

INHALT
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Anmerkung der Autorin
Danksagung
Für Zarmina, Maliha, Fareed, Rasheed, Hamida, Hajji Chamin und Hajji Habibullah. Erinnert ihr euch, als wir in Kabul Tee getrunken haben?
Ihr habt mir erzählt, wie sehr ihr euch wünscht, die Welt würde mehr über Afghanen wissen. Danke.
Und für die Frau in dem namenlosen Grab auf einem stillen Hügel in Tennessee.

KAPITEL 1
Babas Finger fliegen über die Saiten der Rubab. Er sieht mich nicht gleich und ich bleibe kurz stehen, um der Musik zu lauschen und mich an dem Glück zu erfreuen, das ihn beim Spielen sichtlich erfüllt. Doch dann erblickt er mich und sein Lächeln wird breiter, bis es fast ein Lachen ist.
»Ah, Sohn meines Sohnes, der junge Gelehrte!«, ruft er mir auf Paschtu zu. »Und, wie war es heute in der neuen Schule?«
»Gut.« Nachdem ich mich den ganzen Tag mit Englisch herumgeschlagen habe, bin ich erleichtert, die Sprache meines Volks – der Paschtunen – zu sprechen. Ich eile auf Babas leuchtende Augen, auf den Klang seiner Musik zu. Zum ersten Mal an diesem Tag fühle ich mich wohl in meiner Haut. Ich lege meinen abgenutzten Rucksack neben Baba und der Manchester-United-Schlüsselanhänger klirrt gegen die Wand. Der Backsteinboden, der irgendwann einmal bestimmt farbig war, ist mit einer Schmutzschicht überzogen. Ich setze mich im Schneidersitz hin und achte darauf, die Füße ganz unter die Oberschenkel zu stecken, so wie es mir meine Mor, meine Mutter, beigebracht hat. »Richtig gut, glaube ich.«
Baba nickt und sein Spiel erfüllt die stickige Luft mit Melodien. Der eingängige Klang hallt laut von den Wänden des engen U-Bahn-Tunnels wider.
Ein Mann legt einen Zwanzig-Dollar-Schein in den Rubab-Kasten. Ich erhasche einen Blick auf seinen ordentlich gestutzten Bart und sein Lächeln. Er ist in der Menge verschwunden, bevor ich mich bedanken kann.
Zu Hause in Afghanistan, vor der Ankunft der Taliban, war mein Baba ein berühmter Musiker. Damals zahlten Leute eine Menge Geld, um ihn spielen zu hören. Hier machen die Bostoner in der Stoßzeit einen großen Bogen um uns und haben dabei einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht, als würden sie uns gleichzeitig sehen und nicht sehen. Manche laufen im Takt zu Babas Lied. Andere sind aus dem Tritt, Schritte und Takt prallen aufeinander. Mein Gehirn strengt sich in einem fort an, die Bewegungen mit der Musik in Einklang zu bringen.
»Und, hast du schon Freunde gefunden?«
»Nein.« Ich konzentriere mich darauf, eine Falte in meiner Jeans glatt zu streichen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich heute irgendjemanden auch nur angesehen habe. »Aber ich konnte der Leseübung in Englisch ohne große Schwierigkeiten folgen.«
Hinter der Biegung des Gangs fängt jemand an, Tonleitern zu singen.
»Ah, die Opernsängerin und ihre Stereoanlage sind eingetroffen.« Sobald sie mit Ave Maria loslegt, werden wir einpacken müssen. Es ist unmöglich, sich gegen eine Opernsängerin zu behaupten.
»Ist das nicht geschummelt, eine Stereoanlage und ein Mikro zu benutzen, wenn sie sowieso schon lauter als die ganze Stadt ist?«, frage ich.
»Sei nicht frech«, tadelt mich Baba. »Aber du hast recht, das ist auf jeden Fall geschummelt.« Baba hört auf zu spielen und wirft einen Blick auf die Münzen im Rubab-Kasten.
Ich verberge mein Grinsen und helfe ihm, die Münzen in seine Brieftasche zu stecken.
»Magst du ein wenig spielen, Sami?«, fragt Baba und reicht mir die Rubab. Die Opernsängerin dreht die Stereoanlage auf und die erste kitschige Geigenmelodie wabert den Tunnel herunter. »Ich wasche mir nur die Hände und dann können wir nach Hause gehen.«
»Hier sagt man ›auf die Toilette gehen‹«, rufe ich ihm in Erinnerung und nehme die Rubab.
»Dann gehe ich eben auf die Toilette.« Er kneift die Augen zusammen. »Es gibt was Besonderes zum Abendessen, wenn wir nach Hause kommen, und du musst mir alles über deinen ersten Schultag erzählen. Und wenn wir den richtigen Radiosender finden, können wir uns danach vorm Schlafengehen das Champions-League-Finale anhören.«
»Okay.« Ich rücke die Rubab auf meinem Schoß zurecht und singe einen der Manchester-United-Sprechchöre: »Hello, hello, we are the Busby Boys!«
Baba summt vor sich hin, als er davongeht. Ich streiche mit den Fingern über die drei Hauptsaiten der Rubab. Der Klangkörper aus Maulbeerholz drückt sich mir in die Brust. Ein Helfer beschrieb ihn mal als »bootsförmig«. Er ist so tief, dass ich meinen rechten Arm ganz drum herum legen muss, um an die Saiten zu kommen. Das alte Ziegenfell, mit dem der Klangkörper bespannt ist, ist in der Mitte noch cremefarben, nur an den Rändern und unterhalb der Stelle, auf der meine Finger ruhen, ist es voller brauner Flecken. Wo das Fell auf den hölzernen Hals trifft, schillern Perlmuttintarsien weiß, blau, grün und pinkfarben im trüben Licht des Tunnels. Der Wirbelkasten ist wie eine Blume geschnitzt und auf der Seite angeschlagen, auf der Baba ihn im Iran hat fallen lassen. Die Quaste, die meine Großmutter aus weißen und blauen Fäden mit roten Perlen gewebt hat, schwingt hin und her, als ich die Rubab auf meinem Schoß arrangiere.
