Die Herrschaft der Großväter

Thriller

Michael Koller


ISBN: 978-3-99074-037-8
1. Auflage 2018, Marchtrenk, Österreich
© 2018 Verlag Federfrei

Umschlagabbildung: © photogoodwin - Fotolia.com

Lektorat: S. Bähr

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Sämtliche Protagonisten dieses Romans, ihre Namen und ihre Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

1

 

Die Vergangenheit war eine Prophezeiung dessen, was kommen sollte. Wäre ich ein Poet gewesen, hätte ich es eleganter auszudrücken vermocht. Doch ich war kein Poet. Nur eine dunkel gekleidete Gestalt, die dem Herbstwind trotzte. Ich suchte in der Deckung einer kurzen Plakatwand Schutz und steckte mir eine Camel an. Leichter Regen setzte ein. Irgendwo hinter den grauen Wolken stand die Sonne am Firmament. Verdeckt vom Schleier irdener Gewalten. Ich ging weiter. Ließ die glimmende Zigarette aus dem Mundwinkel baumeln. Ein Wohnblock reihte sich an den anderen. Dreißig Stockwerke hoch. An der Basis sehr breit, verjüngten sich die Türme mit zunehmender Höhe. Ähnlich einer Skateboardrampe. Die unteren Geschosse waren mit Balkongärten versehen, deren Eigentümer wuchtige Kistenpflanzen als Sichtschutz hingestellt hatten. Mich störten diese individuellen Abweichungen von Farbe und Symmetrie. Brachten Chaos in die Wahrnehmung einer ansonsten weißen Wand mit schmalen Fensterbändern und dunklen Einbuchtungen. Zerkratzten das Bild der Perfektion. Es war später Nachmittag, und immer mehr Menschen zogen eiligen Schrittes an mir vorüber. Kinder von der Ganztagsschule, die zurück zu ihren Eltern kehrten. Männer in schwarzen Mänteln oder verschmutzter Arbeitskleidung. Frauen im schicken Kostüm ebenso wie in legeren Jeans. Der Strom aus der nahe gelegenen Untergrundbahnstation riss nicht ab, und ich verlangsamte weiter mein Tempo. Sah in diese Gesichter, die vor Schmerz verzerrt, vor Hoffnung gespannt oder vor Gleichgültigkeit zerstört waren. Ich ließ die Kippe fallen, zertrat sie und zündete eine neue Zigarette an. Inhalierte den Rauch und dachte zurück an Charkiw, wo ich in einer vergleichbar großen Wohnsiedlung wie dieser aufgewachsen war. Natürlich in einer nicht vergleichbaren Infrastruktur. Und doch waren die Menschen dieselben geblieben. Bloß steckten sie in anderen Körpern. Hatten andere Geschichten zu erzählen, andere Biographien, hatten vielleicht auch andere Ideologien im Kopf. Ich begab mich zu einem der zahllosen Eingangsportale. Sie waren von braunen Säulen flankiert und erinnerten ein wenig an Periskope. Dort stieg ich die grauen, von Handläufen gesäumten Stufen zum Foyer hoch. Ich setzte mich in eines der harten, leicht ramponierten Kunstledersofas und wartete darauf, dass der Feierabendansturm langsam abklang. Obwohl ich mein ganzes Leben lang immer wieder inmitten großer Menschenansammlungen gestanden hatte, fühlte ich mich stets besser, wenn ich allein war. Niemand rings um mich herum war, dessen Geruch ich wahrnehmen oder dessen Stimme ich ertragen musste. An der Wand direkt vor mir war ein raumhohes Gemälde von Alfred Hrdlicka angebracht, das ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit intensiv studierte. Eigentlich hatte ich von darstellender Kunst wenig Ahnung, da ich mich mehr für Literatur interessierte, doch nach und nach hatte ich mir dieses spezielle Werk erschlossen. Erkannte das Leid, die Angst, den Schmerz und auch die Bedrohung, die in den blassen Gesichtern der dort hingemalten Leute standen. Und je intensiver ich diese Szenerie betrachtete, desto mehr Ähnlichkeit erkannte ich zu jenen Menschen, denen ich gerade erst begegnet war. Wenn auch in einem völlig anderen Kontext. Hrdlickas Figuren ächzten unter dem Joch der Unterdrückung, jene in meinem Kopf unter dem Stiefel des Mammons. Beides hatte seinen ureigenen Schrecken. Nach zwei weiteren Zigaretten erhob ich mich schließlich. Begab mich zu einem der Lifte und fuhr allein in der Kabine hoch in den achtzehnten Stock. Dort schloss ich die Tür zu meiner kleinen Wohnung auf, streifte die Schuhe ab und holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Als ich mit dem Getränk in der Hand raus auf die Loggia ging und runterblickte auf all die Ameisen, die über die Gehsteige wimmelten, nahm ich einen tüchtigen Zug. Und mir kam wieder der Tag in den Sinn, als ich mit sechzehn zum ersten Mal einen Menschen getötet hatte.

 

Rückblende

 

Was mochten das für Bäume sein, die da draußen in Reih und Glied angeordnet standen? Schief wie Betrunkene und doch standfest wie die Zinnsoldaten. Keinerlei Äste griffen aus ihren Flanken. Bloß in den Himmel ragende Wassertriebe. Es musste Wochenende gewesen sein. Denn Vater und Mutter waren am späten Vormittag in unserer kleinen Wohnung anwesend. Und ich nicht im Kindergarten. Ich betrachtete diese Bäume vom Rand des in Wellblech gefassten Balkons weiter, während jenseits der Erkertür Glas zu Bruch zu gehen drohte. Wie seltsam die Natur doch war, die solche Gewächse in dieser Betonwüste überleben ließ. Die auch mich erschaffen hatte, um mir vor Augen zu führen, wozu sie imstande war. Und wozu die Geschöpfe imstande waren, die sie sonst noch hervorgebracht hatte. Ich blickte nach vorn, nach oben, nach unten. Nach links und nach rechts. Überall glatte helle Fassaden, die von knapp bemessenen Ausbuchtungen und Vorsprüngen kurz aus dem Tritt gebracht wurden, ehe sie wieder in der Ganzheit der Monotonie ineinander verschmolzen. Bloß jene mit dunkler Rinde überzogenen Bäume brachten Verwirrung in dieses Bild. Und die Schreie, die langsam von drinnen zu meinen Ohren drangen. Das war meine erste Erinnerung an das Leben, in das man mich hineingeboren hatte.

