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Hrsg.: Wilhelm Kaune

Das Heilpädagogische Voltigieren und Reiten für
Menschen mit geistiger Behinderung

Mit Beiträgen von:

Gabriele Eickmeyer, Margarete Gehrke, Tobias Gultom-Happe,
Gudrun Kaune, Wilhelm Kaune und Henrike Struck

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Zu den Titelfotos:
Nach mehrtägigem Ritt durch das Isländische Hochland
verabschiedet sich Gunther von seinem Freund „Trölli".

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
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© 1993 FNverlag der Deutschen Reiterlichen Vereinigung GmbH, Warendorf

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4. überarbeitete Auflage 2006

Layout: Livingpage®

Druck: Media Print Informationstechnologie, Paderborn

sometext Vorwort zur zweiten Auflage

Es ist eine der lähmendsten und niederdrückendsten Erfahrungen für den Menschen, aus dem Wechselspiel mit anderen Menschen ausgeschlossen zu sein oder darin nicht mithalten zu können. Die Babyforschung hat erwiesen, dass schon auf dem Niveau der frühen sensomotorischen Anreicherung der Selbst- und Objektwahrnehmung ein starkes Bedürfnis bei den Kindern besteht, aktiv den leibhaften Dialog mitzugestalten.

Schon bald werden dabei rhythmische Wiederholungen besonders lustvoll und entspannend erlebt und ihr hoher Wert für das differenzierende Lernen komplexerer Verhaltensweisen ist nicht zu übersehen. Alle Menschen erwerben so die Basis für die Entfaltung höherer geistiger Funktionen bis zu abstrakten Denkoperationen. Unabhängig von der Verursachung werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene als geistig behindert angesehen, wenn sie „entwicklungsverzögert“ nicht über die Verhaltens- und Lernmöglichkeiten verfügen, die ihrer Altersstufe entsprächen. Im Vorschulalter können sie durch Sonderkindergärten gefördert werden und im Schulalter brauchen sie Klassen, deren Lehr- und Lerntechniken noch spezialisierter sind als in Sonderschulen für Lernbehinderte.

Der vorliegende Band des FNverlages der Deutschen Reiterlichen Vereinigung weist auf, welche außerordentlich hilfreiche Wirkung die Arbeit mit dem Pferd als Medium der heilpädagogischen Förderung für die so genannten geistig Behinderten haben kann. Fachlich fundiert und professionell eingesetzt, wird durch das Heilpädagogische Voltigieren und/oder Reiten im Sinne des Deutschen Kuratoriums für Therapeutisches Reiten praktisch auf jeder Altersstufe die grundlegende Erfahrung des sensomotorischen Dialoges wieder belebt und durch die pädagogische Verknüpfung mit entsprechenden Lernerfahrungen für die Einführung in Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten fruchtbar gemacht.

Wie in den beispielhaft dargestellten Einrichtungen des norddeutschen Raumes so wurden auch im weiteren deutschsprachigen und internationalen Felde, zum Beispiel in England, Frankreich, Holland, Italien, Kanada, Skandinavien und USA, mit unterschiedlichen Organisationsformen in der Sache die gleichen überzeugenden Erfahrungen gemacht und dokumentiert.

Es ist das Verdienst von Wilhelm Kaune und seinen Mitautorinnen/seinem Mitautor, in langjähriger Praxis entwickelte Modelle vorzustellen, die sich wohl nicht nur unter den in Deutschland geltenden Bedingungen sehr gut bewähren. Die vielen praktischen Anleitungen in Verbindung mit zahlreichen instruktiven Fotos sind sehr lehrreich und legen es nahe, für die Aus- und Fortbildung eingesetzt zu werden.
So ist auch dieser neu bearbeiteten und erweiterten Zweitauflage wieder eine weite Verbreitung zum Nutzen der Behinderten zu wünschen.

