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Simon Sinek

Das unendliche Spiel

Liebe Oma,

weil du so gelebt hast, als gabe es keine Ziellinie.
Auf dass wir alle lernen, so zu leben.

In Liebe,
Simon

Simon Sinek

Das unendliche Spiel

Strategien für dauerhaften Erfolg

Übersetzung aus dem Englischen von Petra Pyka

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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3. Auflage 2022

© 2019 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2019 by SinekPartners LLC. Die englische Originalausgabe erscheint 2019 bei Portfolio, einem Imprint der Penguin Publishing Group, einer Abteilung der Penguin Random House LLC, unter dem Titel The Infinite Game.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Petra Pyka, Rednitzhembach

Redaktion: Ulrike Kroneck, Melle-Buer

Umschlaggestaltung: Laura Osswald, München

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-86881-746-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-104-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-105-1

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Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

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INHALT

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Gewinnen

Erstes Kapitel: Endliche und unendliche Spiele

Zweites Kapitel: Eine gerechte Sache

Drittes Kapitel: Gute Sache oder schlechte Sache – das ist hier die Frage

Viertes Kapitel: Die Hüter der Sache

Fünftes Kapitel: Unternehmensverantwortung – neu definiert

Sechstes Kapitel: Der Wille und die Mittel

Siebtes Kapitel: Vertrauen im Team

Achtes Kapitel: Wenn die Moral bröckelt

Neuntes Kapitel: Ein würdiger Mitstreiter

Zehntes Kapitel: Existenzielle Flexibilität

Elftes Kapitel: Mut zur Führung

Nachwort

Dank

Anmerkungen

An einer Weggabelung steht ein Schild.

Darauf weist ein Pfeil mit der Aufschrift »Sieg« in die eine Richtung. In eine andere Richtung zeigt ein Pfeil mit der Aufschrift »Erfüllung«. Wir müssen uns für eine Richtung entscheiden. Welche wählen wir?

Schlagen wir den Weg zum Sieg ein, ist unser Ziel, zu gewinnen!

Wir erleben die Spannung eines Wettrennens auf die Ziellinie zu. Immer mehr Menschen versammeln sich, um uns zuzujubeln! Und plötzlich ist alles vorbei. Alle gehen nach Hause.

(Wir können nur hoffen, dass uns das noch einmal gelingt.)

Wählen wir die Straße zur Erfüllung, steht uns eine lange Wanderschaft bevor.

Dabei müssen wir manchmal aufpassen, wo wir hintreten, manchmal können wir stehenbleiben, um die Aussicht zu genießen. Wir gehen weiter. Immer weiter.

Immer mehr Menschen schließen sich uns an.

Und ist unser Leben zu Ende, gehen all jene, die sich mit uns auf den Weg zur Erfüllung gemacht haben, ohne uns weiter und animieren andere, mitzukommen.

WARUM ICH DIESES BUCH GESCHRIEBEN HABE

Eigentlich erstaunlich, dass es dieses Buch überhaupt geben muss. Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben wir schon so oft erlebt, wie viel es bringt, wenn wir unserem Denken keine Grenzen setzen. Der Aufstieg großer Kulturen, Errungenschaften in Wissenschaft und Medizin und die Erforschung des Weltalls – all das konnte geschehen, weil sich größere Gruppen von Menschen, geeint in einem gemeinsamen Anliegen, bewusst entschlossen haben zusammenzuarbeiten, ohne ein klares Ziel im Blick zu haben. Stürzt eine Rakete ab, die ins All fliegen sollte, finden wir heraus, was schiefgelaufen ist, und versuchen es noch einmal … und wieder … und wieder. Und auch wenn wir Erfolg haben, machen wir weiter. Das tun wir aber nicht etwa, weil uns am Jahresende ein Bonus winkt – sondern weil wir das Gefühl haben, zu etwas Größerem beizutragen – etwas Wertvollem, das uns noch lange überlebt.

Es spricht zwar viel dafür, auf endlose, langfristige Sicht zu handeln, doch das ist nicht so einfach. Es erfordert viel Mühe. Wir Menschen neigen von Natur aus dazu, Sofortlösungen für lästige Probleme zu suchen und vor allem auf den schnellen Erfolg zu setzen, um uns unseren ehrgeizigen Zielen näherzubringen. Wir teilen die Welt ein in Erfolge und Fehlschläge, Gewinner und Verlierer. Diese »werkseitige« Einstellung kann uns kurzfristig durchaus dienlich sein. Als Strategie für den Betrieb eines Unternehmens oder einer Organisation ist sie aber manchmal auf längere Sicht verhängnisvoll.

Wozu diese Standardeinstellung führt, ist uns nur allzu vertraut: Jedes Jahr entlassen wir massenhaft Mitarbeiter, um willkürlichen Hochrechnungen zu entsprechen, wir arbeiten unter mörderischen Bedingungen, kriechen vor den Aktionären und vernachlässigen dabei die Bedürfnisse von Beschäftigten und Kunden, pflegen unehrliche und unethische Geschäftspraktiken, belohnen leistungsstarke, aber sozial unverträgliche Teammitglieder und blenden die Schäden aus, die sie dem übrigen Team zufügen, und honorieren Führungskräfte, die sich selbst ganz offensichtlich weit wichtiger nehmen als ihre Leute. Das alles untergräbt Loyalität und Engagement und steigert die Unsicherheit und die Angst, die zu viele von uns heute empfinden. Dieser unpersönliche, geschäftsmäßige unternehmerische Ansatz ist offenbar seit der Industriellen Revolution auf dem Vormarsch – und in unserem digitalen Zeitalter umso mehr. Tatsächlich scheint unsere gesamte Auffassung von Geschäft und Kapitalismus in den Bann einer kurzfristigen, endlich orientierten Denkweise geraten zu sein.

Zwar beschweren sich viele von uns über diesen Zustand, doch leider scheint es, als interessiere sich der Markt mehr dafür, den Status quo aufrechtzuerhalten, als für Veränderungen. Aussagen wie »der Mensch ist wichtiger als der Profit« stoßen häufig auf Widerspruch. Unter denjenigen, die großen Einfluss auf das bestehende System ausüben – also unsere derzeitige Führungselite –, erklären uns viele für naiv und meinen, wir verstünden nichts von der geschäftlichen »Realität«. Das lässt viele von uns resignieren. Wir finden uns damit ab, dass uns schon morgens beim Aufstehen vor dem Arbeitstag graut, dass wir uns am Arbeitsplatz unsicher fühlen und Probleme haben, ein erfülltes Leben zu leben. Es ist bereits so weit, dass das Streben nach der schwer erreichbaren Work-Life-Balance zu einer eigenen Industrie geworden ist. Da drängt sich mir förmlich die Frage auf: Gibt es denn keinen anderen gangbaren Weg?

