Für dich, lieber Leser.
Es war mir eine Ehre, Simons Geschichte für dich zu schreiben.
Danke.
Pock pock. Pock pock pock.
Simon Thorn schlug die Augen auf. Er lag in einem Schlafsack auf dem Boden, atmete schwer und blinzelte ins erste Morgenlicht. Gerade noch war er mitten im Traum gewesen, und je mehr er sich bemühte, ihn zurückzuholen, desto schneller entglitt er ihm. Dabei schien der Traum wichtig gewesen zu sein. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er etwas Dringendes erledigen musste, bevor es zu spät war.
Pock. Pock pock pock.
»Kannst du deinen blöden Tauben bitte ausrichten, dass sie uns um sechs Uhr morgens in Ruhe lassen sollen?«, knurrte Winter im Bett auf der anderen Seite des vollgestopften Raums, der eigentlich Simons Zimmer war. Besser gesagt, gewesen war, als er noch mit seinem Onkel Darryl in dieser Wohnung gewohnt hatte, damals, im September. Doch jetzt war Mai, und seitdem hatte sich weit mehr verändert als nur die Jahreszeit.
Pock. Pock pock. Pock pock pock.
Winter stöhnte und zog sich das Kissen über den Kopf. »Wenn du sie nicht sofort wegschickst, schnappe ich sie mir und verwandle sie in –«
»Taubenpfannkuchen?«, schlug Simon vor und rappelte sich auf. Winter spähte unter ihrem Kissen hervor und rümpfte die Nase.
»Igitt, nein! Pfannkuchen mit Taube?«
»Vergiss es«, murmelte Simon. Er wankte zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Auf dem Fensterbrett vor der Feuerleiter scharten sich bereits mehr als ein Dutzend Tauben und drängten eifrig nach vorn.
»Futter?«, gurrte eine etwas träge Taube, die, da war Simon sicher, jeden Morgen kam. Seufzend holte er ein paar Scheiben Brot aus einer Dose auf seinem Tisch, warf sie auf den Vorsprung und schaute missmutig zu, wie sich die Tauben gierig darüber hermachten.
»Du musst da nicht hingehen, weißt du«, sagte Winter mit vom Kissen gedämpfter Stimme. »Es wird nichts da sein. Genauso wenig wie gestern etwas da war oder morgen etwas da sein wird.«
»Kann schon sein«, sagte Simon. »Trotzdem.«
Winter knurrte in ihr Kissen. »Na schön. Wenn du unbedingt gehen willst, dann geh. Aber ich rieche Kaffee, irgendjemand ist also schon wach, und diesmal gebe ich dir keine Rückendeckung.«
Natürlich würde sie ihm Rückendeckung geben – das tat sie immer, jeden Morgen, an dem sie in der Wohnung erwachten, von der er eigentlich geglaubt hatte, dass er sie nie wieder betreten würde. Simon nickte. Er schloss die Augen, stellte sich eine Taube vor, und sein Körper begann zu schrumpfen.
Das ging mittlerweile so schnell, dass er kaum noch merkte, wie die Federn aus seiner Haut wuchsen und wie sich seine Arme in Flügel und seine Füße in Krallen verwandelten. Nicht einmal die Veränderung seines Sehsinns, der ihm nun eine Rundumsicht gewährte, versetzte ihn mehr in Staunen, und kaum hatte sich sein menschlicher Körper in den einer Taube verwandelt, hüpfte er raus und mischte sich ins Gedränge. Alle bis auf die träge Taube unterbrachen ihre Fressorgie kurz und wichen ein Stück zurück. Kein Wunder. Wäre Simon Zeuge geworden, wie sich eine Taube plötzlich in einen Menschen verwandelte, wäre er wohl auch einen Schritt zurückgetreten. Doch nach Wochen der immer gleichen Routine hatten sich die meisten Tauben daran gewöhnt und wandten sich schnell wieder dem Brot zu.
»Pass auf, dass du nicht stirbst!«, sagte Winter, beugte sich vor und schloss energisch das Fenster. Simon konnte durch die Scheibe sehen, wie sie sich wieder ins Bett kuschelte. Erst als die träge Taube sich beim Fressen an ihn lehnte, wandte er den Blick ab. »Du könntest mal etwas schneller fressen«, sagte er. Die Taube gurrte. »Futter?«, fragte sie. Simon musste sich auf die Zunge beißen, um nicht unhöflich zu werden.
»Nun mach schon, damit wir endlich loskönnen«, sagte er nur. Die Taube pickte weiter an einem Stück Rinde herum. Obwohl er selbst hungrig war, rührte Simon das Brot nicht an. Er war zwar ein Animox und gehörte damit einer geheimen Menschengruppe an, die sich in Tiere verwandeln konnte, doch ans Essen hatte er sich bisher in keiner seiner vielen nicht menschlichen Gestalten gewöhnen können.
Und es waren wirklich viele – so viele er wollte. Er konnte eine Taube, ein Wolf oder ein Delfin sein oder jedes andere erdenkliche Tier. Die allermeisten Animox konnten sich nur in ein bestimmtes Tier verwandeln – doch Simon war etwas Besonderes. Er war der Nachfahre des Bestienkönigs, eines tyrannischen Herrschers, der vor fünfhundert Jahren gelebt und eine besondere Waffe besessen hatte, mit der er anderen Animox ihre Verwandlungskräfte rauben konnte – Kräfte, die dann von ihm von Generation zu Generation bis hin zu Simon weitergegeben worden waren. Die wenigen Animox, die von Simons Fähigkeit wussten, hielten sie für cool oder praktisch oder für etwas, womit man angeben konnte, doch Simon war sich der Wahrheit schmerzlich bewusst. Seine Kräfte waren in der Tat etwas Besonderes – sie konnten alle fünf Animox-Reiche in den Krieg treiben.
Kein Wunder, dass er auch in dieser Nacht wieder einen Albtraum gehabt hatte. Immerzu musste er an den drohenden Krieg denken. Nicht einmal die frische Morgenluft half ihm dabei, den Kopf freizukriegen. Überhaupt konnte ihn im Augenblick nichts ablenken, sosehr sich Winter, sein Onkel Malcolm und seine Freunde auch bemühten. Er wusste, was auf ihn zukam, und es würde sich nicht aufhalten lassen, selbst wenn er sich vor der restlichen Welt der Animox versteckte.
»Komm jetzt«, sagte er ungeduldig, während die Taube ungerührt weiterschmauste. Winter hatte recht – ihm blieb nicht viel Zeit, bis sein Onkel nach ihm suchen würde. Wenn er herausfand, dass Simon trotz seines strengen Verbots schon wieder ausgeflogen war, würde er ihn garantiert einen ganzen Monat lang das Klo schrubben lassen.