 

2

 

Ich schloss die Duschkammer und drehte das Wasser eiskalt auf. Einen Moment lang schüttelte es mich durch, dann entspannte sich mein Körper, und ich kam wieder zu Sinnen. Wer in der Roten Armee und später in der Legion gedient hatte, war an Abhärtung gewöhnt. Nach der Morgentoilette zog ich mich an und machte Frühstück, während im Radio die 6. Sinfonie von Jean Sibelius zu hören war. Rhythmische Wehmut, unterbrochen von eruptiven Bläserklängen. Mir gefiel die Interpretation dieses Werks von Leonard Bernstein besser, aber schließlich befand ich mich in Österreich, und so spielte der Sender eine Aufnahme der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Lorin Maazel. Das Weißbrot schnalzte aus dem Toaster, und ich begab mich zur kleinen Sitznische in der Küche, wo eine Flasche Milch, etwas Schinken und eine Schale Müsli bereits auf mich warteten. Die Agentur hatte mich Punkt zwölf einbestellt. Ein neuer Auftrag, wie es geheimnisvoll hieß. Bis dahin war Zeit, noch etwas ins Fitnessstudio zu gehen. Nicht aus übertriebenem Ehrgeiz. Nicht aus Leistungs- oder gar Gesundheitswahn. All das war mir fremd. Nein, aber mein Körper war meine Einkommensquelle, meine Existenzsicherung. In vielerlei Hinsicht. Und darum musste ich ihn vor allzu schnellem Verfall bewahren. Den Raubbau an ihm in Grenzen halten. Was mir mit den Jahren zusehends schwerer fiel. Zumal ich bereits in meiner Jugend all meine inneren Ressourcen aufgebraucht hatte. Und jetzt nur noch auf Reserve lief. Bis auch diese sich verflüchtigte und mein Los besiegelte. Ehe es so weit war, wollte ich mich aber nicht kampflos ergeben. Darum konnte ich nur immer weitermachen. Egal, wohin das Schicksal mich auch führte. Jeder Kreatur auf diesem Erdenball war das beschieden. Wenngleich sich ihre Wege stark unterschieden. Ich räumte das Geschirr vom Tisch und begab mich ins Wohnzimmer. Dorthin, wo ich am Vortag meine Gedanken loslassen wollte. Sie ertränkte. Ich griff mir das nächstbeste Buch und schlug es auf. Irgendwo in der Mitte. Ulysses von Joyce. Ich hatte es nie geschafft, es zusammenhängend fertig zu lesen. Dazu hatte es mir ebenso an Ausdauer wie auch an Intellekt gefehlt. Vielleicht aber auch nur an der Begabung, wirklich leiden zu wollen. »Lehm, braun und feucht, begann in der Grube sichtbar zu werden«, stand da. »Stieg an, stieg auf und die Totengräber ließen die Spaten ruhen.« Ich entsann mich jener Stelle in diesem extravaganten Buch. Die Beerdigung von Paddy Dignam. In dem Moment verschwanden die wirren Worte des irischen Schriftstellers und wurden durch ein Bild ersetzt, welches sich bis ins Tiefste meines Gedächtnisses hineingebrannt hatte. Der aufgebahrte Leichnam meines ersten Opfers. Und mein hämisches Grinsen, welches ich damals in einer reflektierenden Glasscheibe wahrnahm.

 

Rückblende

 

Ich mochte den Kindergarten, der dem Betrieb angeschlossen war, in dem meine Eltern arbeiteten. Wir erfuhren dort viel Zuwendung. Das begann schon, als Mutter mich morgens früh dort abgab. Wir wurden in nach Alter aufgeteilten Gruppen betreut. Machten Morgengymnastik mit Musik, bekamen ein warmes Frühstück und durften unter fürsorglicher Aufsicht spielen. Wenn Schnee lag, gingen wir zum Schlittenfahren und im Sommer zur Naturbeobachtung in den nahe gelegenen Park. Mittags gab es ein dreigängiges Essen, und nach der zweistündigen Ruhezeit in den Kojen beschäftigten unsere Erzieherinnen sich wieder mit uns. Bis wir früh abends von den Eltern geholt wurden. In meinem Fall von meiner Mutter, die noch kurz mit den Aufsichtspersonen sprach, ehe wir uns zur Bushaltestelle und zurück in die Wohnung begaben. Gewöhnlich redeten wir dabei kaum ein Wort. Mutter quetschte meine Bastelarbeiten in einen Stoffbeutel, den sie dann in einem Mülleimer vorm Haus entleerte, und ich sah hoch in die vom künstlichen Licht zerfurchte Dunkelheit.

 

3

 

»Ein saudischer Prinz kommt übermorgen hierher«, eröffnete der Chef der Sicherheitsagentur das Meeting. Ich hatte schon öfters mit arabischen Adeligen zu tun gehabt und dabei vor allem ihr großzügiges Trinkgeld geschätzt. Was über ihr Benehmen stets hinwegtäuschen konnte. Darum wäre ich nicht abgeneigt gewesen, dort zugeteilt zu werden. »Er hat natürlich seine eigenen Leute mit«, setzte Horst Marek fort. »Aber sie brauchen noch zwei Leute mit Ortskenntnissen.« Da es sich nicht um einen offiziellen Besuch, sondern augenscheinlich um einen ausgedehnten Einkaufsbummel handelte, wurden keine öffentlichen Stellen bemüht, sondern ein privater Dienst. Und Marek war die Nummer eins in Wien. Ich hoffte, diesen Job zu bekommen, doch der Boss, der ebenso wie ich eine Spezialausbildung in Israel gemacht hatte, überreichte zwei anderen Kollegen die Kuverts mit den entsprechenden Instruktionen. Ich griff nach dem vor mir stehenden Pappbecher und trank einen kleinen Schluck Automatenkaffee. Niemand wurde hier in die Zentrale herbestellt, ohne dass es auch einen Grund dafür gab. Also blieb ich gelassen. Kündigungen sprach der Chef nur unter vier Augen in seinem eigenen Büro aus. Und dazu sah ich keinerlei Anlass. Oder doch? Ich ging im Geiste die letzten Aufträge kurz durch. Gewiss. Bei der Generalversammlung eines großen Energieversorgers hatte ich zwei renitente Kleinaktionäre etwas unsanft aus dem Saal befördert und ihnen zum Abschied noch einige tüchtige Ohrfeigen mit auf den Heimweg gegeben. Aber das gehörte mit zum Geschäft. Zumal ich mir sicher war, dass niemand heimlich mit einem gezückten Smartphone mitgefilmt hatte. Dennoch war ich beunruhigt, als Marek mich nun direkt ansprach.

