Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Getty Images/Nastasic
ISBN 978-3-7117-2076-4
eISBN 978-3-7117-5390-8
Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
Thomas Sautner wurde 1970 in Gmünd geboren, heute lebt er als Autor in seiner Heimat, dem nördlichen Waldviertel, sowie in Wien. Neben zahlreichen Essays und Erzählungen erschienen im Picus Verlag seine Romane »Fuchserde«, »Milchblume« und »Die Älteste«. Zuletzt erschien, gemeinsam mit Thomas Kriebaum, das Kinderbuch »Rabenduft« und der Roman »Das Mädchen an der Grenze«. www.thomas-sautner.at
ROMAN
PICUS VERLAG WIEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Danke!
Großmutters Haus lag mitten im Wald. Gleich einer einsamen Wolke am weiten Himmel. Die Wiese ums Haus war aufgerissen von den Hauern der Wildschweine, der Komposthaufen durchzogen von den Gängen der Wühlmäuse und der Hochstand am Rand der Lichtung vermorschte, seit Großmutter ihn eigenhändig umgesägt hatte. Der Jäger mit seinem Geballere war ihr auf die Nerven gegangen.
Das Forsthaus, an dessen sonniger Vorderseite ein Kräuter- und Blumengarten angelegt war, gehörte nicht ihr. Doch Großmutter residierte geradezu kunstvoll darin und verfuhr mit dem Grafen, dem es gehörte, zuweilen hemdsärmelig, zuweilen damenhaft keck und jedenfalls in einer Art, als könnte der Graf von Glück reden, dass es ihm überhaupt gestattet war, sie zu besuchen ab und zu.
Großmutter war vielseitig und wandlungsfähig. Wenn sie von einem ihrer Rundgänge aus dem Wald heimkehrte, dreckverschmiert und in geflicktem Zeug, wirkte sie mitunter wie eine Hexe, deren undurchsichtiger Blick es ratsam erscheinen ließ, ihr auszuweichen. Am selben Nachmittag jedoch konnte sie im eleganten Kleid auf der Veranda erscheinen, mit makelloser Frisur, einnehmendem Augenaufschlag und Lippen, so tiefrot wie Kirschen an einem vielversprechenden Sommerabend.
Mir schien, Großmutter tat nicht nur stets, wonach ihr der Sinn stand, sie entschied auch in jedem Augenblick, wer sie sein wollte. Als besäße das Gestern keinerlei Besitzansprüche an sie. Als wäre sie an nichts gebunden, weder an ihr Alter noch an ihr Geschlecht, weder an ihre Zukunft noch an ihre Herkunft, ja als wären selbst die Naturgesetze nur dazu da, dass Großmutter mit ihnen umsprang, wie es ihr gefiel. Sie würde, sagten jene, die sie kannten, selbst dem Teufel ihren Willen aufzwingen, wäre er so verrückt, sich ihr in den Weg zu stellen.
Tatsächlich steckte sie voller Rätsel. Und sie hatte auch handfeste Geheimnisse, wie sich während jener Sommertage herausstellte, die wir gemeinsam bei ihr im Forsthaus verbrachten. Seit meiner Kindheit hatte ich sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Die Eltern belogen uns schlichtweg: Großmutter sei vor Langem schon gestorben, sagten sie. Wo ihr Grab sei? Keine Ahnung, niemand wisse, wo sie sich zuletzt herumgetrieben habe. Einmal hieß es, wenn ich mich richtig erinnere, dass sie Schande über die Familie gebracht habe. Doch selbst das stritten die Eltern später ab. Fragen nach ihr wurden allesamt im Keim erstickt. Als wäre schon der Gedanke an Großmutter verwerflich.
Das Totschweigen wirkte. Mit den Jahren verschwand Großmutter aus unserer Wahrnehmung. Und vermutlich wäre es dabei geblieben. Doch dann, an einem regnerischen Tag Anfang Juli, läutete es an der Tür und der Postbote übergab mir ein beinahe telefonbuchgroßes Paket. Von außen betrachtet sah es vollkommen unscheinbar aus.
Meine Kindheit war, abgesehen von der einen oder anderen Grenzüberschreitung und dem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, arm an äußeren Ereignissen gewesen.