Ich atme langsam und tief ein.
Wenn ich ganz still und reglos innehalte, fallen mir immer Lieder ein. Manchmal sind es Lieder, die ich Baba habe spielen hören. Aber manchmal sind sie etwas ganz anderes – Lieder, die große Entfernungen zurücklegen und durch meine Hände spielen, als wären sie gar nicht von mir.
Die machen am meisten Spaß.
Ich fange an zu spielen und meine linke Hand tanzt über den Hals der Rubab. Mein rechtes Handgelenk ist ganz entspannt und ich schlage die Saiten locker an. Der Rhythmus baut sich in mir auf und die Stimme der Opernsängerin und die Schritte der Pendler rücken in immer weitere Ferne. Die Außenwelt wird immer kleiner, bis nur noch ich und die Rubab übrig sind.
Dann breitet sich die Welt in meinem Innern aus. Meine Augen sind geschlossen, aber ich sehe mein Zuhause vor mir. Nicht die Wohnung hier in Boston oder das Elendsviertel in Istanbul, nicht die überbelegte Herberge in Athen oder das Hinterzimmer im Iran. Ich sehe unser Haus in Kandahar.
Es ist aus weißem Stein und von einer hohen Mauer umgeben. Die Glassplitter oben auf der Mauer funkeln im Licht der Nachmittagssonne, glitzern strahlend blau oder manchmal gelb, wie Himmelsscherben. Violette Bougainvillea-Blüten schaukeln in einer seltenen Nachmittagsbrise. Ein Handwerker repariert ein Loch im Dach und summt die Melodie, die ich jetzt spiele.
Ich spiele schneller, lauter, rieche den Staub und die trockene Hitze und spüre, wie die Sonne meinen Hals wärmt.
Mein Plar, mein Vater, liest neben dem Fenster, während ihm seine Brille die Nase runterrutscht. Meine Mor jani ruft ihn. Wenn er sich nicht beeilt, kommen wir alle zu spät zur Hochzeit. Aber ich höre sie nicht, meine Erinnerung ist nicht scharf genug. Ihre mit Henna gefärbten Hände sind rot, als sie sich aus der Tür lehnt, um mich reinzuwinken. Ihr Mund bewegt sich, doch ich kann mich nicht mehr an den Klang ihrer Stimme erinnern.
Ich schaffe es fast. Jedes Mal wenn ich spiele, kann ich sie beinahe hören.
Aber ich kann die Erinnerung nicht scharf genug einstellen, und selbst als die Musik lauter wird, selbst als ich in sie hineingesogen werde, bis die Töne nur noch ein schnelles, spitzes Klimpern sind, verliere ich sie. Ich verliere die Erinnerungen.
Wurden die Haare meines Plar grau oder waren sie so schwarz wie der Teer an der Schnur eines Flugdrachens? War die Stimme meiner Mor jani fröhlich oder müde? Rauchte der Handwerker oder sang er?
Ich kneife konzentriert die Augen zu. Ich verliere sie …
Etwas zerrt an der Rubab.
Plötzlich sind meine Hände leer.
Ich reiße die Augen auf. Ein Teenager eilt mit der Menschenmenge aufs Gleis zu. Er hält die Rubab in der Hand. Er hat sie mir aus dem Schoß gerissen.
Drei endlose Herzschläge lang bin ich zu benommen, um mich zu rühren.
Dann rappele ich mich auf. »Hey!«, keuche ich und schnappe verzweifelt nach Luft, um einen Ton rauszubekommen. Meine Beine werden kräftiger und ich fange an zu rennen. »Hey! Bleib stehen!« Meine Stimme ist nicht mehr als ein quiekendes Flüstern.
Wir steuern beide auf die Opernsängerin zu und ihr Lied steigert sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo. Ich kann mich über den Lärm ihrer Lautsprecher nicht mal selbst schreien hören.
Der Ellbogen eines Mannes sticht mir fast das Auge aus und die Aktentasche einer Frau versperrt mir den Weg. Als sich die Menge auf einmal teilt, erspähe ich weit vor mir den schwarzen Mantel des Typen. Die Rubab steckt wohl darunter, denn ich kann sie nicht mehr sehen.
»Halt!«, schreie ich. Meine Stimme bricht vor Anstrengung.
Niemand hört darauf, am allerwenigsten der Dieb. Ich zwänge mich durch Arme und Beine, aber sie drängen mich zurück.
»Pass doch auf«, blafft mich eine junge Frau an.
»Verschwinde«, knurrt ein älterer Mann.
Eine plötzliche Welle schiebt mich auf den Bahnsteig, auf dem die Menschen so dicht gedrängt stehen, dass ich den Dieb nirgendwo mehr sehen kann. Ich gleite an der Wand entlang und springe auf den Rand einer Bank, auf der eine Gruppe College-Studenten sitzt. Während ich auf einem Bein balanciere, lasse ich den Blick über die Menge schweifen.
