Edgar Allan Poe: Israfel, S. 35
Aus ders., Gedichte
Berliner Ausgabe 2016, 4. Auflage
Textgrundlage ist die Ausgabe: Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 1: Gedichte, herausgegeben von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen-Verlag, [1922].
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Dieses Buch widme ich voller Liebe und Dankbarkeit den Frauen, die mir hindurchgeholfen haben:
Vor allem Gemma und Helen, aber auch Fumie Takinos Truppe japanischer Cheerleader-Omas.
Vorabend des Frühlings, Winter des Jahres Eins
Mit klappernden Zähnen, die klammen Finger fest um den Griff ihres Schirms geschlossen, sprang Morrigan Crow von der Schirmbahn herunter. Der kalte Fahrtwind hatte ihr eine beeindruckende Sturmfrisur verpasst.
Sie bemühte sich nach Kräften, ihre Haare glatt zu streichen, während sie hinter ihrem Förderer hereilte, der in unglaublichem Tempo durch das lärmende Gewimmel auf der Hauptstraße des Künstlerviertels raste.
»Warte!«, rief sie und kämpfte sich durch ein Knäuel von Frauen in Satinkleidern und schweren Samtumhängen. »Jupiter, nicht so schnell.«
Jupiter North drehte sich nach ihr um, blieb aber nicht stehen. »Ich kann nicht langsamer, Mog. Dafür bin ich nicht geschaffen. Leg einen Zahn zu.«
Schon wandte er sich wieder nach vorn und fegte weiter, durch das Chaos aus Fußgängern, Rikschas, Pferdekutschen und motorisierten Wagen, ohne nach rechts oder links zu schauen.
Morrigan hetzte hinter ihm her, eingehüllt in eine Wolke aus ekelhaft süßlich riechendem saphirblauem Rauch, den ihr eine Frau direkt ins Gesicht blies. Zwischen ihren blau gefleckten Fingerspitzen hielt sie ein dünnes goldfarbenes Zigarillo.
»Igitt, das stinkt.« Morrigan musste husten und wedelte den Rauch angewidert von sich weg. Dabei verlor sie Jupiter kurz aus den Augen, entdeckte dann aber wieder seinen kupferroten, auf und ab hüpfenden Haarschopf in der Menge und sprintete ihm nach.
»Ein Kind!«, rief die Frau mit den blauen Fingern entsetzt. »Sieh nur, meine Liebe – ein Kind, hier in Bohemia. Wie schrecklich!«
»Das ist Teil einer Performance, Teuerste.«
»Oh, wirklich? Wie originell!«
Morrigan wünschte, sie könnte kurz stehen bleiben und sich umsehen. In diesem Teil von Nevermoor war sie noch nie zuvor gewesen. Wenn sie nicht so viel Angst gehabt hätte, Jupiter in der Menge zu verlieren, hätte sie liebend gern einen Blick auf die breiten, mit Theatern, Varietés und Konzerthäusern gesäumten Straßen geworfen und sich die vielen bunten Lichter und Leuchtreklamen genauer angesehen. An jeder Ecke stiegen piekfein gekleidete Männer und Frauen aus Wagen und Kutschen und strömten in die prächtigen Vorhallen der Theaterhäuser. Animateure gaben lauthals ihr Bestes, um Gäste in schrille Bars zu locken. Einige Restaurants quollen förmlich über vor Menschen: Ihre Tische reichten bis hinaus auf die Gehsteige, und selbst an diesem frostigen Abend vor Frühlingsbeginn, dem letzten Tag des Winters, war jeder Platz besetzt.
Endlich schloss Morrigan zu Jupiter auf. Er wartete vor dem Gebäude mit der größten Menschenansammlung davor in der Straße – ein wunderschönes, schillerndes Etablissement aus Marmor und Gold. Für Morrigan wirkte der Bau wie eine Mischung aus Kirche und Hochzeitstorte. Auf der hell erleuchteten Markise über dem Eingang stand:
HEUTE IN DER NEW DELPHIAN MUSIC HALL
GIGI GRAND
und die
FÜNF KANALRATTEN
»Gehen wir … gehen wir rein?«, keuchte Morrigan. Sie war völlig außer Atem und hatte Seitenstechen.
»Hier rein?« Jupiter schaute verächtlich an dem Gebäude hinauf. »Bloß nicht! Nur über meine Leiche.«
Mit einem Blick über die Schulter führte er sie in eine Gasse hinter dem Konzerthaus, weg von der Menschenmenge. Der Durchgang war so schmal, dass sie hintereinandergehen und über undefinierbare Abfälle und Backsteine steigen mussten, die sich aus den Mauern gelöst hatten. Es gab keine Beleuchtung, und je weiter sie vordrangen, desto stärker wurde der scheußliche Geruch nach faulen Eiern oder toten Tieren – oder vielleicht auch beidem.
Morrigan hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Der Gestank war so ekelerregend, dass sie nur mit Mühe einen Brechreiz unterdrücken konnte. Mehr als alles andere wollte sie kehrtmachen, aber Jupiter ging hinter ihr und drängte sie entschlossen vorwärts.
»Halt«, sagte er schließlich, als sie fast das Ende der Gasse erreicht hatten. »Ist das …? Nein. Moment mal, ist es …?«
Sie drehte sich um und sah, wie Jupiter eine Stelle der Mauer inspizierte, die genauso aussah wie der Rest. Mit den Fingerspitzen drückte er leicht gegen den Mörtel in der Fuge zwischen den Backsteinen. Dann beugte er sich vor, um an der Mauer zu riechen, bevor er vorsichtig daran leckte.
Morrigan sah ihn entsetzt an. »Igitt, hör auf! Was machst du denn da?«
Zuerst sagte Jupiter nichts, starrte nur eine Weile die Mauer an und runzelte die Stirn. Dann schaute er hinauf zu dem schmalen Streifen Sternenhimmel zwischen den Häusern. »Hmm. Dachte ich’s mir doch. Fühlst du das?«
»Was?«
Er nahm ihre Hand und drückte die Innenfläche gegen die Mauer. »Schließ die Augen.«
Morrigan tat, was er sagte, kam sich aber lächerlich dabei vor. Manchmal war es schwer zu sagen, ob Jupiter Spaß machte oder ernst war, und sie hatte den Verdacht, dass er sich gerade irgendeinen dummen Scherz mit ihr erlaubte. Schließlich hatte sie heute Geburtstag, und auch wenn er versprochen hatte, dass es keine Überraschungen geben werde, hätte es sie nicht gewundert, wenn er ihr einen ausgeklügelten und peinlichen Streich spielen würde, der in einem Raum voller »Happy Birthday« singender Menschen endete. Sie wollte diesen Verdacht gerade laut aussprechen, als …
»Oh!« Sie spürte ein ganz leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen und in ihren Ohren summte es sanft. »Oh.«
Jupiter packte ihr Handgelenk und zog es ganz langsam von der Mauer fort. Sofort spürte Morrigan einen Widerstand, als wären die Backsteine magnetisiert und wollten sie nicht loslassen.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Ziemlich trickreich«, murmelte Jupiter. »Folge mir.«
Er lehnte sich nach hinten, stellte den linken Fuß auf die Mauer und dann – allen Gesetzen der Schwerkraft trotzend – den rechten. So ging er die Mauer hinauf, musste aber den Kopf einziehen, um ihn sich nicht an der Mauer auf der anderen Seite der Gasse zu stoßen.