Prof. Dr. Carl Klüwer
Präsident der Internationalen Förderation für Therapeutisches Reiten

Refrath, den 14.2.1993

sometext Vorwort zur ersten Auflage

Gut 20 Jahre verfolge ich die Versuche, das Voltigieren oder Reiten in die pädagogische Arbeit mit auffälligen Kindern und Jugendlichen einzubeziehen, um gezielt individuelle Defizite im personalen und sozialen Bereich aufzuarbeiten. Das Pferd fungiert hier als ein wirksames Medium bei der Vermittlung erwünschter Aktivitäten und Verhaltensweisen des heranwachsenden Menschen, das durchweg von allen Kindern mit dauerhaftem Interesse angenommen wird.

Diese positiven Erfahrungen werden inzwischen international – unabhängig vom gesellschaftlichen System – bestätigt und ermutigen zu dem Entschluss: Zielvorstellungen und Arbeitsweisen des Heilpädagogischen Voltigierens einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Wer unmittelbar beobachten konnte, wie geistig behinderte Kinder über das Voltigieren zu völlig unerwarteten Leistungen im motorischen, kognitiven und sozialen Bereich befähigt werden, wird den Darstellungen in der anliegenden Arbeit mit den differenzierten methodisch-didaktischen Anregungen nicht nur Glauben schenken, sondern wünschen, dass sie in möglichst vielen Einrichtungen mit geistig behinderten Kindern schon bald zur Anwendung kommen.

Antonius Kröger
Kuratorium für Therapeutisches Reiten

Münster, Juli 1982

sometext Inhaltsverzeichnis

Einführung des Herausgebers
Das Heilpädagogische Voltigieren und Reiten als Bereich
des Therapeutischen Reitens
Hippotherapie
Behindertenreitsport
Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten
Die ersten Ansätze und die Weiterentwicklung des
Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens bei geistig Behinderten
Geistige Behinderung.
Ursachen und Auswirkungen
Das Heilpädagogische Voltigieren
Was heißt Voltigieren?
Abgrenzung Voltigieren – Heilpädagogisches Voltigieren

1 Frühe Förderung mit Hilfe des Pferdes bei geistig behinderten und entwicklungsverzögerten Kindern
von Henrike Struck und Tobias Gultom-Happe
1.1 Zielgruppe
1.1.1 Frühförderung
1.1.2 Geistige Behinderung/Entwicklungsverzögerung und frühe Förderung mit dem Pferd
1.2 Therapieverlauf
1.2.1 Anamnese
1.2.2 Zielerarbeitung
1.2.3 Therapiekontrolle
1.3 Therapieformen
1.3.1 Auswahl des Pferdes
1.3.2 Führformen
1.3.3 Einzelförderung
1.3.4 Kleingruppenförderung
1.3.5 Pädagogenverhalten
1.3.6 Durchführungshinweise
1.4 Frühförderung im Wandel
1.4.1 Vom Behandeln zum gemeinsamen Handeln
1.4.2 Umsetzung in der Frühen Förderung mit dem Pferd
1.5 Übungs- und Stundenbeispiele
1.5.1 Übungskatalog
sometext Einzelübungen
sometext Kleingruppenübungen
1.5.2 Materialien und Lehrmittel

2 Heilpädagogisches Voltigieren mit geistig behinderten Schülern
von Wilhelm Kaune
2.1 Der geistig behinderte Schüler
2.1.1 Zum Personenkreis.
2.1.2 Zur Erziehbarkeit und Bildbarkeit
2.1.3 Methodisch-didaktische Konsequenzen
2.2 Das Voltigieren als heilpädagogische Maßnahme
2.2.1 Zielvorstellungen .
2.2.2 Voraussetzungen für das Heilpädagogische Voltigieren
sometext Der Ort der Durchführung
sometext Das Voltigierpferd
sometext Der Voltigierpädagoge
sometext Der Schüler
sometext Der Helfer
sometext Der Beobachter
sometext Die Gruppe
2.3 Der Voltigierunterricht mit geistig behinderten Schülern
2.3.1 Unterrichtsorganisation
2.3.2 Unterrichtsplanung
2.3.3 Aufbau einer Unterrichtsstunde
sometext Stundengliederung
sometext Beispiel einer Unterrichtsstunde
2.3.4 Reflexion
2.4 Vorstellungen von Übungen und ihre Zielsetzung
2.4.1 Übungen
sometext In der Aufwärmphase
sometext Im Hauptteil

