Fastenpredigt in Unterfilzbach 

Krimikomödie

  

Eva Adam

  




Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

  

Impressum


Deutsche Erstausgabe
Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

   

Cover: Michael Schubert

    

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.

    

ISBN E-Book: 978-3-95835-338-1

    

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.



 

 

In tiefer Freundschaft

für

Elke & Karin

und Marie

Hello again

  

»Hello again, isch sag einfach hello again …«, trällerte Hansi Scharnagl aus voller Kehle im absoluten Schlagertaumel.

Es war eine große Freude gewesen, als der bekennende Schlagerfan von seiner Frau Bettina zu Weihnachten zwei Karten für das große Schmachtfetzen-Festival in der bayerischen Hauptstadt überreicht bekommen hatte. Lieder, die das Herz berühren – der große Schlagerabend für Herzensbrecher las Hansi auf den Eintrittskarten und war den Tränen nahe. Dabei hatte Bettina dieses Geschenk nicht ohne Hintergedanken ausgewählt. In den letzten Monaten war Hansi im totalen Helene-Fischer-Wahn und das ging seiner Familie inzwischen dermaßen auf die Nerven, dass die erstgeborene Scharnagl-Tochter Isabelle ihre Mutter hochoffiziell auf die nicht mehr auszuhaltende heimische Wohnsituation aufmerksam machte.

»Mama, wenn du dem Papa jetzt nicht bald dieses ewige saudumme Atemlos verbietest, dann zieh ich aus. Den ganzen Tag dasselbe Lied, das ist ja der reinste Psychoterror.«

Bettinas und Hansis einziger Sohn, Hansi junior, war in Sachen Geduld eigentlich recht stoisch. Aber sogar er wäre für eine Abwechslung in der Musikauswahl seines Vaters dankbar gewesen.

»Also da hat Isa ausnahmsweise mal echt recht, Mama. Ich pack das auch bald nimmer. Wie soll ich mich denn da auf meine Gesellenprüfung konzentrieren? Du weißt ja, wie blöd ich das Lernen eh schon find«, seufzte der Stammhalter und angehende Elektriker am Frühstückstisch bei der Helene-Fischer-Krisensitzung, die Isabelle anberaumt hatte.

Das Nesthäkchen Indira trat dieser ziemlich anstrengenden und nervigen Situation recht pragmatisch entgegen. Sie war seit Wochen daheim nur noch mit Kopfhörern unterwegs, die sie mit ihrer eigenen Musik aus ihrem Handy beschallten. Aber auch die Sechzehnjährige sah in der Atemlos-Dauerschleife im Scharnagl’schen Zuhause ein Problem, das beseitigt werden musste. Letztendlich hatte dann auch die blitzgescheite Indira die hoffentlich rettende Idee.

»Wir müssten ihm einfach neue Eindrücke verschaffen. Papa müsst vielleicht selber sehen, was es sonst noch so an anderen Schnulzensängern gäb. Schau mal in die Zeitung, Mama, da stehen doch immer Konzerttipps. Vielleicht gehst mit ihm mal auf ein Festival, aber mit mehreren verschiedenen Künstlern. Auch wenn wir dann am Ende statt Helene noch ständig diese Andrea Berg in den Wascheln haben. Aber wenn es schon Schlager sein muss, dann wenigstens nicht immer nur ein einziges Lied.«

So war die Idee vom manipulativen Weihnachtsgeschenk für das Familienoberhaupt geboren.

  

Und so standen Hansi und sein Zuckerschoaserl Bettina nun zusammen mit weiteren 14.998 Besuchern mittleren Alters in der ausverkauften Olympiahalle. Dicht gedrängt in der dritten Reihe vor der Bühne lauschten sie gerade den ganz großen Hits von Howard Carpendale.

»Mei Bettina, hör mal, wie der singen kann. Diese Leidenschaft und dieses G’fühl. Ist das nicht schön?« Hansi war hin und weg von dem blonden Schmachtsänger mit der frischen Föhnwelle.

»Aber freilich, mein Bärle, wunderbar«, gab Bettina ihrem geliebten Ehemann recht. Bettina war ein sehr harmoniebedürftiger Mensch.

Hansi kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Links und rechts neben ihm waren lauter aufgebrezelte, fast hysterische Frauen mittleren Alters, die beim Anblick des blonden Hünen im Scheinwerferlicht total auszuflippen schienen. Die durchaus attraktive und sehr elegante Frau neben Hansi, die vermutlich im echten Leben als Anwältin oder Ärztin absolute Souveränität ausstrahlte, war so was von aus dem Häuschen, dass sie tatsächlich ihren BH auszog und auf die Bühne warf. Dem Konzertbesucher Scharnagl fiel die Kinnlade herunter. Bei genauem Hinschauen stellte Hansi fast ein wenig schockiert fest, dass sie nicht die einzige BH-Werferin war. Das gab es wirklich und tatsächlich? Bisher hatte der Unterfilzbacher Schlagerfan ja geglaubt, das wäre nur ein Gerücht, das die Manager der Stars gerne verbreiteten, um ein wenig den Fantrubel anzukurbeln.

Das ist ja auch irgendwie lustig, musste Hansi schmunzeln. Der Howie muss sich bei der Arbeit mit Unterwäsche von hübschen Frauen bewerfen lassen. Da gab es jetzt wirklich Schlimmeres, fand Hansi. Ein breites Grinsen huschte ihm über das ganze Gesicht, als seine Fantasie zu diesem Gedanken sofort das passende Kopfkino bot: Hansi sah sich an einem heißen Sommertag selbst auf dem Bauhof-Aufsitzrasenmäher »Gras-Killer 4.0« sitzen. Er mähte mit nacktem, braungebranntem, leicht muskulösem Oberkörper den Rasen am Unterfilzbacher Badeweiher. Die Realität in Bezug auf den Oberkörper sah allerdings drastisch anders aus. Im selben Moment schlenderte die scharfe blondgelockte Elke, die von der Männerwelt angeschmachtete Sprechstundenhilfe beim Zahnarzt Dr. Herzinger, in einem ultrakurzen Sommerkleidchen vorbei. Als sie Hansi auf dem Rasenmäher erblickte, kam sie augenblicklich genauso in Wallung wie gerade eben die attraktive Anwältin neben Hansi und warf ihm einen roten Spitzen-Stringtanga, der quasi nur aus Schnürl bestand, direkt an den Kopf. Das Grinsen in seinem Gesicht wurde tatsächlich noch breiter. Allerdings schlug Hansi sofort auch wieder in der Realität auf, als im Kopfkinofilm hinter der scharfen Elke nun die fast siebzigjährige Dorfratschn Berta Hinkhofer ebenfalls am Badeweiher vorbeiwatschelte und Hansi nun wohl auch in ihr ein loderndes Feuer der Leidenschaft entfachte. Er zuckte direkt zusammen, als er gedanklich von Bertas alter Miederhose circa aus dem Modeherbst 1954 getroffen wurde. Das war fast wie eine gefühlte Watsch’n!

