Wir sollten aufhören, über ihn zu reden, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz, als er die Autotür öffnete. Sonst sind wir außerstande, unseren Auftrag auszuführen.
Du hast recht, sagte der hinter dem Steuer. Wir sollten damit aufhören.
Dann standen sie beide neben dem Wagen, einer rechts, einer links davon, und schauten hinunter zum Haus, seinem Haus. Es lag direkt am rechten Ufer des Zürichsees, dem besonnten Ufer, ziemlich in der Mitte, Gemeinde Meilen. Der See streckte sich reglos aus, die Bäume waren nackt, all das Bunte der warmen Jahreszeiten war weggewischt. Es war trocken, hell war es nicht, aber die Reinheit blendete; beide konnten den Blick nicht wenden.
Orson Welles hat seine Geliebte Rita Hayworth den Freunden schlafend in seinem Bett vorgeführt, sagte der Mann vom Fahrersitz. Schlafend, nackt, unfrisiert, ungeschminkt. Er wollte, dass die Schönheit seines Besitzes ihnen die Sprache verschlug. Und alle packte der Neid. Alle wollten so etwas haben.
Und – was hat es ihm letztlich geholfen?, fragte der Beifahrer.
Wem geholfen? Sprichst du von Orson Welles oder von ihm?
Von ihm. Orson Welles starb meines Wissens eines natürlichen Todes.
Sie starrten schweigend auf den See und das Haus am Ufer, zur Landseite hin eine gestreifte Festung aus Travertin und Granit. Lange zweieinhalb Stunden waren sie von Ascona, ihrem letzten Auftrag, durch Straßengischt unterwegs gewesen, zweieinhalb Stunden, in denen es nur um ihn gegangen war. Sie kannten die Stationen seines Lebens, als wären sie die Strecke täglich mit der Straßenbahn abgefahren. Diese Strecke aber hatte kein Gleis. Ein Woher, kein Wohin. Sein Leben sei nur eine Flucht gewesen, hatte er selbst einmal gesagt. Wer es von außen kannte, verstand das nicht. Der Aufstieg des Reto Donati war einer für das Musterbuch, gradlinig hatte er von ganz unten nach ganz oben geführt, ohne den kleinsten Knacks. Vom Kind zweier Tessiner, Maronibrater hießen sie damals, nach dem Krieg auf Arbeitssuche hergezogen, Eineinhalbzimmerwohnung mit Bad-Küche im Zürcher Kreis 4, Klo auf der Treppe, Mutter Kunststopferin, Vater Hilfsgärtner, aufgestiegen zum Einserjuristen, welterfahrenen Diplomaten und nun zum designierten Spitzenkandidaten für das höchste Amt im Bundesgericht.
Beide Männer zogen mit der gleichen Bewegung ihr graues Jackett nach unten. Beide rückten mit der gleichen Bewegung ihre Krawatte zurecht. Sie trugen Hemden in demselben Märzhimmelblau, obwohl sie sich nicht verabredet hatten. Dann fassten beide gleichzeitig mit der rechten Hand an ihre linke Brusttasche. Der Fahrer spürte, was in solchen Fällen zur Standardausrüstung gehörte. Der Beifahrer spürte den daumenlangen Zylinder. Braunes Glas, weiße Kunststoffkappe, weißes Etikett. Pentobarbital-Natrium. Lösliches Pulver. Nur zu Händen des Arztes. Bei Raumtemperatur lichtgeschützt lagern.
Der Inhalt würde reichen, um drei Menschen umzubringen.
Die Blicke der beiden Männer ertappten einander über dem Autodach beim Zittern. Vier Ohren hörten, was keiner sagte.
Warum bist du so nervös?
Beide hatten sie Erfahrung. Sie wussten: Man konnte die Uhr stellen. Es dauerte immer zwischen 30 und 35 Minuten. Keiner hatte bisher verweigert, das Glas zu leeren. Manche hatten gezögert, manche mussten noch einen Satz loswerden wie: Okay, let’s go.
Aber sein Fall war neuartig. Erklärte das ihre Hemmungen? Mitleid hemmte sie nicht, Mitleid hatte bei ihren Erledigungen nichts zu suchen; das war Sache der Familienangehörigen, sofern es welche gab. Sie als Ausführende mussten sogar verhindern, dass nur die geringste Dosis Mitleid in sie einsickerte. Das hätte ihre gesamte Organisation in Misskredit gebracht.
Von außen betrachtet waren alle Bedingungen erfüllt, die Aktion durchzuziehen.
Er war sich seiner Entscheidungen voll bewusst gewesen und hatte keineswegs aus dem Affekt heraus gehandelt.
Es war allein sein Entschluss gewesen.