Deshalb tat Simon aus lauter Verzweiflung genau das, was er nicht hätte tun sollen: Er flog auf den nächsten Treppenabsatz, animagierte in einen kleinen Hund und kläffte so laut, dass die Tauben erschrocken aufflogen. Es war dumm, aber in der Gasse war niemand zu sehen, und wenn es ihm einen weiteren Streit mit Malcolm ersparte, war es das Risiko wert. Während die Tauben in die Höhe flatterten, verwandelte Simon sich zurück und mischte sich unter sie. Nach dem täglichen Training der letzten Wochen gelang ihm das mühelos.
Zu seiner Erleichterung ließen die Tauben die restlichen Brotkrumen liegen und flogen über die Straße auf die üppigen grünen Baumkronen im Central Park zu.
Bevor Simon von der Welt der Animox erfahren hatte, bevor er Winter und Malcolm kennengelernt hatte, bevor er überhaupt gewusst hatte, dass etwas an ihm besonders war, hatte er jeden Morgen auf dem Schulweg die Abkürzung durch die nordwestliche Ecke des Central Parks genommen. Als er jetzt über das frische Grün flog, konnte er den Pfad sehen, den er so viele Male gegangen war. Es war zu früh, als dass seine ehemaligen Mitschüler schon unterwegs gewesen wären, aber er stellte sich vor, wie Colin Hartwood, der sein bester Freund gewesen war, und Bryan Barker, der ihn jeden Tag herumgeschubst hatte, mit ihren Ranzen voll schwerer Schulbücher gemeinsam den Weg entlangstapften. Obwohl Simon nicht die besten Erinnerungen an seine alte Schule hatte, hätte er alles darum gegeben, in diese Zeit zurückkehren zu können – eine Zeit, in der nicht das Schicksal der ganzen Welt der Animox auf seinen Schultern gelastet hatte. Eine Zeit, in der alles noch einfach gewesen war und Darryl noch am Leben.
Sein Onkel Darryl, Malcolms Bruder, war vom Herrscher des Vogelreichs getötet worden – Orion, dem Vogelherrn, der Simons Großvater war. Simons Onkel Malcolm und seine Freunde hatten Simon wieder und wieder versichert, dass es nicht seine Schuld gewesen war, doch er wusste es besser. Darryl war Simon aufs Dach des Sky Towers gefolgt, einem Hochhaus in der Nähe des Central Parks, in dem sich Orions Hauptquartier befand. Bei dem Versuch, Simon zu beschützen, hatte sein Onkel das Leben verloren, und Simon hatte mitansehen müssen, wie er starb.
Dies war das erste in einer Reihe schrecklicher Ereignisse gewesen, die in dem Augenblick begonnen hatten, als Simon von der Welt der Animox erfahren hatte. Jetzt, Monate später, hatte er das Gefühl, als bestünde sein Leben aus zwei Teilen – Vorher und Nachher. Im Augenblick befand er sich eindeutig im Nachher, zumindest war es so gewesen, bis Malcolm auf die Idee gekommen war, als Versteck Darryls alte Wohnung zu nutzen, in der Simon die ersten zwölf Jahre seines Lebens verbracht hatte. Nun umgab ihn also plötzlich wieder sein Leben von Vorher, und er war sich nicht mehr sicher, ob die Zeit vorwärts oder rückwärts lief.
Die Tauben machten eine unerwartete Rechtskurve und steuerten auf den nördlichen Teil des Central Parks zu, der an Harlem grenzte. Simon war so überrascht, dass er ihnen nicht folgte, und so war er mit einem Mal allein am Himmel, gerade als die Sonne über den Horizont kletterte. Zusammen mit den anderen war er sicherer unterwegs – wenn jemand ihm folgte, würde er Schwierigkeiten haben, ihn unter den vielen Tauben zu erkennen. Allein dagegen war er leichte Beute für Orions Vogelarmee, den Schwarm.
Doch Orion wusste nicht, dass Simon sich in jedes beliebige Tier verwandeln konnte. Hätte er es gewusst, so hätte er mit Sicherheit längst alles darangesetzt, um ihn zu finden. Aber bis jetzt hatte Simon nicht das geringste Anzeichen des Schwarms gesehen. Er konnte also hoffen, dass das Vogelreich noch immer glaubte, er könne sich nur in einen Goldadler verwandeln – so wie sein Großvater Orion. Wenn der Schwarm nicht ausgerechnet heute hinter sein Geheimnis gekommen war, war er in Sicherheit. Er holte tief Luft, warf alle Vorsicht in den Wind, machte eine scharfe Linkskurve und flog mit hoher Geschwindigkeit auf die Südspitze des Central Parks zu. Er hatte heute Morgen ohnehin wenig Zeit, und die wollte er nicht an die Tauben verschwenden.
Seine Haut kribbelte, als er über das Reservoir flog. Er hätte schwören können, dass er einen Habicht durch die Baumkronen fliegen gesehen hatte, doch bevor er sich vergewissern konnte, war er verschwunden. Mit zusammengepresstem Schnabel flog er eilig über das Bootshaus und die Statuen hinweg, über Jogger und Spaziergänger mit ihren Hunden, die den Tag früh begonnen hatten, bis er endlich den Central Park Zoo erblickte. Doch es war nicht der Zoo, der ihn interessierte – es war die geheime Schule, die darunter verborgen lag.
Die Leitende Animox-Gesellschaft für Exzellenz und Relevanz, kurz L. A. G. E. R., war die beste Animox-Schule des Landes. Die begabtesten Schüler aus dem Säugerreich, dem Reptilienreich, dem Insekten- und Arachnidenreich und dem Unterwasserreich wurden hier ausgebildet. Zu Beginn des Schuljahrs hatte Simon selbst im L. A. G. E. R. angefangen. Dort hatte er seinen Onkel Malcolm kennengelernt und, zu seiner großen Überraschung, seinen Zwillingsbruder Nolan, von dem er nichts gewusst hatte. Auch Nolan hatte nicht gewusst, dass es Simon gab, und ihre Beziehung war eine weitere schwierige Angelegenheit, die Simon im Augenblick aus zahlreichen Gründen am liebsten vergessen hätte.
Schweren Herzens landete er auf dem Zaun vor dem Robbengehege in der Mitte des Zoos. So früh am Morgen war im Zoo noch niemand, und beim Anblick der leeren Wege lief Simon ein Schauder den Rücken hinunter. Während der Stunden, in denen der Zoo geschlossen war, patrouillierte hier sonst immer das Wolfsrudel. Es fühlte sich seltsam an, hier zu sein, ohne dem Rudel ausweichen zu müssen.
Der Schrei eines Habichts drang in Simons Ohr, und er drehte hastig den Kopf. Dass er keinen Verfolger entdecken konnte, hieß noch lange nicht, dass nicht irgendwo einer war.