Die Bahn fährt ein. Alle zwängen sich in den schon vollen Waggon.
Da! Der Dieb springt in den Zug und bahnt sich einen Weg in die Mitte. Er hält die Rubab in der rechten Hand.
»Halt!«, schreie ich. Ein paar Köpfe drehen sich. Ich springe von der Bank, aber zwischen ihm und mir sind zu viele Menschen. Die Erwachsenen überragen mich. Ich presse die Schultern gegen ihre Arme und kämpfe mich nach vorne.
Die Bahn piept zweimal laut. Die Türen schließen sich.
Am Rand des Bahnsteigs befreie ich mich schlagartig. Die Türen gehen direkt vor meiner Nase zu.
Der Junge ist nur ein paar Schritte entfernt. Er sieht mich an und zieht leicht die Augenbrauen hoch. Rote Pickel heben sich grell von seiner blassen Haut ab. Er hat graue Augen und unordentliches blondes Haar.
»Haltet ihn auf!« Ich trommele gegen das Fenster und winke den Fahrgästen zu. Die Bahn setzt sich in Bewegung, zuerst langsam. Ich renne neben ihr her, den genoppten Sicherheitsstreifen entlang, wo die Erwachsenen stehen.
»Bitte … bitte …!«
Die Leute in der Bahn hören mich nicht oder es ist ihnen egal. Die Bahn beschleunigt und ich falle zurück. Die Rubab entgleitet mir ganz.
Dann verschwindet die Bahn mit einem Wusch im Tunnel. Ich stehe auf dem Gleis, keuchend und mit klingenden Ohren.
Die Rubab ist weg.

KAPITEL 2
Baba ist wieder an unserem Platz, als ich zurückkomme. Er lässt den Blick zwischen dem Rubab-Kasten und der Menge hin und her schnellen. Auf der Suche nach mir.
Obwohl ich sehen kann, dass er besorgt ist, lasse ich mir Zeit. Ich presse mich an die Wand, um den Menschenmengen auszuweichen, die auf das Bahngleis drängen. Meine Brust fühlt sich an wie mit Sand gefüllt.
Die Opernsängerin singt jetzt »Think of Me« und ich unterdrücke den Drang, im Vorbeilaufen gegen ihre Stereoanlage zu treten.
Die Rubab war das Einzige, das unsere Flucht überstanden hat. Das Einzige, das noch von zu Hause übrig war. Babas einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.
Ich habe sie verloren.
Baba sieht mich und seine Schultern heben sich sichtlich erleichtert. Ich laufe schneller. Als ich zehn Jahre alt war, kurz nachdem wir in Istanbul ankamen, verlief ich mich auf dem Markt. Die vielen Farben wirbelten und brannten in meinem Kopf und ich rannte und rannte, bis meine Beine zitterten und mein Atem pfiff – und als ich ihn wiederfand, umarmten wir uns und weinten mitten auf der Straße. In diesem Augenblick möchte ich die Arme um ihn werfen, aber das kann ich nicht. Ich bin zwölf und zu alt dafür.
Und diesmal ist es sowieso meine Schuld.
»Sami, wo warst du?«, fragt er mich in schnellem Paschtu und tastet meinen Kopf ab, als würde er glauben, ich hätte mich verletzt. »Warum bist du weggegangen? Ist alles in Ordnung?«
Ich öffne den Mund, doch es kommt nichts heraus. Er scheint sich vergewissert zu haben, dass noch alles an mir dran ist, und sein Gesichtsausdruck verändert sich von Sorge zu Verwirrung.
Er wirft einen Blick auf meine Hände und den leeren Kasten. »Wo ist die Rubab?«
Ich senke den Blick. Obwohl ich bei dem Lärm, den die Opernsängerin veranstaltet, nicht flüstern kann, fällt es mir schwer, die Stimme zu heben. »Ein Junge hat sie mir aus den Händen gerissen. Er ist in die Bahn gesprungen.«
»Was?«, haucht Baba, auf einmal still.
»Er hat sie gestohlen und ist weggerannt.« Ich unterbreche mich. Schlucke. »Der Dieb ist weg. Die Rubab ist weg.«
Baba sagt kein Wort. Er ist so still, dass ich einen flüchtigen Blick auf ihn werfe. Sein Gesicht ist grau und seine Augen weit aufgerissen und dunkel.
Ich bin so angespannt, dass ich wie eine der Rubab-Saiten reißen könnte. Wenn er doch etwas sagen würde. Schreien würde oder mich schlagen. Irgendetwas tun – bloß nicht mehr so schauen.
»Es ist alles in Ordnung, Sami«, sagt er schließlich so leise, dass ich ihm die Worte mehr von den Lippen ablese, als dass ich sie höre. Er tätschelt mir den Kopf und lässt die Hand auf meinem Haar ruhen. »Es ist alles in Ordnung. Es wird alles gut werden. Khuday pak mehriban dey.«
Gott ist gütig. Wenn das stimmt, warum habe ich dann das Gefühl, dass er uns – schon wieder – verraten hat? Ich behalte die niederschmetternde Frage für mich.
»Wir könnten Anzeige bei der Polizei erstatten«, schlage ich vor. »Vielleicht können sie ihn fangen.«
Baba schüttelt geistesabwesend den Kopf. Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht zur Polizei gehen will, weil er ihr nicht vertraut – das hat er noch nie – oder weil er zu müde ist.