Vielleicht – nur vielleicht – muss die »Realität«, von der die Zyniker immer reden, ja nicht zwingend so aussehen. Vielleicht ist unser derzeitiges Geschäftsverkehrssystem nicht das »richtige« und schon gar nicht das »beste«, sondern eben bloß das System, an das wir gewöhnt sind – und das von einer Minderheit bevorzugt und propagiert wird, nicht von der Mehrheit. Sollte das der Fall sein, dann hätten wir die Chance, eine andere Realität zu leben.

Wir haben es tatsächlich in der Hand, eine Welt zu erschaffen, in der die allermeisten von uns jeden Tag erwartungsvoll aufwachen, sich bei der Arbeit wohl fühlen und am Abend erfüllt nach Hause kommen. Die Veränderungen, für die ich eintrete, sind nicht leicht herbeizuführen. Doch sie sind möglich. Mit guten – herausragenden – Führungskräften kann diese Vision Wirklichkeit werden. Herausragende Führungskräfte sind solche, die nicht »kurzfristig« denken, sondern »langfristig«. Sie wissen, dass es nicht um das nächste Quartal oder die nächste Wahl geht, sondern um die nächste Generation. Herausragende Führungskräfte stellen ihre Organisationen so auf, dass diese auch noch erfolgreich sind, wenn sie selbst nicht mehr da sind. Gelingt ihnen das, ist der Nutzen enorm – für uns, für die Wirtschaft und auch für die Aktionäre.

Ich habe dieses Buch nicht geschrieben, um die Verfechter des Status quo zu bekehren. Vielmehr möchte ich damit all jene um mich scharen, die bereit sind, den Istzustand infrage zu stellen und ihn durch eine neue Realität zu ersetzen – eine Realität, die unserem tiefverwurzelten menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit, danach, zu etwas Größerem beizutragen und für uns und unsere Familien zu sorgen, eher Rechnung trägt. Eine Realität, die unseren Interessen als Menschen, als Unternehmen, als Gesellschaft und als Spezies besser gerecht wird.

Wenn wir an eine Welt glauben, in der wir uns jeden Tag aufs Neue inspiriert, sicher und erfüllt fühlen können, wenn wir glauben, dass es die Führungskräfte sind, die diese Vision umsetzen können, dann ist es unsere gemeinsame Pflicht, Führungskräfte zu finden, heranzubilden und zu unterstützen, die ein Führungsideal verfolgen, das eher dazu angetan ist, dieser Vision Leben einzuhauchen. Eine Voraussetzung dafür: Wir müssen lernen, was es bedeutet, in einem unendlichen Spiel eine Führungsrolle zu übernehmen.

Simon Sinek

4. Februar 2019

London, England

GEWINNEN

Am 30. Januar 1968 startete Nordvietnam morgens eine Überraschungsoffensive gegen die US-Amerikaner und ihre alliierten Streitkräfte. Im Laufe der nächsten 24 Stunden griffen über 85.000 nordvietnamesische Soldaten und Vietkong-Einheiten über 125 Ziele im ganzen Land an. Die amerikanischen Truppen waren absolut unvorbereitet. Manche der kommandierenden Offiziere waren nicht einmal auf ihren Posten, als der Angriff begann. Sie feierten Tết in der nächstgelegenen Stadt. Die sogenannte Tết-Offensive nahm ihren Lauf.

Tết ist der Beginn des neuen Mondjahres und für die Vietnamesen ein so bedeutender Feiertag wie Weihnachten in der westlichen Hemisphäre. Und wie den Weihnachtsfrieden im Ersten Weltkrieg gab es in Vietnam die jahrzehntealte Tradition, dass an diesem Tag nicht gekämpft wurde. Doch weil die nordvietnamesische Führung eine Gelegenheit sah, die amerikanischen Streitkräfte zu überrumpeln und den Krieg schnell zu beenden, entschloss sie sich, mit der Tradition zu brechen, und plante ihre Überraschungsoffensive.

Das Erstaunliche daran: Die Vereinigten Staaten konnten jede einzelne Attacke abwehren. Jede. Mehr noch, sie dezimierten die Angreifer dabei spürbar. Als der größte Ansturm vorüber war – etwa eine Woche nach dem ersten Angriff –, hatte Amerika nicht einmal 1000 Soldaten verloren. Nordvietnam dagegen hatte über 35.000 Gefallene zu beklagen. In der Stadt Huế, in der sich die Kampfhandlungen noch fast einen Monat lang hinzogen, starben 150 amerikanische Marines, doch schätzungsweise 5.000 Nordvietnamesen.

Eine eingehende Analyse des gesamten Vietnamkriegs liefert ein bemerkenswertes Bild. Tatsächlich gewannen die Amerikaner die allermeisten Gefechte. Im Verlauf der zehn Jahre, in denen die USStreitkräfte im Vietnamkrieg kämpften, fielen 58.000 Amerikaner. Nordvietnam dagegen verlor über drei Millionen Menschen.1 Auf Amerika im Jahr 1968 übertragen, hätte das 27 Millionen Toten entsprochen.

Da stellt sich die Frage: Wie kann es sein, dass ein Land fast jede Schlacht für sich entscheidet, den Feind dezimiert und dennoch den Krieg verliert?

Erstes Kapitel

ENDLICHE UND UNENDLICHE SPIELE

Ein Spiel ist im Gang, wenn mindestens zwei Spieler vorhanden sind. Und es gibt zwei Arten von Spielen: endliche und unendliche.

Bei endlichen Spielen sind die Spieler bekannt. Sie richten sich nach festgelegten Regeln, und es gibt ein vereinbartes Ziel. Wird es erreicht, ist ein endliches Spiel vorüber. Fußball ist ein Beispiel für ein solches endliches Spiel. Die Spieler tragen alle dasselbe und sind leicht erkennbar. Es gibt bestimmte Regeln und Schiedsrichter, die die Einhaltung dieser Regeln überwachen. Die Spieler haben sich bereit erklärt, nach diesen Regeln zu spielen und bei Regelverstößen die verhängten Strafen zu akzeptieren. Alle sind sich einig: Das Team, das am Ende des festgelegten Zeitraums mehr Punkte hat, wird zum Sieger erklärt. Dann ist das Spiel vorbei, und alle gehen nach Hause. Bei endlichen Spielen gibt es stets einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende.