Es gab keine Dritten, die ihn beeinflusst hätten.
Doch sein Beweggrund war ein anderer als bei allen anderen. Oberflächlich betrachtet, war es der gleiche. Aber unter der Oberfläche fehlte das Fleisch, das Fassbare.
Vom Haus herauf war der Schlag einer Standuhr zu hören. Sie kannten die Standuhr, ein Erbstück von den Tessiner Großeltern, eigentlich den Urgroßeltern, nicht schön, nur alt; ein Hilfeschrei nach Gemütlichkeit, die der Hausherr sich sonst untersagt hatte. Die Schläge waren genau zu hören, offenbar stand ein Fenster offen. Beim elften Schlag setzten sich die beiden in Bewegung. Nebeneinander gingen sie die Treppe durch den Garten hinab, im Takt der verklungenen Schläge. Ein japanischer Garten, der mit Kies und Moos und seinen kriechenden, krüppeligen Nadelhölzern fremdelte mit dieser Umgebung.
Als der Beifahrer den Finger auf den Chromknopf neben der Haustür legte, bemerkte er, dass die nur angelehnt war. Wollte er es ihnen leichter machen? Oder sich selbst? Wollte er das Ganze beschleunigen?
Es roch unbewohnt. Ich bin ungern hier. In Venedig fiele es mir leichter, hatte er gesagt.
Das kümmerte die beiden nicht, durfte sie gar nicht kümmern. Hier, auf Schweizer Boden, musste der Weitgereiste sterben, andernfalls würde es Ärger geben. Nicht nur für sie beide, für ihre ganze Organisation, die seit ihrer Gründung vor vier Jahren diskret und fehlerfrei Auftrag für Auftrag erledigt hatte.
Sie kannten das Haus von ihrem letzten Besuch. Es war ein absolutes Haus, das Unordnung, Schmutz und Abnutzung nicht kannte.
Der Tisch in der Mitte des Esszimmers glänzte schwarz und nackt. Die Tür zum Schlafzimmer nebenan stand halb offen. Das Bett gähnte weiß und leer. Das Wohnzimmer wirkte wie aus einer Designmöbelausstellung, keinerlei Spuren von Leben auf dem weißen Leder.
Die beiden hätten es sich sparen können, die übrigen zwanzig Türen zu öffnen und in die übrigen zwanzig Räume zu starren. Beim Öffnen der ersten drei, vier Türen geisterte in ihnen noch die Vorstellung herum, auf seine Leiche zu stoßen, von der Decke baumelnd, vor blutverspritzter Wand auf dem Boden liegend, in rotem Badewasser dümpelnd. Aber bald wusste etwas in ihnen, dass er nicht da war. Ob er sich davongemacht hatte oder davongeschafft worden war und vor allem wie und wohin, dafür gab es auf den ersten Blick keine Indizien. Keine Notiz, kein Abschiedsbrief, keine Anzeichen von Eindringlingen.
Seine beiden Wagen hatten Seeblick. Durch das Garagenfenster war zu erkennen: Sie standen trocken da, und die Genien über dem Kühlergrill strahlten frisch poliert.
Die beiden gingen ins Haus zurück. Es musste sich irgendein Hinweis finden, was sich geändert hatte, unerwartet geändert hatte im Leben des Kandidaten. Ihn so zu bezeichnen, hätten die beiden geschmacklos gefunden; Ars M. nannte sich ihre Organisation, das verriet Anspruch, man sprach von Klienten.
Obwohl sie das ganze Haus absuchten, entdeckten sie nichts, das etwas über den Verbleib des Kandidaten verraten hätte. Blieb ihnen nun nur, eine beiden völlig unbekannte Frage zu beantworten: Sollten sie die Haustür nach ihrem Weggang verschließen? Damit versperrten sie sich selbst den Zugang für eine spätere Recherche.
Welche Personen gab es außerhalb ihres Vereins, die sein Verschwinden früher oder später feststellen mussten? Seiner Haushaltshilfe hatte er gekündigt, das war ihnen bekannt, auch, dass er keine Geschwister, keine Frau, keine Kinder hatte. Sich zu vermehren, sagte er, sei ihm immer absurd erschienen.
Sollten sie die Polizei verständigen? Sie ausgerechnet.
Es war der Beifahrer, der es schließlich bemerkte, beim dritten oder vierten Rundgang durchs Haus. Eigentlich machte dieses Haus ihre Beharrlichkeit überflüssig. Winkel und Verstecke gab es hier nicht. Selbst die Bücher, schwere Kunstbände vor allem, standen Spalier in den Regalen, nach Größe sortiert, jedes gleich weit von der Regalkante entfernt, genauso die Schallplatten. Erst bei diesem letzten Rundgang fiel dem Beifahrer im Wohnzimmer die schwarze Vinylscheibe auf dem Plattenspieler auf. Die Hülle war dahinter an die Wand gelehnt.