Morrigan starrte ihn einen Augenblick sprachlos an und schüttelte sich dann leicht. Sie war doch jetzt eine echte Einwohnerin von Nevermoor, wohnte dauerhaft im Hotel Deucalion und war obendrein noch Mitglied der Wundersamen Gesellschaft. Inzwischen sollte es sie doch wirklich nicht mehr überraschen, wenn die Dinge einen etwas seltsamen Verlauf nahmen.
Also holte sie tief Luft – wobei sie sich wegen des furchtbaren Gestanks fast wieder übergeben hätte – und tat genau das, was Jupiter gerade getan hatte. Sobald sie mit beiden Füßen fest auf der Mauer stand, geriet die Welt kurz aus dem Gleichgewicht, kam aber dann wieder ins Lot, und Morrigan entspannte sich allmählich. Sofort verschwand der fürchterliche Geruch und wurde durch frische, klare Abendluft ersetzt. Eine Mauer in einer Gasse hinaufzugehen, vor sich den sternenübersäten Himmel als Horizont, kam ihr plötzlich vor wie das Natürlichste auf der Welt. Sie musste lachen.
Als sie aus der vertikalen Gasse heraustraten, kippte die Welt wieder auf die gewohnte Seite.
Aber entgegen Morrigans Erwartungen befanden sie sich nicht auf einem Dach, sondern in der nächsten Gasse. Sie war laut, geschäftig und in ein fahles grünes Licht getaucht. Zusammen mit Jupiter stellte sie sich ans Ende einer langen Schlange aufgeregter Menschen, die zu einem abgesperrten roten Teppich führte.
Die erwartungsvolle Stimmung war ansteckend. Ungeduldig stellte Morrigan sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, warum die Menschen hier anstanden. Weiter vorn, an einer abgegriffenen blassblauen Tür, klebte ein Schild mit der gekrakelten Aufschrift:
OLD DELPHIAN MUSIC HALL
BÜHNENEINGANG
HEUTE ABEND:
Der Engel Israfel
»Wer ist der Engel Israfel?«, fragte Morrigan.
Jupiter antwortete nicht, sondern bedeutete Morrigan mit einem kurzen Kopfnicken, ihm zu folgen. Dann schlenderte er an die Spitze der Schlange, wo eine gelangweilt aussehende Frau auf einer Liste Namen abhakte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet – von ihren schweren Stiefeln bis zu den wollenen Ohrenschützern, die um ihren Hals hingen. (Morrigan fand das ziemlich schick.)
»Hinten anstellen«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Keine Fotos. Und Autogramme gibt’s erst nach der Show.«
»Ich fürchte, so lange kann ich nicht warten«, entgegnete Jupiter. »Was dagegen, wenn ich mich schnell reinschleiche?«
Die Frau seufzte und bedachte ihn mit einem flüchtigen, ausdruckslosen Blick, während sie mit halb geöffnetem Mund einen fetten Kaugummi kaute.
»Name?«
»Jupiter North.«
»Sie stehen nicht auf der Liste.«
»Nein. Ich meine, ja. Ich weiß. Ich hatte gehofft, Sie könnten das für mich regeln«, sagte er und lächelte sie durch seinen rotblonden Bart an. Dabei tippte er leicht auf die kleine goldene Anstecknadel an seinem Revers, die wie ein W geformt war.
Morrigan zuckte peinlich berührt zusammen. Sie wusste, dass die Mitglieder der erlesenen Wundersamen Gesellschaft in Nevermoor bewundert wurden und häufig eine Sonderbehandlung genossen, von der normale Bürger nur träumen konnten. Aber sie hatte noch nie gesehen, dass Jupiter sein sogenanntes »Nadelprivileg« so dreist ausnutzte. Sie fragte sich, ob er das öfter tat oder ob er hier eine Ausnahme machte.
Die Frau war davon allerdings nicht beeindruckt – verständlich, wie Morrigan fand. Sie starrte das kleine goldene W mürrisch an, bevor sie ihre stark mit Glitzerpuder geschminkten Augen zu Jupiters hoffnungsvollem Gesicht hob. »Sie stehen trotzdem nicht auf der Liste.«
»Er wird mich sehen wollen«, behauptete Jupiter.
Ihre Oberlippe kräuselte sich zu einem müden Lächeln und gab mit Glitzersteinen besetzte Zähne frei. »Beweisen Sie es.«
Jupiter neigte den Kopf zur Seite, hob eine Augenbraue und die Frau ahmte seine Mimik ungeduldig nach. Schließlich seufzte Jupiter genervt, griff in seine Manteltasche und zog eine einzelne schwarze, mit Gold durchwirkte Feder aus der Tasche, die er ein paarmal zwischen den Fingern hin und her zwirbelte.
Bei diesem Anblick wurden die Augen der Frau größer. Ihr fiel die Kinnlade herunter, sodass Morrigan den fetten knallblauen Kaugummi sehen konnte, der zwischen ihren Zähnen klemmte. Mit einem besorgten Blick auf die immer länger werdende Schlange drückte die Frau schließlich die Tür hinter sich auf und winkte die beiden mit einer kurzen Kopfbewegung durch. »Beeilung. Noch fünf Minuten bis zum Vorhang.«
Hinter der Bühne des Old Delphian war es dunkel. Erwartungsvolle Spannung lag in der Luft, während Bühnenhelfer diskret hin und her liefen und ihre Arbeit taten.
»Was war das mit dieser Feder?«, flüsterte Morrigan.
»Offenbar überzeugender als das mit der Anstecknadel«, murmelte Jupiter leicht angesäuert und reichte Morrigan ein Paar Ohrenschützer, die er aus einer Kiste mit der Aufschrift CREW stibitzt hatte.
»Hier, setz die auf. Er wird gleich singen.«
»Wer? Der Engel Is…, äh, …dings?«
»Israfel, ja.« Jupiter fuhr sich mit der Hand durch sein kupferrotes Haar, woran Morrigan erkannte, dass er nervös war.
»Aber ich will es hören.«
»Oh nein, das willst du nicht. Glaub mir.« Jupiter spähte durch das Loch im Bühnenvorhang in den Zuschauersaal und Morrigan riskierte ebenfalls einen kurzen Blick. »Einen von seiner Art will man nicht singen hören, Mog.«
»Warum nicht?«
»Weil es der süßeste Klang ist, den du je hören wirst. Er setzt etwas in deinem Hirn in Gang, was dich in einen Zustand vollkommenen Friedens versetzt – das beste Gefühl, das man sich nur vorstellen kann. Es wird dich daran erinnern, dass du ein vollständiges menschliches Wesen bist, makellos und perfekt, und dass du bereits alles besitzt, was du jemals zu wollen oder zu brauchen meinst. Einsamkeit und Traurigkeit sind nur noch eine ferne Erinnerung. Dein Herz geht auf, und du bist überzeugt, dass nichts in der Welt dich je wieder enttäuschen wird.«
»Klingt grauenvoll«, befand Morrigan.