Wieder zurück in der Wirklichkeit musste sich Hansi, der nebenbei bei der Unterfilzbacher Feuerwehr ehrenamtlich als Oberlöschmeister im Einsatz war, erst einmal schütteln, ließ sich aber sofort wieder von Howie und seiner beeindruckenden Pyrotechnikshow auf der Bühne in seinen Bann ziehen.

So ausgelassen hatte Bettina ihren Gatten schon lange nicht mehr gesehen. Er tanzte und hüpfte, bis sein Hemd klatschnass geschwitzt war. Bettina war heilfroh, dass ihre drei Kinder nicht mitgekommen waren, denn ihr Vater wäre ihnen wieder einmal furchtbar peinlich gewesen.

Außer Howard Carpendale waren auch noch die Spider Murphy Gang, Roland Kaiser und die Münchner Freiheit im Staraufgebot des Schlagerabends. Bettina geriet beim Auftritt der Spider Murphy Gang dann doch auch ein wenig in Wallung. Das hatte wenigstens Pep. »… unter 32-16-8 herrscht Konjunktur die ganze Nacht …«, sang nun auch Frau Scharnagl lautstark mit.

»Das waren noch Texte! Da konnte man sich wenigstens was drunter vorstellen«, schrie Bettina begeistert ihrem Mann ins Ohr, denn die Lautstärke war schon extrem.

Sie war wirklich ein Kind der Achtziger und der Neuen Deutschen Welle. Da waren deutsche Lieder, logischerweise, auch sehr angesagt gewesen und hatten wenigstens eine Aussage, fand Bettina. Sie erinnerte sich sehr gerne an 99 Luftballons, Karl der Käfer oder Major Tom. Den Sinn von Liedern wie Tretboot in Seenot oder Da Da Da hingegen hatte sie noch nicht durchschaut. Wenn Bettina etwas nicht leiden konnte, dann waren es sinnlose, blöde Liedtexte. Bei den englischsprachigen Liedern, die im Radio tagein, tagaus gespielt wurden, war das nicht wirklich ein Problem, denn Englisch war nicht unbedingt Bettinas Stärke. Aber dieser neue Trend, wieder deutsch zu singen, war Bettina ein Graus. Wenn sie das schon hörte – Ich lass für dich das Licht an oder Ich und mein Holz –, da stellten sich bei Bettina sofort alle Haare auf und sie wechselte automatisch im Autoradio den Sender auf Bayern 1. Das führte dann zu regelmäßigen Diskussionen mit ihrer jüngsten, extrem pubertierenden Tochter Indira, wenn die mit im Auto saß. Wobei, eigentlich diskutierten Bettina und ihr Nesthäkchen permanent über jedes Thema. Manchmal betete Bettina wirklich zum Herrgott, dass diese Pubertät doch bald vorbeigehen möge. Die dreifache Mutter müsste eigentlich so eine Pubertät inzwischen locker wegstecken, aber sie stellte gravierende Unterschiede zwischen ihren Kindern während dieser Zeit des Erwachsenwerdens fest. Bei Isabelle war es vielleicht ein paar Monate mal ein bisserl anstrengend gewesen, damals konnte sich Bettina höchstens über den sehr freizügigen Kleidungsstil ihrer Erstgeborenen aufregen. Manchmal konnte man schon meinen, Isabelle wäre das tschechische Au-pair-Mädchen und wohnte normalerweise gleich hinter der Grenze in der Villa Ludmilla – der Bar für besondere Stunden.

Bei Hansi junior war die Pubertät irgendwie total ausgefallen oder kam sie bei ihrem Sohn jetzt mit neunzehn Jahren noch? Aber Indira war schon eine Herausforderung für Bettina als Mutter. Wie dem auch sei, bei der Spider Murphy Gang erinnerte sich Bettina wieder an ihre eigene Jugend und fühlte sich für ein paar Stunden wieder jung. Vor allem bei dem schnuckeligen Sänger der Band schlug ihr Herz ein wenig höher. Günther Sigl hieß er, das wusste Bettina noch. Denn früher hatte sie sehr für ihn geschwärmt. Diese Locken! So einen Wuschelkopf fand Bettina unglaublich sexy, wobei der Lockenkopf von Günther Sigl auch nicht mehr das ist, was er mal gewesen war. Mit so einer Kringelmähne hatte auch Hansi seine Bettina vor über fünfundzwanzig Jahren erobert. Damals, als er noch Haare hatte und die noch gelockt waren. Also ein paar Haare hatte Hansi ja auch noch, aber es wurde schon recht überschaubar an manchen Stellen. Die Resthaare versuchten sich so krampfhaft an Hansis Kopfhaut zu klammern, dass sie wohl keine Kraft mehr hatten, um sich noch zu kringeln. Denn die ganze Lockenpracht war leider auch verschwunden. Überhaupt hatte sich Hansi schon verändert, fand Bettina, vor allem in letzter Zeit. An diesem Abend stellte sie so manche neue Eigenart an ihm fest und bemerkte, dass sie nicht nur im Musikgeschmack auseinandergedriftet waren. Früher hatten sie da doch noch relativ viele Gemeinsamkeiten gehabt, aber Hansi schien total auf diese recht oberflächliche Schnulzenschiene mit allem Drum und Dran abzufahren. Das fand Bettina nicht wirklich gut. Aber sie hatte ja schließlich eine Mission zu erfüllen am heutigen Abend und diese war wohl geglückt. Helene war hoffentlich nun nicht mehr ständig Atemlos – daheim bei den Scharnagls. Jedoch kam bei Bettina bereits auf der Heimfahrt der leise Verdacht auf, dass Hansi zwar seine Helene etwas in den Hintergrund stellen würde, sie aber nun wohl ein neues Problem hatten: Howie. Wie man auf Bayerisch so schön sagt – Deife dauscht, den Teufel getauscht.

»Also weißt, mein Zuckerschoaserl, ich wusste ja gar nicht, dass man in diesem Alter noch so eine Ausstrahlung haben kann. Das ist vielleicht ein Mann! Findest nicht? Jetzt sag a mal selber, Bettina, findest du den Howard Carpendale nicht unglaublich attraktiv?«, fragte Hansi.

»Mei, Bärle, ja, der is schon ganz nett. Aber mein Typ wär das jetzt nicht unbedingt. Der ist mir echt zu schmalzig«, antwortete Bettina, wie immer sehr ehrlich.

»Findest du? Geh, der ist doch super. So lässig. Weißt, wie ich mein? Dem laufen die Frauen in Scharen nach. Hast du gesehen, wie viele BHs die Weiber da auf die Bühne geworfen haben?«, schwärmte Hansi weiter.

Bettinas Gatte hatte sich nach dem Konzert am Merchandising-Stand von Herrn Carpendale noch eine Doppel-CD mit seinen größten Hits erstanden. Sogar signieren hatte er sie lassen. Von seinem neuen Idol ganz persönlich. Da war ihm die Warteschlange, die er normalerweise absolut verabscheute, mit circa vierzig aufgekratzten Frauen im zweiten Frühling tatsächlich nicht zu lang gewesen. Für Hansi von Howie – stand mit schwarzer Eding-Farbe über das ganze Cover gekritzelt. Von da an war Bettina klar, dass dieses Weihnachtsgeschenk zwar die Helene zum Schweigen gebracht hatte, aber nun hatten sie Howie mit heim genommen.

