und habe mir einen Saft eingeschenkt. Wie geht es dir?«

»Das wollte ich dich fragen«, erwiderte Claudia in ernstem Ton. »Was machen deine Kopfschmerzen?«

»Dagegen gibt es Tabletten.«

»Angela, ich habe dir schon öfter gesagt, wie sehr ich dagegen bin, dass du immer Tabletten nimmst. Wir haben zwar die Ausbildung zur Apothekenhelferin gemacht, aber ich weiß inzwischen nach meiner Fortbildung zur Kräutertherapeutin, dass Naturheilmittel zwar langsamer, dafür jedoch ohne Nebenwirkungen heilen.«

Angela verdrehte die Augen.

Damit waren sie wieder beim Thema.

»Ich weiß, Claudia«, erwiderte sie ebenso ernst, »aber wenn ich morgens mit Kopfschmerzen aufstehe, helfen mir keine Tees oder ätherischen Öle, damit ich wenige Minuten später einsatzfähig bin.«

»Statt Tabletten zu schlucken, solltest du lieber dein Leben ändern. Das sage ich dir schon seit Langem. Jenny ist inzwischen alt genug, um sich selbst Frühstück machen zu können. Außerdem könnte sie sich durchaus an der Hausarbeit beteiligen, wenn deine Mutter diesbezüglich schon ausfällt. Warum lässt du dir das eigentlich alles gefallen? Deine Familie behandelt dich ja wie eine …, eine Sklavin.« Claudias Stimme hatte sich vor Empörung höher geschraubt.

Sie lachte kurz auf. »Das ist ja wohl ein bisschen übertrieben. Geschlagen oder ausgepeitscht werde ich hier noch nicht. Außerdem habe ich vor zwei Jahren, als Vater den Unfall hatte, aus eigenem Willen in der Apotheke gekündigt, um die Tankstelle zu übernehmen und den Haushalt zu führen. Natürlich ist Jenny zurzeit ein ziemlich launischer Fratz, aber auch das wird sich ändern, sobald sie aus der Pubertät heraus ist.«

»Und so lange willst du in diesem Stil weitermachen? Deine Familie erkennt deine Arbeit doch gar nicht an. Und deine körperlichen Beschwerden simulierst du in ihren Augen doch nur, die für mich übrigens ein eindeutiges Zeichen von Überbeanspruchung sind.«

Was sollte sie dazu sagen? Sie sah die Sache ja genauso wie ihre Freundin.

»Trotzdem …«, murmelte sie nur.

Claudia lachte. »Okay, lassen wir das heute Abend. Stattdessen lade ich dich zu meiner Geburtstagsparty übermorgen ein.«

»Wie bitte? Du willst also doch feiern?«

»Ja, ganz spontan. Zwanzig Leute haben schon zugesagt. Ich hoffe sehr, dass du auch dabei sein kannst.« Claudias Stimme klang lauernd an ihr Ohr.

»Samstagabend habe ich noch nichts vor«, entgegnete sie.

Wie jeden Samstag, außer mit den Eltern Karten spielen oder fernsehen, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Bestens. Dann gehe ich davon aus, dass du kommst.« Ihre Freundin zögerte ein paar Atemlängen. »Übrigens, dann wirst du auch endlich meinen Vetter kennenlernen.«

»O nein!« Sie gab einen lauten Seufzer von sich. »Hör auf, mich verkuppeln zu wollen.«

»Will ich doch gar nicht. Und brauche ich auch nicht.« Claudia lachte belustigt. »Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass sich die Sache ganz von selbst ergeben wird. Vorausgesetzt, du lässt sie zu.«

*

Trotz Kopfschmerzen und Müdigkeit raffte sich Angela an diesem Samstag auf und fuhr zu der Geburtstagsparty ihrer Freundin nach Freiburg.

Besser, als den Abend wieder daheim zu verbringen und sich Jennys schlechte Laune anzutun, dachte sie sich.

Natürlich kam sie zu spät. Sie musste ihrer Mutter noch aus der Jeans helfen, weil dieser das Knie wieder schmerzte. Als Claudia ihr mit vorwurfsvollem Blick die Wohnungstür öffnete, war die Party schon in vollem Gange.