»Es ist grauenvoll«, bestätigte Jupiter finster, »weil es vergänglich ist. Weil Israfel nicht ewig singen kann. Wenn er aufhört zu singen, schwindet dieses Gefühl des perfekten Glücks irgendwann, und du bleibst hier in der realen Welt zurück, mit all ihrer Härte und Unvollkommenheit, mit all ihrem Schmutz. Diese Leere wird unerträglich sein – als hätte dein Leben einfach aufgehört. Als wärst du in einer Blase gefangen, während alle anderen um dich herum unvollkommen weiterleben. Siehst du diese Leute da draußen?«, fragte Jupiter sie und zog den Vorgang ein klein wenig zur Seite, damit sie ins Publikum schauen konnte.
Die vom Schein des leeren Orchestergrabens beleuchteten Gesichter hatten alle den gleichen Ausdruck – erwartungsvoll und gespannt, aber auch irgendwie leer.
Sie waren abhängig. Abhängig. »Das sind keine Förderer der schönen Künste«, fuhr Jupiter fort. »Sie sind nicht hier, weil sie eine meisterliche Darbietung sehen wollen.« Dann schaute er herunter zu Morrigan und flüsterte: »Das sind Süchtige, Mog. Jeder Einzelne von ihnen. Sie sind hier, weil sie die nächste Dosis brauchen.«
Beim Anblick dieser hungrigen Augen fuhr es Morrigan kalt über den Rücken.
Eine Frauenstimme durchschnitt die Atmosphäre im Saal und brachte das Publikum zum Verstummen.
»Ladys und Gentlemen! Am Abend seines einhundertsten triumphalen und überirdischen Auftritts hier im Old Delphian … präsentieren wir Ihnen den unvergleichlichen, den himmlischen, den göttlichen …«
Die Stimme aus dem Lautsprecher senkte sich zu einem dramatischen Flüstern. »Einen innigen Applaus für den Engel Israfel!«
Die Stille zersplitterte förmlich, und der Saal war erfüllt vom Jubel der Menschen, die begeistert applaudierten, jauchzten und pfiffen. Jupiter stieß Morrigan den Ellbogen in die Seite, woraufhin sie sich die Ohrenschützer aufsetzte und zurechtrückte. Sie blendeten jedes Geräusch aus, sodass sie nur noch das Blut in ihren Ohren rauschen hörte. Morrigan wusste, dass sie nicht hier waren, um sich eine Vorstellung anzusehen. Sie hatten einen viel wichtigeren Auftrag zu erledigen, aber trotzdem … Irgendwie war sie ein klein wenig verstimmt.
Die Dunkelheit im Saal wich einem goldenen Glanz. Morrigan blinzelte in das grelle Licht. Über dem Publikum, hoch oben unter der Decke in der Mitte des ausladenden Raums, erschien ein Mann von dermaßen eigenwilliger und außerirdischer Schönheit im Scheinwerferlicht, dass es Morrigan den Atem verschlug.
Der Engel Israfel schwebte in der Luft. Seine kraftvollen, sehnigen Flügel mit schwarzen, von glänzendem Gold durchzogenen Federn ragten zwischen seinen Schulterblättern heraus und schlugen langsam und rhythmisch. Ihre Spannweite musste mindestens drei Meter betragen. Auch sein Körper war stark und muskulös, aber trotzdem geschmeidig, und seine schwarze Haut war von winzigen goldenen Adern durchzogen, als sei er wie eine Vase zerbrochen gewesen und mithilfe von kostbaren Edelmetallen wieder zusammengefügt worden.
Er schaute wohlwollend und gleichzeitig neugierig hinab auf das Publikum. Alle starrten zu dem Engel hinauf, zitterten, weinten und schlangen Trost suchend die Arme um sich selbst. Einige fielen sogar in Ohnmacht. Morrigan kam das alles ein bisschen übertrieben vor. Er hatte ja noch nicht einen einzigen Ton von sich gegeben.
Aber dann setzte er an.
Und das Publikum erstarrte.
Alle fielen in völlige Verzückung, als würden sie nie wieder zu sich kommen.
Ein stiller, tiefer Friede senkte sich wie Schnee auf sie herab.
Morrigan wäre am liebsten einfach stehen geblieben und hätte dieses seltsame, stille Spektakel die ganze Nacht lang beobachtet … Aber Jupiter war nach ein paar Minuten gelangweilt. (Typisch, dachte sie.)
In dem schummrigen, verrauchten Gang hinter der Bühne fand Jupiter schließlich Israfels Garderobe und zog Morrigan hinter sich in den Raum, um auf den Engel zu warten. Erst als die schwere Stahltür vollständig geschlossen war, nahm Jupiter die Ohrenschützer ab.
Morrigan sah sich in der Garderobe um und rümpfte die Nase. Alles voller Müll und Unrat. Überall standen leere Dosen und Flaschen herum, daneben halb ausgepackte Pralinenschachteln und Dutzende von Vasen mit Blumen in verschiedenen Stadien des Verfalls.
Nicht nur auf dem Boden, auch auf dem Sofa, dem Schminktisch und dem Stuhl türmten sich Kostüme und Klamotten, und es roch muffig nach ungewaschenen Sachen. Der Engel Israfel war ein Ferkel.
Morrigan lachte vor Verblüffung. »Bist du sicher, dass das die richtige Garderobe ist?«
»Mmh. Leider ja.«
Jupiter schaffte ein bisschen Platz auf dem Sofa, damit Morrigan sich setzen konnte, und warf den Müll angewidert in einen Eimer … bis es ihn irgendwann packte und er die nächste Dreiviertelstunde damit verbrachte, einigermaßen aufzuräumen, zu wischen und den Raum so bewohnbar wie möglich zu gestalten. Er bat Morrigan nicht um Hilfe und sie bot auch keine an. Sie hatte keine Lust, Kopf und Kragen zu riskieren.
»Und, Mog, wie geht’s dir? Alles in Ordnung? Fühlst du dich gut und … bist du ruhig und gelassen?«
Morrigan runzelte die Stirn. Sie war vollkommen ruhig und gelassen gewesen, bis er sie danach gefragt hatte. Wenn man gefragt wird, ob man ruhig und gelassen ist, dann meist nur, weil der Fragende glaubt, man habe allen Grund, es nicht zu sein. »Wieso?« Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Was ist los?«
»Nichts!«, antwortete er, aber seine Stimme klang ein wenig piepsig und defensiv. »Gar nichts. Es ist nur … Wenn du jemandem wie Israfel begegnest, solltest du unbedingt in guter Stimmung sein.«
»Warum?«
»Weil Leute wie Israfel … die Emotionen anderer Menschen absorbieren. Nun, es zeugt von sehr schlechten Manieren, jemanden zu besuchen, wenn man selbst besonders traurig oder wütend ist, denn damit bringt man den anderen in eine miserable Stimmung und ruiniert seinen Tag. Und ehrlich gesagt können wir es uns nicht leisten, Israfel zu verärgern. Das alles ist einfach zu wichtig. Also, äh … Wie geht’s dir?«
Morrigan verzog das Gesicht zu einem sehr breiten Lächeln und signalisierte ihm mit zwei nach oben gereckten Daumen, dass alles in Ordnung war.
»Ah ja«, sagte er langsam und wirkte dabei ein wenig verwirrt. »Okay. Besser als nichts.«
Eine Stimme aus den Lautsprechern hinter den Kulissen kündigte eine Pause von zwanzig Minuten an, und kurz darauf flog die Garderobentür auf.