Ein wenig geschockt von Hansis überdurchschnittlicher Begeisterung, die er auch bei der Heimfahrt noch sehr enthusiastisch versprühte, versuchte Bettina ihren Mann zu zügeln, indem sie ihn auf die winterlichen Straßenverhältnisse aufmerksam machte. Sogar in München schneite es, und der Schnee wurde auf dem Nachhauseweg nicht weniger. Da Hansi ein schrecklich ängstlicher Beifahrer war, überließ er seiner Frau eher selten das Steuer. Es sei denn, Bettina musste ihn zu späterer Stunde irgendwo in fahruntauglichem Zustand abholen. Dann durfte sie gerne sein Heiligtum, den blauen Opel Astra Kombi, heimlenken.

  

Daheim – das war im beschaulichen Unterfilzbach. Ein kleines Dorf, wie es noch zahlreiche andere im schönen Bayern gab. Jeder kannte jeden, es gab Dorftratsch, eine hilfsbereite, patente Feuerwehr, einen zünftigen Stammtisch beim Dorfwirt samt Schafkopfrunde, eine Biogasanlage, eine traditionelle Dorffeindschaft mit den Nachbarn aus Oberfilzbach und einen gemeindlichen Bauhof, in dem Hansi beschäftigt war. Der Bauhof genoss in den meisten Dörfern und Gemeinden nicht den allerbesten Ruf. Das war allerdings in Unterfilzbach anders. Aber auch erst seit Hansi, sein bester Freund Sepp und ihre Bauhofkollegen im vergangenen Herbst gemeinsam einen Mörder in die Falle gelockt hatten. Seitdem war das Ansehen dieser kommunalen Einrichtung und seiner Bediensteten im Dorf deutlich gestiegen. Hansis neurotischer Chef, Ludwig Hackl, den jeder nur Wiggerl nannte, fühlte sich zwar maßgeblich für den Imagewandel sowie das legendäre Geschehen damals im Bauhof verantwortlich, obwohl er in Wahrheit nicht gerade die Tapferkeitsmedaille dafür verdient gehabt hätte. Jedoch wussten die Unterfilzbacher Bürger aus verschiedenen Erzählungen sehr genau über die Heldentat Bescheid. Es war bekannt, dass der mutige Hansi für die Aufklärung des Mordes an der Metzgereifachverkäuferin Sandra federführend gewesen war. Hansi war zwar vorher auch nicht unbeliebt gewesen, doch nun wurde er plötzlich hoch angesehen, geradezu hofiert. Er war einfach ein Held. Artikel in den Regionalzeitungen und Interviews im Lokalradio taten ihr Übriges, um Glanz und Gloria über Johann Scharnagl »auszuschütten«.

Dies war für Hansis Selbstbewusstsein wie eine Initialzündung. Eigentlich war er eher ein bescheidener Typ – früher. Aber nun behandelten ihn plötzlich alle sehr zuvorkommend, sogar die eher bissige und gefürchtete Dorfratschn Berta Hinkhofer. Anfangs freute sich Bettina für ihren Mann, endlich kam er ein wenig aus sich heraus. Inzwischen war ihr sein neues, fast selbstverliebtes Verhalten aber eher ein zuwider. Der ehemals sehr zufriedene, fast unscheinbare Hansi dachte nun wohl, er sei der Mittelpunkt von Unterfilzbach, fand Bettina. Das fing morgens schon an. Inzwischen brauchte er fast länger im Bad als seine immer topgestylte Tochter Isabelle.

Isa legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres, schon von Berufs wegen. Die gelernte Friseurin machte im Moment eine Fortbildung zum Make-up-Artist. Lange hatte sie dafür gespart. Und nun fuhr sie die Woche über nach München und besuchte den fünfmonatigen Vollzeitkurs. Das hatte allerdings zur Folge, dass ihr das Trinkgeld und natürlich das Gehalt aus ihrer Anstellung in Karins Friseur Stüberl fehlten. Deshalb schnitt sie am Wochenende allen möglichen Menschen aus Unterfilzbach die Haare, quasi in Heimarbeit. Und der Vater der Unterfilzbacher Stilikone machte nun den Anschein, als würde er ihr in Sache Styling nacheifern wollen.

Die täglichen Aufgaben im Bauhof waren meistens mit allerhand Schmutz verbunden, was Hansi früher nicht im Geringsten gestört hatte. Seit Neuestem musste seine orangefarbene Arbeitslatzhose aber immer frisch und ohne jeglichen Fleck sein. Also musste er täglich eine frische anziehen, denn bei Kanalarbeiten oder Ähnlichem konnte die leuchtende Hose schon auch mal beschmutzt werden. Bettina hatte seither fast doppelt so viel Wäsche und war davon natürlich nicht begeistert.

Sogar Rasierwasser benutzte Hansi nun fast täglich und das, obwohl ihn Bettina früher manchmal an sein Deo erinnern musste. Wenn Bettina dann ab und zu ihrem Unmut Luft machte, entgegnete ihr Gatte nur: »Bettina, was sollen denn die Leute denken? Ich bin jetzt schließlich eine Person des öffentlichen Lebens.«

Immer öfter dachte sich Bettina innerlich, wenn Hansi wieder seine Anwandlungen hatte: Er wird langsam aber sicher a Depp.

Was Hansis Höhenflug noch zusätzlich anfeuerte, waren die Umgarnungen von verschiedenen führenden Kommunalpolitikern, die ihn zu einer politischen Karriere auf Gemeindeebene überreden wollten. In Unterfilzbach standen nämlich im herannahenden Frühjahr die Kommunalwahlen an. Der Bürgermeister und auch der Gemeinderat sollten neu gewählt werden. Die meisten Parteien oder sonstigen Gruppierungen wählten ihre Kandidaten nicht unbedingt nach politischem Können oder Befähigung aus. Manchmal zählten einfach nur die Beliebtheit und der Bekanntheitsgrad oder die Zugkraft für potenzielle Wählerstimmen. Und da war Hansi natürlich jetzt in ihr Visier gerückt. Zwar wäre er selbst niemals auf die Idee gekommen, sich für einen Sitz im Gemeinderat zu bewerben, und er lehnte bisher immer jede Anfrage ab, aber langsam kam er ins Überlegen. In letzter Zeit stand bald schon jeden Tag ein anderer Kommunalpolitiker bei den Scharnagls vor der Haustür und wollte Hansi für seine Liste gewinnen. Das gefiel Hansi sehr. Jeder schmierte ihm Honig ums Maul. Er genoss es in vollen Zügen und nahm die »Bestechungsgeschenke« – meistens in Form von Bier, Schnaps oder Wurstwaren – gerne entgegen. Schließlich war er ja – noch – kein Mandatsträger und somit galt das gar nicht als wirkliche Bestechung.