»Komm rein«, sagte ihre Freundin und küsste sie auf beide Wangen. »Am besten ist, du gehst erst einmal zum Büffet, das ist nämlich schon ziemlich geräubert.«

Angela lächelte nur.

Vor Aufregung konnte sie sowieso nichts essen. Die vielen fremden Leute … Seit sie wieder in Ruhweiler wohnte, war sie kaum mehr ausgegangen. Und jetzt befand sie sich inmitten einer bunten Menschenmenge. Gesprächsfetzen, fröhliches Lachen, klirrende Gläser und fetzige Musik schlugen ihr entgegen. Da Claudia, die sie zur Küche begleiten wollte, gerade von einem gut aussehenden jungen Mann ins Gespräch gezogen wurde, bahnte sie sich allein den Weg durch die tanzenden Paare auf die Dachterrasse, die mit bunten Lichterketten geschmückt war.

Etwas unsicher schaute sie sich um.

Von hier aus hatte man eine atemberaubende Aussicht auf die Dächer von Freiburg, über denen sich ein gläserner Abendhimmel spannte. Der Wettergott hatte mit dem Geburtstagskind Einsicht gehabt und seit dem Morgen die Wolken vertrieben, die tagelang über dem Schwarzwald gehangen hatten.

Angela ließ den Blick zurück zu den Grüppchen an den Stehtischen wandern in der Hoffnung, unter all den Leuten ein ihr bekanntes Gesicht zu entdecken. Da geschah inmitten dieses Trubels plötzlich etwas, was bisher völlig außerhalb ihrer Vorstellung gelegen hatte: Ein Blick in ein samtbraunes Augenpaar, und der Blitz schlug bei ihr ein.

Die Augen gehörten einem hochgewachsenen dunkelhaarigen jungen Mann, der in der Terrassentür stand. Seine Lippen waren wundervoll weich geschwungen. Sie milderten die Härte seines Kinns ab. Er war attraktiv, mit unwiderstehlichem Blick, von dem eine schwer zu bestimmende beunruhigende Wirkung auf sie ausging.

Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Was mochte jetzt passieren?

*

Auch Christian Kofler kam unpünktlich zur Party. Er hatte länger als geplant in der Spedition gearbeitet. Anders als Angela machte er sich erst einmal über die italienischen Vorspeisen her, unterhielt sich dabei mit den anderen Hungrigen, die sich, bevor sie sich ins Partygeschehen begaben, stärken wollten. Dann schlenderte er ganz entspannt an den tanzenden Paaren vorbei hinaus auf die Terrasse. Dort fiel sein Blick auf eine blonde Frau. Er hatte sie vorher noch nie gesehen.

Sie stand allein am Geländer und schaute über die Dächer der Stadt. Er sah sie von der Seite.

Sie unterschied sich von den anderen weiblichen Gästen nicht nur durch ihre herrlich langen blonden Locken, die ihr bis tief in den Rücken fielen, sondern auch durch ihre Kleidung. Mit der Jeans, die in kurzen Cowboystiefeln steckte, war sie die einzige Frau auf der Party, die kein enges kurzes Kleid und hohe Pumps trug. Unter der weiten weißen Bluse erkannte er ihre zarte Figur. Sie besaß ein fein geschnittenes, ebenmäßiges Profil und eine alabasterfarbene Haut. Obwohl sie klein und zierlich war, drückte ihre Haltung Stolz und Stärke aus. Von ihr ging etwas aus, was ihn auf den ersten Blick fesselte.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte sie sich nun um, und er sah in große nebelgraue Augen mit einer geheimnisvollen Tiefe. Den Moment, in dem sie ihn bemerkte, nahm er überdeutlich wahr. Ihre ausdrucksstarken Augen schweiften nicht weiter, sondern blieben auf ihm ruhen.

Christian erwiderte ihren Blick viel eindringlicher, als er wollte. Er konnte es nicht glauben. Nur wenige Meter von ihm entfernt, zum Greifen nah, stand seine Traumfrau.