Ich war auf dem Land aufgewachsen, in der Einschicht, wie man bei uns sagte, und hatte nach Abschluss der Schule die erstbeste Gelegenheit genutzt, um in die Stadt zu flüchten. Ich versprach mir ein freieres Leben, hoffte, weniger unter Beobachtung zu stehen. Abends arbeitete ich als Kellnerin in einem Studentenlokal, tagsüber als unbezahlte Aushilfe in einer Bücherei.
Schon als Kind war es so, Höhe und Halt suchte ich in Büchern. Ihre Protagonisten schenkten mir eine Stimme, was heißt eine Stimme, einen mächtigen, stimmgewaltigen Chor, den ich zuvor immer nur leise in mir geahnt hatte. Zudem legten all die Bücher Seiten an mir offen, die mir zuzugestehen ich ohne sie nie gewagt hätte. Das Mittelmaß, das in meiner Kindheit und Jugend ringsum zur alles normierenden Selbstverständlichkeit erhoben worden war, erschien mir mit jedem gelesenen Wort, jeder erlebten Zeile enger, sonderbarer, ja unfassbar albern.
Zwischen Buchdeckeln war die Welt weiter. Der Zauber begann zumeist unmittelbar nach dem Eintritt. Ideen fluteten mich und ich ging mir verloren in ihnen. Sah überrascht auf, entdeckte mich verwandelt wieder. Keine gänzlich andere als gerade eben war ich, aber eine größere, reichere.
Oft war es das stille Geheimnis eines Textes, das mich umfing; oft der Inhalt, der Tonfall, die Melodie, im besten Fall das aus alldem erwachsende Ganze. Es flüsterte sich in meinen Kopf, stürzte in mein Herz. Das setzte aus, staunte und schlug fortan in einem feineren Takt. All die Bücher machten mich stärker und sie machten mich verletzlicher, taten mir gut und taten mir weh, gaben mir Kraft und rissen mich in Abgründe, in die zu sehen mir zuvor nicht eingefallen wäre.
Meine Fantasie ging zwischen den Zeilen spazieren, mein Realitätssinn schärfte sich auf der einen, meine Vorstellungskraft explodierte auf der anderen Seite.
Bücher waren keineswegs eine Ablenkung vom Leben. Bücher, Romane zumal, waren eine Rettung davor, helle Inseln im seichten Tümpelmeer. Welche Wahrhaftigkeit und welchen Sinn Bücher dem Leben einschrieben! Realer als die Realität waren sie. Ich erwachte in ihnen.
Von Beginn meines Stadtlebens an war der Plan gewesen, einmal nicht mehr auf das Kellnern angewiesen zu sein. War der Plan gewesen, von einem fixen Bücherei-Gehalt leben zu können und den ganzen schönen Tag in Büchern zu verbringen, aufgeweckter zu werden dank ihnen und nicht, betäubt vom Alltag, zu vergessen, welches Leben möglich war. Ein wenig freilich, es ließ sich nicht vermeiden, gehörte zum Plan auch, Bücher zu verleihen und den Bürokram zu erledigen.
Letztendlich war es wie meist: Was ich mir in den Kopf gesetzt hatte, geschah. Ich bekam exakt jene schlecht bezahlte Teilzeitstelle, die ich herbeigesehnt hatte.
Weil ich nie lange zufrieden war, wenn ich bekam, was ich wollte, wollte ich bald mehr, studierte nebenbei Philosophie, Germanistik und Komparatistik. Meinen Eltern sagte ich nichts davon. Komparatistik! Was sollte das denn sein? Das Wort alleine hätte Mutter gereicht, um zu wissen, dass ihre Tochter übergeschnappt war.
Ich war im Bademantel, als der Postbote das Paket brachte. Darauf waren, akkurat mit Bleistift hingedrückt, mein Name und meine Adresse zu lesen. Ich betastete das mit Klebeband umwickelte Bündel und fühlte: Bücher waren es nicht. Ich kratzte am Umschlagpapier, riss es an einer Falzstelle auf. Da brach die Spannung des Pakets und massenhaft quollen Geldscheine heraus. Zwanziger-, Fünfziger- und Hunderter-Noten! Sie fielen zu Boden, ich sank auf die Knie.