»Volkov«, sagte er durchaus scharf und nahm mich mit seinen Habichtsaugen ins Visier. Er hatte einst bei einer Spezialeinheit der Polizei gedient, war aber nach einem bis heute strittigen Vorfall mit einem Festgenommenen vom Dienst suspendiert worden, ehe er sich diese Agentur hier aufbaute. Ich nickte kaum merklich. »Was sagt dir der Name Anja Pescher?«, wollte er ohne Umschweife wissen. Daher wehte also der Wind. Ich überlegte kurz.

»Moderiert beim Fernsehen irgendein Politmagazin«, antwortete ich kurz. Beim Militär lernte man, niemals zu viel zu sagen als unbedingt nötig. Jetzt war mein Arbeitgeber es, der nickte.

»Was hältst du von ihr?«, hakte er nach. Ich lachte ganz kurz verächtlich auf.

»Weiß alles besser und glaubt, die Welt mit ihren Illusionen bekehren zu können. Ziemlich einseitig in ihrem Denken.« So wie alle Journalisten, fügte ich in Gedanken hinzu. Marek warf mir einen großen weißen Umschlag zu.

»Dann bist du genau der Richtige. Sie hat Morddrohungen erhalten, die Polizei sieht aber keinen dauerhaften Handlungsbedarf.« Ich überlegte.

»Soll das heißen, ich muss mich rund um die Uhr um diese Tussi kümmern?« Der Chef freute sich förmlich über die Aversion, die in meiner Stimme lag.

»Genau das werden Hausberger und du tun!« Er hatte den Kollegen, mit dem ich mich ablösen sollte, also bereits in Kenntnis gesetzt.

»Für wie lange?«

Marek zuckte mit den Schultern.

»Wenn es sein muss bis zum Sankt Nimmerleinstag. Sie zahlt gut, und es wird kein allzu anstrengender Job für euch werden. Haltet die Augen auf. Vermutlich irgendein Spinner, der sich mit der Guten einen Scherz erlaubt. Dennoch tun wir so, als nähmen wir die Sache ernst. Das ist unser Beruf. In zwei Wochen werdet ihr von einem anderen Team abgelöst. Es sei denn, sie überlegt es sich bis dahin anders.« Der Boss sagte das in einem süffisanten Ton, der darauf anspielte, dass sie womöglich der Gesellschaft von Hausberger oder mir selbst bald überdrüssig werden könnte. Allgemeines Gelächter, meines ausgenommen, war die Folge. Ich erhob mich, ohne das Ende des Meetings abzuwarten, und nahm im Magazin meine Dienstwaffe in Empfang. Sie zu tragen, diente eher der Abschreckung, da man im privaten Begleitschutz nur sehr eingeschränkte rechtliche Befugnisse hatte. Was mich an diesem Auftrag störte, war nicht die Tatsache, zwei Wochen lang zwölf Stunden täglich eingespannt zu sein. Da hatte ich schon wesentlich ungünstigere Arbeitszeiten erlebt. Nein. Mich störte, dass ich in Diensten einer Person stand, die ich zutiefst verabscheute.

 

Rückblende

 

Als ich in die Grundschule kam, änderte sich einiges in meinem Leben. Ich lernte Schreiben, Lesen und Rechnen. Und mein Vater verlor jegliche Hemmungen. Hatte er sich aus Angst vor den regelmäßigen ärztlichen Begutachtungen im Kindergarten noch zurückgehalten, so ließ er nun seine ganze Wut auf diese Welt an mir aus. Spätestens nach der ersten Flasche Wodka geriet er derart in Rage, dass es keiner Schilderung bedurfte, was er dann mit mir anstellte, während Mutter mit leeren Augen das Geschirr spülte. Wenn er sich an mir verging, hatte zumindest sie ihre Ruhe. So war ihr Selbstschutz aufgebaut. Während andere Familien ihren kostenlosen Anspruch auf ein kleines Grundstück für eine Datscha geltend machten, um dort Gemüse anzubauen und etwas Glück zu erleben, vertrank mein Vater seinen Verstand ebenso schnell wie das Geld, das man ihm auszahlte. Und meine Mutter sah ohnmächtig zu. Leistete dem sogar Vorschub. Warum auch immer.

 

4

 

Die TV-Station hatte ihre eigenen Sicherheitsleute, und so übernahm ich Anja Pescher, wenn man das so nennen wollte, erst am Angestelltenausgang. In den vorangegangenen Tagen hatte sie sich stets umgezogen, bevor sie zu mir ins Fahrzeug stieg, doch dieses Mal kam sie mit ihrer Moderatorenkleidung heraus. Sie trug ein weißes, knielanges Kleid, schwarze Nylonstrümpfe und hochhackige Schuhe in gleicher Farbe. Nachdem ich einen kurzen, aber intensiven Blick an ihr haften ließ, hielt ich ihr mit einem kurzen Gruß die Hintertür auf und klemmte mich anschließend hinters Lenkrad. Sie hatte ein Appartement direkt in der Innenstadt, und da dort weitgehendes Fahrverbot für private Fahrzeuge herrschte, musste bis hin zu ihrer Wohnung ein etwa zweihundert Meter langer, öffentlicher Raum überwunden werden, wie man das im Fachjargon nannte. Doch als ich einen günstigen Parkplatz in einer Seitengasse gefunden hatte, machte sie keine Anstalten, das Auto zu verlassen.

»Ihr Kollege redet wie ein Wasserfall. Erfragt praktisch meine ganze Lebensgeschichte. Sie hingegen sind stumm wie ein Fisch.« Sie strich dabei lasziv durch ihr blondes, schulterblattlanges, glattes Haar.

»Wir sind da«, antwortete ich professionell und machte mich daran auszusteigen, um ihr die hintere Fahrzeugtür zum Aussteigen zu öffnen. Auch das gehörte zu unserem Service.