Während sich ihre Blicke kreuzten, starrte er das Mädchen an wie eine Erscheinung von einem anderen Stern. Sein Herz setzte kurz aus, um dann weiter wild drauflos zu hämmern. Eine fremde Gewalt kam über ihn, wild und stark. Ihm war zumute, als würde ein Orkan durch ihn fegen. Er sah nur noch den sensibel geformten Mund der schönen Fremden und dessen kaum wahrzunehmendes Lächeln, das eindeutig ihm gelten musste. Ja, da war er ganz sicher, trotz seiner gerade ziemlich eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit.

In diesen Augenblicken wusste er überklar, dass diese Begegnung einen Wendepunkt in seinem Leben darstellte. Alles lag nur in den Händen dieser einen Frau.

*

Christian schluckte, während sein Blick immer noch an der schönen Fremden mit den wunderbaren Augen hing.

»Komm, ich stelle dich Angela vor«, hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme seiner Cousine hinter sich sagen.

Wie eine willenlose Marionette ließ er sich von Claudia mitziehen.

»Ihr kennt euch ja noch nicht«, stellte sie ihn der Blonden vor. »Angela Häferle, meine ehemalige Kollegin und Freundin. Christian Kofler, mein Vetter.«

»Hey.«

Niemals zuvor hatte Christian sich derart unsicher gefühlt. Als erfolgreicher Geschäftsmann kannte er keinerlei Berührungsängste und schon einmal gar nicht bei attraktiven Frauen. Diese jedoch, die jetzt zu ihm hochsah, unterschied sich von allen, denen er bisher begegnet war.

Das ist also Angela Häferle, schoss es ihm durch den Sinn. Die Freundin, mit der mich Claudia schon seit Langem verkuppeln will. Unglaublich. Plötzlich bereute er, dass er sich so lange dagegen gesträubt hatte. Aber alles hatte halt seine Zeit. Und diese Zeit war heute Abend gekommen.

»Hallo.« Angelas weich klingende Stimme ließ ihn innerlich erschaudern. Er fühlte sich wie verzaubert.

»Claudia? Kannst du mal kommen?«, rief da jemand seiner Cousine zu, die ihm daraufhin verschwörerisch zuzwinkerte und meinte: »Ihr beide kommt bestimmt auch ohne mich klar.«

*

Angela war das Herz ein paar Schläge lang stehen geblieben, als Christian an der Seite ihrer Freundin auf sie zugekommen war. Sie hatte einige Sekunden gebraucht, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Immer schon war sie der Überzeugung gewesen, dass es im Leben eines jeden Menschen eine große Liebe gab, jemanden, der das Pendant zu einem darstellte, eine Zwillingsseele, die andere Hälfte von einem. Bis zu diesem Moment jedoch, bevor Christian vor ihr stand, hatte sie daran gezweifelt, dass sie diesem Menschen jemals in ihrem Leben begegnen würde. Und falls doch, ob sie ihn überhaupt in seiner Bedeutung für ihr Schicksal erkennen würde. Als Claudia ihr nun ihren Vetter vorstellte, wusste sie, dass dieser Mann ihr Schicksal war.

»Du bist also die ehemalige Kollegin von Claudia, die vor zwei Jahren ins Ruhweiler Tal gezogen ist«, eröffnete Christian das Gespräch.

Sie räusperte sich, um ihrer Stimme einen festen Ton zu geben. »Ja. Mein Vater hatte einen Unfall …« Sie verstummte.

Nein, das war der völlig falsche Anfang. Ihre Familiengeschichte gehörte nun wirklich nicht hierhin.

Sie lächelte. Verlegen, wie sie selbst merkte.

»Ich bin halt kein Stadtmensch«, fuhr sie fort. »Kennst du Ruhweiler zufällig?«

»Ich weiß, wo der Ort ist, aber ich war noch nicht dort, obwohl er ja gar nicht weit von Freiburg entfernt liegt.«

»Du wohnst hier?«, fragte sie.

Er nickte. »Am Rande von Freiburg, auch im Grünen. Zur Arbeit fahre ich in die City.

»Spedition?« Sie lächelte ihn an.

Sie wusste ja schon viel mehr über Christian, als er dachte.

»Exakt«, erhielt sie seine Antwort, ebenfalls mit wissendem Lächeln. »Tankstelle?«

Sie lachte. »Stimmt.«

»Und Haushalt«, fügte er hinzu.