  

Wenn in Hansis Leben in den letzten Jahren Entscheidungen von diesem Ausmaß zu fällen waren, redete er entweder mit seiner Bettina darüber oder mit seinem besten Freund und Kollegen Sepp Müller. Da Hansi wusste, dass seine Frau nicht viel von einer eventuellen Politikerkarriere hielt, suchte er an diesem kalten Januarabend also das Gespräch mit seinem Spezl und fuhr einfach spontan bei ihm vorbei. Sepp lebte allein mit seinem Kater Willy in einem zauberhaften, liebevoll renovierten Haus am Ortsrand. Sepp war ein ganz besonderer Mensch. Er war belesen, intelligent, handwerklich wahnsinnig geschickt und unglaublich gutmütig. Leider war er manchmal sehr in sich gekehrt und Hansi wusste lange nicht, warum er von Zeit zu Zeit so traurig war. Aber letzten Sommer hatte sich das Rätsel ein wenig gelüftet.

Vor fast fünfundzwanzig Jahren hatte Sepp wohl die heutige Metzgereibesitzerin Maria Aschenbrenner, damals noch Hirtreiter, kennengelernt und die beiden hatten sich heftig ineinander verliebt. Das war damals in München gewesen, als Sepp noch Maschinenbau studierte und Maria einen Kurs in Buchhaltung und Steuerrecht für Mittelstandsfirmen machte. Nach drei Monaten des höchsten Glücks war Maria dann von heute auf morgen spurlos verschwunden und für Sepp brach eine Welt zusammen. Da hatte er wohl einen kleinen Knacks bekommen, der arme Sepp. Die beiden sahen sich nach langer Zeit erst in Unterfilzbach wieder, als Sepp nach ein paar geheimnisvollen Jahren wieder in seinen Heimatort zurückkehrte, um eine Stelle am Bauhof anzutreten, und überraschend hier auch Maria antraf. Maria stammte eigentlich aus einem Dorf einige Kilometer entfernt von Unterfilzbach. Als Sepp seine große Liebe dann urplötzlich in der Metzgerei Aschenbrenner wiedersah, war er wie vom Blitz getroffen. Jedoch war Maria Hirtreiter inzwischen zu Maria Aschenbrenner, der Ehefrau von Reiner Aschenbrenner geworden. Beide taten lange Zeit so, als würden sie sich nicht kennen. Erst letzten Sommer hatte sich dann endlich ein Gespräch zwischen ihnen ergeben und sie konnten über alles reden.

Bettina freundete sich zeitgleich mit Maria an, und aus dieser Informationsquelle wusste Hansi, dass wohl auch Maria sehr gelitten hatte, weil sie Sepp verlassen musste. Aber sie stellte damals in München fest, dass sie schwanger war. Leider nicht von Sepp, sondern von Reiner. Und so nahm das Schicksal seinen bisher tragischen Lauf, denn Bettina fand, dass Sepp und Maria auf alle Fälle zusammengehörten. »Man sieht förmlich die Liebe zwischen den beiden«, sagte sie immer zu Hansi.

  

Hansi durchquerte Sepps wunderbaren Gemüse- und Nutzgarten, wie ihn kein Gärtner schöner hätte anlegen können. Dem sah man jetzt im Januar seine Pracht natürlich nicht an, aber im Sommer war es das reinste Paradies hier, im Reich von Hansis bestem Freund.

Hansi klingelte an der Haustür. Als die sich öffnete, fiel er um ein Haar in Ohnmacht. Wer sonst sollte hinter der Tür stehen außer sein Sepp? Die Tür öffnete dann aber tatsächlich: Ashanti!

Ashanti war ein Endvierziger und ehemaliger Versicherungsvertreter, der eigentlich amtlich Alois Amberger hieß. Das allein war ja schon eine Ohnmacht wert, zumindest einen kleinen Schwindelanfall. Aber das war noch nicht mal das Überraschendste. Ashanti stand wahrhaftig in einem weißen, über und über mit Glitzersteinen bestickten Kleid mit wahnsinnig ausladendem Reifrock in der Tür. Dazu trug er weiße Satinhandschuhe bis zu den Ellenbogen und in seinen langen grauen Haaren war ein funkelndes Diadem drapiert. Die Frisur hätte wohl eine Flechtfrisur werden sollen. Mit verschiedenen Farbklecksen im Gesicht, die wohl ein Make-up darstellen sollten, erinnerte diese Gestalt Hansi direkt an eine schlechte Parodie der Kaiserin Sissi.

Als Ashanti sich nach dem Öffnen lasziv in den Türrahmen lehnte und mit schriller Stimme und gespieltem österreichischem Akzent quakte: »Fraaanz, Eure Majestät, komm rein!«, war Hansi sicher, das sollte tatsächlich die Kaiserin Sissi darstellen. Offensichtlich erwartete »Sissi« alias Ashanti alias Alois jemand anderes als Hansi. Denn er war mindestens genauso fassungslos wie Hansi selbst. Peinlich berührt versuchte Ashanti die Flucht zu ergreifen, jedoch verhängte sich der ausladende Reifrock im Türrahmen und er konnte weder vor noch zurück. Ein wenig verzweifelt sah er dabei aus, der Esoterik-Guru von Unterfilzbach, amüsierte sich Hansi.

Ashanti war ein selbsternannter Heiler, Yoga- und Kamasutra-Meister. Nebenbei besaß er seiner Meinung nach noch einige weitere herausragende Fähigkeiten und Talente. Angeblich war er eine Zeit lang in einem indischen Ashram gewesen und wurde dort »erleuchtet«. Ashanti war der intelligenten Indira immer schon sehr suspekt vorgekommen und sie hatte vor ein paar Monaten ein wenig in seiner Vergangenheit gewühlt. Es stellte sich heraus, dass der indische Ashram eigentlich eine niederbayerische Justizvollzugsanstalt war. Dort hatte er wegen Veruntreuung und Betrugs seines ehemaligen Arbeitgebers, einer großen bayerischen Versicherung, eingesessen. Aber die Verkaufsschulungen in Sachen Rhetorik und Kundenüberzeugung für Versicherungen aller Art waren wohl sehr lehrreich gewesen, denn Ashanti konnte wirklich eloquent und überzeugend sein. Letztes Jahr hatte er mit seinen angebotenen Kursen an der Volkshochschule die gesamte Gemeinde Unterfilzbach in ein wahres Kamasutra-Fieber versetzt.

Im Grunde aber war der Amberger Loisl ein Luftikus, der sich von heute auf morgen durch das Leben schlug. Auf die Dauer nervtötend war seine penetrant missionarische Art. Da konnte er einen wirklich in Grund und Boden reden. Furchtbar! Hansi hatte da schon so seine Erfahrungen gemacht und deshalb ging er dem grauhaarigen Esoterik-Messias lieber aus dem Weg.