»Seien Sie nicht so langweilig«, unterbrach sie mich stattdessen und wies mich an, mit ihr eine nahe gelegene Diskothek aufzusuchen, die nach einer Stadt in Tennessee benannt war. Da es keine akute Bedrohungslage in diesem Fall gab und ich daher keine Verstärkung brauchte, kam ich diesem Wunsch sofort nach. Ganz nach Vorschrift der Agentur. Wenngleich es für mich und meinen Auftrag leichter gewesen wäre, eine Wohnung zu observieren, als mit einer prominenten Schutzperson eine öffentliche Lokalität aufzusuchen, die noch dazu sehr gut besucht war. Wir nahmen in einer der knappen Nischen im Untergeschoss Platz. Dort sah ich ihr erstmals in die Augen. Zuvor hatte ich mich ausschließlich auf das fixiert, was sie umgab. Und während Depeche Mode musikalisch der Stille huldigte, spürte ich die Einsamkeit in ihr. Meine eigene war bereits vor Jahrzehnten vom Meer der Ignoranz weggespült worden. Zwar läutete ihr Handy andauernd, und ständig huschten irgendwelche Leute an ihr vorbei, die sie mit Küsschen überbordeten. Dauerhaft sitzen blieb jedoch nur ich. Der Mann mit der Knarre im Halfter. Was für eine unromantische Vorstellung für eine Frau. Sie tanzte einige Male mit Leuten, die ich nicht kannte, ließ sich Komplimente machen, und nachdem sie fünf oder sechs Gläser Sekt getrunken hatte, den man hier ganz ungeniert als Champagner verkaufte, wandte sie sich direkt an mich, der bislang im knappen Abseits gesessen hatte.

»Was, glauben Sie, was los ist, wenn ich in einen normalen Club gehe und dort etwas trinken will?«, fragte sie mich. Mir war klar, dass in dieser Disco nur ausgewähltes Publikum Zutritt hatte. Ein Normalsterblicher brauchte sich erst gar nicht beim Türsteher zu bemühen. Also stellte ich ihr eine Gegenfrage.

»Sie meinen also einen Club, in dem sich Leute wie ich befinden?« Ich sagte das in einem völlig wertfreien Ton. Anja überlegte kurz. Dann nickte sie.

»Ja, so wie Ihrereins ausgeht.« War das Naivität oder gezielte Provokation? Ich schluckte kurz und lächelte sie dann eisern an, ohne darauf etwas zu erwidern. Es dauerte vielleicht zehn, womöglich auch zwanzig Sekunden, in denen wir uns nur neutral ansahen. Dann begann sie plötzlich, lauthals zu lachen.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie erheitert. »Aber das musste ich einfach wissen.« Ich hatte verstanden. Sie wollte mich nur auf die Probe stellen. Und doch hatte sie eine Grenze überschritten. Ich hatte einen ganz einfachen Grundsatz. Jeder Kunde, der mich als Mensch respektierte, bekam meinen Respekt, meine Freundlichkeit und meinen Schutz zurück. Alle anderen, die das nicht taten, mussten auf den Respekt verzichten. Der Rest war vertraglich geregelt.

 

Rückblende

 

Mein Vater hieß Evgeniy Volkov, meine Mutter Teresa. Welche Ironie. Mir wurde, als ich am 28. Februar 1970 in Charkiw geboren wurde, der Name Mikhail gegeben. Wenn Vater zu viel getrunken hatte, was sehr oft vorkam, bekam er meistens früh morgens gerade noch so die Kurve und stand auf, um pünktlich bei der Arbeit im Traktorenwerk zu erscheinen. Was er dort tat, wusste ich nicht. Auch nicht, womit meine Mutter sich den ganzen Tag über beschäftigte, die im gleichen Betrieb Geld verdiente.

Mitunter kam es aber auch vor, dass Evgeniy Volkov alle viere gerade ließ und im Bett liegen blieb. Ohne Bescheinigung eines Arztes. Was zur Folge hatte, dass die Miliz im Laufe des Tages an unserer Wohnungstür klopfte und den säumigen Arbeiter zurück an seine Wirkungsstätte verfrachtete. Da war ich aber zumeist in der Schule und kriegte nichts von diesen Vorgängen mit. Nur abends, wenn Mutter schamvoll darüber flüsterte, dass der Name ihres Ehemannes mal wieder am Schwarzen Brett wegen einer Verfehlung angeschlagen worden war. Dass er mich einmal pro Woche halb tot prügelte, störte sie dabei weniger.

 

5

 

In meinem ersten Jahr bei der Armee der UdSSR hatten mich die Großväter gelehrt, auf Schlaf zu verzichten. Meist, um ihren Schikanen freien Lauf zu lassen. Und so war es mir in Fleisch und Blut übergegangen, oftmals mit zwei oder drei Stunden nächtlicher Ruhe auszukommen. Ich setzte mich in meinen freien Nächten mitunter in ein Auto, das ich kurz zuvor gestohlen hatte, tauschte die regulären Nummernschilder durch andere aus und parkte mich in die Seitengasse irgendeiner Diskothek oder eines Clubs am Stadtrand.

Wenn die Luft rein und die Anwesenheit eines konzessionierten Taxifahrers auszuschließen war, stellte ich mein beleuchtetes Schild aufs Dach und spielte Chauffeur. Es machte mir Spaß, betrunkenen Jugendlichen ihre kurzen, bedeutungslosen Lebensgeschichten abzufragen. Weil es mich immer daran erinnerte, dass auch mein Leben damals kurz und bedeutungslos war. Bloß dem Zwecke bestimmt zu überleben. Wenn auch unter anderen Voraussetzungen. Doch ich verurteilte diese jungen Leute nicht dafür. Welchen Sinn hätte es auch gehabt? Nur die Großväter wollten, dass man dasselbe erlitt wie einer selbst. Die Großväter, die mich nicht losließen. Selbst dann nicht, als ich einer von ihnen wurde.

Eines Nachts stieg jedoch ein Junge bei mir ein, der anders war als alle, die ich bisher gefahren hatte. Er war nüchtern, eloquent, und schon nach wenigen Minuten des Gesprächs begann ich, ihn zu hassen. Wäre er in seiner nach außen hin getragenen Überheblichkeit auch noch beleidigend geworden, hätte ich ihn als das abtun können, was ich seit jeher verachtete. Aber dieser Typ passte in kein Bild, in kein vorgefertigtes Schema. Er überrollte mich, je länger wir sprachen. Und als ich am Praterstern meinen Fuhrlohn verlangte, hechtete ich vielleicht eine Sekunde später auf die Rückbank und tötete ihn so, wie man es mir ein Leben lang beigebracht hatte. Ohne die geringste innerliche Regung zu verspüren.

 

Rückblende

 

Ich bekam den Roten Stern Lenins verliehen und wurde in den Kreis der Oktoberkinder aufgenommen. Bei derlei Ereignissen war es üblich, die ganze Familie einzubinden. Alle kamen zusammen und freuten sich. Aßen, tranken und ließen es sich gut gehen. In meinem Fall hingegen war nur Mutter dabei. Mit einem überschminkten blauen Auge. Dem anwesenden Parteiorgan log sie auf Nachfrage etwas von einer Unpässlichkeit ihres Mannes vor, und ohne sich groß zu verabschieden, verschwanden wir, ehe das Fest noch richtig begonnen hatte. So wie immer. Egal, ob es sich um die Feierlichkeiten zum 1. Mai handelte, dem Tag von Armee und Marine, oder den Siegesfeierlichkeiten zur Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Ganz zu schweigen von den unter der Hand geduldeten orthodoxen Festen.