Kinderszenen, op. 15 von Robert Schumann. Die erste hieß Von fremden Ländern und Menschen. Angekreuzt war die mittlere: Nr. 7, Träumerei, F-Dur. 3:01 stand dahinter. Insgesamt betrug die Spielzeit der Kinderszenen 17 Minuten, 41 Sekunden. Zu kurz, dachte er.
Stumm gingen die beiden zum Ausgang, ließen die Tür ins Schloss fallen, verließen den Garten und machten sich auf den Weg nach Zürich. Erst als sie im Stau vor der Stadteinfahrt zum Stehen kamen, entwich dem Körper des Beifahrers ein Ächzen.
Eigentlich bin ich froh, sagte er.
Es wird dumme Fragen geben, sagte der Fahrer.
Trotzdem, eigentlich bin ich froh, wiederholte der Beifahrer. Mir war unwohl bei der Sache.
Mir auch, sagte der Fahrer und dachte an die Papiere in seiner linken Brusttasche.
Er sah seine rechte Hand, wie sie Haken in die Kästchen gesetzt hatte, blaue Tintenhaken, mit denen er die Kontrolle aller wesentlichen Punkte bestätigte. Ein Haken hinter Urteilsfähigkeit, ein Haken hinter Wohlerwogenheit, ein Haken hinter Autonomie, ein Haken hinter Beständigkeit des Wunsches, ein Haken hinter Handlungsfähigkeit. Und er sah seine Hand dann, wie sie zögerte, auf der Folgeseite den Haken hinter die drei nächsten Punkte zu setzen oder wenigstens hinter einen davon: Hoffnungslose Prognose, unerträgliche Beschwerden oder unzumutbare Behinderung.
Es ist eine Krankheit zum Tode, hatte der Fünfundvierzigjährige gesagt. So wird sie ganz offiziell genannt. Vergessen Sie Ihre Skrupel. Sie helfen mir wie jedem anderen, mit Würde auszusteigen.
Und als er bemerkte, dass die Hand des Schreibers noch immer zauderte, hatte er mit geschlossenen Augen zu reden begonnen. Ganz sachlich, die Stimme unbewegt, der Tonfall monoton, hatte er beschrieben, welche Möglichkeiten ihm sonst blieben.
Möglichkeit 1: vom Turm des Münsters zu springen, wie sein Vater, schlimmstenfalls beim Sturz andere zu töten, die nicht vorhatten zu sterben, bestenfalls als Knochensplitterfleischmasse auf dem Asphalt zu kleben. Möglichkeit 2: selbst beschafftes Gift zu schlucken, mit dem hohen Risiko, gerettet zu werden, wie seine Mutter nach dem Tod ihres Ehemanns, die danach noch drei Jahre dahinvegetierte, unfähig die Hand zu heben, mit der sie gemäß dem Verordnungspunkt Handlungsfähigkeit das Glas mit dem Erlösungscocktail hätte heben müssen.
Möglichkeit 3: sich an einem Dachbalken aufzuhängen, wie sein Onkel, und denjenigen, die ihn fanden, mit herausgequollener Zunge und blauem Gesicht ihr weiteres Dasein zu vergällen, weil dieses Bild sich über alle anderen legte.
Da hatte er einen Haken hinter Hoffnungslose Prognose gesetzt und neben dem Haken notiert: Äußerst schwere, behandlungsresistente Depressivität. Wohl hereditär / siehe Anlage. In der Anlage fand sich das Protokoll eines Psychiaters, der sämtliche handelsüblichen Antidepressiva an diesem Patienten ausgetestet hatte, ohne jeden Erfolg.
Zurück in Zürich, riefen sie umgehend einen Krisenstab zusammen. Zwei Stunden später verständigte der Beifahrer im Namen der Gesellschaft für Sterbehilfe Ars M. e.V. die Gemeindeverwaltung Meilen und die örtliche Polizeidienststelle. Drei Stunden später erbrach er in Anwesenheit eines Notars, eines Kriminalkommissars und eines Staatsanwalts das versiegelte Testament des Verschwundenen. Alleiniger Erbe war ein Mann mit türkischem Namen, wohnhaft in Berlin. Er würde das Erbe nicht antreten können, bevor der Tod des Erblassers aktenkundig war. Das war klar. Sonst nichts.
Ob sie diese drei Suizidfälle in der Familie überprüft hätten, wollte der Krisenstab von den arbeitslos gemachten Sterbehelfern wissen. Wieder trafen sich ihre Blicke, zitternd wie über dem Autodach.