Er sagt kein Wort mehr. Kein Wort, als wir den leeren Kasten einpacken. Kein Wort, als wir mit der Bahn nach Hause fahren. Kein Wort, als wir die Gasse hinunter zu unserer Wohnung laufen. Kein Wort, als er das Abendessen zubereitet. Wir breiten den Dastarkhan – so etwas wie eine traditionelle afghanische Tischdecke – auf dem Boden aus und legen die Gerichte darauf – Hähnchenspieße, Naan-Brot und Wassermelone, meine Lieblingsgerichte. Dieses besondere Abendessen hat er wohl für meinen ersten Schultag geplant. Baba holt zwei Coladosen hervor und reicht mir eine. Mein Magen zieht sich zusammen.
Seine Stimme ist dünn und alt, als er fragt: »In der Schule war es gut, ja?«
»Okay«, antworte ich. »Anders, aber … okay.«
Er nickt. Allein diese eine Frage scheint ihn erschöpft zu haben und er stellt keine weiteren. Wir essen schweigend. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns das letzte Mal beim Essen nicht unterhalten haben, und das fremde Gefühl kriecht wie Rauch in die Luft um uns herum. Das Essen hat kein Aroma und die Cola brennt mir in der Kehle. Sobald ich fertig bin, verdrücke ich mich in den anderen Raum – das Schlafzimmer, das wir uns teilen. Die beiden Matratzen liegen direkt auf dem Boden an gegenüberliegenden Wänden. Ich sitze auf meiner und öffne ein Mathebuch, um zu lernen.
Es ist komisch, im Mai mit der Schule anzufangen – bis zu den Sommerferien sind es nur noch vier Wochen. Aber die Hilfsorganisation, die uns nach Amerika brachte, ließ mich ein paar Tests machen und empfahl meine sofortige Einschulung.
Etwas später knarzt das Fenster im Wohnzimmer, als Baba es mühsam öffnet. Von der Moschee am Ende der Straße schallt der Adhãn, der Gebetsruf, zum Maghribgebet nach Sonnenuntergang. Ich geselle mich zu Baba und drehe mich nach Qibla, in Richtung Mekka. Wir sagen die vertrauten Worte zusammen auf, aber ich hoffe, dass Gott meine lautlose Bitte hört, als wir uns auf unseren muffig riechenden Gebetsteppichen nach vorne beugen. Bitte.
Bitte … was? Wir haben bei unserer Flucht aus Afghanistan so viel verloren. Manchmal glaube ich, dass uns nur die Rubab vor dem völligen Zusammenbruch gerettet hat. Sie war unser Herz und unsere Vergangenheit, aber sie war auch ein Versprechen. Sie war unsere Hoffnung.
Doch jetzt ist da nichts mehr. Nur Stille. Und daran bin ich schuld. Ich habe Baba Kummer bereitet. Die Rubab wurde aus meinen Händen gerissen. Wie kann ich das wiedergutmachen? Worauf können wir ohne unsere Lieder noch hoffen?
Bitte, bitte, bitte, bete ich. Bitte was? Ich kann die richtigen Worte nicht finden, um das Gebet zu beenden. Bitte, bitte, bitte, fahre ich fort und versuche darauf zu vertrauen, dass die klaffende Wunde in meiner Brust Gott zeigen wird, was meinen Worten fehlt. Bitte, hilf uns.
Als wir fertig sind, macht Baba es sich auf den Toschaks an der Wand bequem. Eigentlich sind es keine echten Toschaks – es sind einfach große Kissen. Er zieht ein Foto aus seiner abgenutzten Lederbrieftasche. Obwohl ich es von hier nicht sehen kann, weiß ich, was es ist: ein Foto meiner Mor und meines Plar an ihrem ersten Hochzeitstag. Auch wenn sie beide einen ernsten Ausdruck im Gesicht haben, lächeln ihre Augen. Das zerknitterte Fotopapier ist an den Ecken braun geworden. Ein Onkel schickte es uns, als wir in Istanbul waren. Es ist der Widerhall eines Lieds, ein verblasster, flüchtiger Blick in unser altes Leben.
Ich lasse mich neben ihn auf den Toschak plumpsen. »Was machen wir jetzt, Baba?«
»Wir danken Gott für unser Glück. Alhamdulillah.« Er legt einen Arm um mich und reibt meine Schulter.
»Sollen wir zur Polizei gehen?«
»Nein«, erwidert er schnell und mit Nachdruck. Ich versteife mich. Seine Hand hält inne und macht dann mit demselben regelmäßigen Rhythmus weiter. »Wir machen keine Probleme. Wir bitten nicht um mehr, wenn wir alles haben, was wir brauchen. Die Hilfsorganisation gibt uns ja ein paar Monate lang einen Unterhaltskostenzuschuss. Damit können wir zumindest diese Wohnung bezahlen. Und ich werde eine Arbeit finden, um den Rest zu bestreiten. Vielleicht braucht das indische Restaurant an der Ecke einen Tellerwäscher.«
Ich denke an Baba, dessen Spiel früher müde Menschen zum Tanzen und gebrochene Menschen zum Lachen brachte und der jetzt seine Hände darauf verschwenden wird, dreckige Teller zu spülen. Dieses Bild bleibt in meinem Kopf hängen und da kommt mir der Rest des Gebets so plötzlich in den Sinn, dass ich beinahe nach Luft schnappe.