Unendliche Spiele dagegen werden von bekannten und unbekannten Spielern gespielt. Es gibt keine genauen oder vereinbarten Regeln. Es kann zwar Konventionen oder Gesetze geben, die regeln, wie sich die Spieler verhalten, doch innerhalb dieser weit gesteckten Grenzen können sie tun und lassen, was sie wollen. Und sie können auch gegen solche Konventionen verstoßen. Wie ein einzelner Spieler spielt, bleibt ganz ihm überlassen. Und jeder Spieler kann seine Spielweise jederzeit aus beliebigen Gründen verändern.

Unendliche Spiele laufen ohne zeitliche Begrenzung. Und weil es keine Ziellinie gibt, kein eindeutiges Ende des Spiels, kann man so ein unendliches Spiel auch nicht »gewinnen«. Hauptziel eines solchen Spiels ist es, im Spiel zu bleiben – für alle Zeit.

Was ich über diese beiden Arten von Spielen weiß, habe ich vom Meister des Fachs gelernt – von Professor James P. Carse, der 1986 Finite and Infinite Games: A Vision of Life as Play and Possibility verfasste (Deutsche Fassung: Endliche und unendliche Spiele: Die Chancen des Lebens, 1999). Carses Buch brachte mich erstmals dazu, über Gewinnen und Verlieren hinauszudenken – und auch über Unentschieden und Patt. Je genauer ich mir die Welt durch Carses Linse der endlichen und unendlichen Spiele betrachtete, desto klarer erkannte ich die vielen unendlichen Spiele, die um uns herum im Gang sind – Spiele ohne Ziellinien und ohne Sieger. So kann beispielsweise in der Ehe oder in einer Freundschaft niemand der Erste sein. Die Schulzeit ist fraglos endlich, doch in der Bildung kann man nicht gewinnen. Bei der Bewerbung um eine Stelle oder eine Beförderung können wir Konkurrenten schlagen, doch im Beruf wird niemand zum Sieger gekrönt. Länder können weltweit mit anderen Ländern um Land, Einfluss oder wirtschaftliche Vorteile in den Wettbewerb treten, doch in der Weltpolitik gibt es keinen Gewinner. Ganz gleich, wie erfolgreich wir in unserem Leben auch sind – wenn wir sterben, wird keiner von uns zum Lebenssieger erklärt. Bei all diesen Beispielen handelt es sich um Entwicklungen, nicht um Ereignisse.

Hören wir aber, was so viele unserer Leitfiguren heute von sich geben, so drängt sich der Eindruck auf, dass ihnen nicht klar ist, was für ein Spiel sie spielen. Sie reden ständig vom »Gewinnen«. Sie sind besessen davon, die »Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen«. Sie posaunen in die Welt hinaus, dass sie »die Besten« sind. Nur leider ist das alles in Spielen ohne Ziellinie gar nicht möglich.

Wer mit einer endlichen Einstellung in einem unendlichen Spiel antritt, wird ganz unterschiedlich geartete Probleme verursachen – allen voran einen Schwund von Vertrauen, Kooperationsgeist und Innovation. Wer dagegen mit der richtigen Mentalität in ein unendliches Spiel geht, korrigiert effektiv unseren Kurs. Menschen mit einer solchen Grundhaltung wird weitaus mehr Vertrauen, Kooperationsbereitschaft und Innovationsdynamik entgegenbracht – inklusive aller Vorteile, die sich daraus ergeben. Da wir alle immer wieder in unendliche Spiele hineingezogen werden, liegt es in unserem ureigenen Interesse, zu merken, was für ein Spiel wir spielen, und zu erkennen, was eine Führungspersönlichkeit mit der richtigen Einstellung ausmacht. Genauso wichtig ist es aber für uns, die Anzeichen für endliches Denken wahrzunehmen, damit wir korrigierend eingreifen können, bevor größerer Schaden entsteht.

Das unendliche Spiel der Wirtschaft

Die Wirtschaft entspricht per definitionem einem unendlichen Spiel. Dabei sind nicht immer alle Spieler bekannt und es können jederzeit neue hinzukommen. Sämtliche Spieler bestimmen ihre Strategien und Taktiken selbst. Es gibt kein festes Reglement, zu dem sich alle bekennen – abgesehen vom jeweils geltenden Recht (und selbst das kann sich von Land zu Land unterscheiden). Anders als bei einem endlichen Spiel gibt es keinen von vornherein festgelegten Anfang, keine Mitte und kein Ende der Wirtschaft. Zwar rechnen viele von uns zur Bewertung unserer eigenen Leistung im Vergleich zu anderen Akteuren in bestimmten Zeiträumen – beispielsweise in Geschäftsjahren –, doch diese stellen lediglich Marker im Spielverlauf dar und kennzeichnen keinesfalls das Ende des eigentlichen Spiels. In der Wirtschaft gibt es keine Ziellinie.

Unternehmen treten zu einem Spiel an, das nicht zu gewinnen ist. Dennoch verhalten sich zu viele Unternehmenslenker so, als wäre dies möglich. Sie behaupten nach wie vor, sie seien die »Besten« oder die »Nummer eins«. Solche Behauptungen sind inzwischen so gängig, dass wir uns kaum mehr bewusst machen, wie lächerlich manche davon sind. Sobald ein Unternehmen den Anspruch erhebt, die Nummer eins beziehungsweise der Beste zu sein, werfe ich stets einen Blick ins Kleingedruckte und sehe nach, welche Rosinen es sich zu diesem Zweck aus den Kennzahlen herausgepickt hat. So rühmte sich etwa British Airways über Jahre in ihrer Werbung, die »beliebteste Fluggesellschaft der Welt« zu sein.2 Richard Bransons Konkurrenzunternehmen Virgin Atlantic reichte dagegen Beschwerde bei der britischen Werbeaufsichtsbehörde ein: Auf der Grundlage der jüngsten Umfragen unter Passagieren konnte das nämlich nicht stimmen. Die Behörde erlaubte British Airways jedoch, dies auch weiterhin zu behaupten. Die Begründung: Sie befördere mehr internationale Passagiere als jede andere Fluggesellschaft. Das Attribut »beliebtest« werde von British Airways im dem Sinne verwendet, dass ihr Geschäft Wachstum verzeichne – nicht unbedingt im Sinne von »bevorzugt«.