Es dauerte nur ein paar Stunden, bis sie erfuhren: Vater mit 81 vor vier Jahren im katholischen Seniorenstift friedlich verstorben, Mutter vor zwei Jahren mit 72 ebenfalls dort, ebenfalls friedlich, der einzige Onkel war in den siebziger Jahren bei einem Autounfall in Süditalien ums Leben gekommen.
Der Psychiater, zugleich Psychoanalytiker, bestätigte, dass Reto Donati sein Patient gewesen und mit Psychopharmaka mediziert worden sei wegen anhaltender Depressionen. Nein, zu den Ursachen werde er sich nicht äußern, zumal der Exitus des Patienten noch nicht sicher sei.
Die gekündigte Haushaltshilfe zeigte sich hilfreicher. Falls es Sie interessiert, warum er mich entlassen hat: Dahinter steckt sie. Er hat ein Riesengeheimnis draus gemacht, aber er wollte heiraten. Woher? Ach, über eine Zeitungsannonce. Nein, erst vor ein paar Wochen. Hat mit seiner Kandidatur zu tun. Sie wissen ja: Ohne Frau bei den Konservativen …
Was die Bewohner vom Kreis 4 zusammenhielt, war der Aberglaube, der einzige gemeinsame Glaube: Jeder hier glaubte an Wunder. Vermutlich, weil ihnen nichts anderes übrigblieb, nachdem sich früher oder später der an die Gerechtigkeit erledigt hatte. Dass der Aberglaube nicht mit Millionen Kondomen, Jointfiltern, Kronkorken, künstlichen Fingernägeln, vom Teller gekratzten Spaghetti und schwarz geputzten Schaumstoffschwämmen im Müll gelandet war, hatte mit den Schutzengeln zu tun. Sie schwebten nicht über allen, sie lebten mitten unter den anderen vom Vieri das Wunder namens Erfolg. Da war einer, der es vom Psychiatriepfleger in Turnschuhen auf der geschlossenen Abteilung mit handbedruckten Seiden zum Liebling der Couturiers geschafft hatte, da gab es Künstler, die Kippen gesammelt hatten, deren Bilder nun Aktien waren, da waren Wirte, die aus den Bierkneipen und Hühnerbratereien der Eltern Restaurants gemacht hatten, wo sich Leute aus dem Kreis 1 vom Chauffeur vorfahren ließen und an einem Abend mehr Trinkgeld aufs Tischtuch legten, als die Großmutter in einem ganzen Monat an der Heißmangel verdient hatte.
Fast jeder, der im Vieri aufgewachsen war, kam irgendwann zurück, wenigstens auf Besuch, um zu schauen, ob der Wunderglaube dort noch immer wuchs, in den Hinterhöfen aus dem Beton zwischen rostigen Fahrrädern und Vespas, in den Rotlichtburgen aus den Bettritzen und vor den Wohnküchen aus den Rosmarintöpfen auf dem Fenstersims. Manche gaben zu, dass sie versucht hatten, den Vieri zu vergessen oder zu verleugnen, gelungen war es keinem.
Die einzige Pianobar im Kreis 4 lag an der Kanonengasse, und die Adresse schien ihr peinlich zu sein. Sie duckte sich eingeschossig hinter einem Mietshaus aus den Fünfzigern, pinkfarben angestrahlt, damit man ihre eigentliche Farbe nicht erkannte. Über dem Eingang verblasste der Schriftzug Kohlehandlung Egger.
Klaviere waren schon immer selten gewesen im Kreis 4, und wer keines kannte, der suchte auch keines. Warum in der ehemaligen Kohlehandlung eines stand, schwarz, gepflegt, gut gestimmt, Ibach stand in Goldschrift auf der Innenseite des Deckels, und wer es gespendet hatte, wusste keiner, aber als ein Exotikum half es beim Wunderglauben fast so gut wie eine Sternschnuppe.
Der Mann am Klavier saß mit dem Rücken zu den Gästen, einer Großfamilie aus Enttäuschten, die sich lieber nochmals enttäuschen lassen wollten, als den Glauben aufzugeben, diese Nacht werde sich ihnen etwas absolut Unerwartetes offenbaren.
Dass die meisten hinstarrten, als gegen Mitternacht ein Fremder hereinkam, entging dem Pianisten. Er blickte auf den Satinvorhang hinter dem Klavier. Beringte Hände mit langen glitzernden Fingernägeln teilten ihn und gaben den Blick frei auf einen Meter achtzig Sexappeal. Ihre Frisur stammte aus dem Hollywood der Sechziger, das Outfit mit Melone, Strapsen und High Heels in Schwarz aus den Siebzigern, die Figur aus dem Modelkatalog von heute. Bessere Beine hatte keine, Schulterpolster brauchte sie nicht. Ihre Stimme betörte mit Rauch und Metall und ihr Hüftschwung mit Lässigkeit. Als sie zum Schluss ein Lied über Tiger Lily brachte, jaulten die Gäste schon bei den ersten Takten auf.