Der Star des Abends rauschte herein, schweißgebadet und die Schwingen auf dem Rücken gefaltet. Er steuerte geradewegs auf einen Wagen mit klirrenden Glasflaschen voll hochprozentigem Alkohol in verschiedenen Schattierungen von Goldbraun zu und goss sich etwas von einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ein kleines Glas. Gleich danach ein weiteres. Er hatte es fast ausgetrunken, als er endlich zu bemerken schien, dass er nicht allein war.
Er starrte Jupiter an, während er den Rest seines Drinks hinunterstürzte.
»Endlich eine Streunerin aufgelesen, mein Lieber?«, meinte er schließlich und neigte den Kopf fragend in Morrigans Richtung. Sogar seine Sprechstimme war tief und melodisch, dachte Morrigan. Bei ihrem Klang empfand sie so etwas wie Nostalgie, Heimweh oder Sehnsucht und musste schwer schlucken.
Jupiter schmunzelte. »Morrigan Crow, darf ich vorstellen: der Engel Israfel. Wie Israfel so schön, singt keiner in den Höhn.[1]«
»Freut mich …«, setzte Morrigan an.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, unterbrach Israfel sie und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf seine Garderobe. »Ich hatte heute Abend keine Gäste erwartet. Und ich kann euch auch nicht allzu viel anbieten, aber bitte …« Er deutete auf den Servierwagen. »… bedient euch.«
»Wir sind nicht deswegen hergekommen, alter Freund«, erklärte Jupiter. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Es ist ziemlich dringend.«
Israfel ließ sich in einen Sessel fallen, schwang die Beine über die rechte Lehne und starrte verdrießlich auf das Glas in seiner Hand. Seine Flügel, die wie ein Federumhang hinter seinem Stuhl ausgebreitet waren, regten und sortierten sich. Sie waren glatt, glänzend und mit weichem Flaum unterfüttert. Morrigan konnte sich nur mühsam zurückhalten, die Hand danach auszustrecken und darüberzustreichen. Könnte komisch wirken, dachte sie.
»Ich hätte mir denken können, dass das kein Höflichkeitsbesuch ist«, meinte Israfel. »Allzu oft kommst du ja wirklich nicht vorbei, alter Freund. Das letzte Mal hast du dich im Sommer des Jahres Elf blicken lassen. Ist dir klar, dass du meine triumphale Premiere verpasst hast?«
»Das tut mir leid. Hast du denn die Blumen nicht bekommen, die ich dir geschickt habe?«
»Nein. Ich weiß es nicht. Vermutlich.« Er zuckte gereizt die Schultern. »Viele Leute schicken mir Blumen.«
Morrigan war sich sicher, dass Israfel Jupiter ein schlechtes Gewissen machen wollte, aber irgendwie hatte sie selbst eins. Sie war Israfel noch nie in ihrem Leben begegnet, aber trotzdem konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass er unglücklich war. Plötzlich hatte sie das dringende Bedürfnis, ihm einen Keks oder einen kleinen Hund zu schenken. Irgendetwas, was ihn aufheiterte.
Jupiter zog eine zerknitterte Papierrolle und einen Stift aus der Manteltasche und hielt seinem Freund beides schweigend hin. Israfel ignorierte es. »Ich weiß, dass du meinen Brief bekommen hast«, behauptete Jupiter.
Israfel drehte das leere Glas in seiner Hand und schwieg.
»Tust du mir den Gefallen?«, fragte Jupiter ihn geradeheraus, die Hand noch immer ausgestreckt. »Bitte?«
Israfel zuckte mit den Schultern. »Warum sollte ich?«
»Mir fällt kein vernünftiger Grund ein«, gab Jupiter zu. »Aber ich hoffe, du tust es trotzdem.«
Der Engel schaute reserviert und misstrauisch zu Morrigan. »Mir fällt nur ein Grund ein, warum der große Jupiter North zum Förderer wird.« Er nippte an seinem inzwischen wieder gefüllten Glas und richtete den Blick auf Jupiter. »Bitte korrigiere mich, wenn ich mich irre.«
Morrigan sah ihren Förderer ebenfalls an. Ein unbehagliches Schweigen machte sich breit, das Israfel als eine Art Zustimmung aufzufassen schien.
»Wunderschmied«, zischte er leise. Dann seufzte er tief, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und schnappte Jupiter die Papierrolle aus der Hand. »Du bist mein liebster Freund und der größte Idiot, der mir je begegnet ist. Also, ja, natürlich unterschreibe ich diesen bescheuerten Sicherungsvertrag. So nutzlos er auch ist. Eine Wunderschmiedin, also wirklich! Wie lächerlich ist das denn?«
Morrigan rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. Sie fühlte sich unwohl und war auch ein bisschen aufgebracht. Es ärgerte sie, von jemandem als lächerlich bezeichnet zu werden, in dessen Garderobe es aussah wie auf einer Müllhalde. Sie schniefte und versuchte, stolz und unbeeindruckt zu wirken.
Jupiter schaute den Engel gerührt an. »Izzy. Du weißt ja gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Aber das Ganze ist streng vertraulich. Außer dir und mir …«
»Ich kann ein Geheimnis bewahren«, fiel Israfel ihm ins Wort, griff hinter sich und zuckte kurz zusammen, als er eine einzelne, schwarze Feder aus seinem linken Flügel rupfte. Er tauchte den Kiel in ein Tintenfass auf dem Schminktisch und unterschrieb unten auf der Seite in einer krakeligen Schrift. Mit finsterem Blick hielt er dann Jupiter die Papierrolle hin und warf die Feder einfach weg. Während sie zu Boden segelte, fingen die goldenen Einsprengsel das Licht ein. Am liebsten hätte Morrigan die Feder aufgehoben und wie einen kostbaren Schatz mit nach Hause genommen, aber das wäre ungefähr so gewesen, als würde sie seine Kleider stehlen. »Ich hatte wirklich früher mit dir gerechnet. Ich nehme an, du hast von Cassiel gehört?«
Ohne aufzublicken, pustete Jupiter auf die Tinte, damit sie schneller trocknete. »Was ist mit ihm?«
»Er ist verschwunden.«
Jupiter hörte auf zu pusten, hob den Kopf und schaute Israfel an. »Verschwunden?«
»Weg.«
Jupiter schüttelte den Kopf. »Unmöglich!«
»Das habe ich auch gesagt. Aber so ist es.«
»Aber er ist doch …«, setzte Jupiter an. »Er kann doch nicht einfach …«
Israfel zog eine finstere Miene. Morrigan fand, dass er besorgt wirkte. »Aber so ist es«, sagte er wieder.
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Dann stand Jupiter auf, nahm seinen Mantel und bedeutete Morrigan, sich ebenfalls zu erheben. »Ich werde mich darum kümmern.«
»Wirklich?« Israfel sah ihn skeptisch an.
»Versprochen.«
Sie gingen die Mauer in der Gasse hinunter, bogen wieder auf die grelle, taghell erleuchtete Hauptstraße des Künstlerviertels ein und bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge in Richtung Schirmbahnplattform – allerdings in wesentlich zivilisierterem Tempo als zuvor. Jupiter legte Morrigan eine Hand fest auf die Schulter, als würde er sich gerade erst daran erinnern, dass sie sich in einem zwielichtigen und äußerst lebhaften Teil der Stadt aufhielten, wo er sie leicht verlieren konnte.