Und jetzt stand der also vor ihm. Er, der angeblich allen irdischen Besitztümern abgeschworen hatte. Was ein Leichtes war, weil Ashanti quasi keinerlei Besitz mehr hatte. Ashanti stand da also als Kaiserin Sissi verkleidet in der Haustür seines besten Freundes und hing mit seinem Reifrock am Türrahmen fest. Wenn er nicht so unglaublich überrascht gewesen wäre, hätte Hansi ihm vielleicht sogar geholfen. Aber dieser Anblick war einfach zu komisch. Es war fast wie bei einem Unfall, man konnte gar nicht wegschauen.

»Hallo Hansi, ich hab’s gleich, hihi«, stammelte Ashanti verlegen, während er wie wild an seinem Unterrock zerrte.

»Servus Hansi«, war jetzt Sepps Stimme aus der Dunkelheit zu hören. Mit einem Kasten Bier in der Hand kam Sepp nun zu dieser skurrilen Szene hinzu.

»Was machst jetzt du da? Ashanti? Alles klar bei dir?« Auch Sepp schien ein wenig überrascht über den Anblick, der sich ihm in seiner Haustür bot. Endlich konnte Ashanti sich befreien und eilte schnell in das Haus zurück, dass sein Kleid nur so raschelte.

»Ähm, was ist jetzt da bei dir los, Sepp?«, wollte Hansi natürlich gleich wissen.

Als Antwort kam lediglich ein tiefes Seufzen, was Hansis Spannung auf die Auflösung jedoch nicht geringer werden ließ.

»Bist jetzt schwul geworden, weil dich die Maria nicht mag?«, wollte Hansi mit einem kleinen Witz die Stimmung ein wenig auflockern.

Augenblicklich verzogen sich allerdings Sepps Gesichtszüge und er warf seinem Bauhofkollegen einen sehr ernsten Blick zu, sodass Hansi für einen Moment sogar befürchtete, er könnte recht gehabt haben.

»Wenn du eh nur blöd daherredest, kannst gleich wieder abhauen, Scharnagl«, entgegnete Sepp ihm sehr betroffen und stapfte mit seinem Kasten Bier wieder ins Haus zurück.

Hansi vermutete, dass Sepp immer noch großen Liebeskummer hatte. Der arme Kerl. Gleich tat ihm sein Spruch über die mögliche sexuelle Neuorientierung wieder leid. Hansi folgte ihm und dem Kasten Bier.

Sepp war in der Küche und schichtete die Flaschen naturtrübes Filzer Hell wortlos in seinen Kühlschrank. In der Küche verteilt lagen überall Räucherstäbchen und LoFi-Massagestäbe. So was hatten auch die Scharnagls daheim, seit Bettina auf Yoga schwor. Das müssen Ashantis Sachen sein, dachte Hansi. Denn soviel er wusste, war Sepp nicht unbedingt ein Fan von diesem esoterischen Zeug.

»Tut mir leid, Sepp, ich hab das nicht so gemeint«, entschuldigte sich Hansi kleinlaut. »Aber jetzt sag mir bitte, was der Ashanti hier zu suchen hat.«

»Mei Hansi, ich kann halt nicht nein sagen, das weißt doch. Vor ein paar Tagen hab ich die Stille hier im Haus nicht mehr ausgehalten und bin kurzentschlossen zu einem Kurs bei der VHS gegangen – Bring positive Energie in dein Leben. Ich war dann wirklich auch besser drauf, weil so ein positiver Energiefluss hilft schon ein bisserl. War gar nicht mal schlecht, die ganze Sach’. Auf jeden Fall hat der Wiggerl den Ashanti rausgeworfen, oder vielmehr seine Hilde. Da hat er doch als Untermieter gewohnt. Also hat der mich dann so dermaßen zugetextet, bis ich gesagt hab, ja dann bleibst halt ein paar Tage da. Und jetzt ist er halt da. Ich sag dir, ich könnt ihn manchmal an die Wand klatschen.« Sepp war sichtlich genervt von seinem neuen Mitbewohner.

»Typisch! Hätt’st ihn halt gleich nicht aufgenommen«, schimpfte Hansi seinen gutmütigen Freund. »Und jetzt läuft er hier den ganzen Tag als Sissi rum?«, erinnerte sich Hansi schmunzelnd wieder an das soeben Erlebte.

»Ach, was weiß ich, der spinnt halt. Er will mit auf den Feuerwehr-Faschingsball gehen. Also, falls ich ihm bis dahin noch nicht an die Gurgel gegangen bin. Blöderweise hat er mitbekommen, dass ich den Ball als Feuerwehrkommandant organisieren muss, und er fühlt sich jetzt mitverantwortlich. Ich komm mir vor, als wenn ich verheiratet wär. Stell dir vor, er möchte, dass wir in einem Partnerkostüm gehen. Also lange pack ich den nimmer, ich sag’s dir, der geht mir so was von auf die Nerven«, klagte Sepp sein Leid über die Eigenarten Ashantis.

Aber Faschingsball war jetzt Hansis Stichwort und er wurde gleich hellhörig. »Ach, ja genau, der ist ja schon in drei Wochen. Wie war noch mal das Motto heuer? Stars und Sternchen? Da brauch ich ja noch ein Kostüm. Als was gehst du denn, Sepp?« Hansi freute sich, er war nämlich ein leidenschaftlicher Faschingsballgänger.

»Wenn ich nicht müsste, dann würd ich gar nicht hingehen, das kannst mir glauben«, antwortete Sepp melancholisch.

Er öffnete zwei Flaschen Filzer Hell und stellte sie auf den Küchentisch. Anscheinend hatte der Positive-Energie-Kurs in Sepp etwas bewirkt, denn so redselig war er sonst eigentlich nie. Sepp schüttete Hansi sein Herz aus. Über Maria, die nun doch noch mal mit Reiner eine Ehetherapie wagen wollte. Über den Sinn des Lebens und über den allgemeinen Unterfilzbacher Tratsch. Hansi freute sich darüber, denn so richtig geratscht hatten die beiden Freunde schon lange nicht mehr.

Der Redeschwall brach allerdings sehr schnell ab, als Ashanti in die Küche kam. Er hatte sich wieder in seinen gewohnten hellen Leinen-Flatterlook geworfen und war ganz der Alte. Sofort versuchte er wieder missionarisch auf Sepp einzureden, von wegen positiver Gedanken und Energiefluss und so weiter. Angeblich hatte er ein Fernstudium zum Happiness-Trainer gemacht, prahlte er. So wirklich bedrückt war die Stimmung nun auch gar nicht mehr, denn Sepp und Hansi mussten sich absolut beherrschen, um Ashanti nicht laut auszulachen. Sein Make-up à la Kaiserin Sissi hatte er nämlich im Eifer des Gefechts wohl abzuwaschen vergessen.