Wusste Orions Schwarm doch Bescheid? Hatte einer von ihnen gesehen, wie er in eine Taube animagierte, oder ihn beobachtet, als er sich in einen Hund verwandelt hatte? Simon war alles andere als vorsichtig gewesen. Orion hatte schon früher Tauben als Spione eingesetzt. Jede von ihnen konnte den Vogelherrn informiert haben.
Simon wartete mehrere Minuten lang. Worauf, wusste er selbst nicht so genau. Auf einen weiteren Schrei vielleicht. Einen verdächtigen Vogelruf. Auf irgendein Anzeichen von Orions Schwarm, der aus den gefährlichsten Raubvögeln am Himmel bestand. Aber da war nichts – nur das übliche Rauschen der Großstadt und die Laute der wenigen Tiere im Zoo, die schon wach waren. Wenn er es in die Wohnung zurück schaffen wollte, bevor Malcolm seine Abwesenheit bemerkte, musste er sich beeilen.
Mit entschlossenem Flügelschlag flog er zu dem kleinen Rondell in der Nähe des Eingangs, wo Seite an Seite zwei Wolfsstatuen standen. Es waren nicht irgendwelche Statuen – es waren die Grabmäler von seinem Vater und seinem Onkel Darryl. Simon landete vor dem steinernen Wolf, der stumm den gerade nicht sichtbaren Mond anheulte, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihn beobachtete, verwandelte er sich in menschliche Gestalt. Er wusste, dass es riskant war, aber er kam schon seit Wochen hierher, und bis jetzt hatte ihn noch nie jemand erwischt.
»Es ist komisch, ohne dich in der alten Wohnung zu sein«, sagte er leise zu dem heulenden Wolf, der eine lange Narbe im Gesicht hatte – genau wie sein Onkel Darryl. »Manchmal komme ich aus meinem Zimmer, sehe Malcolm von hinten und denke, du bist es.«
Diese Augenblicke waren die schlimmsten. Seine Enttäuschung war unfair Malcolm gegenüber, das wusste er, doch trotz der vielen Abenteuer, die er im Laufe des letzten Jahres erlebt hatte, war die Trauer um Darryl beinahe so frisch wie kurz nach seinem Tod. Er war für Simon das einzige wirkliche Elternteil, das er je gehabt hatte. Es spielte keine Rolle, dass Darryl eigentlich sein Onkel gewesen war – seine Mutter war nur selten zu Besuch gekommen, wenn überhaupt, und nie länger als ein paar Stunden geblieben. Regelmäßig waren nur die Postkarten gekommen, die sie jeden Monat schickte, während sie durchs Land reiste. Darryl war immer für ihn da gewesen, quasi Mutter und Vater zugleich.
Simon wandte sich der zweiten Statue zu. Dieser Wolf hielt den Kopf gesenkt, und obwohl er unverletzt war und jünger als sein Gefährte, trug sein Gesicht einen wehmütigen Ausdruck, als wüsste er, dass er nie das Leben hatte leben dürfen, das ihm zustand. Simon hatte seinen Vater nie kennengelernt. Auch er war von Orion getötet worden, noch vor Simons Geburt. Doch Luke Thorn hatte die Kräfte des Bestienkönigs an Simon und seinen Bruder weitergegeben, und Simon spürte eine Verbundenheit zu seinem Vater, die er nicht in Worte fassen konnte.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, murmelte er leise, mehr an sich selbst gerichtet als an die stummen Steinfiguren. »Sie sind schon seit Wochen auf der Suche, und Malcolm hat immer noch keine Spur von Nolan und Celeste. Das ganze Rudel sucht nach ihnen. Wenn wir sie nicht bald finden …«
Er warf einen schuldbewussten Blick auf Darryls Statue. Sein Onkel war gestorben, weil er versucht hatte, Simon zu beschützen, aber er war auch gestorben, weil er verhindern wollte, dass Orion den Greifstab in die Hände bekam – die Waffe, die es dem Bestienkönig vor Jahrhunderten erlaubt hatte, die Kräfte zahlloser Animox zu rauben. Nachdem die fünf Reiche sich zusammengetan und den Bestienkönig besiegt hatten, war die sternförmige, tödliche Spitze des Greifstabs in fünf Teile zerbrochen worden, und jedes der fünf Reiche hatte eines dieser Teile versteckt, um sicherzustellen, dass die Waffe nie wieder zusammengesetzt würde. Endgültig zerstören ließ sich die Waffe jedoch nur, wenn sie komplett war. So bestand also immer die Gefahr, dass irgendjemand die Teile fand und die Waffe für seine Zwecke missbrauchte. Darum war es die geheime Mission von Simons Mutter gewesen, die Verstecke zu finden, um den Greifstab ein für alle Mal unschädlich zu machen. Orion, ihr eigener Vater, hatte davon Wind bekommen und sie entführt, weil er hoffte, mit ihrer Hilfe an die Teile zu gelangen. Die Postkarten, die Simons Mutter Simon im Laufe seines Lebens geschickt hatte, enthielten, wie sich herausgestellt hatte, verschlüsselte Hinweise auf die Verstecke. Zwei Teile hatte Orion, die anderen drei hatte Simon mithilfe der Postkarten finden können.
Doch Orion war nicht der Einzige, der hinter den Teilen her war. Auch Celeste, Malcolms Mutter und die ehemalige Alpha des Säugerreichs, wollte sie unbedingt haben. Celeste hatte Simons Vater adoptiert und wie einen eigenen Sohn großgezogen. Sie war also in gewisser Weise Simons Großmutter, auch wenn er es nicht über sich brachte, sie so zu sehen. Nolan dagegen war bei ihr aufgewachsen. Er liebte sie, und irgendwie war es Celeste gelungen, Nolan dazu zu bringen, die drei Teile zu stehlen, die Simon bereits gefunden hatte, mit ihr zu fliehen und den Rest der Familie zurückzulassen. Auch Simon. Alles, worauf er in den letzten Monaten hingearbeitet hatte – alles, was er herausgefunden hatte, jeder Schritt, den er getan hatte, alles, wofür Darryl gestorben war –, war umsonst gewesen. Wenn es Celeste gelang, Orion die beiden letzten Teile zu stehlen, würde sie die Waffe zusammensetzen. Nolan vertraute ihr blind, doch Simon wusste ohne jeden Zweifel, dass sie seinen Zwillingsbruder mit dem Greifstab töten und ihm damit seine Kräfte stehlen würde, um alle fünf Reiche mit eiserner Hand zu regieren.
Die Turmuhr am anderen Ende des Zoos schlug sieben, und Simon zuckte zusammen. Mittlerweile war Malcolm mit Sicherheit wach. Trotzdem brachte Simon es nicht über sich, in das Geheimversteck unter dem losen Stein zu Füßen von Darryls Statue zu schauen. Sooft er auch nachsah, so inständig er auch hoffte, nie lag dort eine Karte für ihn. Nolan hatte ihn im Stich gelassen. Seine Mutter hatte ihn im Stich gelassen. Er war erst zwölf Jahre alt, viel zu jung für eine solche Verantwortung, und doch wusste Simon, dass er, wenn er sich weiter versteckt hielt, die ganze Welt der Animox im Stich ließ.