Der Fremde hatte sich weit vorn an die Seite gesetzt, dorthin, wo es am dunkelsten war und der Blick auf den Rücken des Pianisten unverstellt. Auffallend gerade saß der vor den Tasten und auffallend ruhig. Seine Schultern blieben reglos, nur von den Ellenbogen bis zu den Fingern bewegte er sich. Für einen Barpianisten ungewöhnlich; auch dass er das Pedal nur sparsam bediente, nicht hämmerte oder mitsang. Sein Haar wurde vom Licht vergoldet, aber es war eindeutig weiß.
Als ihm eins der Sektgläser gereicht wurde, die der Fremde den beiden spendiert hatte, stand er auf, spähte blinzelnd in den Dämmer und lächelte verschwommen. Die starken Schneidezähne etwas vorstehend, der Mund geöffnet, ungewöhnlich voll und rosig für einen älteren Mann, sicher schon an die siebzig. Die hohen Wangenknochen traten, als er die Lippen auseinanderzog, hervor, die Augen wurden zu glitzernden Schlitzen. Er spielte allein weiter, verhaltener, als wollte er den Gästen das Zuhören freistellen. Keiner schaute mehr nach vorn, bis auf den Fremden. Tiger Lily kreuzte in der Bar auf, in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, und setzte sich direkt neben den Fremden, eine Bierflasche in der Hand. Im Bartschatten klebten noch Make-up-Reste, in die Stirn hatte die Monroe-Perücke eine Rille gedrückt. Neu hier?
Der Fremde blickte unverwandt auf den Rücken des Pianisten.
Sie haben mir Sekt spendiert. Beim Sprechen klang Tiger Lily baritonal. Jeder hier weiß, dass ich nach dem Singen nur das hier trinke. Er setzte die Flasche an. Der Fremde beugte sich vor. Tiger Lily nahm das Glas des Fremden, hielt es gegen das Bühnenlicht und stellte es wieder hin. Wasser! Wasser um Mitternacht! Sind Sie denn schon durch alle Feuchtgebiete vom Vieri gekrault? Das Schweigen des Fremden war glattledern wie seine Jacke. Der spielt zu gut für eine Spelunke wie die hier, oder?, stichelte Tiger Lily. Der Fremde beugte sich noch weiter vor. Lily beugte sich mit, sein Mund war nun nah am Ohr des Fremden. Mein Lied, das hat er komponiert, der kommt von Beethoven und dem ganzen Zeug.
Nach der zweiten Flasche Bier gab Tiger Lily auf. Den Kopf nach hinten über die Lehne gekippt, die langen Beine ausgestreckt, saß er da, als nun der Fremde ihn ansprach. Kann er Schumann?
Ob er was kann?
Schumann spielen. Die Träumerei. Fragen Sie ihn bitte, ob er die Träumerei von Schumann spielen kann.
Tiger Lily lümmelte sich in die Senkrechte, murmelte etwas von Nazifilmmusik und schlurfte Richtung Klavier.
Der Pianist blieb sitzen, fragte Tiger Lily offenbar etwas, fragte wohl auch nach; dass hier ein solches Stück gewünscht wurde, musste ihn verblüffen. Reglos verharrte er dann noch, als müsste er sich erst zurechtfinden, wandte sich jedoch nicht um. Er wollte also offenbar nicht wissen, von wem der Wunsch kam, dieser Wunsch aus einer anderen Welt.
Einen Besenstiel in der Hand, stellte sich Tiger Lily in den High Heels von vorher auf die Bühne und stieß wie ein Tambourmajor auf den Holzboden, bis der Lärm verebbte. Es verging eine lange halbe Minute, bis der Mann am Klavier begann.
Der Fremde saß da, ohne sich anzulehnen, die Lider geschlossen.
Zögernd stiegen Töne auf, wie eine Erinnerung an etwas Fernes, aber nie Vergessenes. Der Pianist schien weniger zu spielen, als zu sinnieren und dem nachzulauschen, was seine Finger da erweckten. Diese Musik passte nicht hierher. Doch sie war so leise, dass jeder hinhörte.
Keinem fiel auf, dass der Fremde weinte. Nach wenigen Minuten war alles vorübergezogen. Was nachklang, verbot für ein paar Atemzüge jedes Geräusch. Niemand applaudierte. Erst als der Pianist sich erhob und unsicher, als hätte ihn etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, in die Richtung ging, wo Lily sich fläzte, begann es wieder zu lärmen.