Riss – nach einer Schrecksekunde – nochmals am Packpapier. Fetzte es entzwei.
Eine Welle Geld ergoss sich über meine Oberschenkel. Ich erschrak! Freute mich! Erschrak abermals, kam ins Nachdenken. Geld! So wahnsinnig viel Geld!
Unter all den Banknoten schließlich eine handgeschriebene Nachricht auf einem kleinen Stück grauen Karton: Anbei ein paar Zetteln mit Nullen drauf. Nicht der Rede wert. Es grüßt dich deine Großmutter Kristyna.
Ich begutachtete die Scheine, hielt sie gegen das Licht. Nach meinem Dafürhalten: echt. Ich besah den Umschlag: kein Absender. Prüfte den Poststempel: verwischt, aber halbwegs lesbar. Ja, das Paket war im Ort unweit der Grenze aufgegeben worden. Dort war ich aufgewachsen. Und in der Nähe … natürlich, so musste es sein, wohnte Großmutter. Sie lebte! Irgendwo dort in der Grenzgegend, da würde ich sie finden!
Ich war hektisch, wegen Großmutter und wegen des vielen Geldes; beschloss, nicht hektisch zu sein. Dachte, dachte nach. Stopfte die Scheine in die baumwollene Umhängetasche mit dem blauen Logo der Bibliothek. Ging damit – ich zwang mich, nicht zu rennen – zu meiner Bank. Ich nahm mir vor, darauf zu achten, cool zu wirken, aber nicht zu cool. Unauffällig cool. Oder besser doch nicht cool, nur unauffällig, ja: unauffällig. Eine gänzlich unauffällige Coolness, das war der Plan. Ich fühlte mich wie eine Verbrecherin, aber eine smarte Verbrecherin, eine, die nichts Schlimmes angestellt hat, eigentlich eine, die gar nichts angestellt hat, die auf der guten Seite steht. Obwohl sie auf eine vertrackte, mysteriöse Weise ja doch womöglich verstrickt war in irgendwas.
Ich betrat die Bank, lächelte. Fragte nach einem Schließfach. Bekam es zugesagt, unterschrieb eine Art Mietvertrag, wurde in den Keller begleitet, in den Tresorraum. Das mit dem Schließfach hatte ich mir gut überlegt. Ich würde den Haufen Geld auf genau diese Art in Sicherheit bringen und nicht etwa indem ich die Scheine beim Schalter aufs Pult kippte, um sie auf mein Konto einzuzahlen und mir die Frage nach deren Herkunft anhören zu müssen. Schlaues Mädchen, lobte ich mich und verließ die Bank mit dem Gefühl, etwas ganz und gar richtig gemacht zu haben.
Wieder daheim in meiner Zweizimmerwohnung rief ich meinen Freund an. Ich ahnte, dass ich auf der Mobilbox landen würde. Es nervte mich nicht mehr, kränkte mich auch nicht mehr. Er war auf Dienstreise, irgendwo im Ausland, natürlich. Vier Jahre waren wir nun schon zusammen. Wobei das Adverb zusammen unsere Beziehung in ein falsches Licht stellt, im Grunde waren wir nun vier Jahre auseinander. Er kam, wann er wollte, ging, wann er wollte, und ich ließ es mit mir geschehen, warum auch immer. Er war siebzehn Jahre älter als ich, verheiratet. Eine zerrüttete Ehe, wie er sagte, eine Ehe nur noch auf dem Papier, wie er versicherte, eine Ehe mit Ablaufdatum, wie er zu wissen glaubte, von Anfang an.
Ich sprach ihm auf die Box, sagte, dass ich aufs Land führe, um meine tot geglaubte Großmutter zu suchen, und dass ich mir dafür sein Auto ausborgen würde. Den Zweitschlüssel hatte er mir einmal aufgedrängt, es war einer seiner Einfälle gewesen, um mich zu besänftigen. Nun war ich tatsächlich besänftigt. Mehr noch: Ich fühlte eine prickelnde kleine Genugtuung. Wenn er von seiner Dienstreise heimkehrte, würde der feine Herr mit Bus und Straßenbahn fahren müssen. Oder mit dem zitronengelben VW Cabrio seiner Ehefrau. Und wenn ich zurückkehrte, in diesem Moment beschloss ich es, würde ich Schluss machen mit ihm. Bis dahin aber, das war schließlich der Witz an der Sache, würde ich mir seinen fetten Mercedes schnappen.