Die Volkovs glänzten mit Abwesenheit. Mischa, wie die anderen Kinder mich nannten, war nicht dabei. Ganz gleich, wie sehr ich mich auch auf die Paraden und die Choreographien freute, die wir in der Schule einstudiert hatten. Denn Mischas Vater, dem schon zweimal der Personalausweis abgenommen worden war, musste sich betrinken. Mit einer Flüssigkeit, deren bloßer Anblick Übelkeit bei mir auslöste.

 

6

 

Ich hatte den jungen Mann irgendwo im Wienerwald verscharrt und den Wagen auf der anderen Seite der Stadt auf dem Parkplatz eines großen Einkaufszentrums abgestellt, wo er sicherlich bald entdeckt und seinem Besitzer nach dem üblichen behördlichen Procedere wieder übergeben würde. Die Spuren meines Gewaltausbruchs hatte ich akribisch beseitigt, und so würde man eher nur zufällig auf einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden einer Person und einem Autodiebstahl stoßen.

Am letzten Abend vor der Ablösung bat Anja Pescher mich in ihre Wohnung. Sie war zweifelsohne eine attraktive Frau, aber es wäre mir lieber gewesen, draußen im Flur auf einem Stuhl zu sitzen und die Nacht bei einem Sandwich und einer Dose Pepsi abzureißen. Doch sie bestand darauf. Ich kannte ihr Appartement vom Erstgespräch her, in dem Hausberger und ich sichergestellt hatten, dass ein Angriff auf ihre Person ausschließlich über die Wohnungstür erfolgreich sein konnte, da alle Fenster und auch der Balkon im siebten Stock alarmgesichert und für einen Eindringling von außen nur schwer zugänglich waren. Würde es trotzdem jemandem gelingen, an eine der Scheiben zu gelangen, wäre er zwei Sekunden später bereits von uns gestellt worden. So gesehen, war es eine mehr als einfache Observation. Und dementsprechend gelassen war ich auch. Es war eine Routineangelegenheit. Mehr nicht.

»Was halten Sie davon?«, fragte sie mich und legte einige Blätter Papier auf dem großen Tisch inmitten der Küche aus. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie selbst hier drinnen niemals etwas gekocht hatte. Nicht so wie Großmütterchen, die ich nur vom Hörensagen gekannt hatte, da mein Vater jeden Kontakt zu den Mitgliedern unserer Familie strikt untersagte und diese Anordnung auch mit dementsprechenden Nachdruck durchsetzte. Großmütterchen, wie meine Mutter sie in ihren sentimentalen Momenten nannte, hatte aus nichts ein leckeres Essen gezaubert. Und dem, was der Garten hergab. Borschtsch, Wareniki, Kohlrouladen. Hin und wieder sogar Pampuschky, mit Marmelade gefüllte Krapfen. Ich besah mir die Zettel eine ganze Weile und empfand das Gleiche, was wohl auch der Verfasser dieser Nachrichten empfunden hatte. Tiefe Abscheu gegen die politische Haltung von Anja Pescher, die keine Gelegenheit ausließ, sich als moralische Wortführerin in der Medienlandschaft hervorzutun. Mit wenig demokratischen Mitteln, wie ich fand. Aber geschützt von einem Arbeitgeber, der dieselbe Doktrin verfolgte. Den uferlosen Liberalismus.

»Nun?«, erinnerte sie mich an ihre ursprüngliche Fragestellung.

Ich war Profi genug, um meine Privatmeinung hinten anzustellen. Ich verweigerte aber eine von ihr wohl erwartete Bekundung der Ablehnung zu diesen Schriften, die mitunter sehr subtil gehalten waren.

»Meinungsmachende Medien und dort exponierte Personen wie Sie haben viel Macht«, wich ich stattdessen aus. Anja Pescher fuhr sich heftig durch ihr blondes Haar. Es war spät geworden, und ihr Make-up saß keineswegs mehr perfekt. Das machte sie etwas menschlicher für mich.

»Sympathisieren Sie etwa mit diesem Menschen?«, fragte sie nun fast außer sich. In ihrer Welt, ihrer Umgebung hatte sie niemals etwas anderes als Zustimmung für das wahrgenommen, was sie tat, wofür sie sich einsetzte. Was ihre Meinungen gerade nur verfestigte. Ähnlich einer Redakteurin des New Yorker, die es nicht glauben konnte, dass einst Richard Nixon die US-Wahl gewonnen hatte. Wo doch jeder aus ihrem Umfeld dem Gegenkandidaten die Stimme gegeben hatte. Ich schob die Gardinen vor dem Küchenfenster beiseite und blickte raus auf die Lichter der Stadt.

»Ich bin in der Ukraine geboren, bin nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Frankreich gegangen, habe in den USA gelebt und lebe seit geraumer Zeit hier in Österreich. In all den Jahren hatte ich beruflich in vielen Ländern zu tun. Ich kenne die Welt also aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aber nirgendwo ist mir so ein irrationaler Hang zur Selbstzerstörung begegnet wie hier.«

Sie wusste, worauf ich hinauswollte.

»Sie sind also ein Traditionalist?«, versuchte sie es etwas gar plump.

»Nein«, antwortete ich ohne Umschweife. »Ich glaube, dass jedes Volk, jede Nation eine eigene Identität hat und diese aus falsch verstandener Rücksichtnahme auch nicht aufgeben sollte.« Anja Pescher stand dem in Opposition. Sie trug die Illusion einer Welt vor sich her, in der es am Ende keine Schattierungen mehr gab. Das machte ich ihr zum Vorwurf. Sie maßregelte vom Rücken eines Rosses herab all jene, die nicht bereit waren, ihren Weg in die Identitätslosigkeit mitzugehen. Wenngleich sie diesen in weitaus bunteren Farben zeichnete, als ich das zu erkennen vermochte. Und dass sie dabei niemals jenen Elfenbeinturm verließ, der ihr die Sicht auf die Wirklichkeit versperrte, brauchte nicht näher erläutert zu werden.