Lily stand auf, drückte den Pianisten auf den freigewordenen Stuhl und schlackerte zum Stammtisch, hinter dem farbige Glühbirnen und Plastikrosen die Devotionalien berühmter Gäste rahmten.
Der Fremde saß zusammengesunken da. Seine Oberlippe bebte, sonst rührte sich nichts an ihm.
Das waren doch Sie, sagte der Pianist. Sie haben sich die Träumerei gewünscht, richtig?
Der Fremde wandte ihm sein Gesicht zu, ein olivfarbenes, verschlossenes Gesicht, soweit es bei der schlechten Beleuchtung zu erkennen war, ebenmäßig und unauffällig.
Wer sind Sie?, fragte der Fremde.
Der Pianist lächelte wieder auf diese Mädchenart, lockend und lieb. Wollen Sie wissen, wer ich bin oder wie ich heiße?
Der Fremde schwieg.
Antwort eins ist bei mir nie zufriedenstellend, ich weiß es nicht recht, keiner weiß es, vieles und irgendwie auch gar nichts. Also Antwort zwei: Kaufmann, Nico Kaufmann.
Die anderen waren zu sehr mit sich beschäftigt, als dass ihnen die stillen Männer an der dunkelsten Stelle der Bar aufgefallen wären.
Der Fremde hatte den Kopf wieder gesenkt, redete, aber mehr zu sich selbst. Das ist dreißig Jahre her mit der Träumerei, ja, es muss 1956 gewesen sein.
Sie also ein Teenager?
Fünfzehn, ich habe aber meistens behauptet, ich sei sechzehn, siebzehn. Mein Gott, so nah. Das ist die Musik – es ist Wahnsinn, so nah. Er verstummte. Madonna sang Like A Virgin. Kaufmann summte mit und wartete. Tiger Lily stellte zwei Gläser Rotwein auf den Tisch. Vom Haus, sagte er.
Der Fremde dankte nicht, trank nicht, umklammerte den Stiel seines Glases und schwieg weiter.
Als Kaufmann den Fremden fragte, was ihn hergeführt habe, in diese Gegend, in diese Bar, um diese Zeit, reagierte er nicht. Madonna sang noch immer Like A Virgin.
Kaufmann wiederholte seine Frage.
Der Fremde sah auf. Sind Sie katholisch?
Getauft, ja, sagte Kaufmann.
Todsünde, meine Mutter hat immer von sieben Todsünden geredet. Gibt es so etwas für Sie?
Darüber habe ich noch nie in einer Bar geredet. Kaufmann nahm den ersten Schluck Rotwein. Und wenn Sie darüber reden wollen, aber offenbar nichts trinken, er nahm den zweiten Schluck, warum gehen Sie in eine Bar?
Der Fremde rückte seinen Stuhl näher zu Kaufmann. Seit heute Mittag habe er in Zürich eine Pianobar gesucht, in der irgendwer Schumanns Träumerei spielen konnte. Die Zeit im Ausland, der Wohnsitz außerhalb, er kenne sich hier nicht mehr aus, habe sich durchgefragt, mühsam: Hotelbars, Szenebars, Cocktailbars mit einem Klavier? Die im Kreis 4 sei die achte oder neunte gewesen. Die letzte, die noch blieb.
Und warum musste es nach dreißig Jahren auf einmal dieses Stück sein, gerade drei Minuten lang, besser weniger?
Ich wollte ihm danken.
Kaufmann stutzte. Wem? Dem Pianisten von damals?
Nein, dem Stück, dem wollte ich danken. Ohne dieses Stück wäre ich jetzt seit … der Fremde schaute auf seine Uhr, seit vierzehn Stunden und dreißig, vielleicht vierzig Minuten tot.
Dann stand er auf.
Ich muss gehen, sagte er ruhig und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch.
Kaufmanns rechter Fuß war eingeschlafen. Trotzdem stand er ebenfalls auf.
Ich komme mit, sagte er.
Das Bettzeug war aus Frottee, bedruckt mit Zwergen. Bügelfrei, sagte Kaufmann. Meine Mutter hätte mich verstoßen. Nur reines Leinen, gestärkt, mit Monogramm. Er stand auf der einen Seite der Couch, der Fremde auf der anderen; gemeinsam zurrten sie ein Spannbetttuch über das Velourpolster mit Biedermeierstreifen.