Meine neue Kaltschnäuzigkeit verblüffte mich. Ich überlegte, ob ich das tatsächlich so durchziehen wollte. Ja! Wollte ich! Und wollte ich es nicht nur, sondern würde ich es auch tun? Wirklich, wirklich tun? Ja! Würde ich!
Die Hülle unseres engen Ichs erweitern, dafür wäre Liebe das schönste Mittel. Allerdings ist, was wir rasch Liebe nennen, meist doch nur die scheinheilige Sonnenseite der Selbstsucht. Verliebte, sagt Jean-Paul Sartre, müssen ihr Sein nicht aus sich selbst erschaffen, jemand anders formt ihr Ich, und das in der fantastischsten Schönfärberei.
Vermutlich war es auch bei Chris und mir so. Als wir uns kennenlernten, war ich nicht besonders selbstsicher. Christian aber begehrte etwas an mir, von dem ich bis dahin nicht wusste, dass ich es besaß. Indem er sich aber geradezu verzehrte danach, und tausendfach versicherte, nur ich, ich allein hätte es, fand ich Gefallen an dieser bis dahin für mich unsichtbaren Seite. Sie machte mich schön. Attraktiv. Aufregend.
So kam das mit uns. Nicht Christian wurde mir unverzichtbar, obwohl ich es anfangs annahm, sondern mein neues Gefühl für mich und das aufregende Bild von mir, nach dem er süchtig zu sein schien. Würde mir diese Aura, diese Macht verloren gehen, wenn mir deren Schöpfer, Chris, verloren ginge? Ach was … Schöpfer! Er war doch lediglich der Entdecker dieser verborgenen Seite gewesen. Sie konnte mir gewiss ebenso wenig abhandenkommen wie ein einsamer Landstrich verschwindet, ist er erst einmal gründlich vermessen.
Liebe, heißt es, lässt einen Grenzen überschreiten. Mag sein. Seine Liebe jedenfalls war eine Grenzüberschreitung profaner Art. Es war keine Liebe zu mir. Es war eine Liebe an mir. Ich war sein aufregendes Spielzeug. Er mutete mir seinen Mut zu, erprobte an mir seine in der Ehe erschlaffte Lust. Und ich ließ es mir gefallen, buchstäblich. Auch ich wollte meine engen Grenzen hinter mir lassen, wollte wissen, wohin es mich führen würde, erfahren, ob ich wirklich meinte, was ich da tat, und ob es mich weiterbrachte. Tat es nicht. Und Christian wohl auch nicht. Einen verschlungenen Seitenarm des Lebens hatten wir befahren und uns vorgemacht, wir hätten uns ins Meer der Liebe gestürzt, davon getrunken, intensiv wie nie. Wir waren Junkies, auf einem Trip. Um die Illusion wahr sein zu lassen, reichte es, die selbstvergessenen Momente zu feiern und den großen Rest unter den Teppich zu kehren. Unters Bett in unserem Fall.
Aber vielleicht besteht darin ja die Kunst des Lebens. Es nicht so zu sehen, wie es ist.
Ich rief in der Bücherei an. Kein Problem, sagte Linda, meine Chefin, klar könne ich meinen Urlaub um ein paar Tage vorverlegen. Mach dir’s schön, sagte sie, genieße die Zeit, Malina.
Nachts, bevor ich zu Großmutter fuhr, träumte ich von ihr in einer bezwingenden Klarheit. Dann schlug ich die Augen auf und wusste noch immer und wie schon im Traum, dass ich nicht zu ihr fahren brauchte, da sie sich doch ohnehin in mir befand. Aber mochte ich es auch noch so sehr wissen, einen Wimpernschlag später sagte mir mein Verstand, dass ich im Bett lag, eben aufgewacht war, dass ich atmete, nur geträumt hatte, dass alles an seinem gewohnten Platz war und das Gegenteil von dem wahr, was gerade noch mit letzter Sicherheit für mich gegolten hatte.