Ein Unternehmen sieht sich vielleicht als die Nummer eins, weil es so viele Kunden hat. Ein anderes könnte sich dabei auf Umsatz, Aktienkursentwicklung, Beschäftigtenzahl oder Anzahl der Niederlassungen weltweit berufen. Unternehmen, die solche vollmundigen Behauptungen aufstellen, können sogar selbst bestimmen, für welchen Zeitrahmen sie ihre Berechnungen anstellen: für ein Quartal, für acht Monate oder für ein Jahr. Oder auch für fünf Jahre – oder ein Dutzend. Aber sind denn überhaupt alle Branchenakteure mit dem betreffenden Zeitraum als Vergleichsgrundlage einverstanden? In endlichen Spielen gibt es die eine vereinbarte Kennzahl, die zwischen Gewinnern und Verlierern unterscheidet – geschossene Tore, Geschwindigkeit oder Stärke. In unendlichen Spielen gibt es viele verschiedene Kennzahlen, weshalb wir nie einen eindeutigen Sieger bestimmen können.

Ein endliches Spiel ist vorüber, wenn die festgelegte Zeit um ist. Der Spieler kann dann an einem anderen Tag wieder antreten (sofern es sich bei dem Spiel nicht um ein Duell gehandelt hat). Bei einem unendlichen Spiel ist das ganz anders. Das Spiel geht weiter, während die Zeit der Spieler abläuft. Weil man ein unendliches Spiel nicht gewinnen oder verlieren kann, steigen die Spieler ganz einfach aus, wenn sie keine Lust mehr haben oder wenn ihnen die Mittel ausgehen. In der Wirtschaft heißt das Konkurs oder auch Fusion oder Übernahme. Dabei gilt: Wer im unendlichen Spiel der Wirtschaft Erfolg haben will, darf nicht länger darüber nachdenken, wer gewinnt oder der Beste ist. Er muss sich stattdessen darauf konzentrieren, wie sich so starke, solide Organisationen aufbauen lassen, dass sie über viele Generationen im Spiel bleiben können. Ironie des Schicksals: Die Vorteile, die das bringt, stärken Unternehmen oft auch auf kurze Sicht.

Eine Geschichte von zwei Spielern

Vor ein paar Jahren war ich als Referent von Microsoft auf eine Spitzenkonferenz zum Thema Bildung eingeladen. Ein paar Monate später trat ich in derselben Funktion bei Apple auf. Auf der Microsoft-Veranstaltung drehten sich die Präsentationen der meisten Redner schwerpunktmäßig darum, wie sie Apple überrunden wollten. Auf der Apple-Veranstaltung widmeten 100 Prozent der Vortragenden 100 Prozent ihrer Zeit dem Thema, wie Apple Lehrern lehren und Schülern lernen helfen konnte. Die einen schienen besessen von der Vorstellung, einen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, die anderen waren beseelt von der Sache.

Nach meinem Vortrag bei Microsoft erhielt ich ein Geschenk – den Zune (als dieser noch ein Gerät war). Dabei handelte es sich um Microsofts Antwort auf den iPod von Apple – den seinerzeit dominanten Faktor auf dem Markt für MP3-Player. Microsoft wollte sich nicht abhängen lassen und führte den Zune ein, um seinem Erzrivalen Marktanteile abzuluchsen. Das war im Jahr 2006, und der damalige Microsoft-CEO Steve Ballmer war zuversichtlich, dass Microsoft Apple früher oder später »schlagen« könnte – wenngleich ihm klar war, dass das nicht einfach werden würde.3 Wäre es nur auf die Produktqualität angekommen, wäre Ballmers Optimismus durchaus berechtigt gewesen. Die Zune-Version, die mir von Microsoft überreicht wurde – der Zune HD – war, wie ich zugeben muss, wirklich hervorragend. Das Design war elegant, die Bedienoberfläche einfach, intuitiv und benutzerfreundlich. Der Zune gefiel mir richtig gut. (Der Vollständigkeit halber: Ich habe das Gerät an einen Freund verschenkt – aus dem einfachen Grund, weil es, anders als mein iPod, der mit Microsoft Windows kompatibel war, nicht mit iTunes konnte. So gern ich das Gerät verwendet hätte – es war mir schlicht nicht möglich.)

Nach meinem Auftritt bei der Apple-Konferenz teilte ich mir auf der Rückfahrt ins Hotel ein Taxi mit einem Apple-Spitzenmanager – dem mit der Personalnummer 54, um genau zu sein. Das bedeutete, er war von Anfang an dabei gewesen und in der Apple-Kultur und -Mentalität zu Hause. Als wir so zusammen im Taxi saßen und ich mir seiner Aufmerksamkeit sicher war, konnte ich mir nicht verkneifen, ein bisschen zu sticheln. Also sagte ich zu ihm: »Wissen Sie … ich habe kürzlich bei Microsoft gesprochen und dort den neuen Zune bekommen, und ich muss Ihnen sagen, der ist UM LÄNGEN BESSER als Ihr iPod touch.« Der Apple-Mann sah mich an, lächelte und meinte: »Da haben Sie sicher Recht.« Das war alles. Damit war das Thema durch.

Dass Microsoft über das bessere Produkt verfügte, ließ den Apple-Manager absolut kalt. Vielleicht sprach aus ihm ja die Arroganz des Marktführers. Vielleicht spielte er mir auch etwas vor (dann aber richtig gut). Vielleicht verhielt es sich aber auch ganz anders. Mir war das damals zwar nicht bewusst, doch seine Antwort entsprach genau der einer Führungskraft mit der richtigen Mentalität für die Unendlichkeit.

Die Vorteile der richtigen Einstellung

Im unendlichen Spiel bemisst sich der wahre Wert einer Organisation nicht nach dem Erfolg in Bezug auf einen Satz willkürlicher Kennzahlen für willkürliche Zeiträume. Der eigentliche Wert einer Organisation wird vielmehr danach beurteilt, wie engagiert andere zur Fähigkeit der Organisation beitragen möchten, auch weiterhin Erfolg zu haben – und zwar nicht nur zu ihrer Amtszeit, sondern weit darüber hinaus. Eine Führungskraft mit einer auf Endlichkeit getrimmten Mentalität arbeitet, um mehr aus Beschäftigten, Kunden und Aktionären herauszuholen und dadurch willkürliche Vorgaben zu erfüllen. Ein weiter denkender Manager setzt sich dagegen energisch dafür ein, dass Beschäftigte, Kunden und Aktionäre auch weiterhin dazu angeregt werden, durch ihren Einsatz, ihr Geld und ihre Investitionen selbst einen Beitrag zu leisten. Akteure, die auf Unendlichkeit spielen, möchten ihre Organisationen in besserer Verfassung hinterlassen, als sie sie vorgefunden haben. Lego hat Spielzeug erfunden, das sich langfristig bewährt. Das war aber kein glücklicher Zufall. Der Erfolg von Lego beruht vielmehr darauf, dass so gut wie jeder, der bei dem Unternehmen arbeitet, dazu beitragen möchte, dass ihn das Unternehmen überlebt. Die Lego-Leute werden nicht von dem Gedanken geleitet, im Quartalsvergleich besser abzuschneiden, sondern wollen »auch weiterhin innovative Spielerfahrungen entwickeln und jedes Jahr mehr Kinder erreichen«.4