»Ach, Sie sind doch auch nur so ein verkappter Faschist«, klagte sie mich plötzlich sehr verächtlich werdend an. Auch diese Taktik der Totschlagsargumentation war mir durchaus bekannt. Sie wurde in den Medien landauf, landab beinahe religiös zelebriert. Daher lächelte ich nur freundlich.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Sie schüttelte den Kopf. Ich machte mich auf den Weg zurück zu meinem Stuhl.

»Welchen Pass haben Sie eigentlich?«, rief sie mir fragend nach. Ich drehte mich um und blieb kurz stehen.

»Einen Französischen, Frau Pescher.«

Jetzt war sie es, die lächelte. Und einen Moment lang verstand ich sie. Ja, auch ich hatte mich befreit und mir eine bessere Lebensperspektive verschafft. So, wie es Millionen von Menschen auf dieser Welt gerade auch taten. Doch hatte ich seinerzeit womöglich einen weitaus höheren Preis dafür zahlen müssen, als er dieser Tage veranschlagt wurde.

 

Rückblende

 

Die Kälte, die mir daheim widerfuhr, konnte die Schule nur unzureichend kompensieren. Aber immerhin. Ganz nach dem leninistischen Leitbild des stetigen Lernens erfuhr ich dort so etwas wie Zuspruch. Denn trotz der Anforderungen in unterschiedlichsten Wissensgebieten, die man an mich, an uns stellte, wurde auch immer wieder die individuelle Begabung gefördert. Jeder hatte ein Talent. Man musste es nur freilegen. Was Aufgabe der Pädagogen war. Und mein Versagen wäre letztlich auch ihres gewesen. So löste sich manches in Wohlgefallen auf, was ich aber erst sehr viel später ernsthaft hinterfragte. Mir jedenfalls wurde eine gewisse literarische Befähigung attestiert, und so deckte einer meiner Lehrer mich regelmäßig mit Büchern bekannter russischer Autoren ein, deren Werke nicht verboten oder zumindest kritisch beäugt wurden. Zuerst bekam ich Tschukowski, Marschak und Nossow zu lesen, später dann auch Gorki, Scholochow und Tolstoi. Und tatsächlich. Ich fand dort etwas, was ich bislang vergeblich gesucht hatte. Liebe.

 

7

 

Anja Pescher kämpfte weiter für ihre Ideen, ohne sich dabei selbst in die Verantwortung zu nehmen. Das überließ sie vornehmlich anderen. Und ich strich wieder durch die Straßen, ehe man mich für einen neuen Auftrag einbestellte. Das konnte schon am nächsten Tag sein. Je nachdem, welche Kunden der Chef gerade auf dem Schirm hatte und wen er für den jeweiligen Job am geeignetsten hielt. Was oft ganz unterschiedliche Beweggründe hatte. Aber das bewertete ich nicht. Ich war auf Abruf verfügbar. Ein anderes Leben kannte ich nicht. Hatte niemals etwas anderes kennengelernt. Wenn die Prügel meines Vaters mich etwas gelehrt hatten, dann die Dinge so hinzunehmen, wie sie nun einmal waren. Ohne Strich und ohne Komma. Oft fragte ich mich, ob ich noch ein eigenständiges Individuum war oder bloß der langweilig hin und her geschobene Spielball in einer längst entschiedenen Auseinandersetzung. Ich ging die Prater Hauptallee entlang und bog dann links zum Stadion ab. Tauchte ins Getümmel der dort hinströmenden Menschen ein und blieb schließlich bei einem der Würstelstände vor dem mächtigen Oval stehen. Drängte mich durch erwartungsvolle Fußballfans ebenso wie durch betrunkene Zaungäste und bestellte eine Bratwurst mit scharfem Senf, einer Semmel und einer Dose Bier. Ich besah mir die Leute rings herum und erinnerte mich zurück an das Jahr, in dem ich beim Militär eingezogen wurde.

Metalist Charkiw spielte im Pokalfinale gegen Torpedo Moskau. Da ich kurz vor der Einberufung stand, hatte ich nicht mit nach Russland reisen dürfen und musste als treuer Anhänger der Mannschaft meiner Heimatstadt das Spiel im Fernsehen in einer Kneipe ansehen. Das Gerät war schon sehr alt, und die Bildröhre gab zuckend die letzten Lebenszeichen in Schwarz-Weiß von sich, doch als die beiden Tore für Charkiw fielen, kamen Leute sich näher, die ansonsten einen weiten Bogen umeinander schlugen. Schließlich war in einem totalitären Staat jeder suspekt. Egal, ob Spitzel, Dissident, Parteifunktionär oder einfacher Werktätiger. Wer öffentlich sein Bier und seinen Wodka trank, musste auf der Hut sein. Warum es viele auch lieber im Verborgenen taten. Ich aß meine Wurst, trank mein Bier aus und ging weiter. Immer mehr Leute strömten ins Stadion. Es stand mir frei, mich ebenfalls dorthin zu begeben. Doch ich spürte keinerlei Bedürfnis danach. Das Spiel gegen Moskau war mittlerweile siebenundzwanzig Jahre her. Ich war in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Ja, in einem anderen Leben. Damals war ich jung gewesen. Nun war ich älter geworden. Und hatte meine letzten Illusionen verloren. Irgendwie beneidete ich Anja Pescher plötzlich. Ihr war all das erspart geblieben. Aber nein. Es gab keinen Grund für Weinerlichkeit. Nur den kurzen Schauder an eine frostige Erinnerung. Ich hatte nicht mit in Moskau sein dürfen. Also nutzte ich die allgemeine Glückseligkeit ob des Sieges und ging hinaus auf die Straßen meiner Heimatstadt. Und ertränkte den nächstbesten Passanten im Fluss. Direkt gegenüber der wissenschaftlichen Bibliothek. All das hatte seine Bedeutung verloren. Selbst die unbekannten Gesichter, in die ich blickte, deren Leid sich im Moment des Todes manifestierte, ließen mich gleichgültig. Ich ging an der Untergrundbahnstation vorbei in Richtung Donauufer. Die Menschen gingen aneinander vorbei. Wichen einander aus. Nur in speziellen Momenten wurden wir zu dem, was man soziale Wesen nannte. In welchem politischen System wir lebten, spielte dabei kaum eine Rolle. Wir waren imstande, uns kollektiv zu freuen. In Ekstase zu geraten. Aus welch nebulösem Grund auch immer. Aber wir waren in demselben Augenblick auch bereit, genau das Gegenteil zu tun. Wir mussten uns bloß entscheiden.