Mit jeder Sekunde, in der sich mein Verstand nicht mehr im Sog des Schlafs befand, sondern in die gewohnte Betriebsamkeit überging und damit über mein Denken wachte und also über mich, verloschen mehr Bilder meines Traumes. Wenn ich manche vorerst auch durch Willenskraft bei mir zu halten vermochte, hatten sie doch ihre gerade noch so überzeugende Eindringlichkeit verloren, erschienen nur noch schemenhaft. Mein Traum entglitt in Abstraktion.
Ein einziges traumhaftes Detail blieb mir in aller Klarheit erhalten, nur dieses eine rutschte, sich vor meinem Verstand rettend, durch dessen zensurierendes, mich vorgeblich vor mir selbst schützendes Sieb: dass es in Großmutters Haus eine besondere Tür gab. Diese Tür würde mir immer offenstehen, auch wenn sie im übrigen Leben nicht einmal zu existieren schien. In Großmutters Haus aber würde ich auf die einfachste Weise Zugang finden. In Großmutters Haus würde ich diese Tür klar vor mir sehen, wissen, dass dahinter die Antworten auf all meine Fragen, auch die noch ungestellten, lägen. Und nichts weiter wäre zu tun, als hindurchzuspazieren, um hinter dieser Tür lächelnd zu erkennen, dass keine einzige Frage mehr nötig war.
Mittagssonne, der Wald rundum stand still. Großmutter saß auf der Veranda in ihrem Schaukelstuhl, als ich ankam bei ihr.
Sie zu finden war irritierend einfach gewesen. Derart einfach, dass es mir zu einfach schien. Die erste Person schon, die ich nach ihr fragte, eine Angestellte im lokalen Postamt, machte den Eindruck, als hätte sie geradezu auf mich gewartet.
»Du hast ihre Augen«, sagte die rotwangige Dicke und beugte sich blinzelnd nach vorne. »Auch deine Mundpartie, wie ihr aus dem Gesicht geschnitten!«
Großmutters Haus liege »drinnen«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre dieses Drinnen weit, ungreifbar weit entfernt, »im Wald vom Grafen«. Den Ort raus, am Teich vorbei und beim Bahnübergang die erste Abzweigung rechts, ab da ein paar Kilometer geradeaus. Der Weg schlängle sich auf und ab durch den Forst, um diese Jahreszeit kein Problem, gut zu befahren. »Aber pass auf die Schlaglöcher auf«, sagte sie, »und dass du mir ja nicht irrtümlich eine Abzweigung nimmst, immer schön der Nase nach.« Die Pausbäckige hielt inne, besah mich. Schien uneins, ob sie mir die Umsetzung ihrer Wegbeschreibung zutrauen sollte. »Immer geradeaus, einfach geradeaus«, wiederholte sie, beschrieb mit Händen und Armen indes kleinkurvige und ausholende und abermals kleinkurvige Bögen: links, rechts, links, links, rechts. »Verstehst?«, fragte sie, »immer schnurgerade!« Obgleich ich pflichtschuldig nickte, unterzog sie mich einem ausführlichen kritischen Blick, rieb sich nachdenklich das Kinn, wie ich es bisher nur von stoppelbärtigen Männern gekannt hatte. »Und dann«, fuhr sie fort, »dann, nach ein paar Kilometern, fünf oder sechs oder vielleicht maximal sieben oder acht, geht die Lichtung auf«, eine alte Lärchenallee erwarte mich dort. Und in deren Mitte, nur ein klein wenig abseits, stehe Kristynas, also Großmutters, Haus. »Nicht zu verfehlen«, sagte die Dicke, »na ja, normalerweise.«
Wenig später kurvte ich (annäherungsweise geradeaus) in variantenreichen Bögen durch den Wald. Dachte an die Rotwangige von der Post, musste schmunzeln. Der Weg war, wie sie ihn beschrieben hatte: sich auf und ab und heftig hin und her schlängelnd und überaus reich an Abzweigungen, die gut als Verlängerung der empfohlenen Geraden hätten durchgehen können, die zu nehmen ich mich aber hütete. Wie zur Belohnung öffnete sich nach einer kleinen Ewigkeit der Wald und ich steuerte auf die versprochene Lichtung zu, die Lärchenallee.