Rund geht’s

    

In einem Dorf war es eigentlich immer derselbe Rhythmus. Manchmal rührte sich wochenlang gar nichts und Bettina musste an ihrem Arbeitsplatz, der Kasse im Unterfilzbacher Supermarkt KaufGut, tatsächlich mit ihren Kunden über das Wetter reden. Und dann kamen – wie im Moment – wieder so Phasen, da gab es viele Neuigkeiten aus einem breit gefächerten themenübergreifenden Tratsch- und Klatschreservoir zu berichten, zu erfahren und zu diskutieren. Da ging’s dann so richtig rund und man konnte die Informationsflut gar nicht mehr ordnen. Besonders »g’schaftig« war da die Hinkhofer Berta immer unterwegs, man könnte auf gut Bayerisch auch sagen, sie hatte es unglaublich wichtig. Sie verkörperte so etwas wie den »Berta-Nachrichten-Dienst« im Staatsgebiet Unterfilzbach und den Randgebieten. Deshalb hatte Bettina die Hinkhoferin auch heimlich auf den Insidernamen BND getauft. Im Moment war sie auf Dauerempfang und wechselte mehrmals täglich ihre investigativen Standorte. Sie pendelte zwischen Supermarkt, Recyclinghof, Friedhof und Apotheke, um ja möglichst viele Informanten anzutreffen.

Neben den zwei aktuellen Topthemen im Dorfklatsch, dem Erweiterungsanbau an das Altenheim Zum ewigen Licht und dem anstehenden Kommunalwahlkampf, war heute auch die Helden-Crew vom Bauhof wieder einmal Gesprächsthema.

Die Kollegen in Kommunalorange spielten sich ab und an auch mal gerne kleine Streiche, was wahrscheinlich normal war, wie in jeder anderen Firma halt auch. In Bayern sagt man dazu auch »jemanden auf d’Sau auflassen«. Hansi fand sogar, das fördere das gute Betriebsklima. Nur heute musste auch der gesamte morgendliche Verkehr in Unterfilzbach darunter leiden. Und der Bauhofkapo Wiggerl war nun fuchsteufelswild. Die nächsten Tage würden für Hansi, Sepp und seine Kollegen wohl hart werden, denn nachtragend war er schon, ihr Chef.

Der kommunale Bauhof in Unterfilzbach war, wie wohl auch in anderen Gemeinden üblich, für den Winterdienst auf den Ortsstraßen zuständig. Da Wiggerl sich hier seiner Verantwortung absolut, vollumfänglich und zu hundert Prozent bewusst war, versuchte er alles, um auch immer für die nächste potenzielle Schneekatastrophe bestens vorbereitet zu sein. Zum Beispiel hatte er inzwischen achtzehn Wetter-Apps auf seinem Handy installiert. Diese checkte er alle halbstündlich. Mindestens. Außerdem rief er viermal täglich im Bayerischen Wetteramt an und erfragte die zu erwartenden Niederschläge für seinen Zuständigkeitsbereich. Technisch waren seine Informationsquellen also auf dem neuesten Stand, aber der Wiggerl wäre nicht der Wiggerl gewesen, wenn er sich da nicht noch breiter gefächert aufgestellt hätte. Er griff auch gerne auf alternative Methoden zurück. Eine davon war sein Vogelhäuschen, das direkt vor seinem Schlafzimmerfenster stand. Im Winter stellt sich Wiggerl täglich um drei Uhr nachts seinen Wecker und warf sofort, nachdem er die Augen geöffnet hatte, den ersten Blick aus seinem Schlafzimmerfenster auf eben dieses Vogelhäuschen. Vor zwei Jahren hatte er sogar extra einen Strahler am Haus befestigt, damit das Häuschen gut angestrahlt wurde und er es auch nachts gut sehen konnte. Wenn nun das Vogelhäuschen eine frische Schneedecke auf dem Dach hatte, dann sah er schon mal genauer hin. Wenn die Schneedecke nun sogar einige Zentimeter in die Höhe gewachsen war, dann war für den Winterdienstchef klar: Meine Männer müssen raus zum Räumen und Streuen.

Natürlich wussten das auch die Bauhofmänner, was da jede Nacht im Hause Hackl passierte. Günter hatte dann eines Tages bei der Brotzeit die Idee, dass sie heimlich nachts um kurz vor drei Uhr den ganzen frisch geschneiten Schnee vom Vogelhäuschen abkehren und dann einfach abwarten könnten, was passiert. Da war ihnen nicht mal das frühe Aufstehen zu anstrengend gewesen. Gesagt, getan.

Wiggerl war natürlich sehr beruhigt. Obwohl all seine Wetterdienste einvernehmlich starken Schneefall angesagt hatten, war das Häuschen schneefrei. Also mussten es auch die Straßen von Unterfilzbach sein, dachte er, kuschelte sich gleich wieder in seine dicke Daunendecke mit TSV-1860-München-Frotteebezug und schlummerte neben seiner Hilde friedlich weiter. Er schmunzelte noch in sich hinein, dass es schon der Wahnsinn war, wie sehr sich doch die hochtechnisierte Meteorologie irren konnte. Gut, dass er ein ausgewieftes System aus verschiedenen Methoden für sich gefunden hatte.

Günter, Reinhard, Sepp, Martin und Hansi warteten noch bis halb vier auf einen eventuellen Weckruf von Wiggerl oder Hilde, die diese Aufgabe meistens von ihrem Gatten aufgetragen bekam. Aber es kam kein Weckruf zum Winterdienst. Das hatte dann natürlich zur Folge, dass die Straßen im Schnee versanken, denn es war Januar und im Bayerischen Wald war zu dieser Zeit wirklich Winter. Also so ein richtiger Winter mit Schnee, wirklich viel Schnee. So was konnte man sich in München, Nürnberg oder Passau gar nicht so recht vorstellen, welche Massen es tatsächlich schneien konnte. Ein mittelschweres Verkehrschaos in Unterfilzbach war also vorprogrammiert. Gott sei Dank nur ein mittelschweres, denn die meisten Einheimischen waren Schnee auf den Straßen gewohnt und beherrschten somit auch das Autofahren bei diesen Verhältnissen. Aber natürlich fragten sich die Unterfilzbacher sofort, warum der ansonsten zuverlässige Winterdienst nicht schon lange unterwegs war.

Als der amtierende Bürgermeister Matthias Brunner feststellen musste, dass auch vor seiner Haustür nicht geräumt war, kontaktierte er seinen Bauhofchef gleich mal auf dessen Handy. Ein recht verschlafener Wiggerl Hackl verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte so was passieren? Wie konnte sein ganzheitliches 1-a-Wettermeldesystem versagt haben? Diese Geschehnisse machten natürlich blitzschnell die Runde im Dorf. Und obwohl ein paar Bürger verärgert waren, amüsierten sich doch die meisten über diese Geschichte, vor allem über Wiggerls Schneemelde-Vogelhäuschen.

Berta kam extra gleich morgens in den Supermarkt, um bei Bettina die Hintergrundinfos zum Verkehrschaos zu erfahren. Allerdings waren diese Art von Bauhofthemen Bettina sehr unangenehm und sie lenkte das Gespräch gleich auf die große Erweiterung des Altenheims, die momentan in vollem Gange war. Es wurde gerade ein luxuriöser Anbau, eigentlich mehr ein separater Trakt für betreutes Seniorenwohnen, am Altersheim Zum ewigen Licht errichtet. Gerüchteweise mit eigenem Wellnessbereich für die Bewohner. Künftig sollte es dann auch kein Altenheim mehr sein, sondern eine Seniorenresidenz, stand letztens in der Lokalzeitung, der Filzbacher Rundschau.