»Wer ist Cassiel?«, fragte Morrigan, als sie auf der Plattform standen und auf die Bahn warteten.
»Einer von Israfels Truppe.«
»Unsere Köchin hat immer Geschichten von Engeln erzählt«, sagte Morrigan und erinnerte sich an ihr früheres Zuhause, Crow Manor. »Der Todesengel, der barmherzige Engel, der Engel der missglückten Menüs …«
»Das ist nicht dasselbe.«
Morrigan war verwirrt. »Dann sind sie gar nicht wirklich engelhaft?«
»Das ist wahrscheinlich ein bisschen übertrieben. Aber es sind himmlische Wesen, irgendwie.«
»Himmlische Wesen … Was heißt das?«
»Du weißt schon. Diese extravaganten fliegenden Typen da oben, die mit den Flügeln. Cassiel ist eine große Nummer in himmlischen Kreisen. Und wenn er wirklich verschwunden ist … Aber gut, ich vermute, dass Israfel sich irrt. Oder er übertreibt – er trägt schon mal gern ein bisschen dick auf, der alte Izzy. Da kommt die Bahn. Bereit zum Springen?«
Genau im richtigen Moment hakten Morrigan und Jupiter ihre Schirme in die Stahlschlaufen der einfahrenden Bahn ein und hielten sich dann mit aller Kraft fest, während sie durch das Labyrinth der Stadtteile von Nevermoor sausten. Die Kabel der Schirmbahn verliefen in undurchschaubaren Mustern kreuz und quer über der ganzen Stadt, hingen tief, wenn sie durch Hauptstraßen und Seitengässchen führten, und stiegen dann wieder hinauf über Dächer und hohe Bäume. Es kam Morrigan irrsinnig gefährlich vor, in solch rasendem Tempo durch die Luft zu fliegen und sich dabei nur am Griff eines Schirms festzuhalten. Aber so beängstigend es sein mochte, es war auch ungeheuer aufregend, all die Leute und Häuser vorbeihuschen zu sehen, während einem der Wind ins Gesicht peitschte. Die Schirmbahn gehörte für sie definitiv zum Besten, was das Leben in Nevermoor zu bieten hatte.
»Ich muss dir etwas gestehen«, sagte Jupiter, als sie angekommen waren, die Griffe ihrer Schirme aus der Halterung lösten und von der Bahn absprangen. »Ich bin nicht ganz ehrlich zu dir gewesen. Was … was deinen Geburtstag betrifft.«
Morrigan kniff die Augen zusammen. »Ach?«, erwiderte sie unterkühlt.
»Bitte sei nicht böse.« Er biss sich auf die Unterlippe und sah sie schuldbewusst an. »Es war nur so, dass … Also, Frank hat Wind davon bekommen, dass er heute ist, und du kennst ihn ja. Er nutzt jede Gelegenheit, um eine Party zu organisieren.«
»Jupiter …«
»Und … und alle im Deucalion lieben dich!« Seine Stimme wurde höher und überschlug sich fast. »Ich kann ihnen doch nicht die Freude nehmen, die Geburt ihrer absoluten Lieblings-Morrigan Crow zu feiern, oder?«
»Jupiter!«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete er und hob beschwichtigend die Hände. »Du hast gesagt, du willst kein Tamtam. Mach dir keine Sorgen, in Ordnung? Frank hat versprochen, es nicht zu übertreiben. Nur das Personal, du, ich und Jack. Du pustest ein paar Kerzen aus, alle singen ›Happy Birthday‹ …« Morrigan stöhnte; allein die Vorstellung ließ sie vor Verlegenheit bis zu den Ohren erröten. »… wir essen Kuchen und die Sache ist erledigt. Dann hast du es wieder für ein Jahr hinter dir.«
Morrigan warf ihm einen wütenden Blick zu. »Keine große Sache? Versprochen?«
»Ich schwöre!« Jupiter legte feierlich eine Hand auf sein Herz. »Ich habe Frank gesagt, er soll sich beherrschen und dann noch so lange beherrschen, bis es für seinen Geschmack jämmerlich untertrieben ist, und sich dann noch mal richtig zurückhalten.«
»Ja, aber hat er dir auch zugehört?«
Ihr Förderer zog die Luft ein und schaute sie höchst pikiert an. »Ich weiß, ich bin die Tiefenentspannung in Person und so weiter …« Morrigan zog höflich, aber zweifelnd eine Augenbraue hoch. »… aber ich glaube, dass meine Angestellten mich durchaus respektieren. Frank weiß, wer der Boss ist, Mog. Er weiß, wer seinen Gehaltsscheck unterschreibt, glaub mir. Wenn ich ihm sage, er soll es nicht übertreiben, dann ist er …«
Jupiter verstummte mitten im Satz und starrte mit offenem Mund durch die Humdinger Avenue, in die sie gerade eingebogen waren. Die Prachtstraße wurde von der glanzvollen Fassade des Hotel Deucalion dominiert, in dem Morrigan und ihr Förderer wohnten … und das Frank, Vampirzwerg und Meister aller Partyplaner, offensichtlich dem Anlass entsprechend herausgeputzt hatte.
Das Deucalion war mit Millionen rosaroter Lichterketten behangen, die die gesamte Straße hell erleuchteten und die man, so vermutete Morrigan, wahrscheinlich sogar vom Weltall aus sehen konnte.
»… völlig maßlos?«, beendete sie den Satz für Jupiter, dem es noch immer die Sprache verschlagen hatte.
Auf der Eingangstreppe des Deucalion hatte sich nicht nur das Personal versammelt, sondern anscheinend auch sämtliche Gäste, die gerade im Hotel wohnten, und dazu noch ein paar Lieferanten. Ihre Gesichter leuchteten vor Aufregung, und sie standen um eine aufwendige, neunstöckige Geburtstagstorte mit rosa Zuckerguss herum, die eher für eine königliche Hochzeit geeignet schien als für einen zwölften Geburtstag, fand Morrigan. Neben dem Brunnen hatte sich eine Blaskapelle postiert, die auf Franks Zeichen hin einen festlichen Marsch anstimmte. Aber die Krönung des Ganzen war ein riesiges Schild über die gesamte Länge des Dachs, auf dem in Leuchtbuchstaben zu lesen stand:
MORRIGAN WIRD HEUTE ZWÖLF
»HAPPY BIRTHDAY!«, schrie die Menge aus Personal und Gästen lauthals.
Frank zeigte auf Franks Neffen Jack, der gerade eine Batterie von Raketen anzündete. Im nächsten Augenblick stiegen sie zischend und pfeifend in die Luft und ließen Sternenstaub herabregnen.
Dame Chanda Kali, die berühmte Sopranistin und Hochkommandantin des Ordens der Waldflüsterer, stimmte eine sehr theatralische Version des Geburtstagslieds an (woraufhin sich sofort drei Rotkehlchen, ein Dachs und eine Eichhörnchenfamilie in bewundernder Anbetung zu ihren Füßen versammelten).
Charlie, Fuhrparkleiter und Chauffeur des Deucalion, hatte eines seiner Ponys gestriegelt und gesattelt, das jetzt bereitstand, um das Geburtstagskind ins Haus zu bringen.