Heute war er zum letzten Mal gekommen, das schwor er sich. Es war zu riskant, allein herumzufliegen und unter freiem Himmel zu animagieren. Wenn er mit Malcolm redete, konnten sie vielleicht gemeinsam den nächsten Schritt überlegen. Sie könnten irgendetwas tun, anstatt den ganzen Tag herumzusitzen und darauf zu warten, dass jemand den Greifstab zusammensetzte. Ob es Simon gefiel oder nicht, früher oder später würde irgendjemand die fünf Teile finden. Er konnte nur hoffen, dass er selbst die Chance dazu hatte, bevor ihm jemand zuvorkam.
»Simon!«, gurrte es eindringlich, und Simon zuckte zusammen. Die sonst so träge Taube von seinem Fensterbrett hockte auf einem Zweig und richtete aufmerksam ihre schwarzen Äuglein auf ihn.
»Was machst du denn hier?«, fragte Simon gereizt. »Du kriegst kein Futter mehr von mir. Heute nicht, morgen nicht und auch sonst nicht mehr …«
»Simon«, wiederholte die Taube und plusterte sich auf. »Schau doch mal!«
Simon runzelte die Stirn und reckte den Hals, konnte aber nichts entdecken. »Was meinst du?«, fragte er. »Vogelbeeren interessieren mich nicht. Müll auch nicht. Oder was hast du –«
»Schau!« Die Taube deutete mit dem Kopf auf Darryls Statue. Unwillkürlich blickte Simon nach unten auf den losen Stein.
Sein Puls begann zu rasen. War das möglich? Nach der langen Zeit hatte er selbst nicht mehr damit gerechnet. Aber da war etwas – die Ecke einer Postkarte, die unter dem Stein hervorlugte!
Mit zitternden Fingern hob er sie auf. Es war eine Postkarte mit der Skyline von New York, im Vordergrund hockten drei Tauben, die in die Kamera linsten. Der Anblick war seltsam vertraut. Auf Simons Stirn bildete sich eine steile Falte.
Die Aufnahme war vom Dach des Sky Towers aus gemacht worden. Auf der Rückseite stand in kleinen Buchstaben, die von einer alten Schreibmaschine zu stammen schienen:
Heute Abend, 20 Uhr. Sei pünktlich.
Wenige Minuten später landete Simon auf der Feuertreppe vor seinem Fenster. Seine Federn waren zerzaust, und sein Blick war wild, doch wenn er hätte grinsen können, hätte er es getan.
»Mach auf!«, rief er und klopfte ungeduldig mit dem Schnabel ans Fenster. Die Sonne spiegelte sich in der Scheibe, sodass er nicht ins Zimmer schauen konnte. »Winter, du wirst mir nicht glauben, was ich im –«
Das Fenster öffnete sich ruckartig. Simon taumelte nach hinten und hätte beinahe die Postkarte fallen lassen, aber er war zu aufgeregt, um es Winter zu verübeln.
Doch am Fenster stand nicht Winter.
Sondern Malcolm. Er schaute auf ihn herab, und seine Augen im Schatten seiner dunklen Haare und der gerunzelten Stirn blickten düster.
»Im was?«, knurrte er. »Sprich ruhig weiter!«
Simon schluckte. Am liebsten wäre er einfach weggeflogen, aber er wusste, dass er damit alles nur noch schlimmer machen würde. Also hüpfte er aufs Fensterbrett und flatterte ins Zimmer, wobei er einen möglichst großen Bogen um seinen Onkel machte. Winter saß mit verwuschelten Haaren und noch halb geschlossenen Augen im Bett, und Simon verwandelte sich in menschliche Gestalt zurück und setzte sich neben sie.
»Ich war im Zoo«, gestand er. »Ich wollte Darryl und meinen Dad besuchen. Und dann«, fügte er schnell hinzu, bevor Malcolm ihm vorwerfen konnte, wie unvorsichtig er gewesen war, »habe ich das hier gefunden.«
Er reichte die Karte Malcolm, der seine Stirn in noch tiefere Falten legte. »Von wem ist die?«, fragte er und drehte sie um.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Simon. »Mom schreibt ihre Karten immer mit der Hand. Aber vielleicht … Ich weiß auch nicht. Vielleicht hatte sie keinen Stift.«
»Aber rein zufällig eine alte Schreibmaschine?« Malcolms Stimme war so tief, dass sie grollte. »Dass du die Karte im Zoo gefunden hast, heißt noch lange nicht, dass sie für dich bestimmt war, Simon.«
»Aber sie war genau an der Stelle, an der Mom immer ihre Karten versteckt hat«, widersprach Simon. »Und schau doch – das Foto wurde auf dem Sky Tower gemacht.«
Malcolm betrachtete das Bild noch einmal genauer. Dabei hielt er die Karte so fest, dass sie einen Knick bekam. »Das hat nichts zu bedeuten. Und selbst wenn du recht hast und sie für dich ist, könnte sie schon seit Wochen da liegen.«
Simon machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich …«, begann er.
»Er war gestern auch da«, erklärte Winter rundheraus. »Er fliegt jeden Morgen mit ein paar Tauben hin und schaut nach Post, bevor der Zoo aufmacht.«
»Ich bin noch nie erwischt worden«, fügte Simon schnell hinzu. »Es ist überhaupt nicht gefährlich.«
Langsam ließ Malcolm die Karte sinken. Simon konnte die Ader an seiner Stirn bedrohlich pulsieren sehen. Das geschah immer, bevor Malcolm losbrüllte, und Simon zog unwillkürlich den Kopf ein.
»Es tut mir leid«, beteuerte er so hastig, dass er fast über seine Worte stolperte. »Aber ich kann nicht die ganze Zeit hier rumsitzen. Ich hab die Nase voll vom Lernen. Ich hab die Nase voll vom Fernsehen. Ich hab die Nase voll vom Warten, und ich ertrage die Vorstellung nicht mehr, was gerade da draußen passiert. Nolan könnte … Er könnte überall sein. Er könnte sogar …«
Er verstummte, doch die düstere Miene seines Onkels sagte ihm, dass Malcolm genau wusste, was ihm auf der Zunge lag. Mit einem tiefen Seufzer steckte Malcolm die Karte in die Hosentasche und raufte sich die Haare. Diese Geste erinnerte Simon immer an Darryl.