3 Das Heilpädagogische Reiten in einer schulischen Einrichtung für geistig Behinderte
von Gudrun und Wilhelm Kaune
3.1 Ausgangssituation
3.2 Das Heilpädagogische Reiten als
Arbeitsgemeinschaft im Abschlussstufenbereich
3.3 Zielsetzungen und Lernprozesse beim
Heilpädagogischen Reiten (HPR)
3.3.1 Zielsetzungen
3.3.2 Lernprozesse
3.3.3 Ziele und Lernprozesse im Freizeitbereich
3.4 Voraussetzungen für die Durchführung des Heilpädagogischen Reitens
3.4.1 Die Reithalle – der Reitplatz
3.4.2 Das Reitpferd und seine Ausrüstung
3.4.3 Der Schüler, die Gruppe, die Ausrüstung des Reiters
3.4.4 Der Reitpädagoge und der/die Helfer
3.5 Die praktische Durchführung der AG Reiten
3.5.1 Vorbereitung des Pferdes für das Reiten
3.5.2 Das selbstständige Reiten
3.5.3 Versorgen des Pferdes nach dem Reiten
3.5.4 Stalldienst und weitere Aufgaben
3.6 Methodischer Aufbau für das selbstständige Reiten mit geistig behinderten Schülern
3.6.1 Teilziel: Sitz des Reiters im Schritt
3.6.2 Teilziel: Zügel aufnehmen
3.6.3 Teilziel: Schenkelhilfen
3.6.4 Teilziel: Kreuzhilfen
3.6.5 Teilziel: Gewichtshilfen
3.6.6 Teilziel: Reiten im Trab
3.6.7 Teilziel: Reiten im Galopp
3.7 Methodische Grundsätze für das Heilpädagogische Reiten
3.8 Sportliche Leistungs- und Wettkampfanforderungen
bei geistig behinderten Menschen
3.9 Schlussbetrachtungen

4 Integration von Behinderten im Rahmen des Voltigierens und Reitens als Angebot eines ländlichen Reitvereins
sometext Beitrag über die Special Olympics

von Gabriele Eickmeyer
4.1 Der Begriff „Integration“ im Bereich
Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens
4.2 Entwicklung der Integrationsarbeit
4.2.1 Zeitlicher Ablauf
4.2.2 Das Umfeld
4.2.3 Der Verein, Vorstand, Verantwortliche
4.2.4 Der Reiterhof
4.2.5 Die Kinder und Jugendlichen
4.2.6 Die Eltern der nichtbehinderten Kinder und Jugendlichen
4.2.7 Die Ausbilder und Erzieher
4.3 Heilpädagogisches Reiten
4.3.1 Zielsetzung und Zielgruppen, Aufbau der Veranstaltung
4.3.2 Der Reitausbilder und die Ausbildungspferde
4.3.3 Vorbereitung
4.3.4 Erste Reitübungen
4.3.5 Weiterführende motorische Funktionsübungen
4.3.6 Eigenständiges Reiten
4.3.7 Hinweise zur Reitlehre
sometext Verpassen von Trense und Sattel
sometext Aufsitzen und Absitzen
sometext Der Sitz
sometext Hilfengebung
4.3.8 Integration im Freizeitsport
4.3.9 Wettkampfsport für geistig Behinderte
4.4 Möglichkeiten und Grenzen der Integration im
Bereich des Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens
4.5 Special Olympics – regionale, nationale, europäische und Weltspiele im Reitsport für Menschen mit geistiger Behinderung