Bitte hilf mir, es wiedergutzumachen.
Etwas in mir verhärtet sich. Ich sage nichts, weil ich weiß, dass es verrückt ist, bevor die Idee in meinem Kopf richtig Gestalt angenommen hat. Aber tief in meinem Herzen schwöre ich es mir.
Ich werde die Rubab zurückbekommen.

KAPITEL 3
Am nächsten Tag habe ich immer noch keine Lösung gefunden. Ich weiß, wann, wo und wie die Rubab gestohlen wurde. Ich weiß, wie der Dieb aussah. Doch ich weiß nicht, warum. Was will er mit einer gestohlenen Rubab? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie spielen will. Ich kann mir nur vorstellen, dass er sie verkaufen möchte.
Ich gehe in der Schule aufs Jungenklo, während ich mir weiter den Kopf zerbreche. In Afghanistan hätte er sie wahrscheinlich auf dem Markt einer anderen Stadt angeboten. Aber hier gibt es solche Märkte nicht – jedenfalls habe ich noch keinen gesehen.
Alle Klokabinen sind mit Graffiti beschmiert, nur in den letzten beiden ist kaum mehr was zu sehen, weil die Schmierereien erst kürzlich weggeschrubbt wurden. Ich schlüpfe in die hinterste Kabine und lasse den Blick über die Worte Ms Nolan ist scheiße! gleiten. Nachdem ich fertig bin, höre ich, wie sich die Tür zum Klo öffnet und zwei Jungs in meinem Alter hereinkommen.
Ich gehe zum Waschbecken, ohne in ihre Richtung zu sehen. Sie beachten mich nicht mehr als die Fliesen an der Wand.
»Pete hat diesmal richtig Ärger«, sagt ein Junge. Seine Haut ist ein bisschen dunkler als meine und sein Haar etwa zweieinhalb Zentimeter kürzer, er hat eine Stoppelfrisur. »Der Pfandleiher hat sein Bild sofort wiedererkannt.«
»Ich hab aber gehört, dass es Jim war, der den Armreif gestohlen hat«, wirft der andere, kleinere Junge ein. »Er hat Pete nur gesagt, dass er ihn verkaufen soll, und Pete hat’s gemacht, ohne überhaupt zu wissen, dass der Armreif Ms Nolan gehört!«
Ich trockne mir langsam die Hände mit einem Papierhandtuch, während in meinem Kopf ein Gedanke den anderen jagt. Pfandleiher? Ist das ein Ort, an dem Leute gestohlene Sachen verkaufen können?
»Na ja, Jim hat ihn nicht dazu angestiftet, das alles zu machen«, gibt der erste Junge zurück und lacht. Im Spiegel sehe ich, wie er auf die Graffiti an den Kabinen zeigt.
Ich trete raus auf den Gang und überprüfe meinen Stundenplan, nur um sicherzugehen, wo ich hinmuss. Als Nächstes habe ich Lerngruppe, das heißt, dass man mich in der Bibliothek erwartet. Ich mache mich auf den Weg dorthin und wiederhole das neue Wort in meinem Kopf: Pfandleiher, Pfandleiher.
Meine Mitschüler begrüßen sich lauthals über den Gang oder scharen sich um Spinde. Am Ende des Gangs fangen ein paar Schüler an zu schreien. Eine Prügelei. Ich halte mich raus und verschwinde in die Bibliothek.
Ich setze mich an einen freien Computer. Es ist immer noch ein aufregendes Gefühl – der muffige Geruch von Büchern und Teppichen, eine Internetverbindung, die sich mühelos aufbaut und tatsächlich funktioniert. Ich habe kaum Zeit, die Notiz-App meines Handys zu öffnen, bevor eine Liste mit Suchergebnissen für Pfandleiher erscheint.
Wie sich herausstellt, ist eine Pfandleihe ein Laden, in dem man Sachen für Geld verkaufen kann. Einem Artikel zufolge werden auch gestohlene Waren bei Pfandleihern verkauft – das ist eins der Risiken, die Ladenbesitzer eingehen, wenn sie Sachen kaufen. Es ist also durchaus möglich, dass unsere Rubab in so einem Laden gelandet ist.
Ich nehme eine Kartensuche vor und finde in der Bostoner Gegend etwa vierzig Pfandleiher. Ein wenig verliere ich den Mut. Aber das ist schon mal etwas – mehr, als ich heute Morgen hatte. Ich tippe die Adresse, die am nächsten ist, in mein Handy.
Jemand sitzt am Nachbarcomputer, aber ich schaue nicht rüber und er sagt nichts. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er Tetris aufruft und zu spielen anfängt.
Als ich die Adressen der ersten zehn Pfandleiher eingetippt habe, stecke ich das Handy in meinen Rucksack. Mein Manchester-United-Schlüsselanhänger hängt am Reißverschluss. Das Metall ist gold-rot bemalt. Das Wappen eines gekrönten Löwen dreht sich in der Mitte. Baba kaufte ihn mir, als ManUnited letztes Jahr Liverpool schlug. Und plötzlich fällt mir ein: Gestern war das Champions-League-Finale. Baba und ich haben es völlig vergessen!
Ich öffne einen Tab und tippe etwas in die Suchmaske. Wenn Manchester United gewonnen hat, fühlt sich Baba vielleicht ein bisschen besser. Dann kann ich wenigstens etwas über das Spiel lesen und ihm heute Abend alles darüber erzählen.