»Wenn ihm etwas passiert wäre, hätten wir davon gehört«, sagte sein Onkel. »Meine Mutter ist zwar ein richtiges Biest, aber wenigstens können wir uns darauf verlassen, dass sie Nolan nichts antut, jedenfalls bis …«
»Bis sie den Greifstab hat und ihn umbringt«, beendete Simon den Satz. Malcolm nickte steif.
»Aber es muss doch irgendetwas geben, was wir tun können, und wenn es nur … wenn es nur etwas so Blödsinniges ist, wie heute Abend zum Sky Tower zu gehen.«
Malcolm fluchte und verließ ohne eine Antwort das Zimmer. Simon und Winter wechselten einen Blick, dann eilten sie ihm nach.
Im Wohnzimmer lief der Fernseher, und eine kleine braune Maus hockte zufrieden auf der Sofalehne. Simon wusste nur zu gut, dass man Felix bei den Morgennachrichten lieber nicht stören sollte – oder bei den Nachmittagsnachrichten, den Abendnachrichten oder einer der vielen kitschigen Serien, nach denen er süchtig war –, aber jetzt ging es nicht anders. Er griff nach der Fernbedienung und stellte den Fernseher aus.
»He!«, schrie Felix empört und drehte sich so schnell um, dass er fast vom Sofa gefallen wäre.
»Du kannst später weitergucken«, sagte Simon und nahm die kleine Maus auf die Hand. »Ich habe eine Postkarte bekommen.«
»Eine Postkarte? Von deiner Mom?«, fragte Felix aufgeregt. Die Nachrichten waren vergessen.
»Wir wissen es nicht«, erwiderte Simon und folgte Winter in die Küche, wo eine Frau mit roten Haaren, die zu einem losen Knoten gebunden waren, Malcolm eine Tasse Kaffee einschenkte. Als sie Simon sah, grinste sie.
»Du scheinst ja einen aufregenden Ausflug hinter dir zu haben.«
Zia war Simons Tante, die leibliche Schwester seines Vaters, also nicht verwandt mit Darryl oder Malcolm. Simon hatte sie erst im vergangenen November kennengelernt, als er und seine Freunde nach Arizona gereist waren. In den Monaten darauf hatte sie alles darangesetzt, ein Teil seines Lebens zu werden, als wäre sie schon immer da gewesen, und mittlerweile war Simon beinahe froh darüber – auch wenn er die Küsse, mit denen sich Malcolm und Zia begrüßten, nicht unbedingt sehen wollte.
»Ich dachte, du bist im Hotel bei Jam und Ariana«, sagte er und setzte Felix auf den Tisch.
»War ich auch. Aber dein Onkel hat gestern vergessen, Müsli zu kaufen, deshalb bin ich schon ein bisschen früher gekommen.« Sie sah stirnrunzelnd zu, wie Malcolm seinen heißen Kaffee hinunterstürzte, ohne sich die Zeit zu nehmen, Milch und Zucker hineinzugeben. »Anscheinend ist etwas passiert«, sagte sie langsam.
Malcolm antwortete erst, als er die leere Tasse abgestellt hatte. »Simon schleicht sich jeden Morgen aus der Wohnung«, sagte er und warf Simon einen vorwurfsvollen Blick zu. »Obwohl ich es ihm ausdrücklich verboten habe.«
»Überrascht dich das etwa?« Zia lehnte sich an die Arbeitsplatte und rührte in ihrer Tasse. Winter streckte beiläufig die Hand nach der Kaffeekanne aus, doch Zia zog sie schnell außer Reichweite. »Das würdest du an Simons Stelle doch auch tun. Außerdem«, fügte sie hinzu, bevor Malcolm widersprechen konnte, »kann er sich von uns allen am besten verteidigen.«
Sein Onkel grummelte weiter, und Simon versteckte sich vorsichtshalber hinter der Kühlschranktür, während er Milch und Orangensaft herausholte. Nach der ganzen Fliegerei hatte er einen Bärenhunger.
»Ich habe eine Postkarte gefunden«, sagte er zu Zia. »Irgendjemand will mich heute Abend auf dem Dach des Sky Towers treffen.«
»Sky Tower?« Zia stellte klirrend ihre Tasse ab. »Wer?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Malcolm grimmig und zeigte Zia die Karte. Sie studierte sie eingehend und drehte sie mehrmals um, als suche sie nach versteckten Hinweisen.
»Ihr müsst doch einen Verdacht haben«, sagte sie, während Winter eine Schale randvoll mit den Cornflakes füllte, die Zia mitgebracht hatte. So hungrig Simon auch war, sein knurrender Magen musste vorerst warten.
»Jeder könnte es gewesen sein«, sagte Malcolm und ließ sich auf einen Stuhl an dem winzigen Küchentisch sinken. »Isabel. Orion.«
»Nolan«, ergänzte Simon. Sein Onkel und seine Tante sahen ihn verwundert an.
»Ich glaube, dass er es war.«
»Warum?«, fragte Malcolm sofort. »Hast du etwas von ihm gehört?«
Seine hoffnungsvolle Stimme tat Simon im Herzen weh. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe … nur so ein Gefühl«, sagte er zögernd. Das stimmte wirklich. Obwohl er nach wie vor unglaublich wütend und enttäuscht war, dass sich sein Zwillingsbruder heimlich mit den Teilen des Greifstabs davongemacht hatte, hegte er einen Funken Hoffnung, dass das zu irgendeinem genialen Plan gehörte, in den Nolan ihn nicht eingeweiht hatte. Je mehr Zeit verging, desto unwahrscheinlicher wurde das, doch Simon wusste, dass auch Nolan mehr als alles andere ihre Mutter befreien wollte. Vielleicht hatte er ja endlich einen Weg gefunden.
»Ein Gefühl allein reicht nicht«, sagte Malcolm schroff. »Es könnte eine Falle sein.«
»Aber warum?«, fragte Simon. »Warum sollte sich irgendjemand die Mühe machen, mir eine Falle zu stellen? Ich bin nicht mehr interessant. Ich habe die Teile nicht mehr. Und Orion weiß nicht, dass ich die Kräfte des Bestienkönigs –«
»Psst!« Zia hob warnend die Hand, und Simon verstummte. »Man kann nie wissen, wer zuhört.«
»Wenn jemand zuhört, dann hat er auch Augen«, murmelte Simon. »Und dann weiß er es sowieso.«
»Trotzdem«, erwiderte sie. »Wir sind hier, um dich zu schützen. Lass uns das Schicksal nicht herausfordern.«
Simon setzte sich neben Winter an den Tisch. »Warum dann?«, fragte er. »Warum sollte Orion mich in eine Falle locken?«
Malcolm kratzte sich am Kopf und starrte in seine leere Kaffeetasse, als läge dort die Antwort. »Dass uns kein Grund einfällt, heißt nicht, dass er nicht doch einen haben könnte«, sagte er. »Wenn er es auf dich abgesehen hat –«
»Er wird mich nicht kriegen«, erklärte Simon entschieden. »Ich bin ihm schon mehrmals entkommen, und ich werde es wieder schaffen.«
Sein Onkel zog eine Grimasse. In den vergangenen Monaten hatte er nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass Simon die Teile des Greifstabs zusammensuchte. Vor einigen Wochen hatte Simon ihm dann seine geheimen Fähigkeiten offenbaren müssen, und den Rest hatte Malcolm sich zusammengereimt. »Mir gefällt das nicht«, sagte er. »Auf dem Dach des Sky Towers kann ich dich nicht beschützen. Keiner von uns kann das.«
»Bitte keine Verallgemeinerungen!«, quiekte Felix, der über den Tisch gekrabbelt war, um sich an den Cornflakes zu bedienen, die aus Winters randvoller Schale gefallen waren. Malcolms Gesicht verdüsterte sich nur noch mehr.