Sie verdrehte die Augen. »Dann haben wir ja gar keine Geheimnisse mehr voreinander.«

Wie lange war es her, dass sie mit einem Mann geflirtet hatte?

»Keine Sorge, ein bisschen hat Claudia mir über dich auch noch verschwiegen«, tröstete er sie.

»Das ist ja beruhigend.«

So alberten und flachsten sie eine Weile weiter, dann kam eine ernsthafte Unterhaltung zwischen ihnen zustande. Schnell stellten sie fest, dass sie die gleichen Interessen und Ansichten hatten. Verblüffend gleiche. Angela leitete die Tankstelle, Christian die Spedition. So tauschten sie sich auch bald über die Probleme aus, die eine solche Tätigkeit mit sich brachte.

Während des Redens und Zuhörens verspürte Angela immer stärker den Wunsch, ihre Hand auszustrecken und sie auf Christians muskulösen Arm zu legen. Diese Gefühle verwirrten sie zutiefst, und sie schämte sich ihrer fast. War sie etwa so hungrig auf diesen Mann? War er ihr bereits so vertraut?

Längst war die Musik leiser und ruhiger geworden. Ein paar Paare drehten sich eng umschlungen im Wohnzimmer. Einige Leute waren längst gegangen. Die Unterhaltung zwischen Angela und Christian versiegte. Christians Schweigen war so versonnen wie der Blick, mit dem er die junge Frau ansah.

»Tanzen?«

Angela nickte nur stumm. Ihr Herz schlug vor Aufregung hart an die Rippen.

Christian streckte die Hand aus, sie ergriff sie. Hand in Hand mischten sie sich unter die tanzenden Paare. Vom ersten Schritt an bewegten sie sich im Gleichtakt. Christians Arm hielt Angela auf gemäßigtem Abstand und dennoch so nah, dass sie seine Oberschenkel spüren konnte. In ihrem Bauch begann es zu kribbeln. Hin und wieder berührte Christians Kinn ihr Haar. Sie schwiegen, nur ihre Körper kommunizierten miteinander und verstanden sich bestens.

Sie ließen keinen Tanz mehr aus. Angelas Glücksgefühl war unbeschreiblich.

War das der Augenblick, auf den sie gewartet hatte? Der Moment, in dem der Funke übersprang und zwei Menschen die Liebe entdeckten?

Christian tanzte mit ihr auf die Dachterrasse hinaus, wo sie sich langsam unter dem Sternenhimmel zum Takt des Schmusesongs weiterdrehten. Als dieser zu Ende war, hielt er in der Bewegung inne und sah ihr lange in die Augen.

»Ich glaube, ich möchte mit dir jetzt irgendwo hingehen, wo ich dich unbeobachtet küssen kann«, sagte er leise.

Dabei zog er ihre Hand an seine Lippen. Dann legte er den Arm um ihre Schultern und führte sie durchs Wohnzimmer. Als sie durchs Treppenhaus hinunterliefen, lachten sie sich an wie zwei Kinder, die anderen einen Streich spielten.

*

Längst war es still geworden in der Gasse, in der Claudia wohnte. Die Uhr des Münsters schlug ein Mal. Christian blieb auf dem Bürgersteig stehen. Er machte einen Schritt auf Angela zu und berührte ihre Lippen mit einem zärtlichen Kuss. Ganz von selbst schlangen sich da ihre Arme um seinen Nacken. Als Christian sie fest an sich drückte, stöhnte sie leise auf.

Die Spannung, die den ganzen Abend zwischen ihnen geknistert hatte, entlud sich nun in ihren leidenschaftlichen Küssen. Das Gefühl, von diesen starken Männerarmen umschlungen, von diesen sinnlichen Lippen geküsst zu werden, Christians raue Stimme an ihrem Ohr zu hören, seinen heißen Atem an ihrem Hals zu spüren, all das raubte ihr auch noch den letzten klaren Gedanken. Ihr Verstand schaltete sich aus und überließ ihrem Körper die alleinige Entscheidungsgewalt. Ohne Christian näher zu kennen, fühlte sie sich ihm so vertraut wie noch keinem Mann zuvor. Die Sehnsucht nach einer Berührung von ihm wollte sie zerreißen.