Kedgeree, der Portier, und Martha, das Zimmermädchen, hatten die Arme voller Geschenke und strahlten übers ganze Gesicht.
Und Fenestra, die riesige Magnifikatze und oberste Hausdame, nutzte den Trubel, um unbemerkt eine ordentliche Pfote voll rosa Zuckerguss zu naschen.
Jupiter warf Morrigan einen besorgten Seitenblick zu. »Soll ich, äh … soll ich mir unseren Partyplaner-par-excellence mal zur Brust nehmen?«
Morrigan schüttelte den Kopf und versuchte vergeblich, das Lächeln zu unterdrücken, das um ihre Mundwinkel spielte. Ein warmes, sonniges Gefühl machte sich in ihrer Brust breit – als hätte sich darüber eine Katze zusammengerollt, die jetzt zufrieden schnurrte. Noch nie hatte jemand für sie eine Geburtstagsparty gegeben.
Frank war in Ordnung, wirklich.
Im Zuckerrausch und völlig erschöpft von den nicht enden wollenden Glückwünschen der an die hundert Partygäste, kroch Morrigan später am Abend in das warme Nest aus kuscheligen Decken, in das sich ihr Bett heute verwandelt hatte (es wusste offenbar, was für einen unglaublich langen Tag sie hinter sich hatte). Kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, war sie auch schon eingeschlafen.
Eine gefühlte halbe Sekunde später war sie wieder wach.
Sie war wach und nicht in ihrem Bett.
Sie war wach, nicht in ihrem Bett und nicht allein.
Frühling des Jahres Zwei
Unter sternenklarem Himmel standen Schulter an Schulter, verschlafen und verfroren, die neun jüngsten Mitglieder der Wundersamen Gesellschaft.
Normalerweise wäre Morrigan beunruhigt gewesen, sich mitten in der Nacht in den frostigen Straßen von Nevermoor wiederzufinden, nur mit ihrem Schlafanzug bekleidet. Aber zwei Dinge sorgten dafür, dass sie sich nicht allzu große Sorgen machte:
Erstens die Tatsache, dass die Tore von Wungesell sich entgegen der Jahreszeit in ein riesiges Willkommensschild aus Frühlingsblumen verwandelt hatten. Ein bunter Teppich aus Rosen, Pfingstrosen, Margeriten, Hortensien und gewundenen grünen Kletterpflanzen, die sich geheimnisvoll zu folgendem Schriftzug rankten:
Tritt ein und schließ dich uns an.
Zweitens, dass der Junge rechts von ihr – schlaksig, verwuschelt, den Mund mit Schokolade beschmiert – ihr bester Freund auf der ganzen Welt war.
Hawthorne Swift rieb sich die Augen und grinste sie schlaftrunken an.
»Aha«, meinte er so unaufgeregt wie immer und reckte den Hals zu den sieben anderen Kindern, die links und rechts von ihnen in der Reihe standen. Sie froren ebenfalls und hatten nur ihren Schlafanzug an, schauten abwechselnd mürrisch und ängstlich. »Bestimmt wieder eine dieser merkwürdigen Wungesell-Nummern, oder was meinst du?«
»Bestimmt.«
»Ich hatte gerade den besten aller Träume«, krächzte er. »Ich flog auf dem Rücken eines Drachen über einen Urwald, fiel herunter und krachte in die Bäume … und dann wurde ich von einer Affenbande adoptiert. Sie ernannten mich zu ihrem König.«
Morrigan schnaubte. »Das kann ich mir vorstellen.«
Mein Freund ist da, dachte sie glücklich. Alles würde gut werden.
»Was sollen wir denn tun?«, fragte das Mädchen links neben Morrigan. Es war mindestens einen Kopf größer als Morrigan, muskulös und breitschultrig und hatte ein rosiges Gesicht, einen breiten Highland-Akzent und zerzaustes rotes Haar, das ihm bis zur Taille reichte.
Morrigan erinnerte sich: Das war Thaddea Macleod, das Mädchen, das in seiner Präsentationsprüfung gegen einen ausgewachsenen Troll gekämpft und ihn besiegt hatte.
Diese Frage konnte Morrigan ihr nicht beantworten. Zum einen, weil sie es nicht wusste, aber überwiegend deshalb, weil sie noch einmal den Moment vor sich sah, als Thaddea den Stuhl unter dem Ältesten Wong weggetreten und ihn dem Troll mit einem abscheulichen Knack gegen die Kniescheiben geschleudert hatte. Schrecklich, dachte Morrigan – aber auch ziemlich clever, wenn sie ehrlich war.
»Es ist nur so eine Idee«, sagte Hawthorne ausgedehnt gähnend, »aber ich nehme an, dass wir reingehen und uns ihnen anschließen sollen.«
Kaum hatte er es ausgesprochen, öffneten sich langsam und mit einem durchdringenden Quiiieeetsch die Tore. Hinter dem blumigen Willkommensschild und den hohen Backsteinmauern stieg das Gelände der Wundersamen Gesellschaft sanft an – bis hinauf zum Proudfoot House, wo alle Fenster erleuchtet waren, wie um die Neuankömmlinge hinzuführen.
Die Luft veränderte sich, als die neun erfolgreichen Kandidaten – ausgewählt aus Hunderten hoffnungsvoller Kinder, die alle zu den neuen Schülern der Gruppe 919 der Wundersamen Gesellschaft gehören wollten – durch das Tor traten.
Zum ersten Mal war Morrigan nicht von dem sonderbaren Wetterphänomen in Wungesell überrascht. Vor den Toren, in den Straßen der Altstadt, herrschte eine kühle, frische Nacht. Hier, in der Klimaglocke von Wungesell, war alles ein bisschen mehr – mehr von dem Wetter, das im Rest der Stadt herrschte: Das Gras war mit einer dicken Frostschicht überzogen. Die Luft roch nach Schnee, glasklar und klirrend kalt, und verwandelte ihren Atem in Dunstwolken. Morrigan zitterte, genau wie die anderen, die sich die Arme rieben und auf und ab hüpften, damit ihnen warm wurde.
Die Tore fielen stöhnend hinter ihnen ins Schloss, dann herrschte wieder Stille.
Natürlich hatten sie alle im letzten Jahr Wungesell gesehen. Ihre erste Prüfung, die Buchprüfung, hatte sogar im Proudfoot House selbst stattgefunden. Morrigan erinnerte sich, wie sie mit Hunderten anderer Kinder in einem riesigen Saal mit Reihen voller Pulte gesessen hatte. Ein kleines Buch mit leeren Seiten hatte ihr Fragen gestellt, die sie ehrlich beantworten musste, weil sich das Buch sonst selbst verbrannt hätte. Fast die Hälfte der Kinder im Saal hatte zusehen müssen, wie ihre Antworten in Rauch aufgingen, und waren daraufhin sofort von den Prüfungen ausgeschlossen worden.
Wungesell sah jetzt anders aus, aber das lag nicht nur daran, dass es Nacht war. Die Auffahrt war noch immer gesäumt von kahlen Bäumen mit schwarzen Stämmen, fossile Überreste der inzwischen ausgestorbenen Gattung der Feuerblütenbäume. Aber heute Nacht hockten Hunderte von Mitgliedern der Wundersamen Gesellschaft auf ihren Ästen wie zu groß geratene Vögel – junge und alte, ältere und ganz alte – und blickten auf die Neuankömmlinge hinunter. Genau wie bei der Schwarzen Parade letztes Jahr zu Hallowmas trugen sie formelle schwarze Umhänge, die Gesichter nur von den Kerzen in ihren Händen erleuchtet.