5 Voltigieren, eine Möglichkeit der Freizeitgestaltung von Behinderten und Nichtbehinderten
von Margarete Gehrke und Wilhelm Kaune
5.1 Ausgangssituation und Entwicklung der gemeinsamen Freizeitgestaltung von Behinderten und Nichtbehinderten
5.1.1 Zur Ausgangssituation
5.1.2 Beginn des gemeinsamen Freizeitangebotes
5.1.3 Die Zielsetzung
5.1.4 Die heutige Situation
5.2 Voraussetzungenen für gemeinsame Freizeitgestaltung
5.2.1 Der Reitverein
5.2.2 Die Reitanlage
5.2.3 Der Übungsleiter
5.2.4 Der Helfer
5.2.5 Die Voltigierer/die Voltigiergruppe
5.2.6 Die Eltern
5.3 Gestaltung einer Übungsstunde
5.3.1 Aufbau einer Übungsstunde
5.3.2 Möglichkeiten für die Übungsstunde
sometext Einzelübungen
sometext Partnerübungen
sometext Gemeinsame Spiele
5.4 Gemeinsame Unternehmungen
5.5 Grenzen der Integrationsarbeit

Anlage 1
Anlage 2
Literaturnachweis/Weiterführende Literatur
Fotonachweis
Quellenverzeichnis

Wenn in unseren Texten von den Schülern, Voltigierern, Reitern usw. die Rede ist, bezieht sich dieses selbstverständlich auch auf die Schülerinnen, Voltigiererinnen, Reiterinnen und Reitpädagoginnen.
Wir sind der Meinung, dass sich die Texte ohne die mittlerweile zwar übliche, oftmals aber recht umständliche Form (ReiterInnen, VoltigiererInnen…) besser lesen lassen und haben uns deshalb für diese Kurzform entschieden.
Dennoch hoffen wir, dass sich alle unsere Leserinnen und Leser von uns angesprochen fühlen!

Einführung des Herausgebers

Wie ich aufs Pferd kam

Als junger Sozialarbeiter übernahm ich 1966 in der Nähe von Hamburg ein Säuglingsund Kinderheim. In diesem Heim lebten Kinder mit Hospitalschäden, mit Entwicklungsverzögerungen, mit geistigen Behinderungen und mit Verhaltensauffälligkeiten. Erschreckend waren bei allen Kindern die „emotionalen Defizite“. Hygienisch waren sie alle einwandfrei versorgt, an der notwendigen emotionalen Zuwendung, an der Vermittlung von Sicherheit und Geborgenheit mangelte es jedoch sehr. All jenes, was Kinder in den ersten Lebensjahren benötigen, wurde ihnen nicht gegeben.

Während ich nun gemeinsam mit einigen überzeugten Leuten des Pflege- und Erziehungspersonals versuchte, bei den Kindern die emotionalen Rückstände aufzuarbeiten, beobachtete ich, dass sich viele Kinder zu Tieren hingezogen fühlten. Ähnliche Beobachtungen machte ich bei meinen eigenen Kindern. Den positiven Einfluss von Tieren haben wir besonders bei unserem Sohn, bei dem es durch einen Impfschaden zu einer Hirnschädigung gekommen war, erfahren können. Die Entwicklungsimpulse und Entwicklungsfortschritte, die Gunther insbesondere durch unsere Schäferhündin, mit der er zusammen aufgewachsen ist, erhalten hat, waren uns mit allen durchgeführten pädagogischen und therapeutischen Programmen nicht möglich.

Die Beobachtungen, sowohl bei den Heimkindern als auch bei den eigenen Kindern, führten zu dem Entschluss, eigene Tiere im Heim zuzulassen. Eine Entscheidung, die Konflikte mit den Behörden bedeutete. Für die Auseinandersetzung mit der Heimaufsicht waren wir gerüstet.