Es muss sein, dachte sie wie betäubt. Es soll so sein. Ganz gleich, wie ich danach darüber denken werde. Nur einmal erleben, wie die Liebe sein kann, die Liebe mit diesem Mann.

»Können wir uns morgen wiedersehen?«, fragte Christian.

Er hielt sie ein Stück von sich weg, sodass sie sich ansehen konnten. »Oder vielmehr heute?«, fügte er mit dem jungenhaften charmanten Lächeln hinzu, das sie vom ersten Augenblick an verzaubert hatte.

Womit hatte sie diesen Mann verdient?

»Ja, gern«, antwortete sie ein wenig atemlos.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

Oje, sie musste nach Hause. In wenigen Stunden musste sie schon aufstehen. Das Sonntagsfrühstück war ihren Eltern heilig.

»Du musst fahren, gelt?« Sichtlich enttäuscht sah er sie an.

Sie nickte.

»Wann morgen?«

Sie wusste es nicht. Was lag denn überhaupt am Sonntag bei ihr an?

»Können wir telefonieren?«, fragte sie.

»Klar. Gibst du mir deine Nummer?« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, so zärtlich, so behutsam, als würde es aus zerbrechlichem Porzellan bestehen.

Dieser Mann beherrschte wirklich jede Spielart. Heißblütig und leidenschaftlich genauso wie zart und beschützend, eine Mischung, die ihr Blut wieder hoch kochen ließ. Trotzdem musste sie jetzt fahren, aber wenn sie sich ja morgen oder vielmehr heute wiedersehen würden …

Auf dem Rückweg nach Ruhweiler lächelte Angela die ganze Zeit voller Seligkeit vor sich hin. Sie wusste ganz sicher, dass für sie eine neue Lebensphase begonnen hatte, eine schönere, glücklichere als die der beiden vergangenen Jahre.

*

Zum ersten Mal seit langer Zeit wachte Angela an diesem Sonntagmorgen ohne Kopfschmerzen oder andere Beschwerden auf. Und das nach nur drei Stunden Schlaf. Der Abend hatte ihr gutgetan. Immer noch spürte sie das Adrenalin in ihrem Körper, das die Begegnung mit Christian in ihr frei gesetzt hatte. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihm gab ihr neue Energie.

Sie sprang unter die Dusche und war, wie immer, die Erste in der elterlichen Wohnküche. Vor sich hin summend stellte sie die Kaffeemaschine an und deckte den Tisch. Dann erschienen ihre Eltern, ebenfalls gut gelaunt. Das schöne trockene Wetter wirkte sich schmerzstillend auf die Arthrose ihrer Mutter aus. Als Letzte kam natürlich Jenny zum Frühstück. Wie immer ziemlich maulig und übel gelaunt.

»Wenigstens sonntags könntest du mal die Aufgabe übernehmen, für uns Frühstück zu machen«, sagte ihr Vater in mahnendem Ton zu seiner jüngeren Tochter.

»Warum?« Jenny sah ihn trotzig an. »Angela hat darin mehr Übung. Dann mache ich ja doch alles falsch, und sie meckert an allem herum.«

Normalerweise hätte Angela sich in solchen Momenten verteidigt, aber jetzt schwieg sie lieber. Sie wollte die Atmosphäre nicht vergiften. Und sie fühlte sich viel zu sehr mit sich im Reinen, als dass Jennys Verhalten sie an diesem sonnigen Morgen berühren konnte.

»Wie war´s denn gestern bei Claudia?«, erkundigte sich ihre Mutter lächelnd.

»Es muss toll gewesen sein«, kam ihre Schwester ihr in der Antwort zuvor. »Angela ist mit in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen. Es war schon hell.«

Mutter und Vater wechselten einen Blick, sagten jedoch nichts dazu.

Warte, Jenny, wenn wir allein sind, drohte sie ihrer jüngeren Schwester im Stillen nun doch grimmig.

Wenn Monika Häferle sich körperlich gut fühlte, konnte sie sehr unterhaltsam und lustig sein. So bestritt sie auch an diesem Morgen die Unterhaltung beim Frühstück, und es gelang ihr sogar auch, die Laune ihrer Jüngsten zu heben.

»Ich räume heute ab«, bot sich diese dann auch tatsächlich an, als alle fertig waren.