Das Ganze sollte einschüchternd wirken, aber Morrigan hatte keine Angst. Sie war ja bereits in die Gesellschaft aufgenommen worden. Das Schwerste lag hinter ihr.
Die Gegenwart dieser schwarz gewandeten Fremden, die von den Bäumen auf sie herunterschauten, hatte fast etwas Beruhigendes. Sie waren nicht unfreundlich, nur … still.
Als Gruppe 919 sich instinktiv in Bewegung setzte, um den Hügel zu dem klotzigen roten Backsteinbau von Proudfoot House hinaufzugehen, fielen die schwarz gekleideten Mitglieder der Gesellschaft in einen leisen, murmelnden Sprechgesang. Morrigan erkannte die Worte. Es waren die gleichen wie in dem Brief, den sie vor ein paar Tagen im Hotel Deucalion bekommen hatte. Er hatte in einem versiegelten elfenbeinfarbenen Umschlag gesteckt und war in einer kleinen, ordentlichen Handschrift mit der Anweisung versehen gewesen, den Inhalt auswendig zu lernen und den Brief dann zu verbrennen:
Schwestern und Brüder, ein Leben lang treu,
für immer verbunden, gesucht und gefunden.
Neun wie sonst keine, stärker als Blut,
für immer verbunden, in Feuer und Flut.
Brüder und Schwestern, ergeben und wahr,
für immer verbunden, besonders und rar.
Es war ein Schwur, ein Versprechen, das jedes neue Mitglied der Gesellschaft seiner Gruppe geben musste, den acht neuen Brüdern und Schwestern. Morrigan wusste, dass sie durch ihre Aufnahme in die Gesellschaft nicht nur eine hervorragende Ausbildung erlangen und ihr eine Welt voller Möglichkeiten offenstehen würde, sondern dass sie dazu noch das bekäme, was sie sich mehr als alles andere wünschte: eine richtige Familie.
Der Sprechgesang begleitete Gruppe 919 den ganzen Weg die lange Auffahrt hinauf. Dann sprangen die anderen Gesellschaftsmitglieder von den Bäumen herab und drängten sich um die Neuzugänge, um eine Art Ehrengarde zu bilden, wobei sie stetig die Worte des Wungesell-Schwurs wiederholten.
Ihr Empfang in der Wundersamen Gesellschaft nahm mit jedem Schritt, den sie die Auffahrt hinaufgingen, mehr Fahrt auf. Rechts von ihnen kletterte eine Kapelle von einem der Bäume herunter und stimmte eine triumphale Melodie an.
Ein paar Teenager zu beiden Seiten des Wegs zauberten einen Regenbogen herbei, unter dem sie wie auf Wolken weitergingen. Als sie endlich Proudfoot House erreichten, trompetete ein riesiger Elefant am Fuß der Treppe wie ein Stadtausrufer zu ihrer Begrüßung.
Und dort auf der breiten Marmortreppe standen neun Männer und Frauen – darunter ein leuchtender Rotschopf – und verfolgten die Ankunft ihrer Kandidaten voller Stolz und Freude.
Jupiters Gesicht strahlte wie die Sonne, als Morrigan die Treppen hinauflief, um ihn zu begrüßen. Er setzte an, um etwas zu sagen, verstummte dann aber mit offenem Mund, und seine blauen Augen wurden ein klein wenig feucht. Morrigan war überrascht und ziemlich gerührt von dieser unerwarteten Gefühlsregung. Das zeigte sie, indem sie Jupiter in den Arm knuffte.
»Armselig«, flüsterte sie. Jupiter musste lachen und wischte sich die Augen trocken.
Neben Jupiter stand Hawthornes Förderin, die junge Nancy Dawson, deren Wangen Grübchen bekamen, als sie ihren Kandidaten anlächelte. »Alles klar, du Rabauke?«
»Alles klar, Nan«, antwortete Hawthorne mit einem Grinsen.
Eine ältere Förderin, rechts von Nan, machte »Psst!« und blickte missbilligend in ihre Richtung.
»Selber ›Psst!‹, Hester«, sagte Nan gut gelaunt und drehte sich mit einer lustigen Grimasse zu Hawthorne und Morrigan um.
Unter den Förderern erkannte Morrigan auch einen Mann, den sie am liebsten nie wiedergesehen hätte: Baz Charlton. Charlton hatte im vergangenen Jahr versucht, Morrigans Chancen bei den Prüfungen zu vereiteln, damit sie Nevermoor verlassen musste – und das, während er seinem eigenen Kandidaten beim Betrügen half.
Seine Kandidatin, Cadence Blackburn, die Hypnotiseurin, hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und warf mit einer kurzen Kopfbewegung ihr langes, geflochtenes schwarzes Haar über die Schulter. Sie sah in dieser bizarren Situation so dermaßen gelassen aus, dass man fast meinen konnte, sie sei gelangweilt. Morrigan war davon irgendwie beeindruckt und verärgert zugleich.
Jupiter beugte sich herunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Sieh dich um, Mog. Dafür hast du hart gearbeitet. Genieß es!«
Die hinter ihnen versammelten Mitglieder hatten inzwischen mit ihren Sprechchören aufgehört und unterhielten sich jetzt fröhlich miteinander, empfingen die Neuzugänge freundlich lächelnd und genossen die Feier.
Dann durchschnitt plötzlich ein markerschütternder Schrei die Luft. Alle blickten auf und sahen zwei Drachen mit Reitern, die über Proudfoot House flogen und mit Feuer und Rauch neun Namen an den Himmel schrieben:
ANAH
ARCHAN
CADENCE
FRANCIS
HAWTHORNE
LAMBETH
MAHIR
MORRIGAN
THADDEA
Seit sie ihren angeblichen Fluch überlebt hatte und genau heute vor einem Jahr in die verborgene Stadt Nevermoor geflohen war, hatte Morrigan viele seltsame Dinge erlebt. Ihren Namen mit Drachenatem geschrieben zu sehen, war nur eines von vielen, aber sie musste zugeben, dass es bisher zu den besten gehörte. Die anderen Mitglieder der Gruppe 919 schnappten ebenfalls vor Freude und Überraschung nach Luft. Nur Hawthorne (der ja schließlich Drachen ritt, seit er laufen konnte) schaute höflich, aber unbeeindruckt.
Nachdem sich der letzte Name am Himmel in Rauch aufgelöst hatte, lenkten die Reiter ihre Drachen von Proudfoot House fort, und die Förderer führten ihre Schüler ins Innere. Die Menge der Mitglieder hinter ihnen brach in Jubelrufe aus, applaudierte und winkte ihnen nach, als seien sie echte Berühmtheiten. Morrigan musste über Hawthorne lachen, der so begeistert zurückwinkte, dass Nan ihn ins Haus ziehen musste, kurz bevor sich die große Tür schloss und sämtliche Geräusche von draußen erstickte.
In der plötzlichen Stille der riesigen, hell erleuchteten Eingangshalle von Proudfoot House empfing sie eine zarte Stimme.