Ich öffne den ersten aufgelisteten Artikel und sofort erscheint die fett gedruckte Schlagzeile:
Finaler Fauxpas:
Erbärmliche Elfmeter kosten United den Champions-League-Sieg.
Als ich den Artikel überfliege, kann ich mir ein Stöhnen kaum verkneifen. Während ich durch die Seite scrolle, wird automatisch ein Video abgespielt und ich höre auf zu lesen und schaue mir den Bericht an. Es ist der Elfmeter. Der Manchester-Spieler bereitet den Schuss vor, mit dem sie das Spiel hätten gewinnen müssen. Aber während er noch ansetzt, weiß ich schon, was er tun wird. Er schießt immer in die rechte Ecke – ich weiß es; der Torwart weiß es. Auch diesmal ist es nicht anders. Der Torwart fängt den Ball mühelos ab und so einfach haben sie verloren.
Diesmal stöhne ich wirklich auf und reibe mir frustriert mit einer Hand übers Gesicht. Ich murmele: »Er hätte zumindest versuchen sollen, den Torwart zu täuschen.«
»Ja«, sagt der Junge neben mir. »Das war übel.«
Ich schrecke auf. Mir war nicht aufgefallen, dass er auch meinen Bildschirm betrachtete. Der Junge hat eine gegelte Igelfrisur und trägt ein T-Shirt mit drei gelben Dreiecken vorne drauf. Er starrt immer noch auf das Video, als es von Neuem abgespielt wird.
Er fügt hinzu: »Ich hätte es auf jeden Fall mit einem Panenka-Heber probiert. Das hätte den Sieg bringen können.«
Ein Panenka-Heber ist ein ziemlich gewagter Trick, bei dem der Spieler den Torwart dazu bringt, sich nach rechts oder links zu bewegen, und dann den Ball in die Mitte schießt. Als ich mir das Video noch einmal ansehe, erkenne ich, wie es hätte klappen können. »Das hätte hingehauen. Siehst du?« Ich zeige auf einen Moment, als der Torwart sich leicht zur Seite dreht. »Er wäre nach rechts gesprungen und dann hätte er den Ball nicht abpassen können.«
Der Junge blickt beeindruckt. »Hey, haben wir nicht Englisch zusammen?«
Auf einmal kommt er mir irgendwie bekannt vor. Ich nicke.
»Cool. Spielst du …?«
Bevor er den Satz fertig sprechen kann, lässt sich jemand auf den Stuhl auf seiner anderen Seite plumpsen und stupst ihn. Leise flüstert ihm der Neuankömmling zu: »Hey, Dan, was machst du nach dem Training?«
Während mein Computernachbar – Dan – abgelenkt ist, schnappe ich meinen Rucksack, melde mich am Computer ab und schlüpfe aus der Bibliothek. Es fällt ihm nicht einmal auf.
Auch wenn es irgendwie nett war, mit jemandem über Torschuss-Strategien zu sprechen, fühle ich mich allein wohler. Außerdem habe ich etwas Besseres zu tun – ich habe eine Liste mit Pfandleihern.
Und das bedeutet, ich habe einen Plan.

KAPITEL 4
In der darauffolgenden Woche nutze ich die Zeit nach der Schule, um nach der Rubab zu suchen, während Baba bei seiner neuen Arbeit ist. Bisher war ich bei sechs von vierzig Pfandleihern, habe aber noch nichts gefunden. Mein Plan fühlt sich langsam wie ein hoffnungsloser Fall an, doch er ist mein einziger Anhaltspunkt. Heute ziehe ich von Roxbury los, um Reed Jewelers und Pawnbrokers in der Nähe der Bahnstation Ruggles aufzusuchen. Ich überprüfe, ob meine Bahnfahrkarte – Charlie Card, wie sie in Boston heißt – in meiner Hosentasche ist, und überquere den Parkplatz in Richtung Straße. In der Nähe des Basketballplatzes und der Bushaltestelle versammeln sich Schüler in kleinen Gruppen.
Eine Gruppe Siebtklässler spielt eine lockere Partie auf dem Spielplatz. Sie haben auf beiden Seiten das Tor mit zwei Limodosen markiert. Der größte Spieler bewegt sich mühelos um die gegnerische Mannschaft herum – selbst in der kurzen Zeit, in der ich an ihnen allen vorbeilaufe, sehe ich, wie er ein Tor nach dem anderen schießt. Der Junge aus meinem Englischkurs – Dan – spielt in der Verteidigung, schlägt sich aber nicht besonders gut.
Ich überquere den Parkplatz und mein Magen knurrt. Gestern war der erste Tag des Ramadan. Weil ich erst zwölf bin, muss ich eigentlich nicht fasten – in Kandahar hätte ich jedoch schon mit zehn angefangen, mich langsam daran zu gewöhnen. Baba und ich waren während unserer Reise davon freigestellt, daher scheint es mir wichtig, diesmal daran teilzunehmen. Außerdem hoffe ich, Baba den Verlust der Rubab ein wenig erträglicher zu machen, indem ich dieser Tradition mit ihm folge und etwas von zu Hause in unser Leben hier bringe.
Ich habe seit kurz vor dem Morgengrauen nichts mehr gegessen oder getrunken und werde bis zum Sonnenuntergang nichts zu mir nehmen. Es ist erst 15:10 Uhr, bis zum Fastenbrechen – Iftar – sind es also noch fünf Stunden.
Heute ist der schwierigste Tag, rede ich mir ein. Vielleicht ist es morgen einfacher.
