Die »Herbie Feldmann«-Krimis:
Spinner
Rabenschwarz
Der neunte Tod
Malerische Morde
Hart an der Grenze
Totentänzer
Abendlied
Aus finsterem Himmel
Mord mit Eifelblick
Außerdem gehören Herbie und Julius zu den Hauptdarstellern des Gemeinschafts-Romans Acht Leichen zum Dessert, der von den acht Autoren des Krimi-Camps verfasst wurde.
Darüber hinaus vom Autor bei KBV erschienen:
Tief unterm Laub
Still und starr
… denn sterben muss David!
Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten)
Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)
Ein kaltes Haus
Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)
Stimmen im Wald
Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)
Starker Abgang (Kriminalgeschichten)
Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)
Totholz
Schuss mit lustig (Kriminalgeschichten)
Ihr Mord, Mylord (Kriminalgeschichten)
So tot wie nie (Kriminalgeschichten)
Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt Tief unterm Laub erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-Literatur-Festivals. Seither erschienen mehrere Kriminalromane und zahlreiche Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«. www.ralfkramp.de · www.kriminalhaus.de
Ein Herbie-Feldmann-Krimi
Originalausgabe
© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © racera - Fotolia.de
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-462-8
E-Book-ISBN 978-3-95441-471-0
Zugeeignet
Agatha Mary Clarissa Christie,
der Queen of Crime
»Ein berühmter Filmstar
war eben ein berühmter Filmstar.
Alte Damen mochten zwar
in der Gesellschaft ihres Heimatortes
eine Rolle spielen,
doch deshalb waren sie
in der Welt der Berühmtheiten
noch lange nicht von Wichtigkeit.«
Agatha Christie »Mord im Spiegel«
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Nachwort
Auf diesem Kleid würde man jeden Fleck sehen. Ein Sommerkleidchen so blütenweiß wie frisch von einer Schaufensterpuppe im Kaufhaus abgenommen. Gunda kam mit zierlichen Schritten vom Gatter quer über die Wiese auf sie zugelaufen.
Püppi sah sie zuerst nur als hell leuchtenden Klecks, und dann wurde ihre engelsgleiche Gestalt immer deutlicher erkennbar. Püppi hatte selbst schon ein paar Mal in der Stadt vor einem der Kaufhäuser gestanden und die Kleider und Kostüme bestaunt, die gertenschlanken Frauenfiguren in den Miniröcken und die Männerpuppen mit den weiten Schlaghosen. Daheim in Köln bummelte Gunda bestimmt täglich vor solchen Geschäften herum.
»Hier!«, rief Püppi, drückte den Rücken durch und reckte den Kopf empor. »Hier bin ich, hier oben!«
Gunda blieb stehen und beschattete den Blick mit der flachen Hand, als sie den Hügel hinaufblickte. Dann winkte sie.
Ja, wie eine dieser Schaufensterpuppen sah Gunda aus, mit makelloser Haut, langen Beinen und einer blonden Mähne, die ihr bei jedem Schritt um den Kopf wogte. Sie kam mit eleganten, hüpfenden Bewegungen näher. Um sie herum wirbelten die Schirmchen der Pusteblumen durch die Sommerluft.
Püppi saß im Schatten der alten Feldscheune am Rande des Weißdorngestrüpps, das sich über die ganze Hügelkuppe ausgebreitet hatte. Der Sommer war heiß.
Aus dem kleinen Transistorradio erklang der neue Schlager von Roy Black: Du bist nicht allein, wenn du träumst, heute Abend … Sie hatte ihr leinenes Trägerkleid mit dem großen Blumenmuster an, das sie drei Jahre zuvor von Tante Bärbel geschenkt bekommen hatte. Es war schon so oft geflickt und gestopft worden, dass es ihr bald unweigerlich vom Leib fallen würde.
Im nächsten Moment hatte Gunda sie erreicht und ging mit einem leisen, glucksenden Lachen in die Knie. Bevor sie sich neben Püppi ins Gras setzte, schob sie sich sorgsam den Rocksaum um die Schenkel.
»Schönes Kleidchen«, sagte Püppi.
»Findest du, es steht mir?«
»Du weißt genau, dass es dir gut steht.«
»Es ist ganz neu«, erklärte Gunda. »Ich will fein drauf Acht geben, dass ich es nicht gleich am ersten Wochenende schmutzig mache.«
Püppi kräuselte die Mundwinkel. »Was kommst du auch mit so einem Fähnchen in die Eifel. Hier macht man sich doch überall schmutzig.«
Gunda legte den Kopf schief. »Ich wollte dieses Mal besonders hübsch aussehen.« Dann senkte sie in verschwörerischem Tonfall die Stimme. »Ich treffe nachher wieder den Freddy.«
»War mir schon klar.«
»Also so richtig.« Gunda beugte sich vor, und auf ihren Wangen zeigte sich eine ahnungsvolle Röte. Sie war noch ein wenig außer Atem vom Laufen. »Ich treffe ihn so richtig«, sagte sie mit Nachdruck.