Bald hatten viele Kinder ihr eigenes Tier. Auffallend war, dass Felltiere (Hamster, Meerschweinchen, Kaninchen, Katzen und Hunde) bevorzugt wurden. Ein Pferd gab es zunächst noch nicht im Heim, obwohl der Wunsch vorhanden war. Dem Heim stand für den Kauf eines eigenen Pferdes kein Geld zur Verfügung. Den Pferdewunsch der Kinder habe ich allerdings bei verschiedenen Anlässen immer wieder geäußert. Eines Tages war dann der große Augenblick da, das Heim bekam ein Islandpferd geschenkt.

Da niemand von uns genügend Erfahrung mit Pferden hatte, mussten wir uns etwas einfallen lassen. Kurz entschlossen nahmen einige Kinder, Jugendliche und ich Reitunterricht in der Reit- und Fahrschule Elmshorn. Die Fachleute dort haben uns auch bei der Haltung und Versorgung unseres Ponys beraten.

Rückschauend stelle ich fest, dass dieser Abschnitt meines Erzieherlebens mit der schönste und erlebnisreichste war. Ich hatte die gleichen Probleme, Schwierigkeiten, Empfindungen und Erlebnisse wie unsere (Heim-)Kinder und Jugendlichen. Diese gemeinsamen Erlebnisse haben unser Zusammenleben geprägt.

Es dauerte nicht lange, da bekam das Heim ein zweites Pony geschenkt. Nach kurzer Zeit besaß das Heim vier Ponys, dazu kamen noch die zwei Ponys meiner Kinder.

Nun wurde es Zeit, das Zusammenleben mit unseren Ponys zu strukturieren und zu intensivieren. Zunächst regelten wir die Pflege und Versorgung der Tiere, je zwei Kinder hatten ein „Pflegepony“. Damit alle Kinder etwas von den Ponys hatten, wurden Reitstunden festgelegt. Sie beinhalteten das Vorbereiten der Ponys für die Stunde, das geführte Reiten, die Aufgabe des Führens der Anfänger, selbstständiges Reiten und die Aufgabe nach dem Reiten. Erste Ansätze des „Heilpädagogischen Reitens“ wurden hier bereits praktiziert.

Nach mehrjähriger Tätigkeit in diesem Heim, das inzwischen in ein Heilpädagogisches Kinder- und Jugendheim umgewandelt war, verließ ich dieses, um Heilpädagogik zu studieren.
Nach Beendigung dieses Studiums übernahm ich die pädagogische Leitung des Heilpädagogischen Kindergartens und der Heilpädagogischen Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe in Gifhorn. Die Heilpädagogische Tagesbildungsstätte ist eine Einrichtung der Sozialhilfe, in der geistig behinderte Kinder und Jugendliche ihre Schulpflicht erfüllen. Die pädagogische Leitung dieser Einrichtung übernahm ich zu einer Zeit, als die geistig behinderten schulpflichtigen jungen Menschen in vielen Ländern der Bundesrepublik Deutschland noch als „bildungsunfähig“ ausgeschult wurden. Dieses, obwohl eine allgemeine Schulpflicht bestand.

1975 begannen wir hier, neben anderen heilpädagogischen Maßnahmen, auch das Pferd für die Entwicklungsförderung der geistig behinderten schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen als Medium einzusetzen.

Da Reiten aus vielen Gründen nicht möglich war, begannen wir mit dem Voltigieren. Im Laufe der nächsten Jahre versuchten wir, das Voltigieren mit geistig behinderten Schülern zu systematisieren und unterrichtlich zu begründen. Neben den schulischen Angeboten begannen 1981 einige Kollegen und Eltern, Freizeitmöglichkeiten für geistig Behinderte zu organisieren. Für uns war es selbstverständlich, auch das Voltigieren und später das Reiten als Freizeitgestaltung anzubieten. Dieses Freizeitangebot wurde gemeinsam mit behinderten und nichtbehinderten jungen Menschen in einem dörflichen Reiterverein begonnen. In diesem Verein waren bereits einige von uns aktiv und unsere Kinder voltigierten und/oder ritten dort. Auch mein geistig behinderter Sohn nahm gemeinsam mit seinen beiden Schwestern an den Aktivitäten des Vereins teil.