»Hol ihn!«, schreit jemand. »Fang ihn ab, bevor er auf die Straße rollt!«
Die Fußballspieler stürmen dem Ball hinterher. Er rutscht ein paar Meter rechts von mir auf mich zu. Ich laufe hin, um ihn abzufangen, stoppe und kicke ihn über den Kopf des hochgewachsenen Jungen im Angriff.
Der Ball springt einmal auf und landet vor Dans Füßen, der ein überraschtes Gesicht macht. Der große Junge wirft mir einen bösen Blick zu, als er sich wegdreht, und alle Verteidiger folgen ihm mit den Augen. Doch Dan schaut immer noch zu mir und ich zeige aufs Tor. Dan kapiert es, dreht sich um und schießt den Ball in die unbewachte Öffnung. Er knallt gegen den Maschendrahtzaun.
»Ja!«, schreit Dan und stößt die Faust in die Luft.
»Zählt nicht!«, sagt der große Junge über das Geschrei der jubelnden Mannschaft hinweg. »Der Ball war im Aus!«
Grinsend gehe ich weiter. Kaum habe ich drei Schritte gemacht, als jemand meinen Namen ruft. Ich drehe mich um, überrascht, dass mich überhaupt jemand kennt.
»Hey, Sami!«
Es ist Dan. Ich zögere, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob ich warten oder wegrennen soll. Mehrere Spieler beobachten, wie Dan auf mich zujoggt, und meine Brust zieht sich zusammen. Dass mich alle ansehen, bringt meine Hände zum Schwitzen.
Ich drehe mich weg, aber Dan hat mich schon fast eingeholt. »Hey, warte, Sami!«, ruft er. »Moment!« Dann tippt er mir auf die Schulter. Ich habe keine andere Wahl, als ihn anzusehen.
Der große Junge legt die Hände um den Mund. »Haust du einfach ab, Dan? Das Spiel ist noch nicht vorbei!«
»Ich muss sowieso los!« Dan winkt ihm zum Abschied zu. »War nur ein spontanes Spiel«, erklärt er mir. »Meine wirkliche Mannschaft spielt im Freizeitzentrum. Also, das war der Hammer! Perfekter Pass!«
Seine Begeisterung ist überschwänglich und sehr laut. Da ich nicht weiß, wie ich reagieren soll, stehe ich einfach nur da und schweige.
Er holt nicht einmal Luft. »Bolzt du gerne?«
Fußball spielen, übersetzt mein Hirn.
»Oh«, sage ich. »Ja, schon.«
»Bist du gut?«
»Ja«, antworte ich noch einmal, obwohl es schon eine Weile her ist, seit ich das letzte Mal gespielt habe. »Glaub schon.«
»Ich spiele in einer Mannschaft im Freizeitzentrum. Dort gibt es eine Turnhalle und wir trainieren das ganze Jahr. Wir haben gerade einen Spieler verloren und ich bin auf der Suche nach jemandem für den Angriff. Spielst du im Angriff? Stürmer vielleicht?«
Ich blinzle. Er spricht unglaublich schnell, aber ich glaube, er fragt mich, ob ich mich seiner Fußballmannschaft anschließen will. Doch ich bin nicht hier, um Fußball zu spielen. Ich will einfach nur unauffällig bleiben. Büffeln. Die Rubab finden. Sich um seinen eigenen Kram kümmern ist die wichtigste Überlebensstrategie, wenn man ständig in Bewegung ist.
Nur sind Baba und ich nicht mehr in Bewegung.
»Ähm, vielleicht.« Ich entferne mich von ihm. »Aber ich muss jetzt … wohin. Roxbury-Crossing-Bahnstation.«
»Gehst du zu Fuß?«, fragt er und folgt mir. »Die Turnhalle ist auch in der Richtung. Ich zeig sie dir.«
Ich will die Turnhalle nicht sehen. Ich will bloß die Rubab finden. Leider fällt mir keine gute Ausrede ein – eine, die ihn nicht noch neugieriger macht – und dann mustert mich Dan irgendwie komisch.
»Okay«, sage ich und bemühe mich, ruhig zu klingen. »Okay, ja, geh voran.«
»Cool.« Er macht mit beiden Händen das Daumen-hoch-Zeichen.
Dan schlendert mit erhobenem Kopf und hängenden Schultern den Bürgersteig hinunter. Ich versuche, es ihm nachzutun. Aber er läuft, als würden die Straßen ihm gehören, und ich laufe wie – na ja, auch, als würden sie ihm gehören.
»Und, wo kommst du her, Sami?«
»Afghanistan«, antworte ich und warte darauf, dass er mir mitteilt, was er von meinem Land hält. Er ist Amerikaner und alle Amerikaner haben eine Meinung über Afghanistan.
»Echt? Du bist bestimmt froh, dass du entkommen bist. Mein Dad war dort im Einsatz. Er meinte, es wäre …« Dan wirft mir einen Blick zu und grinst. »Na ja, er meinte, es wäre dort nicht so toll.«
Ich denke an die Zeit zurück, bevor sich alles veränderte, als die Familie während Stromausfällen beim Licht einer Petroleumlampe zu Abend aß und Baba im Flüsterton Melodien auf der Rubab zupfte, für den Fall, dass einer unserer Nachbarn ein Taliban-Sympathisant war. Die Taliban erklärten Musik für illegal und sogar die Ankunft ausländischer Streitkräfte hielt sie nicht immer davon ab, Leute anzugreifen, die ihre Regeln brachen. Damals war alles ein wenig aufregend. Das Gefühl, dass unsere Familie, unsere Lieder ein Geheimnis waren, hatte etwas Aufregendes.