Im nächsten Moment klingelte Angelas Handy, dass sie vorsichtshalber mit ins Elternhaus hinüber genommen hatte, in der Erwartung, dass Christian könnte sich meldete.

»Entschuldigt«, sagte sie und wollte schon die Küche verlassen, da fiel ihrer Schwester ein: »Ich habe doch keine Zeit abzuräumen. Ich muss noch was für die Schule tun.«

»Lass stehen, ich bin gleich wieder da«, sagte sie hastig und trat in den Flur hinaus.

Christian, las sie auf dem Display. Seine Nummer hatte sie noch vor dem Schlafengehen in ihr Funktelefon eingespeichert.

»Guten Morgen«, hörte sie ihn nun fröhlich sagen.

Seine tiefe Stimme ließ ihr Herz gleich wieder schneller schlagen.

»Guten Morgen«, erwiderte sie, während sie in Richtung Büro ging, dessen Tür sie fest hinter sich schloss.

»Zuerst einmal zu dem gestrigen Abend«, begann Christian in zärtlichem Ton. »Ich fühle mich noch ganz benommen. Du bist, du bist eine unheimlich tolle Frau. Noch nie habe ich mich mit einer Frau so gut unterhalten wie gestern mit dir. Und dein Humor, deine Art, dich beim Reden zu bewegen, deine Stimme …«

Angela schloss wie verzaubert die Augen, ließ sich von seinen wunderschönen Worten und dieser erotisierenden Männerstimme einhüllen. Sie fühlte sich in einem Kokon, in dem sie mit Christian allein war, der nur ihnen beiden gehörte.

Aus diesem Kokon wurde sie jedoch schnell wieder herausgerissen, als sich die Bürotür öffnete.

Axel Häferle steckte den Kopf ins Zimmer. »Mutter lässt fragen, ob du ihr mal gerade helfen kannst.«

Angela warf ihrem Vater ein Nicken zu.

»Gleich«, flüsterte sie in seine Richtung.

Ihr Vater zögerte deutlich, gab sich dann jedoch mit ihrer Antwort zufrieden und verschwand wieder. Die Tür sollte nicht lange geschlossen bleiben. Als Nächste erschien Jenny im Büro.

»Ich suche mein blaues Shirt mit den Delfinen«, sagte sie überlaut. »Hast du das noch nicht gebügelt?«

In Angela kochte das Blut hoch.

Typisch Jenny.

»Ich komme gleich. Mach bitte die Tür hinter dir zu.«

»Ich will aber …« Jennys rundes Gesicht färbte sich rot.

Schnell legte sie die Hand aufs Handy und zischte: »Gleich, habe ich gesagt, und jetzt raus hier.«

Nur selten ging sie so mit dem Teenager um, aber in diesem Moment wollte sie keine Nachsicht gelten lassen. Zu deutlich zeigte ihr Jenny, dass sie sie ganz bewusst stören wollte.

»Störe ich?«, hörte sie Christian nun am anderen Ende der Leitung fragen.

»Nein, nein«, versicherte sie ihm hastig. »Meine Schwester suchte nur etwas.«

»Wir müssen ja jetzt auch nicht so lange telefonieren«, lenkte ihr Traummann ein. »Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob und wann wir uns heute sehen.«

»Dass wir uns treffen, hatten wir gestern oder vielmehr heute in der Früh beschlossen«, erwiderte sie lächelnd.

»Super. Ich freue mich. Soll ich zu dir nach Ruhweiler kommen, damit du die Fahrt nicht noch einmal machen musst?«

»Ich komme nach Freiburg hinunter«, antwortete sie viel zu schnell.

»Von mir aus gern. Dann können wir ein bisschen bummeln, irgendwo einen Wein trinken, etwas essen …«

»O ja.«

Ihr Herz weitete sich bei der Aussicht, schon in wenigen Stunden mit Christian durch Freiburgs Gassen schlendern zu können. Vielleicht Arm in Arm?

»Um wie viel Uhr?«, fragte er.

Blitzschnell zählte sie in Erinnerung auf, was sie heute noch alles zu erledigen hatte. Bügeln, Buchführung, in der Tankstelle nach dem Rechten sehen, wo sonntags von morgens acht Uhr eine Aushilfe arbeitete. Der einzige Tag, an dem sich ihre Eltern einen solchen Luxus erlaubten, oder besser gesagt, ihrer älteren Tochter.