Seit einigen Jahren stehen uns für den Unterricht in der Heilpädagogischen Tagesbildungsstätte vier bis fünf Therapiepferde zur Verfügung. Seitdem wird auch hier das „Heilpädagogische Reiten“ im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft durchgeführt.

Nach vielen Jahren Förderungs- und Integrationsarbeit bei geistig behinderten Menschen mit unserem Partner Pferd stelle ich rückblickend fest, dass dabei Bereitschaften aktiviert wurden, die zur „Selbstverwirklichung in sozialer Integration“ beigetragen haben. An meinem behinderten Sohn konnte ich aus nächster Nähe erleben, welche persönlichkeitsbildenden Möglichkeiten unser „Partner Pferd“ eröffnen kann. Gunther ist heute ein fröhlicher, netter, junger Mann, der trotz seiner Behinderung sein Leben in dieser Gesellschaft meistern kann, wenn seine Neigungen und Eignungen berücksichtigt werden. In seinem Arbeitsleben und in seiner Freizeit sind Tiere ein Teil seines Lebensinhaltes, deshalb arbeitet er auch auf einem Bauernhof und hat zu Hause seine Tiere, darunter auch zwei Islandpferde. In seiner Freizeit voltigiert und reitet er zusammen mit anderen Behinderten und Nichtbehinderten im Reiterverein, unternimmt Ausritte mit Freunden und seinen Schwestern und war im Urlaub bereits einige Male in Island, wo er an mehrtägigen Reittouren durch das Hochland teilgenommen und dabei neue Bekanntschaften geschlossen hat.

Den persönlichkeitsbildenden Wert des Umgangs mit dem Pferd haben Pädagogen, Eltern und andere Beobachter auch an anderen Orten erfahren und darüber berichtet.

sometext Das Heilpädagogische Voltigieren und Reiten als Bereich des Therapeutischen Reitens

In der Bundesrepublik Deutschland unterscheiden wir im Therapeutischen Reiten die drei Fachbereiche:

Die Bezeichnung „Therapeutisches Reiten“ wird als Oberbegriff verwendet. Die drei Fachbereiche sind definitorisch klar gegliedert.
In der Praxis können sie sich zuweilen überschneiden. Übergänge kommen aber auch vom Therapeutischen Reiten zum allgemeinen Reitsport (Freizeit- und Breitensport, Leistungssport und Schulsport) vor.

sometext Hippotherapie

Die Hippotherapie ist eine spezielle krankengymnastische, ärztlich verordnete und überwachte bewegungstherapeutische Maßnahme, die sich der Bewegung des Pferdes als therapeutisches Medium bedient. Sie wird von Krankengymnasten mit Zusatzausbildung bei Patienten mit entsprechend indizierten Krankheitsbildern durchgeführt.

sometext Behindertenreitsport

Der Behindertenreitsport bietet sportfähigen Behinderten (Körperbehinderte, Sinnesgeschädigte, geistig Behinderte) die Möglichkeit eines freudvollen gemeinsamen Freizeitangebotes. Alle Formen des Reitsports (Dressur, Geländereiten, Springreiten, Voltigieren, Fahren) sind – gegebenenfalls mit Hilfsmitteln – möglich. Als Übungsleiter sind Berufsund Amateurreitausbilder mit spezieller Zusatzausbildung tätig. Die ärztliche Betreuung erfolgt so, wie es im allgemeinen Behindertensport üblich ist.

sometext

Schematische Darstellung der verschiedenen Bereiche im Therapeutischen Reiten (nach W. Heipertz, Hrsg., „Therapeutisches Reiten – Medizin, Pädagogik, Sport“)

sometext Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten

Unter dem Begriff „Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten“ werden pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, rehabilitative und sozio-integrative Angebote mit Hilfe des Pferdes bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit verschiedenen Behinderungen und Störungen zusammengefasst. Dabei steht nicht die reitsportliche Ausbildung, sondern die individuelle Förderung über das Medium Pferd im Vordergrund, d.h. vor allem eine günstige Beeinflussung der Entwicklung, des Befindens und des Verhaltens. Im Umgang mit dem Pferd, beim Voltigieren oder Reiten, wird der Mensch ganzheitlich angesprochen: körperlich, emotional, geistig und sozial (Definition des DKThR). Das Heilpädagogische Voltigieren/ Reiten hat sich für folgende Zielgruppen als heilpädagogische Maßnahme bewährt: Personen mit