Das war alles vor der Hochzeit.
Ich möchte Dan erklären, dass sein Vater unrecht hat und es in Afghanistan wunderschöne Berge und blaue Himmel gibt und mehr Sterne, als man an irgendeinem Ort auf dieser Seite der Welt sehen kann. Dieses Afghanistan – in dem man nicht jeden Tag ein klein wenig seine Familie verliert, in dem man nicht in Furcht davor lebt, die Taliban auf sich aufmerksam zu machen – existiert jedoch außerhalb meines Herzens eigentlich nicht mehr. Ich wusste nicht, wie ich das Leuten im Iran, in Griechenland oder in der Türkei erklären sollte, und ich weiß auch nicht, wie ich es Dan erklären soll.
Es wäre einfacher, wenn ich die Rubab hätte. Dann könnte er es einfach hören.
»Dein Dad ist also Soldat?«, frage ich stattdessen.
»Jep. Er ist beim Militär.« Dan legt die Hände um den Mund und schreit ein paar Tauben an: »HOOAH!«
Die Tauben fliegen in alle Richtungen und Dan lacht. Ich sehe mich um, ob irgendjemand auf uns aufmerksam geworden ist, aber offenbar interessiert es keinen.
»Da ist die Turnhalle.« Dan zeigt auf ein graues Gebäude. »Magst du mit reinkommen?«
Die Halle ist von einem hohen Maschendrahtzaun mit einem Abschluss aus Stacheldraht umgeben. Ich berühre die Narbe an meinem Arm und werfe dann einen Blick auf mein Telefon: Viertel nach drei. Obwohl der Pfandleiher erst um fünf schließt, erwidere ich: »Oh, ich kann nicht. Ich muss los. Tut mir leid.«
»Wow, das ist dein Handy?«, entfährt es Dan, während er meinen Bildschirm antippt. »Sieht wie mein erstes Handy aus und das hatte ich vor Jahren. Hast du irgendwelche coolen Apps?«
Ich blicke von ihm zum Handy. Damit kann ich Nachrichten verschicken und erhalten, und wenn ich kostenloses WLAN finde – oder wir auf unserer Reise für zusätzliches Datenvolumen zahlten –, kann ich die Karten-App benutzen. Für mehr brauchten wir es nicht. »Ähm … nein.«
Dan holt seins heraus. Es ist dünner als ein Bleistift, knallgrün und glänzt teuer. Ich weiche zurück, als könnte ich es versehentlich kaputt machen, indem ich es nur anschaue.
»Also«, sagt Dan, während er durch seinen Bildschirm scrollt und mir dann seinen Terminkalender zeigt. Die einzigen darin eingetragenen Termine finden sich unter: FUSSBALL!! »Magst du morgen nach der Schule mitkommen?«
»Vielleicht. Aber ich muss jetzt los.«
»Wo gehst du eigentlich hin?«, fragt er.
Ich zögere, aber außer der Wahrheit fällt mir nichts ein. »Jemand hat das Instrument meines Babas gestohlen. Ich suche bei Pfandleihern danach.«
»Pah, ich glaub nicht, dass du es dort finden wirst.« Dan schaut auf sein Handy und fängt an zu tippen. »Was für ein Instrument ist es denn?«
Ein wenig verärgert, dass er eine SMS schreibt, antworte ich einfach: »Eine Rubab.«
»Rhabarber?«
»Nein … Es ist ein afghanisches Instrument. Eine Art Laute.«
»Ähm … Okay, wie schreibt man das?« Während ich es buchstabiere, tippt und wischt er. »Dasselbe ist Pater Steve passiert – er ist der Pfarrer meiner Kirchengemeinde. Seine Gitarre wurde gestohlen. Ist auf eBay wiederaufgetaucht. Und …« Er hält mir den Bildschirm hin. »Ist sie das?«
Ich blicke erstaunt. Das Bild einer Rubab ist zu sehen. Er hat keine SMS geschrieben – er hat gesucht. Während ich zögerlich nach dem Telefon greife, frage ich: »Kann ich mal sehen?«
Dan überlässt mir das Handy. Ich halte es so vorsichtig wie möglich, während ich durch die Bilder klicke. Sie sind gestochen scharf, mit einer guten Kamera vor einem sauberen weißen Hintergrund fotografiert. Sofort weiß ich, dass es Babas Rubab ist – sie hat eine blau-weiß-rote Quaste und ein sternförmiges Muster. Ich kann es kaum fassen, dass Dan sie so schnell gefunden hat. Ich suche schon seit einer Woche!
»Das ist unsere!«, entfährt es mir. Ich hebe den Kopf und sehe ihm zum ersten Mal in die Augen. »Wie bekomme ich sie zurück?«
»Lass mich mal schauen.« Dan nimmt das Handy und tippt. »Der Anbieter hat anscheinend einen Laden in Cambridge. Die Adresse steht auf seinem Profil. Hier, ich kann sie dir auf dein Handy schicken.«
Ich gebe ihm meine Nummer und ein paar Sekunden später pingt mein Telefon. Aus Gewohnheit neige ich den Kopf mit der Hand auf dem Herzen. »Danke!«
»Kein Problem.« Dan grinst und macht es mir nach, die Hand auf dem Herzen. »Bis morgen.«