Der Weg von der Bar in der Kanonengasse war nicht weit gewesen, zehn, zwölf Minuten waren sie durch die nasskalte Frühjahrsnacht gegangen. Kaufmann hatte es dem Fremden leicht gemacht. Er sei quasi frisch verwitwet und froh über Besuch, das Gästezimmer sei komfortabel. Doch während sie nebeneinander her spazierten, wurde ihm bewusst, dass die Zusage des Fremden, ein rasches, trockenes Ja, eigentlich nicht zu ihm passte.
Dem Tod entronnen, so viel war klar, aber was für einem Tod? Bei einem Attentat, einem Unfall, einem Raubüberfall? Oder auf dem Operationstisch? Schwer vorzustellen außerdem, wie dabei die Träumerei ins Spiel gekommen war. Der Fremde übernachtete offenbar gern bei ihm, gratis natürlich. Doch seine Schuhe, seine Lederjacke, seine Uhr, was er am Körper trug, kostete mehr als eine Woche im Baur au Lac.
Erst als das große Kopfkissen, das kleine Kopfkissen und die Steppdecke ebenfalls bezogen waren, sagte der Fremde: Danke.
Noch ein Glas Port oder Williamine?
Danke, nein, sagte der Fremde.
Ich hätte auch einen alten Zuger Kirsch.
Der Fremde schüttelte den Kopf.
Kaufmann fixierte ihn über die Kinderbettwäsche hinweg, zum ersten Mal in dieser Nacht.
Der Fremde erwiderte den Blick. Es lag darin nichts Bedrohliches oder Unaufrichtiges, auch nichts Gehetztes oder Haltloses.
Schrecklich daran war nur eins: diese Ruhe, nach dem, was gewesen war.
Gelassen sagte der Fremde: Gute Nacht. Folgsam schloss Kaufmann die Tür des Gästezimmers hinter sich.
Nico Kaufmann hatte einen Schlaf, um den ihn alle anderen in seinem Alter beneideten; ganz gleich was er gegessen hatte, selbst nach einer Schwerarbeiterportion Rösti oder Raclette, sobald er sich hinlegte, war er weg und schlief durch bis zum nächsten Morgen. Jetzt starrte er um halb zwei Uhr früh an die Decke. Unverdaut lag der Satz des Fremden in seinem Magen. Ohne dieses Stück wäre ich jetzt seit vierzehn Stunden und dreißig, vielleicht vierzig Minuten tot. Ihn fror. Es musste dem Fremden doch bewusst sein, dass seinen Gastgeber dieser Satz umtrieb. In Kaufmanns Besorgnis knisterte Misstrauen. Vielleicht war sein Angebot mit dem Gästezimmer attraktiv, weil es anonym war. Dass er dem Gastgeber mit seiner Heimlichtuerei den Schlaf raubte, war dem Gast offenbar egal. Aus dem Misstrauen begann Wut zu züngeln. Kaufmann war in Versuchung aufzustehen, am Zimmer nebenan zu klopfen und den Fremden wachzurütteln, falls er schlief.
Gastfreundschaft ist heilig, hörte er seine Mutter lächelnd sagen, wenn ein Gast eines ihrer gehüteten Kristallgläser mit Goldrand zerschlagen hatte. Dann eben nicht.
Da hörte er etwas anderes. Keinen Satz, ein Datum, das der Fremde an seine erste Begegnung mit der Träumerei geheftet hatte: vor dreißig Jahren, 1956.
Kaufmann zog seinen Morgenmantel an und schlich in seinen alten Seidenpantoffeln den Flur entlang ins Musikzimmer.
Er setzte sich nicht in den bequemen Sessel, sondern auf das hartgepolsterte Kirschholzsofa. Sein Blick fiel auf den Steinway-Flügel und das Schwarzweißfoto darauf im Silberrahmen, ein großes Foto, das einzige im Raum. Die handschriftliche Widmung über dem Autogramm kannte er auswendig.
Für Nico. Übung macht den Meister. Zum Künstler wird man nicht geboren, zum Künstler muss man sich erziehen. Das ist auch schon oft gesagt worden. Aber wenn man auf diesem Ohr nicht hört, dann viel Glück zur Fahrt in die brillante Mittelmäßigkeit.
1956, vor dreißig Jahren, hatte Nico Kaufmann, diplomierter Dirigent, diplomierter Pianist, diplomierter Komponist, jene Fahrt bereits beendet. Mit vierzig war er längst dort gelandet, in der brillanten Mittelmäßigkeit.
In der Pianobar des Grandhotel Baur au Lac konnte er damit noch Eindruck schinden bei Gästen, die zu wenig verstanden von klassischer Musik. Wer etwas verstand, der mied die Pianobar oder genoss die brillante Mittelmäßigkeit als Schaumbad. Kaufmann war froh um das Honorar, das man ihm dort zahlte; was Barbesucher neben den Champagnergläsern auf dem Silbertablett liegen ließen, stockte es noch erheblich auf.