Praxisfelder sind: Kindergärten und Sonderkindergärten, Regel- und Sonderschulen, Heime, Beratungsstellen, Schulpsychologische Dienste, Jugendfarmen, Kliniken, Einrichtungen der Lebenshilfe, Tagesbildungsstätten, Volkshochschulen, Reitervereine, private Einrichtungen.

Zur Entwicklung des Heilpädagogischen Voltigierens/Reitens ist zu sagen, dass uns die ersten Ansätze in den Jahren 1960– 1970 in der Bundesrepublik Deutschland bekannt sind. In dieser Zeit begannen Päd agogen und Psychologen das Pferd als Medium in der Förderung, Erziehung und Verhaltensänderung von Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen einzusetzen.

In der Bundesrepublik Deutschland war es insbesondere Antonius Kröger, damals Lehrer an einer Heimsonderschule in Wettringen, der seine Erfahrungen mit dem Pferd bei lern- und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen durch Veröffentlichungen bekannt machte.

Im November 1970 wurde das Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. (KThR) gegründet. Ihm gehören Fachleute aus den Bereichen Medizin und Psychiatrie, Pädagogik und Psychologie und des Sports an.
Mediziner, Krankengymnasten, Pädagogen, Psychologen, Pferdefachleute und viele andere Fachleute und Interessierte wirken im DKThR mit. (Seit der Wiedervereinigung heißt das Kuratorium für Therapeutisches Reiten Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten.)

Aufgabe des DKThR war es zunächst, die Fülle der Ansätze im Therapeutischen Reiten zu sichten, sie zu ordnen und zu systematisieren, zu koordinieren und weiter zu intensivieren und zu qualifizieren. Für die drei konzipierten Fachbereiche kristallisierten sich unterschiedliche fachliche Anforderungen heraus. Für den Bereich des Heilpädagogischen Voltigierens/Reitens begann 1976 der erste Lehrgang für Pädagogen in Dillenburg/Hessen unter Leitung des Ehepaares Frau Ch. Heipertz- Hengst und Herrn W. Heipertz.

Die nächsten Lehrgänge wurden dann in Münster/Westfalen unter der Leitung von Antonius Kröger durchgeführt. Nach bestandener Prüfung wurde den Absolventen ein Befähigungsnachweis für die selbstständige Durchführung des Heilpädagogischen Voltigierens und/oder Heilpädagogischen Reitens durch das DKThR ausgestellt. Für die Konzeption und die weitere Qualifizierung der Ausbildung haben sich in den Anfangsjahren insbesondere Antonius Kröger, Carl Klüwer und Marlies und Bernhard Ringbeck engagiert. Inzwischen finden außer in Münster auch Lehrgänge in Bielefeld, Dortmund, Köln und Kürten statt.

Auskünfte über Lehrgangsbedingungen, Kosten usw. sind beim
Deutschen Kuratorium für
Therapeutisches Reiten e.V.
Freiherr-von-Langen-Str. 8a
48231 Warendorf
Tel.: (0 25 81) 92 79 19-0
Fax: (0 25 81) 92 79 19-9
e-Mail: dkthr@fn-dokr.de
web: www.dkthr.de

zu erhalten.