»Sag a mal Berta, ziehst du denn eigentlich auch in das Altenheim, wenn das jetzt so neu und schön wird? Ich meine, betreutes Wohnen hört sich doch gut an, das ist ja eher ein Hotel. Das kann ich mir ganz lustig vorstellen.«

Diese Frage war jetzt allerdings dann wiederum Berta ziemlich unangenehm. Ihre Antwort kam dann schon unter leicht schnaubender Atmung. »Also weißt, Bettina, ja sag einmal, warum soll ich denn in ein Altenheim ziehen? Ich bin doch topfit und erst knapp über sechzig. Was denkst du denn von mir?«, antwortete das rüstige Rentnerfräulein ziemlich eingeschnappt.

»Ich mein ja nur, Berta. Ich glaub, ich würde das schon tun, wenn ich genügend Geld hätte und meinen Lebensabend in Gesellschaft genießen möchte«, versuchte sich Bettina jetzt in Deeskalation. Denn Berta konnte da schon etwas cholerisch sein, wenn es um ihre eigene Person ging.

»Jetzt warten wir, bis der Bau überhaupt erst einmal fertig ist. Du kennst ja den Schmal Harald. Der und seine komische Firma, der treibt ja auch alles, was Gott verboten hat. Dem trau ich nicht für den Dreck unter meinen Fingernägeln. Wie oft hat man denn schon in der Zeitung gelesen, dass die Firma Beton Schmal nicht ganz zuverlässig war. Von den erheblichen Baumängeln, die da aufgetreten sind, ganz zu schweigen.«

Berta hatte offensichtlich keine gute Meinung über die Baufirma, die den Erweiterungsbau an das Altenheim errichtete. Aber Bettina musste sich schon eingestehen, dass der »BND« da nicht ganz im Unrecht war. Denn Harald Schmal, der Chef der Firma, war nicht unbedingt das Synonym für einen seriösen Geschäftsmann. Allein schon sein Auftreten mit den protzigen Autos, solariumverbrannt, dicke Goldkettchen um den Hals, muskelbepackt, circa ein Kilo Gel in seinen pechschwarz gefärbten Haaren … Grundsätzlich war er wohl sehr eitel, Bettina vermutete, dass er vielleicht sogar Botox spritzen ließ. Außerdem schien ihm das Altern nicht ganz leichtzufallen, denn er stylte sich eher wie ein Zwanzigjähriger, war aber mehr als doppelt so alt. Seine Frau Anita konnte einem direkt leidtun. Harald genoss sein Leben in vollen Zügen und dies auch ab und zu gerne mit diversen anderen Frauen. Aber es schien so, als hätte sich Anita, oder Anni, wie sie im Dorf jeder nannte, damit abgefunden. Sie scherte sich nicht mehr um ihren Mann und die Gerüchte. Auch sie lebte ihr Leben und ließ es sich gutgehen. Skiurlaub in Kitzbühel, Wellness in Südtirol, Shopping in New York. Das war die Welt der Anni Schmal.

Eigentlich hatte ja Harald Schmal in die Firma eingeheiratet. Denn Annis Vater hatte mit der Baufirma, die früher noch Filz-Bau hieß, ein kleines Imperium aufgebaut und war ein zuverlässiger und angesehener Baumeister in ganz Niederbayern gewesen. Auch als Arbeitgeber hatte er einen guten Ruf gehabt. Viele gute und fleißige Handwerker aus der Umgebung waren hier beschäftigt gewesen und Annis Vater hatte immer ein offenes Ohr für seine Angestellten gehabt.

Nach seinem Tod hatte dann der Schwiegersohn die Firma übernommen und führte sie nun mit einem etwas anderen »betrieblichen Konzept«, könnte man sagen. Manch krumme Geschäfte, vielleicht auch mal eine kleine Bestechung zwischendurch oder ab und an mal eine kleine planmäßige Pleite einer Tochterfirma kamen in diesem Konzept schon vor. Schlecht bezahlte Arbeitskräfte, viele Hilfsarbeiter, die nicht mal der deutschen Sprache mächtig waren, aber deren Arbeitsleistung bei den Bauherren gerne mal mit den Stundensätzen für Meister abgerechnet wurden. Harald war wirklich recht kreativ in solchen Dingen.

Und nun baute eben diese Firma einen Trakt an das bestehende Altenheim an. Betreutes Wohnen mit 24-Stunden-Service. Der Hochglanzprospekt dazu, der in ganz Unterfilzbach auslag, versprach einen wahr gewordenen Senioren-Wohntraum:

Individuell gestaltete Einzelapartments, Butler-Service, altersgerechtes Unterhaltungsprogramm mit Tagesausflügen (z. B. ins Casino oder in einen Duty Free Shop nach Tschechien), Workshops, Rollator-Tanzgruppe, Altersheim-Band »Die fast Toten Hosen«, Personal-Fitness-Coaches, Snoezelraum für die totale Entspannung, Hair-und-Make-up-Artist-Hausbesuche und noch vieles mehr.

Die Kosten dafür waren natürlich dementsprechend hoch. Das konnten sich jetzt nicht unbedingt die ganz normalen Durchschnittsrentner leisten. Aus dem Bauhof kam die Information, dass Harald Schmal den Bau als Bauträger abwickelte und anschließend an die Gemeinde Unterfilzbach vermieten würde. Der private Betreiber des Altenheims mietete dann das Gebäude wiederum von der Gemeinde Unterfilzbach.

Also man konnte Sachen auch kompliziert machen, fand Bettina. Aber wahrscheinlich war das wieder ein ausgefuchstes Steuersparmodell oder ein geschickt aufgestellter rechtlich verzwickter Vertrag, damit niemand in der Verantwortung und vor allem in der Haftung stehen könnte, falls irgendetwas Unschönes passieren würde, was auch immer.