Hier hielt ich den Wagen an, einfach weil ich Lust dazu hatte, und stieg aus. Ich freute mich, dass ich da war, freute mich, dass ich alles richtig gemacht hatte. Genüsslich atmete ich durch. Waldkühle. Wiesenwärme. Kindheitssommerduft.
Die Welt stand still. Die Luft stand still. Kein Ton zu hören. Kein Pfeifen, Fiepen, Knacksen. Alles hielt den Atem an. Selbst die Schäfchenwolke über mir war plötzlich wie festgeklebt. Ich kniff die Augen zusammen. In einiger Entfernung sah ich es: Großmutters Haus.
Schönbrunner gelb war es, hübsch anzusehen, und es fügte sich harmonisch in die Landschaft. Sonderbar nur das Dach. Es musste aus silbernen Schindeln sein oder blitzblankem Blech. Der Himmel spiegelte sich darin, als wäre er niedergesunken und läge nun genießerisch auf Großmutters Haus.
Möglichst behutsam und höflich wollte ich mich nähern. Ich startete, legte meine Hände sachte, ganz sachte aufs Lenkrad. Im Schritttempo rollte der Mercedes voran. Unter den Reifen knirschte gläsern der Sand.
Vorhin noch, im tiefen Wald, auf dem schmalen Weg, hatte der großspurige Wagen samt seinem Cockpit aus Mahagoni und Nappaleder geradezu unmöglich gewirkt. Als schöbe sich, unverschämt schwer, ein Luxusdampfer durch ein Bächlein. Nun war der Weg breiter, zu beiden Seiten blühte silbern das Föhngras und die kirchturmhohe Lärchenallee lenkte, anstatt Schatten zu werfen, Licht vom Himmel nieder. In einem goldenen Korridor glitt ich Großmutters Haus entgegen. Währenddessen schien mir, als gäbe nicht der dunkle Nadelwald der Lichtung ihre Form, sondern als gestattete es die Lichtung den Bäumen, sich an sie zu schmiegen.
Vor Großmutters Haus empfing mich ihr Blumendschungel, ihr Gemüse- und Kräutergarten, ihre botanische Arche Noah. Vor Kurzem musste sie die Beete gegossen haben, der feuchtwarme Duft satter Erde hing in der Luft. Gierig reckten sich Wurzeltriebe, pelzige Poren atmeten lüstern. Doch schon übertrumpft vom Bouquet der Rosen, der Pracht der Himmelsleitern und der gefingerten Lupinen. Ein Teppich aus Taglilien, Margeriten, Lobelien zu meinen Füßen. Dicht an dicht mit Petersilie und Beifuß, Tollkraut und Stechapfel. Süßholz, Tabak und Thymian, nachbarschaftlich eng die Dille, der Majoran, die Minze und das Bilsenkraut. Pfefferstrauch, Lavendel, Steppenraute, Wermut und Sellerie. Welch betörende Üppigkeit! Großmutter lehnte im Schaukelstuhl, ein Bein lässig über das andere geschlagen.
Zuletzt war ich ihr als Mädchen begegnet. Doch es fühlte sich an – als wäre es gestern gewesen. Großmutter sah mir in die Augen. Gelassener, heller Blick. Wie attraktiv sie war! Ich fiel in ihr sonnengebräuntes, faltenschönes Gesicht.
Sie trug ein weit offenes schwarzes Männerhemd und alte Jeans. Ihre knöchernen Füße waren nackt, erdig dunkel. Unterarme und Hände hatte sie entspannt auf die Lehnen des Schaukelstuhls gelegt. Zwischen Zeige- und Mittelfinger ihrer Rechten qualmte eine Filterlose, die war so bucklig, man hätte glauben mögen, Großmutter rauche einen Joint.