Carse zufolge spielt ein Unternehmenslenker mit endlicher Einstellung, um das Spiel zu beenden – um zu gewinnen. Wenn aber einer gewinnen will, muss ein anderer verlieren. Solche Spieler spielen für sich selbst und möchten andere Akteure besiegen. Bei allen ihren Plänen und Aktionen steht der Gedanke an den Sieg im Vordergrund. Fast immer glauben sie, so handeln zu müssen, obwohl das gar nicht stimmt. Es gibt keine Regel, die ihnen das vorschreibt. Sie werden von ihrer Mentalität dazu getrieben.

Carses auf Unendlichkeit orientierte Spieler dagegen spielen, um im Spiel zu bleiben. In der Wirtschaft bedeutet das, eine Organisation aufzubauen, die ihre Lenker überleben kann. Carse geht ferner davon aus, dass solche Akteure zum Wohle des Spiels agieren. In der Wirtschaft ist das gleichbedeutend mit einem Weitblick, der über das Betriebsergebnis hinausreicht. Während ein endlichkeitsbezogener Spieler Produkte herstellt, die sich seiner Ansicht nach gut verkaufen, produziert der längerfristig orientierte Akteur, was die Menschen kaufen wollen. Der eine fokussiert sich vor allem darauf, wie das Unternehmen vom Produktabsatz profitiert, der andere darauf, was die Käufer von den Produkten haben.

Endlich orientierte Spieler richten sich in aller Regel nach Standards, die ihnen helfen, ihre persönlichen Ziele zu erreichen – ungeachtet der Nachwirkungen, die das auslösen kann. Die Frage »Was ist für mich das Beste?« zeugt von endlichkeitsgeprägtem Denken. Um Unendlichkeit geht es dagegen, wenn gefragt wird: »Was ist für uns am besten?«. Ein für das unendliche Spiel konzipiertes Unternehmen denkt nie nur an sich. Es berücksichtigt die Auswirkungen seiner Entscheidungen auf seine Belegschaft, die Gesellschaft, die Wirtschaft, das Land und die ganze Welt. Es agiert zum Wohle des Spiels. Kodak-Gründer George Eastman lebte für seine Vision, das Fotografieren leicht zu machen und es jedermann zu ermöglichen. Er erkannte auch, dass die Umsetzung dieser Vision eng mit dem Wohlergehen seiner Mitarbeiter und der Gemeinschaft verknüpft war, in der sie lebten. 1912 bezahlte Kodak seine Beschäftigten als erstes Unternehmen dividendenbasiert nach der Leistung.5 Ein paar Jahre später gab Kodak Wertpapiere aus, die wir heute als Aktienoptionen bezeichnen. Außerdem erhielten die Mitarbeiter großzügige Nebenleistungen, Krankengeld (damals ein ganz neues Konzept) und Beihilfen zur Weiterbildung, wenn sie Kurse an örtlichen Colleges belegen wollten. (Das alles wurde später von vielen anderen Unternehmen kopiert. Man könnte also sagen, es war nicht nur gut für Kodak, sondern für das gesamte Wirtschaftsspiel.) Kodak schuf nicht zur zigtausend Arbeitsplätze, sondern Eastman baute auch ein Krankenhaus, gründete eine Musikschule und unterstützte großzügig Einrichtungen für weiterführende Bildung wie das Mechanics Institute of Rochester (das später in Rochester Institute of Technology umgetauft wurde) und die University of Rochester.

Auf Endlichkeit ausgerichtete Spieler haben laut Carse eine Abneigung gegen Überraschungen und fürchten jede Störung, weil sie auf einen Endpunkt hinspielen. Was sie nicht prognostizieren oder steuern können, könnte ihre Pläne torpedieren und ihre Gewinnchancen verschlechtern. Ein Spieler, dem es um Unendlichkeit geht, rechnet dagegen mit Überraschungen, ja, begrüßt diese sogar, und ist bereit, sich von ihnen grundlegend verändern zu lassen. Er freut sich über die Freiheit des Spiels und ist aufgeschlossen für alle Möglichkeiten, im Spiel zu bleiben. Statt Wege zu suchen, auf bereits Geschehenes zu reagieren, hält er Ausschau nach Gelegenheiten, etwas ganz Neues auszuprobieren. Eine unendliche Perspektive befreit uns aus der Fixierung auf das, was andere Unternehmen tun, sodass wir uns auf eine übergeordnete Vision konzentrieren können. Statt darauf zu reagieren, wie neue Technologien unser Geschäftsmodell infrage stellen, gelingt es weiter denkenden Topmanagern besser, die Anwendungsmöglichkeiten neuer Technologien vorherzusehen.

Unter diesem Aspekt ist nachvollziehbar, warum sich der Apple-Manager, mit dem ich damals im Taxi saß, vom gut konzipierten Microsoft-Produkt Zune nicht aus der Ruhe bringen ließ. Ihm war klar, dass im unendlichen Spiel der Wirtschaft mal Apple mit dem besseren Produkt vorpreschen würde und mal ein Mitbewerber. Es ging ihm nicht darum, Microsoft zu übertrumpfen. Bei Apple suchte man vielmehr Wege, sich selbst zu übertreffen. Das Unternehmen dachte bereits daran, was nach dem iPod kommen würde. Durch Apples unendlichkeitsorientierte Mentalität konnten seine Mitarbeiter nicht nur in die Quere denken, sondern auch in die Länge. Rund ein Jahr nach der Markteinführung von Zune stellte Apple das erste iPhone vor. Damit definierte es die gesamte Kategorie der Smartphones neu. Zune und der iPod waren praktisch überholt. Obwohl das manche glauben, konnte Apple weder die Präferenzen der Verbraucher vorhersagen noch in die Zukunft sehen. In Wirklichkeit war es die unendliche Perspektive des Unternehmens, die ihm eine Innovationsfähigkeit ermöglichte, wie sie Unternehmen mit einer eher auf Endlichkeit ausgerichteten Führung schlicht versagt bleibt.