Simon schüttelte den Kopf. »Du hast selbst gesagt, nachdem ich allein so weit gekommen bin, hättest du kein Recht, mich aufzuhalten. Ich weiß ja, dass du mich schützen willst, aber …« Er schwieg frustriert. »Ich kann selbst auf mich aufpassen. Ich habe schon Schlimmeres überlebt.«
»Wie deine Narben beweisen«, murrte sein Onkel.
»Er kommt eben nach dir«, bemerkte Zia und musterte Malcolm von Kopf bis Fuß. Sie hatte nicht unrecht – Simon hatte tatsächlich ein paar Narben von seinen Kämpfen gegen einige der gefährlichsten Raubtiere unter den Animox davongetragen, doch auch Malcolms gesamter Körper zeugte von den zahlreichen Schlachten, die er ausgetragen hatte. Als Alpha des Säugerreichs und Anführer des Wolfsrudels hatte er bei mehr als nur ein paar Kämpfen mitgemacht, um sein Volk zu beschützen. Und Simon tat nichts anderes. Er war noch ein Kind, aber das hieß nicht, dass er es nicht schaffen konnte, die Welt der Animox zu retten – vorausgesetzt, dass sein Onkel ihn je aus dieser Wohnung ließ.
»Ich gehe hin«, erklärte Simon entschieden und griff nach der Cornflakespackung. »Es ist mir egal, wenn du sauer auf mich bist. Du kannst mich nicht ewig hier einsperren. Das ist vielleicht unsere einzige Chance, die lasse ich mir nicht entgehen.«
In der Küche wurde es still. Malcolm starrte finster in seine leere Tasse. Niemand sprach ein Wort.
»Irgendjemand sollte auch Jam und Ariana Bescheid geben«, sagte Winter schließlich, nachdem sie ihre Cornflakes gegessen hatte. »Sie werden mitkommen wollen.«
Malcolm fuhr sich über die Stirn und schenkte sich noch einen Kaffee ein.
»Habt ihr überhaupt irgendeine Vorstellung, wie schwierig es ist, in den Sky Tower hineinzukommen?«, fragte Ariana am Nachmittag, als sie alle zusammen in einem Café in Manhattan einen Imbiss aßen. Sie saß zwischen Jam und Dev, ihrem Freund und Bodyguard, und beide Jungs schielten gierig auf ihren Teller mit Schokopfannkuchen. »Niemand aus meinem Reich will da noch einen Auftrag übernehmen, nachdem unsere letzten vier Spione von Vögeln gefressen wurden.«
»Wir brauchen auch keine Spione im Sky Tower«, sagte Simon und biss in sein überbackenes Käse-Sandwich. »Ich will nur Nolan treffen –«
»Oder wer auch immer es ist«, warf Malcolm ein.
»Und zwar auf dem Dach«, ergänzte Simon, ohne auf seinen Onkel einzugehen. »Ich brauche keine Spinnen oder Fliegen oder welche Agenten auch immer du hinter mir herschicken wolltest.«
Ariana rümpfte die Nase, und ihre dunklen Haare fielen ihr vor die Augen. Simon vermutete, dass dies ihre natürliche Haarfarbe war. Unter der oberen Haarschicht blitzten allerdings alle Farben des Regenbogens hervor, wann immer sie den Kopf bewegte. »Ich beschäftige doch keine Fliegen. So laut, wie die summen, werden die garantiert bemerkt. Vermutlich würden sie das Gespräch zum Erliegen bringen, das sie belauschen sollen. Aber wenn du mir etwas Zeit gibst«, fügte sie hinzu, »könnte ich bestimmt jemanden finden.«
Simon unterdrückte ein Seufzen. Nach dem Tod ihrer Mutter im vergangenen Monat war Ariana die neue Schwarze Witwenkönigin und Herrscherin über das Insekten- und Arachnidenreich. Damit war sie auch die Chefin des gewaltigen Spionagenetzwerks, das zu ihrem Reich gehörte – und hatte längst zahlreiche Spione beauftragt, Nolan zu finden. Er war ihr dankbar, dass sie ihm helfen wollte, doch bis jetzt war noch keine vielversprechende Spur dabei herausgekommen. »Solange sie nicht wissen, wo Celeste sich versteckt hält oder wo Orion die beiden fehlenden Teile aufbewahrt, ist das hier unsere einzige Chance«, sagte er.
»Ich finde, Simon hat recht«, erklärte Jam zwischen zwei Happen von seinem Thunfisch-Sandwich. Seine Brille rutschte ihm die Nase hinunter, und er konnte sie gerade noch stoppen, bevor sie auf seinen Teller fiel. »Wenn es jemand Gefährliches ist, kann Simon sich wehren. Und wir sind ja auch noch da.«
»Ja, aber am Boden«, erinnerte Ariana ihn. »Dazwischen liegen vierzig Stockwerke.«
»Ich glaube, ich weiß, wie wir in den Sky Tower hineinkommen«, sagte Winter plötzlich. Sie saß am anderen Ende des Tischs und hatte bisher kaum etwas zum Gespräch beigetragen. So, wie sie in ihrem Salat herumstocherte, konnte Simon sich denken, warum. Winter war bei Orion aufgewachsen, er hatte sie als seine Enkelin adoptiert, doch als er herausgefunden hatte, dass sie in eine Schlange animagierte wie ihre Mutter und nicht in einen Vogel wie ihr Vater, hatte er sie verstoßen. Seither war sie nicht mehr im Sky Tower gewesen.