Ich ging näher, wollte sie begrüßen, da richtete Großmutter nach wer weiß wie vielen Jahren ihre ersten Worte an mich: »Park den Kübel besser hinterm Haus.« Sie hob das Kinn Richtung Mercedes. »Sonst glauben die Leute noch, ich hab Besuch von einem Zuhälter oder der Russenmafia.«
»Der Schlitten gehört also deinem Freund.« Großmutter zuckte despektierlich mit einer Augenbraue. »Und dieser Freund ist verheiratet.«
Ich nickte, hob entschuldigend die Schultern.
»Und er hält dich seit Jahren hin, und jetzt willst du ihm endlich den Laufpass geben. Und bei der Gelegenheit den Mercedes zurückgeben.«
Erneut bestätigte ich mit einem Nicken.
»Aber wieso denn, Malina?!« Großmutter sah mich an, als wäre ich unzurechnungsfähig.
»Dein Freund, wie heißt er noch einmal?«
»Christian.«
»Ich bin sicher, der gute Christian ist dir unglaublich dankbar für all die Jahre … Freundschaft. Und er wäre untröstlich, könnte er dir nicht als Symbol seiner Freundschaft ein kleines Geschenk machen, und auch zum Dank dafür, dass du eure … Freundschaft nie gegenüber seiner Frau erwähnt hast.«
»Du schlägst vor, ich soll ihn erpressen?«
»Aber wo«, Großmutter wachelte mit der Hand, »nicht erpressen. Du schenkst ihm eine neue Freiheit. Männer mögen das. Und du schenkst ihm die Möglichkeit, dir für all die Jahre zu danken und einen sauberen Schlussstrich zu ziehen. Auch das mögen Männer, eine überschaubare, simple Lösung. Und wie sieht die in eurem Fall aus? Ganz klar: Christians Augensternchen kriegt ein Mercedessternchen.« Großmutter zog an ihrer Selbstgedrehten und blickte zufrieden Richtung Blumengarten.
Ich hatte ihr alles erzählt. Wobei, eigentlich hatte ich ihr überhaupt nicht alles erzählt, sie aber hatte auf der Stelle alles verstanden. Flugs waren wir vom Mercedes auf Christian gekommen, meine Nichtbeziehung zu ihm, mein ewiges Singledasein, die kleine Wohnung, die Arbeit in der Bücherei, alles in allem mein Einsiedlerinnenleben. Gut, ich traf Leute, ging hin und wieder aus, durfte sogar zwei liebe Menschen meine Freundinnen nennen; und dennoch, im Grunde lebte ich ein Einsiedlerinnenleben. Niemals bekam jemand einen unmittelbaren, mich und meine Wesensart erschließenden Zugang, und am schwersten wog wohl: selbst ich nicht. Stets schien sich das Entscheidende zu entziehen, verbarg sich das mich Ausmachende. Bis vor Kurzem hatte ich gedacht, ich sei alleine damit. Doch wieder einmal half die Literatur. Georg Büchner, »Dantons Tod«. Hier erfuhr ich aus fremdem Mund – welch ein Trost –, was ich längst vermutete: Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür. Ich auch nicht, aber ich vermute, dieser Makel, diese Unfähigkeit, den Kern unseres Wesens zu erkennen, beschäftigt uns ein Leben lang, zwingt uns, Mensch zu sein.
Andere scheint derlei nicht sonderlich zu beschäftigen. Gewiss, manches Mal zweifeln sie an sich, zweifeln und verzweifeln an der Menschheit, an unserer Zivilisation, unseren Verhältnissen. »Kann das denn wahr sein?«, fragen die Menschen, doch nie ist dieses »Kann das denn wahr sein?« buchstäblich gemeint. Ich hingegen meine es buchstäblich, stelle unser aller Existenz infrage samt Physik, Mathematik, Biologie, Geologie, Kosmologie. Zualleroberst aber stelle ich mich infrage.
Begonnen hatte es schon als Kind. Von Beginn meines erinnerten Denkens an fühlte ich mich wie auf eine Bühne gestellt, auf der ich mich nicht zurechtfand. Die mir zugedachte Rolle schien mir unpassend und auch die gesamte Bühne dubios, obgleich alle, wirklich alle anderen ernsthaft behaupteten, diese unsere Rollen und diese unsere Bühne seien das einzige Leben und die einzige Welt.