Ein auf endliche Ziele fokussiertes Unternehmen kann sich zwar »innovative« Möglichkeiten einfallen lassen, den Gewinn zu steigern, doch solche Entscheidungen kommen in aller Regel nicht der Organisation, den Beschäftigten, den Kunden und der Gesellschaft zugute – sondern nur dem Gewinn. Und sie stellen die Organisation auch für die Zukunft nicht unbedingt besser auf – aus einem ganz einfachen Grund: weil solche Entscheidungen nämlich in erster Linie für diejenigen vorteilhaft sind, die sie getroffen und dabei nicht an die Unendlichkeit gedacht haben, sondern lediglich an die nahe Zukunft. Führungskräfte mit Weitblick drängen ihre Leute nicht, sich auf endliche Ziele zu fixieren, sondern halten sie vielmehr dazu an, möglichst einer endlosen Zukunftsvision Vorschub zu leisten, die allen Beteiligten zugutekommt. Die endlichen Ziele werden dann lediglich zu Meilensteinen für die Umsetzung dieser Vision. Richten sich alle auf diese unendliche Vision aus, führt das nicht nur zu Innovation, sondern treibt auch die Zahlen in die Höhe. Tatsächlich können Unternehmen, deren Führungsteams sich durch eine solche Mentalität auszeichnen, oft mit rekordhohen Gewinnen aufwarten. Das ist aber noch nicht alles. Die Inspiration, Innovation, Kooperationsbereitschaft, Markenbindung und Gewinnentwicklung, die aus einer auf Unendlichkeit abgestellten Führung hervorgehen, leisten Unternehmen nicht nur in stabilen Phasen gute Dienste, sondern auch dann, wenn es hart auf hart kommt. Was einem Unternehmen in guten Zeiten hilft, zu überleben und zu florieren, macht es in schlechten Zeiten stark und widerstandsfähig.

Ein auf Widerstandsfähigkeit getrimmtes Unternehmen ist für die Ewigkeit gebaut. Darin unterscheidet es sich von einem auf Stabilität ausgerichteten Unternehmen. Bei Stabilität geht es per definitionem darum, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Eine stabile Organisation kann theoretisch einem Sturm trotzen und geht am Ende unverändert daraus hervor. Das Attribut »stabil« soll in Bezug auf ein Unternehmen in der Praxis meist betonen, dass sich dieses von einem riskanten und leistungsstärkeren Unternehmen unterscheidet. »Es wächst zwar langsam, ist aber solide«, lautet die gängige Auffassung. Doch ein von vornherein auf Stabilität angelegtes Unternehmen hat nicht verstanden, worum es bei dem unendlichen Spiel eigentlich geht, denn es ist kaum auf das Unvorhersagbare vorbereitet – auf neue Technologien, neue Konkurrenten, Marktveränderungen oder globale Ereignisse, die seine Strategie von jetzt auf gleich aus der Bahn werfen können. Ein auf Unendlichkeit abzielender Unternehmenslenker will nicht nur ein Unternehmen aufbauen, das Veränderungen verkraften kann – sondern eines, das sich davon umgestalten lässt. Er möchte ein Unternehmen errichten, das Überraschungen freudig begrüßt und sich anpasst. Widerstandsfähige Unternehmen gehen aus Umbrüchen manchmal vollkommen verwandelt hervor (und sind dafür oft sogar dankbar).

Für das Schweizer Unternehmen Victorinox – der Hersteller des berühmten Schweizer Soldatenmessers – hatte der 11. September dramatische Auswirkungen auf sein Geschäft. Das allgegenwärtige Utensil, das Unternehmen gern zu Werbezwecken verschenkten und das bei Anlässen wie Ruhestand, Geburtstag oder Schulabschluss als Klassiker auf dem Gabentisch galt, war plötzlich im Handgepäck nicht mehr zulässig. Während die meisten Unternehmen in solchen Fällen in die Defensive gehen – indem sie sich auf den Schlag konzentrieren, der ihrem traditionellen Geschäftsmodell versetzt wurde, und auf die damit verbundenen Kosten –, entschied sich Victorinox für eine offensive Gangart. Dort begrüßte man die böse Überraschung als Chance, statt sie zu fürchten – ein ausgesprochen charakteristischer Zug eines auf Unendlichkeit orientierten Akteurs. Statt die Kosten drastisch zu senken und Mitarbeiter zu entlassen, entwickelte die Geschäftsleitung von Victorinox innovative Ideen, wie sich die Arbeitsplätze retten ließen (sodass bei der Belegschaft gar keine Einschnitte vorgenommen wurden), erhöhte die Investitionen in die Entwicklung neuer Produkte und animierte die eigenen Mitarbeiter dazu, sich zu überlegen, wie sie ihre Marke auf neuen Märkten nutzen konnten.

Victorinox hatte in guten Zeiten vorgesorgt und Liquiditätsreserven aufgebaut.6 Schließlich wusste man, dass auch wieder schlechtere Zeiten kommen würden. Wie CEO Carl Elsener sagt: »Ein Blick auf die Geschichte der Weltwirtschaft verrät: Es war noch nie anders. Nie! Und es wird auch in Zukunft immer so sein. Es geht niemals immer nur aufwärts oder immer nur abwärts. Es ist ein einziges Auf und Ab. Immer wieder. … Wir denken nicht in Quartalen, sondern in Generationen.« Diese auf Unendlichkeit ausgerichtete Mentalität versetzte Victorinox philosophisch und finanziell in die Lage, in Angriff zu nehmen, was für ein anderes Unternehmen unter Umständen eine verhängnisvolle Krise gewesen wäre. Und das Ergebnis war ganz erstaunlich: Victorinox ist heute ein anderes, noch stärkeres Unternehmen als vor dem 11. September. Früher entfiel der Gesamtumsatz des Unternehmens zu 95 Prozent auf Messer, davon allein 80 Prozent auf Schweizer Soldatenmesser. Diese machen heute nur noch 35 Prozent des Gesamtumsatzes aus, doch der Absatz von Reisegepäck, Uhren und Düften trug dazu bei, dass Victorinox seinen Umsatz gegenüber der Zeit vor dem 11. September nahezu verdoppeln konnte. Victorinox ist kein stabiles Unternehmen, sondern ein widerstandsfähiges.

Wer mit der richtigen Mentalität für die Unendlichkeit antritt, hat eindeutige Vorteile – in vieler Hinsicht. Doch was passiert, wenn wir das unendliche Spiel der Wirtschaft mit einer endlichen Geisteshaltung spielen?