»Willkommen, Gruppe 919, zum ersten Tag vom Rest eures Lebens.«
Im hinteren Teil der Halle standen die drei ehrenwerten Mitglieder des Ältestenrats der Wundersamen Gesellschaft: Älteste Gregoria Quinn, eine Frau, von deren gebrechlichem Äußeren, wie Morrigan wusste, man sich nicht täuschen lassen sollte; Ältester Helix Wong, ein ernster Mann mit grauem Bart, dessen Körper mit Tätowierungen übersät war; und Ältester Alioth Saga, in Wirklichkeit ein großer, sprechender Bulle.
Verglichen mit dem Empfang, den man ihnen draußen vor dem Haus bereitet hatte, war die Einführungszeremonie eher kurz und wenig aufregend. Die Ältesten sprachen ein paar Worte zur Begrüßung und die Förderer nahmen jeder einen schwarzen Umhang, legten ihn ihrem Kandidaten um die Schultern und befestigten dann eine kleine goldene Anstecknadel in Form eines W an ihrem Kragen.
Die Schüler von Gruppe 919 sprachen den Eid, den sie auswendig gelernt hatten, und schworen einander lebenslange Treue. Sie sprachen mit fester, klarer Stimme und keiner verhaspelte sich. Morrigan wusste, dass dies der wichtigste Teil der Zeremonie war.
Dann war es vorbei. Abgeschlossen.
Fast.
»Förderer«, sagte Älteste Quinn, »ich möchte euch bitten, noch ein paar Minuten zu bleiben. Wir haben etwas Wichtiges zu besprechen. Schüler, bitte wartet draußen auf der Treppe von Proudfoot House.«
Morrigan fragte sich, ob das zur Zeremonie gehörte, aber ein paar verwunderte Blicke der Förderer legten die Vermutung nahe, dass dies nicht der Fall war. Sie sah zu Jupiter, während sie den anderen nach draußen folgte, aber der bemerkte sie nicht. Seine Kiefermuskeln waren angespannt.
Draußen war es frostig, leer und still. Das Gelände wirkte verlassen, und nichts deutete mehr auf den überschwänglichen Empfang hin, den man ihnen vorhin bereitet hatte – als sei all das nur eine gemeinschaftliche Einbildung gewesen.
Das Schweigen dehnte sich aus. Bis auf Morrigan und Hawthorne kannten sich die Gruppenmitglieder kaum. Verlegene Blicke wurden getauscht, dann kicherte jemand unsicher. Es war Anah Kahlo – ein pummeliges, hübsches Mädchen mit blonden Ringellocken, das bei der Präsentationsprüfung seiner Förderin den Bauch aufgeschnitten, ihr den Blinddarm entfernt und sie dann wieder zugenäht hatte … und das alles mit verbundenen Augen.
Erwartungsgemäß war Hawthorne der Erste, der etwas sagte.
»Was du da bei der Präsentationsprüfung gemacht hast«, begann er und sah Archan Tate fragend an. »Als du im Publikum herumgegangen bist und allen ihre Sachen geklaut hast, wo wir doch alle dachten, dass du nur Geige spielst …«
»Ja … und?« Archan war ein fast engelhaft aussehender Junge mit einem entzückenden Gesicht, der für einen so talentierten Taschendieb viel zu unschuldig wirkte. Er schaute Hawthorne unsicher an. »Tut mir leid. Habe ich dir was gestohlen? Hast du es nach der Prüfung nicht zurückbekommen? Ich habe mich bemüht, alle Sachen zurückzugeben. Meine Förderin dachte, es wäre …«
»Absolut genial«, unterbrach Hawthorne ihn mit ehrfürchtigem Staunen in den Augen. »Es war absolut genial. Wir waren total von den Socken, stimmt’s, Morrigan?«
Morrigan grinste, denn sie erinnerte sich daran, wie verblüfft Hawthorne bei der Präsentationsprüfung gewesen war, als er bemerkte, dass Archan ihm seine Drachen-Reithandschuhe stibitzt hatte. Sie war tatsächlich ziemlich beeindruckt gewesen, aber Hawthorne hatte sich kaum beruhigen können vor Begeisterung.
»Es war echt toll«, pflichtete Morrigan ihm bei. »Wie hast du das gelernt?«
Archan lief bis zu den Ohren rot an und lächelte schüchtern. »Äh, danke. Ich glaube, ich habe es einfach irgendwie … aufgeschnappt«, sagte er und zuckte bescheiden die Schultern.
»Genial«, sagte Hawthorne wieder. »Vielleicht kannst du es mir beibringen. Archan, richtig?«
»Einfach nur Arch.« Er schüttelte die Hand, die Hawthorne ihm entgegenstreckte. »Nur meine Oma nennt mich …«
In diesem Augenblick flog die Tür von Proudfoot House mit einem lauten Knall auf, und Baz Charlton rauschte dramatisch nach draußen auf die Marmortreppe, wo er seine Kandidatin zu sich winkte.
»Du da … wie heißt du noch gleich … Blinkwell. Komm mit. Wir gehen.«
Cadence Blackburn wirkte entsetzt. »W-was? Warum?«
»Habe ich gesagt, dass du Fragen stellen darfst?«, wies er sie mit seiner herablassenden, gedehnten Stimme zurecht. »Ich sagte, wir gehen.«
Aber Cadence rührte sich nicht. Die anderen Förderer eilten hinter Baz aus dem Haus und wirkten entweder besorgt oder empört. Alle starrten Morrigan an.
Eine Welle der Furcht ergriff sie, als sei ihr Körper ein Teich, in den gerade jemand einen sehr großen, sehr schweren Stein geworfen hatte. In diesem Moment wusste sie genau, warum die Ältesten die Förderer gebeten hatten, noch zu bleiben. Sie wusste genau, über was – oder vielmehr über wen – sie gesprochen hatten.
Hester, die ältere Frau, die Nan vorhin zurechtgewiesen hatte, sie solle leise sein, marschierte direkt auf Morrigan zu. Ihr blasses, strenges Gesicht hatte etwas Falkenhaftes und ihr kastanienbraunes, mit grauen Strähnen durchzogenes Haar war am Kopf zurückgekämmt und fest zusammengebunden. Einige Sekunden schaute sie wütend und verwirrt zu Morrigan herunter.
»Woher weißt du das?«, fragte sie bellend über die Schulter hinweg Jupiter. »Wer hat es dir gesagt?«
»Niemand.« Jupiter, der hinter ihnen aus Proudfoot House geschlendert war, lehnte sich lässig an die Säule. Dann deutete er auf Morrigan und sagte: »Ich kann es sehen. Es ist sonnenklar.«
»Wie meinst du das, es sehen? Ich sehe überhaupt nichts.« Hester packte Morrigan energisch am Kinn, drehte ihr Gesicht unsanft nach rechts und links und schaute ihr dabei tief in die Augen.
Jupiters Verhalten änderte sich schlagartig. Er stürmte vorwärts und rief: »Hey!« Doch Morrigan brauchte seine Hilfe nicht: Instinktiv schlug sie die Hand der Frau fort. Hester schnappte nach Luft und wich zurück, als habe sie sich verbrannt. Morrigan schaute unsicher zu Jupiter, ob sie vielleicht zu weit gegangen war, aber er nickte ihr mit finsterem Blick zu.
sieht Dinge