 

Rückblende

 

Für einen Werktätigen der Sowjetunion war der Betrieb, in dem er angestellt war, auch immer so etwas wie seine zweite Heimat. Auch, was die Freizeit betraf. Sogar die Familie Volkov, die atypisch zum sonstigen Verhalten der Leute selbst den Kontakt zu ihren Anverwandten abgebrochen hatte, konnte sich nicht vor allen Aktivitäten verschließen. Und so stimmte mein Vater zähneknirschend einem fünftägigen Ausflug nach Lettland an die Ostsee zu, im Zuge dessen neben den üblichen Betriebsbesichtigungen auch der Auftritt einer Zirkustruppe aus Finnland auf dem Programm stand. Schon der Klang eines westlichen Staates rief bei vielen Begehrlichkeiten hervor, wenngleich sich das nach außen hin natürlich niemand anmerken ließ. Wenn schon nicht der Blockwart um die Ecke, ein begleitender Politoffizier würde während der Reise unter Garantie exakt mitschreiben. Aber diese Tour, auf die ich mich so sehr freute, fiel letztlich ins Wasser. Denn in der Nacht zuvor wurde ein Mann von der Miliz festgenommen, der nur einen Hauseingang weiter mit seiner Frau und einem kleinen Mädchen wohnte. Lydia hatte sie geheißen. Vom eigenen Vater im Alkoholrausch erschlagen. Weil sie nicht gleich eingeschlafen war und noch etwas quengelte, nachdem man sie zu Bett gebracht hatte. So hatten die Leute es erzählt. Was Evgeniy Volkov wohl zu denken gab. Nicht, weil ein kleines Kind getötet wurde. Nein, weil man im Werk später darüber gesprochen hatte, wie der mutmaßliche Täter von der Miliz verhaftet worden war. Die ganzen Stufen vom fünften Stock bis zum Ausgang hinab wurde er laut diesen Berichten auf brutalste Weise verprügelt. Nach diesem Vorfall ließ Vater etwas mehr Sorgfalt walten, wenn der Alkohol ihm mal wieder befahl, mich als Ventil für seine gescheiterte Existenz zu betrachten. Der Tod der kleinen Lydia hatte mir zwar einen innigst herbeigesehnten Kurzurlaub verleidet, mich aber mit ziemlicher Sicherheit vor dem eigenen körperlichen Untergang bewahrt.

 

8

 

Durch die Misshandlungen, die ich während meiner Jugend in der elterlichen Obhut erfuhr, hatte ich mir sukzessive einen dicken Panzer zugelegt, den ich nach außen hin mit Gleichgültigkeit belegte. Doch trotz der Texte und Bücher, die ich las und die mir ebenso wie der Sport einen Hauch von Selbstbewusstsein einflößten, hatte mein Vater in einem bestimmten, sehr intimen Punkt ganze Arbeit geleistet. Ohne mich sexuell missbraucht zu haben, war es ihm durch perfide Suggestion gelungen, mich in meiner dahingehenden persönlichen Entwicklung arg einzuschränken. Was erstmals in der Pubertät zum Tragen kam und sich nahtlos bis ins Erwachsenenalter fortführte. Bis hin zum Tage dieser hier behandelten Geschehnisse. Nachdem ich mich an der Schwärze des Wassers der Donau sattgesehen und das leise Zischen des Stromes verinnerlicht hatte, begab ich mich zurück in den Prater und kam schließlich in einer schmalen Straße an, in der trotz des unwirtlichen Wetters Frauen in leichter Bekleidung ihre Dienste anboten. Ich kam dort nur sehr unregelmäßig vorbei, da ich versuchte, meine diesbezüglichen körperlichen Bedürfnisse auszublenden. Was nicht immer gelang. Da ich mich eines bestimmten Fetisches bediente, um mich zu stimulieren, war die Dame meines Begehrens bald auserkoren, und ohne jegliche Romantik begaben wir uns in einen notdürftigen Verschlag, wo ich mich schließlich beinahe qualvoll auf einer speziellen Stelle ihres Körpers entleerte. Wieder zurück in der Welt des Lichtes schämte ich mich dafür. Oft fragte ich mich, welcher Typ von Mensch ich eigentlich war. Doch ich fand niemals eine Antwort darauf. Ich war weder ein vollendeter Narziss noch ein Empathiker. Weder ein Menschenfreund noch ein Misanthrop. Ich existierte einfach. Daran war weder etwas Erhabenes noch etwas Verwerfliches. Aber genau das war es, was ich seit jeher suchte. Das Haar in der Suppe. Den Unklang in der Symphonie. Die Rechtfertigung davor, mich nicht selbst rechtfertigen zu müssen. Meine Beschränktheit zu offenbaren. Ja, das war es, was ich am allermeisten fürchtete. Mich als den zu akzeptieren, der ich war.

 

Rückblende

 

In der kommunistischen Sowjetunion übernahm der Staat viel Verantwortung in der Kinder- und Jugendbetreuung, wofür ich ihm sehr dankbar war. Denn allein in der Obhut meiner Eltern wäre ich unter Garantie vor die Hunde gegangen. Als ich zu den Pionieren kam und das rote Dreieckstuch um den Hals gebunden trug, nahm der Gruppenleiter sich meiner an. Er sah bei den Übungen, die wir zur Ertüchtigung von Körper und Geist machten, in welchem Ausmaß man mir physisch zugesetzt hatte, und erstattete Meldung. Eines Abends klingelte es dann auch an unserer Wohnungstür, und zwei hochgewachsene Männer traten ein. Mein Vater, der bereits sein übliches Quantum Trost intus hatte, wurde bei ihrem bloßen Anblick sichtlich nervös, denn er bat mich in höflichem Ton, das Wohnzimmer zu verlassen. Ich ging ins angrenzende Kabinett und lauschte gebannt der Unterhaltung, die daraufhin stattfand. An den genauen Inhalt dieses Gesprächs kann ich mich nicht mehr entsinnen, doch die Schlussworte eines der beiden Beamten blieben mir im Gedächtnis hängen. »Sollte Ihr Sohn noch einmal mit derartigen Blessuren gesehen werden, Volkov, dann werden wir Sie zur Verantwortung ziehen. Ganz gleich, welche Märchen Sie uns dann auftischen. Und glauben Sie mir. Das wird nicht sehr angenehm für Sie werden.« Da ich wusste, welch Feigling mein Vater im Grunde war, klang diese Drohung wie eine Erlösung in meinen Ohren. Denn von nun an konzentrierte sich Evgeniy Volkov ganz auf seine Ehefrau. Was keinerlei Mitleid bei mir auslöste. Zu sehr hatte ich auch sie zu hassen gelernt.