»Siebzehn Uhr?«, schlug sie vor.

»Perfekt«, stimmte Christian ihr zu. »Ich kann es kaum erwarten.«

*

Ab Mittag spürte Angela, wie ihre Kopfschmerzen zurückkamen. Als sie vom Schreibtisch aufstand, wurde ihr auch wieder schwindelig.

Nein, solche Beschwerden konnte sie sich heute nun gar nicht erlauben. Sie musste ihr Programm durchziehen, um innerlich frei zu sein für die Verabredung mit Christian am Spätnachmittag. Schnell nahm sie eine Tablette ein.

Da sie noch ein paar Handgriffe für ihre Mutter erledigen und ihren Vater vom Stammtisch im Gasthaus abholen musste, geriet sie immer mehr in Hektik. Zwischendurch rief auch noch Claudia an.

»Und?«, fragte ihre Freundin erwartungsvoll. »Habe ich dir bezüglich Christian zu viel versprochen?«

Sie sah Claudia vor sich, triumphierend strahlend.

»Sei mir nicht böse, aber ich habe wirklich keine Zeit«, wehrte sie alle weiteren Fragen ab. »Nur eines dazu: Ich bin gleich mit deinem Vetter in Freiburg verabredet.«

»Dann mach dir einen schönen Abend. Ich freue mich total für euch.«

Es klickte in der Leitung, und Angela atmete auf. Schließlich blieb ihr nur noch eine knapp bemessene Zeit, um das Haar zu waschen, sich dezent zu schminken und umzuziehen. Für diesen Abend wählte sie einen kurzen sandfarbenen Rock, eine weiße Bluse und beige, nicht zu hohe Pumps. Insgesamt war sie zufrieden mit ihrem Spiegelbild, wenn ihr auch die Erschöpfung auf den Zügen geschrieben stand.

Aber das Wiedersehen mit Christian würde bestimmt wie ein Jungbrunnen auf sie wirken, tröstete sie sich.

Und die Schmerzen in ihrem Kopf wurden dann auf der Fahrt zu ihrer Verabredung auch von einem Glücksgefühl im Herzen verdrängt.

*

Angela und Christian hatten sich auf einem Parkplatz in der Nähe des Freiburger Münsters verabredet. Sie kamen zur gleichen Zeit an.

Christian trat auf sie zu. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und gab ihr einen Begrüßungskuss.

»Ich darf doch?«, fragte er leise.

Als sie lächelnd nickte, umarmte er sie. Der zweite Kuss war kein leichter Begrüßungskuss mehr, sondern einer, der Christians Verlangen nach ihr, seine Erleichterung, sie wiederzusehen, und seine Verliebtheit ausdrückte.

Angela schmiegte die Wange an Christians Schulter, sog das Gefühl seiner Gegenwart in sich auf, seine Wärme, seine Vitalität, die ihr die Kraft wiedergab, die sie verloren hatte.

Dann traten sie einen Schritt voneinander zurück und hielten sich an den Händen fest.

»Du bist wunderschön«, sagte Christian so andächtig, als würde er ein wertvolles Gemälde betrachten.

Sie lächelte zu ihm hoch. Ihr Herz begann zu flattern. Eine warme Welle floss durch ihren Körper. In diesem Augenblick warf sie die Gedanken an ihre häusliche Situation als störenden Ballast ab. Sie fühlte sich wieder so jung, wie sie war, und stark genug, einen neuen Anfang zu wagen.

Christian sah sie an mit einem Blick, der bis in die Tiefe ihrer Seele drang. Dann zog er sie wieder an sich, als würde er fühlen, was sie bewegte. Als seine Lippen zärtlich ihren Mund berührten, öffnete sie ihm endgültig die Tür zu ihrem Herzen.

*

Hand in Hand bummelten die Verliebten durch Freiburgs Gassen, in denen sich an diesem schönen Sommerspätnachmittag die Menschen aneinander vorbeidrängten. Immer wieder mussten sie anderen ausweichen. Dann drückte Christian seine Traumfrau schnell noch fester an sich, und sie lachten, wenn sie dabei beide das Gleichgewicht verloren.