Endliche Mentalität in einem unendlichen Spiel: die Nachteile

Jahrzehnte nach dem Vietnamkrieg hatte der damalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara Gelegenheit, Nguyen Co Thach kennenzulernen, der von 1960 bis 1975 im nordvietnamesischen Außenministerium Chef-US-Experte war. McNamara begriff schockiert, wie falsch die Amerikaner ihre Gegner damals eingeschätzt hatten. »Sie haben offenbar nie ein Geschichtsbuch gelesen«, rügte Thach, wie McNamara berichtet.7 »Sonst hätten Sie gewusst, dass wir weder Marionetten der Chinesen noch der Russen waren. … Ist Ihnen denn nicht klar, dass wir die Chinesen schon seit tausend Jahren bekämpfen?«, setzte Thach hinzu. »Wir kämpften um unsere Unabhängigkeit! Und zwar bis zum letzten Mann! Dazu waren wir absolut entschlossen. Und davon hätte uns kein Bombenhagel und kein noch so starker Druck seitens der USA abgebracht!« Die Nordvietnamesen waren mit Blick auf die Ewigkeit angetreten – und mit der entsprechenden Einstellung.

Für die Vereinigten Staaten war der Vietnamkrieg dagegen ein endliches Unterfangen, weil das bei den meisten Kriegen tatsächlich so ist. In einem Krieg gibt es meist ein zu eroberndes Territorium oder ein anderes leicht messbares endliches Ziel. Gehen die Parteien mit konkreten politischen Zielen in den Krieg, wird derjenige, der sein Endziel zuerst erreicht, zum Sieger erklärt. Es wird ein Abkommen unterzeichnet, und der Krieg ist vorbei. Das ist jedoch nicht immer so. Hätte die amerikanische Führung genauer hingeschaut, dann hätten die Amerikaner vielleicht eher erkannt, worum es sich beim Vietnamkrieg in Wirklichkeit handelte. Hinweise gab es genug.

Zum einen lag kein klarer Anfang des Vietnameinsatzes der Amerikaner vor, keine Mitte und kein Ende. Es gab auch kein konkretes politisches Ziel, bei dessen Erreichen sie sich zum Sieger erklären und ihre Soldaten nach Hause holten konnten. Und selbst wenn – die Nordvietnamesen hätten dem nie zugestimmt. Die Amerikaner haben allem Anschein nach auch nicht begriffen, gegen wen sie damals kämpften. Für sie war der Konflikt mit Vietnam ein Stellvertreterkrieg gegen China und die Sowjetunion. Dabei behaupteten die Nordvietnamesen nachdrücklich, sie seien keine Marionetten einer fremden Regierung. Vietnam hatte sich jahrzehntelang gegen imperialistische Einflüsse zur Wehr gesetzt – im Zweiten Weltkrieg gegen die Japaner, danach gegen die Franzosen. Für die Nordvietnamesen war der Krieg gegen die Vereinigten Staaten kein verlängerter Kalter Krieg, sondern ein Kampf gegen eine weitere interventionistische Macht. Selbst die Art und Weise, wie die Nordvietnamesen kämpften – ihre Neigung, gegen die Konventionen klassischer Kriegführung zu verstoßen und ihre Weigerung, aufzugeben, ganz gleich, wie hoch ihre Verluste waren – hätte der amerikanischen Führung signalisieren müssen, dass sie den Charakter des Spiels, das sie spielten, falsch einschätzten.

Treten wir mit einer endlichen Mentalität in einem unendlichen Spiel an, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in einen Sumpf manövrieren und uns rasch der Wille und die Ressourcen ausgehen, die wir brauchen, um das Spiel fortzusetzen. Genau das ist Amerika in Vietnam passiert. Die Vereinigten Staaten gingen so vor, als sei das Spiel endlich. Sie bekämpften aber einen Gegner, der die richtige Einstellung für das unendliche Spiel mitbrachte, das in Wirklichkeit lief. Während Amerika kämpfte, um »zu gewinnen«, kämpften die Nordvietnamesen um ihr Leben. Und beide Gegner trafen entsprechende strategische Entscheidungen. Trotz ihrer weit überlegenen Streitmacht konnten sich die Vereinigten Staaten so nicht durchsetzen. Amerikas Einsatz in Vietnam wurde nicht durch einen militärischen oder politischen Sieg oder Fehlschlag beendet, sondern durch den öffentlichen Druck im eigenen Land. Das amerikanische Volk konnte einen anscheinend nicht zu gewinnenden und teuren Krieg in der Ferne nicht länger mittragen. Amerika hat also nicht den Vietnamkrieg »verloren«, sondern vielmehr den Willen und die Mittel, weiterzuspielen …. und deshalb musste es aus dem Spiel aussteigen.

Das Vietnam-Dilemma in der Wirtschaft

Als Microsoft den Zune auf den Markt brachte, gab es keine übergeordnete Vision, der dieses Produkt Vorschub leistete. Man hatte nicht daran gedacht, welche Möglichkeiten die Zukunft bereithielt. Es war lediglich ein Wettlauf um Marktanteile und um Geld – in dem Microsoft nicht besonders gut abschnitt. Ballmers Prophezeiung, der Zune könne den iPod »schlagen«, hätte kaum abwegiger sein können. Der Zune gewann zwar auf Anhieb einen Marktanteil von 9 Prozent, doch dann ging die Nachfrage kontinuierlich zurück – bis auf 1 Prozent im Jahr 2010.8 Im Jahr darauf wurde die Produktion eingestellt. Der iPod dagegen konnte sich im selben Zeitraum eines Marktanteils von 70 Prozent erfreuen.