 

9

 

Ich traf mich einmal in der Woche mit einem etwa sechzig Jahre alten Russen in einem Souterraincafé im 8. Bezirk. Er war das, was man einen Intellektuellen nannte. Geflohen aus Zar Putins Reich, der keinen Gefallen an Igor Alexandrowitsch Tretjaks Ansichten gefunden hatte. Als ich mich an seinen Tisch setzte, lag wie üblich die Komsomolskaja Prawda vor ihm. Das Propagandablatt des russischen Präsidenten. Auch die Novaja Gazeta las er regelmäßig.

»Nur wer seinen Gegner kennt, kann ihn besiegen«, begrüßte er mich wie üblich und faltete die Zeitung zusammen. Wir gaben uns kurz die Hand.

Tretjak war ein glühender Anhänger Sacharows und schwadronierte oft stundenlang über diese zweifelsohne herausragende Lichtgestalt der jüngeren russischen Geschichte. Während ich den genialen Wissenschaftler in Sacharow sah, verehrte mein Freund ihn vor allen wegen seines Wirkens als Dissident und Menschenrechtler. Eigentlich waren Igor Alexandrowitsch und ich ein ungleiches Paar. Und doch hatten wir uns angefreundet, als wir vor einigen Jahren etwa zeitgleich in Wien strandeten. Ich beherrschte neben meiner ukrainischen Muttersprache auch Englisch, Deutsch und mehr oder weniger Französisch, ebenso wie auch er. Doch wir unterhielten uns stets auf Russisch miteinander. »Schließlich beherrschen wir euch bis heute!«, begründete er das stets scherzhaft. Doch ich erkannte, dass er damit nur seine wirklichen Überzeugungen zu kaschieren versuchte. Denn obwohl er ein Gegner der derzeitigen Moskauer Regierung war, blieb er doch ein Russe. Und war damit auch der Ansicht, dass mein Heimatland ein Teil des seinen und nur wegen einer vorübergehenden Schwäche in den 90er-Jahren verloren gegangen war. Tretjak zog einen Zettel aus seiner Sakkotasche und legte ihn vor mich hin. Ich überflog den in kyrillischer Schrift verfassten Inhalt.

»Das ist ziemlich gut«, konstatierte ich schließlich. Mein Gegenüber lächelte kopfschüttelnd.

»Ich wusste, dass dir das gefallen würde.« Igor war Dozent am Institut für Slawistik an der Wiener Universität und schrieb als Fachmann für osteuropäische Literatur Gedichte und Artikel für oppositionelle russische Magazine. Im Exil, wie er oft und gerne betonte. Ich bestellte bei einem etwas in die Jahre gekommenen Kellner eine Tasse heißen Tee mit einem Schuss Rum, und Igor orderte ein neues Glas Bier. »Mischa«, begann er daraufhin. »Du bist ein Soldat. Erprobt im Kampf und gestählt von den Fährnissen des Lebens. Das habe ich, seit wir uns kennen, immer an dir respektiert und geachtet. Ich hingegen führe mein Schwert mit fragiler Klinge.« Ich nickte.

»Ja«, antwortete ich ihm ohne das Pathos, das er gerade heraufbeschwor. »Aber deine Möglichkeiten sind größer. Ich kann mich bloß immer nur mit einem Mann messen. Vielleicht mit zwei oder drei, wenn es hart kommt. Du hingegen erreichst Tausende. Oder mehr.« Tretjak strahlte. Er hatte schon einiges getankt. Wie üblich.

»Du bist zu bescheiden, mein Lieber«, konterte er halbherzig, um dann wieder ganz auf seine eigene Rolle einzuschwenken.

In einem endlosen Monolog über die gesellschaftlichen Verwerfungen in Mütterchen Russland, die man nicht stillschweigend hinnehmen dürfe. Über Putins wahnwitzige Pläne zurück zur Weltmacht. Über die orthodoxen Würdenträger, die starr an reaktionären Werten festhielten. Und. Und. Und. Nichts von dem, was der Professor da sagte, konnte mich überzeugen. Am Ende interessierte es mich auch gar nicht. Aber ich hörte ihm zu. Weil ich ihn trotz, vielleicht aber auch wegen unserer Gegensätze mochte. Und er glaubte an das, was er mir gebetsmühlenartig immer und immer wieder vortrug. Nicht so wie eine Anja Pescher, die bloß nach Aufmerksamkeit heischte. Nun, vielleicht war es an der Zeit, ihr welche zu verschaffen.

Rückblende

 

Meine Lehrer waren sich nicht einig darüber, ob ich die weiterführende Schule mit anschließender Studienberechtigung besuchen sollte oder nach der Acht-Jahres-Schule in eine Berufsausbildung gehen sollte. Man bescheinigte mir sowohl hervorragende Werte als auch erhebliche Defizite. So war ich beispielsweise sprachlich sehr gut, hatte aber mit Mathematik und anderen Naturwissenschaften größte Probleme. Ähnlich gegensätzlich verhielt es sich auch im Vergleich anderer Fächer. Und so war man ratlos, was man mit mir anfangen sollte. Also überließ man schließlich meinen Eltern die Entscheidung. Und die rächten sich beide an mir. Vater, weil er mich nicht mehr misshandeln konnte, wie er wollte, und Mutter, weil sie nun an meiner statt misshandelt wurde. Also kam ich an die Werkbank. Lernte, wie man mit Maschinen Stahl in Form brachte, und wurde nach eingehender Prüfung meiner Altersgenossen auch in den Komsomol aufgenommen. Ehe es jedoch so weit war, durfte ich noch ins Ferienlager auf die Krim. Und ja. Blendete man den ganzen politischen Popanz rund herum aus, ebenso wie die Parolen und Losungen, die einen den ganzen Tag über begleiteten, dann war ich in diesem Sommer bei Spiel und Sport erstmals glücklich in meinem Leben. Rauchte heimlich eine Zigarette, woraufhin mir speiübel wurde, und trank meinen ersten Schluck Wodka. Machte mit jenem Teufel Bekanntschaft, der meinen Vater im Würgegriff hielt. Nur als ein Mädchen mit ziemlich deutlichen Absichten auf mich zukam, nahm ich Reißaus. Doch ich entkam ihr nicht. Und als wir uns an einem kleinen See hinter einem Weigelienstrauch küssten, peitschte das Blut wie wild durch meinen Kopf. Ich war am Leben. Jede Pore in mir sehnte sich danach, es endlich auszukosten. Und doch war mir klar, mich bloß auf einer kurzen Reise zu befinden, die sehr bald enden würde.