Genervt von dem Besucherstrom, fuhren sie schließlich mit Christians Wagen in ein Gartenlokal, das in den Wiesen vor den Toren Freiburgs lag. Hier ging es wesentlich ruhiger zu, und die Luft war angenehm leicht. Eine freundliche Kellnerin bediente sie, das einfache Essen schmeckte köstlich, und sie unterhielten sich, ohne dass Langeweile zwischen ihnen Platz gehabt hätte. Lange blieben die beiden auf der Bank sitzen und vergaßen die Zeit. Angela lehnte den Kopf an Christians Schulter, mit geschlossenen Augen. Sein Atem strich durch ihr Haar.

Allein seine bloße Anwesenheit schon flößte ihr Staunen ein. War das die Liebe, von der die Romane oder Filme erzählten? Bei seinen Berührungen erschauerte sie. Der Sturm tief in ihr, die Empfindlichkeit, die köstlichen Spannungen in ihrem Bauch, das schmerzliche Verlangen nach ihm … Welch neue köstliche Gefühle. Sie konnte kaum atmen. Es war, als würde sie durch den Nebel ihrer Träume und Wünsche gleiten, hinter dem die Erfüllung ihrer Hoffnungen wartete. Tief atmete sie den Duft der Blumen in den Kästen am Gartenzaun ein, sah der untergehenden Sonne zu, deren Licht langsam von der Dunkelheit verschluckt wurde, entdeckte die ersten Sterne am Himmel und dachte, dass es nun Zeit sein würde, sich auf den Heimweg zu begeben.

»Hast du Lust, noch mit zu mir zu fahren?«, fragte Christian mit weich klingender Stimme in ihren Gedankenflug hinein.

»Auf den berühmten Kaffee?« Verschmitzt lächelte sie an.

Sein Lachen klang warm und kam tief aus seinem Bauch. »Kaffee und Briefmarken habe ich tatsächlich anzubieten, aber eigentlich möchte ich dir nur zeigen, wo und wie ich lebe.«

Sie wusste inzwischen, dass er nach dem Tod seiner Großeltern väterlicherseits in deren altes Schwarzwaldhaus außerhalb der Stadt gezogen war. Und dass er dieses aufwendig restauriert hatte.

»Liegt es weit von hier?«, erkundigte sie sich, wieder mit der Uhr vor ihrem inneren Auge. Am nächsten Morgen musste sie früh aufstehen.

»Schau mal …« Christian zog sie näher zu sich heran, legte seine Wange an ihre und zeigte mit dem Arm über die Wiesen. In dem schwindenden Licht des Tages konnte sie in der Ferne am Wiesenrand gerade noch ein Haus entdecken.

»Dort hinten?«, fragte sie erstaunt. »Das Haus am Wald, das ganz allein dort steht?«

Er nickte mit stolzer Miene und meinte mit seinem Naturburschencharme: »Alles mein.«

Sie lachten.

»Ja, das möchte ich mir gern ansehen, auch wenn es schon spät ist.«

»Du kannst auch bei mir übernachten«, bot er ihr an. »Ganz züchtig. Ich habe zwei Gästezimmer.«

Sie lächelte ihn an mit all der Herzlichkeit, die sie für ihn empfand. »Nein, danke, ich muss morgen in der Früh wieder zu Hause sein.«

»Vielleicht doch lieber noch ein bisschen früher, oder?« Verschmitzt zwinkerte er ihr zu. »Von Claudia weiß ich, dass du deiner Schwester vor der Schule das Frühstück machst und die Tankstelle schon früh öffnest.«

Christian hatte ihre Aufgaben zu Hause ganz sachlich erwähnt. Und dennoch. Zum ersten Mal wurde ihr so richtig bewusst, dass Jenny sich ihr Frühstück durchaus selbst machen und ihr Vater die Tankstelle auch mit einem Arm aufschließen konnte. Zumal sie ja nur einen kleinen Betrieb besaßen, ohne frische Brötchen oder sonstige Snacks, die hätten vorbereitet werden müssen.

Diese Erkenntnis traf sie so schlagartig, dass sie nicht wusste, was sie auf Christians Feststellung erwidern sollte.