»Hört zu«, sagte Simon und wartete, bis alle acht Augenpaare auf ihn gerichtet waren. »Klar, es ist riskant, jemanden auf dem Dach zu treffen, vor allem, weil wir nicht wissen, wer es ist. Damit komme ich schon zurecht. Aber in den Turm einzubrechen oder Spione reinzuschicken … Dabei kann leicht jemand umkommen. Und meinetwegen soll niemand mehr sterben, verstanden? Schon gar nicht einer von euch.«
Einen Augenblick lang sagte niemand etwas. Dann räusperte Malcolm sich. »Na schön«, brummte er. »Sag uns, was wir tun sollen, und wir tun es. Notfalls vierzig Stockwerke weiter unten.«
Simon warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er hatte zwar seine Zweifel, ob es überhaupt etwas gab, was sie tun konnten, trotzdem sagte er: »Gut. Dann lasst uns einen Plan machen.«
Um 19:55 Uhr an diesem Abend, ganz in der Nähe des Eingangs zum Central Park Zoo, animagierte Simon in einen Goldadler und machte sich auf den Weg zum Sky Tower. Während er zwischen den spiegelnden Fassaden der Hochhäuser hindurchsegelte, hielt er nach seinen Freunden Ausschau, die am Fuß des Sky Towers ihre Posten beziehen sollten, jeder an einer Stelle, die von Jam ausgewählt worden war. Obwohl er wusste, dass sie ihn nicht aus den Augen lassen würden, fühlte Simon sich schrecklich allein, während er sich zum Dach hinaufschwang und auf der rutschigen Glasfläche neben der großen Kuppel landete. Früher war der Sky Tower der geschäftige Hauptsitz des Vogelreichs in New York gewesen, doch als Simon jetzt durch die Scheiben spähte, war im Penthouse niemand zu sehen. Und nach der dicken Staubschicht zu urteilen, die auf den Möbeln lag, war auch seit Monaten niemand mehr hier gewesen.
Simon ließ den Blick über das Dach schweifen und blieb unwillkürlich an der Stelle hängen, an der Darryl gestorben war. Er schluckte und wandte sich schnell ab. Regen und Wind hatten das Blut längst abgewaschen, trotzdem brachte er es nicht über sich, dorthin zu gehen. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen hierherzukommen, dachte er, während die untergehende Sonne die Skyline von New York in rosa-goldenes Licht tauchte. Ganz gleich, wie viele Notfallpläne sie am Nachmittag gemacht hatten, sie wussten alle: Wenn Simon auf dem Dach etwas zustieß, konnte ihm keiner der anderen zu Hilfe kommen. Zumindest nicht so schnell, wie es nötig sein würde. Er war hier oben ganz auf sich gestellt. Sollte ihn ein Schwarm Krähen angreifen, so wie sie über Darryl hergefallen waren, würde er nicht viel tun können.
Doch bevor er sich zum Rückzug entschließen konnte, hörte er in der Ferne die Glocken am Central Park Zoo – dieselben Glocken, die er am Morgen gehört hatte. 20 Uhr. Jetzt war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Er schluckte seine Furcht hinunter und blickte sich wachsam um.
Eine Minute verging, dann eine weitere, doch niemand kam. Nervös suchte Simon die andere Seite des Dachs ab und fragte sich, ob er sich in der Uhrzeit geirrt hatte oder ob die Karte für gestern bestimmt gewesen war. Vielleicht war das Foto auch gar nicht auf dem Sky Tower gemacht worden?
Noch eine Minute verging. Wie lange sollte er warten? Auf der Karte hatte doch gestanden, dass er pünktlich sein sollte. Und was, wenn überhaupt niemand kam? Was, wenn Malcolm recht hatte und es wirklich eine Falle war?
Simon breitete die Flügel aus und wollte gerade losfliegen, als er hinter sich das Rascheln von Federn hörte. Er drehte sich so schnell um, dass er beinahe rückwärts vom Dach gestürzt wäre.
»Hallo, Simon.«
Ein zerzauster Goldadler stand zwischen ihm und der gläsernen Kuppel und musterte Simon mit seinem einzigen Auge. Obwohl die untergehende Sonne seine Federn in ungewohnten Farben glänzen ließ, erkannte Simon ihn sofort.
Orion.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst.«
Der Vogelherr hinkte an die Dachkante und ließ sich nur wenige Zentimeter von Simon entfernt nieder. Simon starrte seinen Großvater an. Er spürte Abscheu und Entsetzen. Alle Pläne, die seine Freunde und er gemacht hatten, waren wie weggeblasen, aber eins wusste er mit Sicherheit: Ihm blieb nicht viel Zeit, bis die anderen versuchen würden, ihm zu Hilfe zu kommen.
»Was willst du?«, erwiderte er.
Orion schwieg eine Weile und betrachtete den prachtvollen Sonnenuntergang. Das Farbenspiel zwischen Tiefblau und Zartrosé war wirklich beeindruckend, doch Simon war zu angespannt, um es zu bewundern. Wachsam verfolgte er jede kleine Bewegung seines Großvaters, bereit, sofort wegzufliegen.
»Du musst keine Angst vor mir haben«, sagte Orion ruhig, das gesunde Auge gen Himmel gerichtet. »Ich bin nicht hier, um dir zu schaden, Simon.«
»Das hast du schon einmal gesagt«, entgegnete Simon. »Damals hast du gelogen.«
Orion richtete den Blick auf ihn. Simon kam es so vor, als wolle er ihn einschätzen. »Habe ich dir je auch nur eine Feder gekrümmt?«
»Der Schwarm schon«, erinnerte Simon ihn. »In Arizona hast du mich eingesperrt. Und in Kalifornien hast du einen Hai auf mich gehetzt.«
»Das waren unglückliche Missverständnisse«, erwiderte Orion mit einer wegwerfenden Geste. »Es geht mir nur um deine Sicherheit.«
»Dann hast du eine ziemlich komische Art, es zu zeigen«, knurrte Simon mit zusammengebissenen Zähnen und schielte hinunter zur Straße. Malcolm sollte eigentlich vor dem Eingang Wache stehen, doch da war er nicht mehr. Bei der Vorstellung, dass sein Onkel gerade die Treppe hinaufhastete, wurde Simon ganz schlecht. »Sag mir, was du willst, oder ich gehe.«
Der Goldadler seufzte und wandte sich vom Sonnenuntergang ab. »Ich wollte dir mein Mitgefühl aussprechen und dir meine Unterstützung anbieten. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Celeste deinen Bruder entführt hat.«
Simon musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu verraten, dass Nolan nicht entführt worden war – sondern dass er Celeste aus freien Stücken gefolgt war, um Orion die beiden letzten Teile des Greifstabs zu stehlen. »Warum kümmert dich das?«, fragte er. »Abgesehen davon, dass du Nolan lebendig brauchst, damit du ihm seine Kräfte rauben kannst.«
»Er ist mein Enkel, genau wie du«, sagte Orion und plusterte seine Federn auf. »So schlecht kannst du doch nicht von mir denken, dass du glaubst, ich würde euch beide nicht lieben.«
»Auch das zeigst du auf eine merkwürdige Art«, murmelte Simon. Er drehte ruckartig das Kinn zur Seite. »Darryl ist da drüben gestorben, schon vergessen? Oder weißt du nicht mehr, dass du meinen Onkel getötet hast?«
»Das war eine … bedauerliche Notwendigkeit. Ich musste mich gegen das Rudel verteidigen. Es hatte nichts damit zu tun, was du mir bedeutest«, sagte Orion.