Etwa zur gleichen Zeit wie in der BRD entwickelten sich in den deutschsprachigen Ländern Schweiz, Österreich und in der damaligen DDR unabhängig voneinander ebenfalls erste Ansätze im Heilpädagogischen Voltigieren/Reiten.
In der Schweiz war es Marianne Gäng, die mit Islandpferden Heilpädagogisches Reiten durchführte. In ihrem 1983 erschienenen Buch „Heilpädagogisches Reiten“ stellte sie ihre Arbeit der Öffentlichkeit vor.
In Österreich machte Gundula Hauser das Heilpädagogische Voltigieren/Reiten bekannt.
Aus der ehemaligen DDR erfuhren wir durch die Veröffentlichung von Ohms/ Göhler vom Therapeutischen Reiten mit verhaltensgestörten Kindern.

Wie in der BRD wurden auch in der Schweiz und in Österreich Ausbildungslehrgänge für Heilpädagogisches Voltigieren/ Reiten durchgeführt. Aufnahmebedingungen sind der Nachweis einer abgeschlossenen Ausbildung in einem pädagogischen, psychologischen oder psychotherapeutischen Beruf und eine entsprechende reitsportliche Qualifikation. Bei der beruflichen Ausbildung haben alle drei Länder die gleichen Bedingungen.
Bei den reitsportlichen Voraussetzungen gibt es Unterschiede.

Die Bezeichnung „Reitpädagoge/in“ ist inzwischen allgemein üblich, allerdings können sich Inhaber des Befähigungsnachweises mit entsprechender Voltigierqualifikation auch Voltigierpädagoge/in nennen.

sometext Die ersten Ansätze und die Weiterentwicklung des Heilpädagogischen Voltigierens und Reitens bei geistig Behinderten

Das Heilpädagogische Voltigieren/Reiten mit dem Personenkreis der geistig Behinderten hat in der BRD an mehreren Stellen begonnen. Erste Anfänge sind mir aus dem Zeitraum um 1975/76 bekannt.

In Norddeutschland waren es insbesondere die Lebenshilfeeinrichtungen in Walsrode, Lüneburg und Gifhorn sowie die Sonderschule für geistig Behinderte in Bad Schwartau. Bekannt wurde auch der Einsatz des Pferdes bei der Förderung von geistig Behinderten in Ludwigshafen-Oggersheim und in Köln beim Reit-Therapie- Zentrum „Weißer Bogen“. Während im Norden hauptsächlich das Heilpädagogische Voltigieren praktiziert wurde, stand in Ludwigshafen und Köln das Heilpädagogische Reiten im Vordergrund.

Um 1980 begannen Praktiker, ihre Erfahrungen in der Arbeit mit geistig Behinderten durch Vorträge und Filme bekannt zu machen. Neben mir war es Astrid Lampe, die das Heilpädagogische Voltigieren/ Reiten mit geistig Behinderten theoretisch begründete. Mit meiner – 1982 im FNverlag erschienenen – Publikation „Das Heilpädagogische Voltigieren mit geistig behinderten Schülern“ habe ich als Praktiker unsere Arbeit bei geistig Behinderten mit dem Pferd theoretisch begründet und methodisch-didaktische Anregungen für das Heilpädagogische Voltigieren mit geistig Behinderten gegeben.

Beim Internationalen Kongress „Therapeutisches Reiten“ 1982 in Hamburg habe ich in einem Referat meine Überlegungen zur Förderung geistig behinderter Schüler durch das Heilpädagogische Voltigieren einem internationalen Publikum vorgestellt.
Im weiteren Verlauf dieses Kongresses haben Astrid Lampe und ich den Einsatz des Pferdes bei geistig Behinderten durch praktische Demonstrationen dargestellt: Frau Lampe mit einer Gruppe von geistig Behinderten, ich mit einer integrativen Gruppe, bestehend aus geistig behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen. Mit dieser Vorstellung konnte ich die Möglichkeit des gemeinsamen Tuns Behinderter und Nichtbehinderter mit Hilfe des Pferdes aufzeigen.

Inzwischen wird Heilpädagogisches Voltigieren mit geistig Behinderten an vielen Orten praktiziert und auch gemeinsame Freizeitgestaltung mit Behinderten und Nichtbehinderten in einigen Reitervereinen durchgeführt.