Berta schien das offensichtlich alles für keine gute Idee zu halten. »Wenn ich Bürgermeisterin wäre, dann würde ich da aber mal ganz genau hinschauen. So was muss alles seine Ordnung haben. Ganz ohne krumme Geschäfte und Hinterfotzigkeiten solcher Betrüger. Ich würd ihnen schon reinhelfen in d’Schuh, der ganzen Bagage.«

Berta versuchte schon seit Jahren, auch politisch aktiv zu werden. Bürgermeisterin wäre absolut ihr Traumberuf, das erzählte sie jedem, ob er es hören wollte oder nicht. Mit ihrer Berufserfahrung als langjährige Bürgermeistersekretärin, ihrem Verhandlungsgeschick, ihrem Einfühlungsvermögen, ihrer totalen Empathie für andere Menschen und ihrem sozialen Engagement war sie geradezu prädestiniert für diesen Job – fand Berta selbst. Allerdings wollte keine Partei oder Gruppierung sie als Spitzenkandidatin haben. Für den Gemeinderat hatte sie gnädigerweise ihr Neffe Roman Groß, der Ortsvorsitzende der Katholischen Union der Konservativen, kurz KUK, bei den letzten beiden Wahlnominierungen immerhin auf den letzten Listenplatz gesetzt. Vielleicht aus Mitleid. Wahrscheinlicher aber, weil er auf das Erbe der ledigen, kinderlosen Berta hoffte. Obwohl die KUK in ganz Bayern eine politische Großmacht war, hatte es Berta bisher nicht in das Gemeindegremium von Unterfilzbach geschafft. Einmal wäre sie fast die siebte Nachrückerin in einer Legislaturperiode gewesen, aber dann war der Weiderer Erwin doch wieder aus dem Koma aufgewacht und zwei Monate später waren dann sowieso Neuwahlen.

Aber hartnäckig war sie schon, die Berta, das musste man ihr lassen. Auch dieses Mal hatte sie sich wieder für eine Kandidatur als Bürgermeisterin bei der KUK beworben. Sie hatte wohl irgendwie ausgeblendet, dass der Amtsinhaber Matthias Brunner, der schon seit zwölf Jahren fest im Bürgermeistersessel saß, gar nicht daran dachte aufzuhören, und dass sie die letzten beiden Male ja auch als Kandidatin von den Stimmberechtigten der Partei deutlich abgelehnt wurde. Mit Flyern, Postern, Roll-ups und einer umfangreichen Power-Point-Präsentation kam sie zur Nominierungsversammlung des KUK-Ortsverbandes beim Dorfwirt.

Berta stand mit ihrem Anliegen nicht mal auf der Tagesordnung. Diesmal wurde sie aber nicht abgelehnt, weil sie keiner als Kandidatin haben wollte, sondern weil sie für das Bürgermeisteramt in Bayern mit ihren neunundsechzig Jahren schon zu alt war. Die KUK-Ortsmitglieder waren heilfroh, dass sie endlich ein nicht zu diskutierendes Argument für die Ablehnung hatten. Berta sah das auch recht schnell ein und betrachtete das Ganze als Teilsieg. Den üblichen letzten Listenplatz für den Gemeinderat hatte sie dann jedoch gleich ohne größere Wortgefechte bekommen. Berta fühlte sich politisch obenauf.

»Ja, Berta, ich find auch, dass vielleicht mal ein frischer Wind bei uns im Rathaus wehen könnte. Vielleicht wären mal ein paar neue Ideen gar nicht schlecht. Aber dieses Mal wird ja der Bürgermeisterwahlkampf vielleicht doch endlich einmal spannend. Zumindest hat der Brunner diesmal einen Gegenkandidaten. So was kann ja nicht schaden. Sonst sind sich die Amtsinhaber immer so sicher«, tat Bettina ihre politische Meinung kund, was sie augenblicklich wieder bereute.

»BETTINA! Du glaubst doch nicht wirklich ernsthaft, dass dieser dahergelaufene Öko-Bauer ein g’scheider Bürgermeister wär? Ich bin fassungslos, Bettina Scharnagl.« Berta war total geschockt.

Zum ersten Mal nach zwei Legislaturperioden im Amt musste sich nun der Erste Bürgermeister von Unterfilzbach, Matthias Brunner, tatsächlich einem Kontrahenten stellen. Es wagte doch wirklich jemand, sich als Gegenkandidat nominieren zu lassen. Seit es Kommunalwahlen im Nachkriegs-Unterfilzbach gab, gehörten die bis dato gewählten Bürgermeister immer der KUK an, das war fast wie ein Naturgesetz. Es gab zwar schon ab und zu mal eine halbherzige Gegenkandidatur, aber das waren dann eher alteingesessene Sozis, die sowieso keine Chance hatten und dies auch von vornherein wussten.

Matthias Brunner hielt das offizielle Nominierungsschreiben der NaturPur-Partei, das der wagemutige Herausforderer Florian Ganserer auch noch persönlich im Rathaus abgab, erst einmal für einen Witz. Er war es gar nicht gewöhnt »wahlzukämpfen«.

Die beiden politischen Gegner sowie auch das Wahlprogramm, für das sie jeweils eintraten, konnten unterschiedlicher nicht sein. Da war auf der einen Seite der 54-jährige Matthias Brunner, katholisch verheiratet, drei Kinder. Ein ehemaliger Hauptschullehrer an der Unterfilzbacher Schule und seit seiner Jugend Mitglied in der KUK. Seit zwölf Jahren war er nun schon Bürgermeister der 3.000-Einwohner-Gemeinde Unterfilzbach. Eine Art Denkmal, das sich die Bürgermeister üblicherweise setzten, suchte man bisher vergebens. Keine Schulrenovierung, kein neues Hallenbad oder sonstiges. Das Feuerwehrhaus sei ziemlich marode, stellte er bei einer Generalversammlung einmal fest, nachdem ihn mehrere Feuerwehrleute deutlich darauf hingewiesen hatten. Jedoch müsste er dieses Projekt dann auch einmal anpacken. Von selbst renovierte sich das nicht. Sepp, der 1. Kommandant der Unterfilzbacher Feuerwehr, war schon auf hundertachtzig deswegen, aber irgendeine Ausrede hatte der Bürgermeister bisher immer gefunden, um das Thema zu umgehen.

Die momentane Großbaustelle war irgendwie auch nicht unbedingt Brunners Leistung, denn die Gemeinde mietete lediglich das fertige Gebäude und vermietete dieses dann für bereits vertraglich festgelegte fünfundzwanzig Jahre weiter. Und diese ganze Altenheimangelegenheit hatten Harald Schmal und der KUK-Orts- und Fraktionsvorsitzende Roman Groß eingefädelt, also auch wieder nicht Brunner selbst.

Wenn man mal genauer hinschaute, konnte man sowieso meinen, Roman Groß sei der Strippenzieher der Kommunalpolitik in Unterfilzbach. Die graue Eminenz quasi. Dafür ging Matthias Brunner auf jeden runden Geburtstag und jede goldene Hochzeit. So was brachte auch Wählerstimmen. Außerdem gab es noch die Sache mit der Vereinsmeierei. Denn der wirkliche Wahlkampf am Land wurde in den Vereinen und am Stammtisch geführt. Da musste man »sich sehen lassen« oder man engagierte sich eben in ein paar Vereinen. Idealerweise in der Vorstandschaft. Zweiter Vorstand oder Ausschussmitglied waren da recht begehrte Posten, die waren nämlich nicht wirklich arbeitsintensiv und man war trotzdem wichtig. So was war immer gut. Manche Dorfbewohner waren Vereinsmitglied, weil sie es gut fanden, bei der Feuerwehr, beim Roten Kreuz oder auch beim Schnupferverein zu sein und den jeweiligen Vereinszweck zu erfüllen. Also die meisten löschten, retteten oder schnupften aus Leidenschaft, konnte man sagen.