»Du hast mich also nicht von diesem Dach gestoßen, bevor ich animagieren konnte?«
Orion schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Simon, Simon. Wir können noch den ganzen Abend der Vergangenheit nachhängen, wenn du willst. Du kannst meine unzähligen Missetaten gegen dich und deine Familie auflisten, und ich kann mich für jede einzelne von ihnen entschuldigen. Es wird nicht ändern, was passiert ist, und es wird dir nicht helfen, darüber hinwegzukommen. Lass uns lieber nach vorne schauen, in eine Zukunft, in der wir beide einander helfen.«
»Du willst, dass ich mich mit dir verbünde?«, fragte Simon bitter. »Du hast meinen Onkel getötet. Du hast meinen Vater getötet. Du hast meine Mutter entführt und willst meinen Bruder umbringen, damit du die gesamte Welt der Animox unterwerfen kannst –«
»Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass ich niemanden unterwerfen will«, unterbrach Orion ihn. »Ich will lediglich Celeste davon abhalten.«
Simon schnaubte verächtlich. »Tja, das Gleiche behauptet sie von dir. Wenn es wirklich das wäre, was ihr wollt, könntet ihr mir einfach die Teile geben, damit ich den Greifstab zerstören kann.«
»Vielleicht können wir dieses Abkommen treffen, wenn Celeste dazu bereit ist«, erwiderte Orion und neigte den Kopf. Simon glaubte ihm kein Wort. »Aber ich bin gar nicht hier, um dir nahezulegen, dich mit mir zu verbünden. Du bist bei diesem Spiel längst ausgeschieden, Simon, das wissen wir doch beide.«
»Ach ja?«, erwiderte Simon bissig. »Mein Eindruck ist eher, dass du überhaupt nichts weißt.«
»Ich weiß, dass Celeste dir die Teile gestohlen hat«, sagte Orion. »Ich weiß, dass Malcolm dich seit Wochen in Darryls schäbiger Bruchbude einsperrt. Ich weiß, dass du auf eine Nachricht von deiner Mutter hoffst – vielleicht auch von deinem Bruder. Du wartest, Simon. Du sitzt fest, weil du keine Optionen mehr hast.«
Simon wandte den Blick zum Horizont und gab sich alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie richtig Orion mit seiner Einschätzung lag. »Du aber wohl auch nicht, wenn du dich mit mir triffst.«
Anders, als Simon erwartet hatte, wurde Orion nicht wütend, sondern gluckste nur. »Scharfsinnig warst du schon immer. Kein Wunder, dass Isabel dich für ihre Mission ausgewählt hat. Wenn Celeste dich nicht reingelegt hätte, hättest du den Greifstab vermutlich längst zerstört.«
»Tja, wenn«, murmelte Simon. »Also, was ist jetzt? Warum bist du hier? Was willst du?«
»Ich will meinen Thronfolger«, erklärte Orion fest.
Simon schnappte nach Luft. Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Orion wusste nicht, dass Simon die Kräfte des Bestienkönigs geerbt hatte. Er glaubte, Simon sei ein Goldadler wie er und der Thronfolger des Vogelreichs. Außerdem war es nicht das erste Mal, dass Orion ihn auf seine Seite ziehen wollte.
»Warum sollte ich dir folgen?«, fragte er schließlich. »Ich bin glücklich bei meiner Familie. Ich will nirgendwo mit dir hingehen.«
»Nein, das habe ich auch nicht erwartet«, sagte Orion langsam. »Aber ich kann dir etwas anbieten, was du dir schon die ganze Zeit wünschst: die Freiheit deiner Mutter.«
Simon erstarrte und drehte sich ungläubig zu seinem Großvater um. »Was?«
»Du kannst mir nicht vormachen, dass es dir bei diesem ganzen aussichtslosen Unternehmen je um den Greifstab gegangen ist«, sagte Orion. »Wenn ich deine Mutter nicht zu mir genommen hätte, hättest du dich nie eingemischt.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Simon heftig. »Nicht jeder ist so egoistisch wie du!«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. So oder so solltest du mit mir nach Hawk Mountain kommen und deinen Platz an meiner Seite einnehmen. Dann schenke ich deiner Mutter gerne die Freiheit. Sie kann mir nicht mehr helfen. Jetzt weiß ich ja, wo die anderen drei Teile sind.«
Simons Herz hämmerte so heftig, dass es wehtat. »Du … du weißt, wo Celeste ist?«
Orion neigte den Kopf. »Diese Information teile ich nur mit meinen engsten Vertrauten. Und da du kein Interesse an deinem eigenen Reich zu haben scheinst …«
Die Zeit schien stillzustehen, und Simon wurde schwindlig. Er hatte sich solche Sorgen gemacht, dass Celeste Orions Teile fand, aber nie daran gedacht, dass auch der umgekehrte Fall möglich war.
»Du kannst mir wenigstens verraten, ob du es weißt«, sagte er und hoffte, dass Orion das Zittern seiner Stimme nicht bemerkte. »Du musst mir ja nicht sagen, wo sie sind.«
»Das könnte ich«, antwortete Orion bedächtig, »aber selbst das wäre zu viel für jemanden, der monatelang gegen seinen eigenen Großvater gearbeitet hat.« Er breitete die Flügel aus, und kurz dachte Simon, er würde davonfliegen. Doch dann ließ er sich wieder sinken und wandte sich erneut dem Sonnenuntergang zu. »Ich bin voller Zuversicht hergekommen, Simon, dass du die richtige Entscheidung treffen und mir folgen würdest. Aber wenn du nicht willst –«
»Wer sagt, dass ich nicht will?« Die Worte rutschten Simon heraus, bevor er sie aufhalten konnte. Er kannte seinen Großvater gut genug, um zu wissen, wie riskant dieses Spiel sein würde – so zu tun, als würde er Orions Wunsch nachgeben und sich mit dem Vogelreich verbünden. Orion musste noch einen anderen Grund für sein Angebot haben, den Simon nicht kannte.
Trotzdem war es verlockend. Außerdem war es der erste Hinweis seit Wochen. Wenn Orion wirklich wusste, wo Celeste und Nolan waren … Und wenn er Wort hielt und seine Mutter freiließ …
»Nun?«, fragte Orion und musterte ihn mit seinem gesunden Auge. »Folgst du mir, Simon, und vergisst endlich diesen albernen Streit? Oder versteckst du dich für den Rest deines Lebens in einem winzigen Apartment, ohne etwas zu erreichen und ohne deine Mutter und deinen Bruder je wiederzusehen?«