Seine Arrangements und Kompositionen von Bühnenmusiken, Tanzeinlagen und Couplets für Cabarets oder Privattheater brachten ihm zwar Freunde ein, sogar Kenner und Liebhaber, aber nicht ausreichend Bares. Im Baur au Lac behandelte man ihn pfleglich. Er kam an, dieser Barpianist, in Frack oder Dinnerjacket, Revers handpikiert, eine Nelke oder Gardenie im Knopfloch, Manieren eines Grandseigneurs, vollendeter Handkuss, gebildeter Small Talk, auch auf Französisch, und vor allem diese Unbeschwertheit. Sie fehlte anderen Barpianisten meistens. Kaufmann selbst kannte sie, die Kollegen, denen bei einem spendierten Getränk mühelos ein Lamento über die Ungerechtigkeit des Schicksals und all die Intrigen zu entlocken war, welche den Weg zu den Sternen verbarrikadiert hatten. Mozart kam oft drin vor und Seufzer wie: Hätte ich mit fünf Jahren …
Vater Kaufmann, Dr. med. Willy Kaufmann, praktischer Arzt sowie Freizeitkomponist von Soldatenliedern, hatte seinen Sohn Nico, als er sechs war, in ein Mozartkostüm gesteckt und öffentlich auftreten lassen. Als er neun war, hatte der Vater ihn zum Ausnahmetalent erklärt, als er mit zwölf ein Weihnachtslied komponierte und ein Jahr später zum Klavier- und Orgelstudium ins Konservatorium aufgenommen wurde, zum Genie. So begann eine Karriere, die in brillanter Mittelmäßigkeit enden musste. Aber das hatte Nico erst erkannt, als es zu spät war.
Der Mann, der ihn davor bewahren wollte, blass, schmales Gesicht, abstehende Ohren, ausgeprägte Nase, schwarze engstehende Augen, stark umschattet, das dunkle Haar hart gescheitelt, schwieg im Silberrahmen, vorwurfsvoll oder enttäuscht oder beides.
Der Fremde trat ein, ohne anzuklopfen. Barfuß war er in die Hose geschlüpft, das Hemd offen. Er hielt inne. Kaufmann deutete auf den bequemen Sessel.
Der Fremde folgte Kaufmanns Blick, drehte den Sessel und setzte sich so, dass auch er nun auf den Flügel schaute.
Das Foto war zu groß, die handschriftliche Widmung darauf zu mächtig, der Porträtierte zu eindeutig nicht mit Kaufmann verwandt und zu spektakulär melancholisch, als dass sich die Frage vermeiden ließ, was es damit auf sich habe. Bisher hatte noch jeder danach gefragt.
Ich frage mich …, sagte der Fremde.
Er brach ab, schaute weiter zum Flügel.
Ja?, sagte Kaufmann.
… ob ich ein anderer geworden wäre, wenn ich ein Instrument gelernt hätte. Da kann einem die Welt nie so eng werden, dass der einzige Ausweg tödlich ist. Durch die Musik leuchten doch immer Möglichkeiten.
War es das, woran ihn die Träumerei erinnerte, an andere, bessere, bunte Möglichkeiten, die er mit fünfzehn noch gesehen hatte? Kaufmann wartete ab. Möglichkeiten … Im Juni 1956, Anfang Juni war es gewesen, hatte er im Baur au Lac sein übliches Programm abgespult und gerade pausiert, als sich spätabends ein Mann im schwarzen Anzug mit Geigenkasten nicht weit vom Flügel entfernt hinsetzte, seine Krawatte vom Hals nahm, über die Lehne legte, bestellte und dem Kellner etwas zuflüsterte.
Wodka? Üblicherweise wurde bei Kaufmann hier mit Champagner, weiß oder rosé, für eine Wunschmusik geworben. Der Mann mit dem Geigenkasten, Anfang, Mitte fünfzig, grüßte grinsend mit seinem Glas, wohl ebenfalls Wodka. Die Träumerei von Schumann, das wurde selten erbeten.
Die anderen Barbesucher drehten sich nach dem Geiger um, der nach den drei Minuten wild applaudierte.
Erst als Kaufmann direkt vor ihm stand, erkannte er ihn wieder.
Er hätte es wissen können, Festwochen in der Tonhalle, Plakate mit dem Namen von Nathan Milstein und Otto Klemperer klebten seit Wochen an den Litfaßsäulen.
Sie spielen das besser als Volodja, wirklich, noch immer, sagte Milstein. Ich habe es erst vor Kurzem von ihm gehört, eine seiner Lieblingszugaben nach wie vor.