Manche meinen, der Zune habe versagt, weil Microsoft zu wenig in Werbung investierte. Diese These lässt sich jedoch nicht erhärten. Spanx, Sriracha und GoPro sind gleich drei Marken, die nur durch Mundpropaganda und die Macht der Sozialen Medien ins Bewusstsein der Verbraucher eindrangen.9 Alle drei schafften es nicht nur ohne klassische Werbung, bekannt zu werden, sondern sich auch weiterhin zu halten. Andere sagen, der Zune sei zum Flop geworden, weil Microsoft auf dem Markt für MP3-Player zu spät dran gewesen sei. Diese Theorie ist nicht viel überzeugender. Auch Apple hat den iPod erst eingeführt, als MP3-Player schon fünf Jahre lang eine etablierte Produktkategorie waren. Marken wie Rio, Nomad und Sony entwickelten diese Technologie bereits weiter und erzielten hohe Umsätze. Doch vier Jahre nach seiner Einführung 2001 hatte sich der iPod den Löwenanteil am US-Markt für digitale Musikabspielgeräte gesichert … mit steigender Tendenz.10

So toll das Microsoft-Produkt Zune auch gewesen sein mochte, das Problem bestand nicht im Design, im Marketing oder im Timing des Produkts. Es braucht mehr als all das, um im unendlichen Spiel der Wirtschaft zu überleben und erfolgreich zu sein. Es ist die Unternehmensführung, die über den langfristigen Erfolg einer Organisation bestimmt. Indem sie Vergleiche und Gewinnen über alles andere stellen, richten auf Endlichkeit gepolte Führungskräfte die Unternehmensstrategie, die Produktstrategie, die Anreizstrukturen und die Personalentscheidungen an endlichen Zielen aus. Hat sich eine solche Mentalität erst in allen Organisationsbereichen eingebürgert, entsteht eine Art Tunnelblick. Die Folge ist, dass sich innerhalb der Organisation fast alle nur um Dringliches kümmern statt um wirklich Wichtiges. Die Führung reagiert instinktiv nur auf bekannte Faktoren, statt unbekannte Möglichkeiten zu ergründen und auszuloten. Manchmal ist die Chefetage – in der falschen Überzeugung, stets umgehend reagieren zu müssen – so besessen von den Aktivitäten der Konkurrenz, dass sie blind wird für viele bessere Möglichkeiten, die eigene Organisation zu stärken. Das ist, als würde man versuchen, ein Spiel aus der Defensive heraus zu gewinnen. Durch eine auf Endlichkeit getrimmte Geisteshaltung verführt, fand sich Microsoft in einem endlosen Whack-a-Mole-Spiel wieder.

Die Führung von Microsoft erkannte das unendliche Spiel, das sie spielte, nicht als solches – und auch nicht die darauf ausgerichtete Mentalität, mit der Apple antrat. Wie andere auf Endlichkeit orientierte Manager, die sich der Sprache der Unendlichkeit bedienen, sprach auch Steve Ballmer immer wieder von »Vision« und »langer Sicht«, doch er tat das nahezu ausschließlich im endlichen Kontext von Rankings, Aktien-Performance, Marktanteilen und Geld. Microsoft ging mit der falschen Einstellung an das eigene Spiel heran und jagte dadurch einem unerreichbaren Ziel nach – »zu gewinnen«. Wie Amerika in Vietnam verschleuderte Microsoft Energie und Ressourcen, die nötig sind, um im Spiel zu bleiben, und geriet prompt in Schwierigkeiten.

Offenbar hatte das Unternehmen aus der Geschichte mit dem iPod nichts gelernt. Als 2007 das iPhone auf den Markt kam, unterstrich Ballmers Reaktion darauf seine begrenzte Perspektive. In einem Interview auf das iPhone angesprochen, spottete er: »Das iPhone hat keine Aussicht auf nennenswerte Marktanteile – nicht die geringste. … Schon möglich, dass sie gut daran verdienen. Doch schaut man sich die 1,3 Milliarden Handys mal genauer an, die über den Ladentisch gehen, dann ist mir die Tatsache, dass 60, 70 oder 80 Prozent davon mit unserer Software laufen, mehr wert als die zwei oder drei Prozent, die sich Apple vielleicht sichern kann.«11 Eingeengt durch eine endlichkeitsgeprägte Mentalität, war Ballmer mehr auf die relativen Zahlen fokussiert, die das iPhone möglicherweise für sich verbuchen konnte, statt darauf, wie es den gesamten Markt verändern … oder sogar die Rolle, die Handys in unserem Leben spielen, vollkommen neu definieren könnte. Was folgte, muss Ballmer kräftig zugesetzt haben: Nachdem das iPhone nur fünf Jahre auf dem Markt war, erzielte Apple damit höhere Umsätze als Microsoft mit allen seinen Produkten zusammen.12

Auf seiner letzten Pressekonferenz als Microsoft-CEO brachte Steve Ballmer seine Karriere 2003 in einer Weise auf den Punkt, wie sie nicht endlichkeitsorientierter sein könnte. Er definierte Erfolg auf der Grundlage der von ihm ausgewählten Kennzahlen in Bezug auf den Zeitraum seiner Amtszeit. »In den letzten fünf Jahren hat Apple vermutlich mehr verdient als wir«, erklärte er. »Doch ich wette, dass wir in den letzten 13 Jahren mehr verdient haben als so ziemlich jedes andere Unternehmen weltweit. Und ganz ehrlich: Das erfüllt mich mit großem Stolz.«13 Offenbar wollte Ballmer damit sagen, dass sein Unternehmen in den 13 Jahren unter seiner Leitung »gewonnen« habe. Überlegen Sie mal, wie anders die Pressekonferenz hätte ablaufen können, wenn Ballmer, statt auf eine Bilanz zurückzublicken, darauf abgehoben hätte, was Microsoft alles erreicht hatte und noch erreichen konnte, um Bill Gates‘ ursprüngliche auf Unendlichkeit angelegte Vision voranzutreiben: »Jede Person und jedes Unternehmen auf dem Planeten zu befähigen, mehr zu erreichen.«14

Eine auf Endlichkeit ausgerichtete Führungskraft verweist auf die Unternehmensleistung, um den Wert der eigenen Karriere deutlich zu machen. Ein auf Unendlichkeit gepolter Manager nutzt seinen Werdegang, um den langfristigen Unternehmenswert zu steigern … und dieser Wert lässt sich nur zum Teil in Geld bemessen. Das Unternehmen spielt auch ohne ihn weiter. Im unendlichen Spiel ist der persönliche finanzielle Erfolg des Unternehmenschefs weit weniger wichtig als die Frage, ob er das Unternehmen kulturell so aufgestellt hat, dass es die nächsten 13 Jahre überleben und florieren kann. Oder die nächsten 33 oder 300 Jahre. Nach diesem Maßstab hat Ballmer verloren.

Im unendlichen Spiel der Wirtschaft können Führungskräfte mit endlicher Mentalität oder solche, die zu viel Wert auf endliche Ziele legen, nach einer willkürlich ausgewählten Kennzahl über einen willkürlich festgelegten Zeitraum durchaus an der Spitze liegen. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass sie tun, was nötig ist, um dafür zu sorgen, dass das Unternehmen so lange wie möglich im Spiel bleiben kann. Meist schaden ihre Handlungen sogar den internen Abläufen des Unternehmens und beschleunigen seinen endgültigen Niedergang, wenn niemand eingreift.