»Ja, ja, habe ich mir schon gedacht. Er spricht auch von nichts anderem.«
Gunda schrak hoch. »Er erzählt es rum?«
»Keine Sorge, der hält dicht, der Freddy. Aber ich kenne ihn schon so lange, ich weiß, was er meint, auch wenn er was anderes sagt.«
»Ich könnte vor Glück zerspringen.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Gunda blickte sie jetzt ernst an. Püppis Einsilbigkeit schien sie zu verunsichern. »Freust du dich nicht mit mir?«
Für einen Augenblick hielt Püppi ihrem forschenden Blick stand, doch dann platzte das Lachen aus ihr heraus. »Aber klar freue ich mich. Klar doch!« Sie schlug spielerisch nach Gundas Schulter. »Ihr zwei seid doch wie gemacht füreinander. Wer sollte denn sonst den Freddy kriegen?«
»Ja«, rief Gunda befreit. »Wer sonst?«
»Ja, wer sonst?« Püppis erneutes Echo ging in ein Glucksen über, als sie begannen, sich gegenseitig zu knuffen und zu kitzeln.
Plötzlich hielt Gunda inne, strich sich die blonden Haare aus der Stirn und blickte an der Wand der Scheune empor. »Warum treffen wir uns hier? Warum nicht am Kriegerdenkmal, so wie sonst?«
Püppi erhob sich und stemmte die Hände in die Seiten. »Wenn du dir einen Jung aus der Eifel angelst, dann musst du so ein paar Sachen wissen.«
»Sachen?«
»Du willst deinem Freddy doch nicht wie das Dummchen aus der Stadt erscheinen. Wenigstens das Nötigste vom Dorf musst du kennen. Wenn du mit deinen Eltern alle paar Monate hier im Gasthof logierst, lernt ihr doch nichts. Ihr feiert die Dorfkirmes und steht mit uns am Osterfeuer, dein Vater trinkt unseren Pflaumenschnaps, und deine Mutter lässt sich unsere Kochrezepte geben, trotzdem werdet ihr nie richtige Eifeler sein. Aber du willst den Freddy, das ist was anderes. Guck mal, das hier ist die alte Scheune vom Stroedter Matthes.« Während sie sprach, schob sie einen Riegel beiseite und öffnete die Tür, die in das große hölzerne Tor eingelassen war. Sie hing schief in den Angeln und schrubbte mit dem unteren Rand über den trockenen Lehm und die dürren Grasbüschel des ausgefahrenen Weges, der über die Felder direkt auf das Tor zuführte.
»Der Matthes stellt hier alles ab, was er gerade nicht braucht oder was kaputt ist. So ein Eifeler wirft nix weg, verstehst du?«
Gunda folgte ihr zögernd ins Innere der Scheune. Sie presste mit den Händen die Rockschöße gegen die Schenkel und reckte den schlanken, weißen Hals. Ihre Augen schickten bange Blicke durch das Halbdunkel. Es gab kein Fenster, doch das Licht des Sommertags drang durch zahllose Ritzen in den Bretterwänden und verwandelte das ganze rostige Gerümpel, das den Innenraum füllte, in eine bizarre Schattenwelt. Es war kühl, und die Luft war gesättigt mit dem Geruch von morschem Holz und altem Maschinenöl.
»Das hier«, sagte Püppi mit gespielt lehrerhaftem Ton, »ist ein Trecker.«
Gunda schnalzte mit der Zunge. »Mensch Püppi, du bist doof.« Sie betrachtete das Fahrzeugwrack, an dem nur noch wenige Stellen verrieten, dass es einmal in leuchtendem Rot lackiert gewesen war. Eines der gewaltigen Hinterräder fehlte. Das Ende der Achse ragte rostbraun in die Luft.
»Das war früher wohl mal ein Trecker. Ich weiß auch, wie so was aussieht. Ich bin ja nicht blöd.«
»Die hier sind für Kälber.« Püppi gab ein paar rostigen Ketten, die an einem Querbalken baumelten, einen Schubs, sodass sie träge durch die Luft schwangen.
»Mein Kleid!«, rief Gunda schrill und sprang zur Seite. »Hier ist alles voller Rost und Dreck. Ich will wieder raus.«
Aber Püppi ließ sich nicht beirren. Sie verschwand halb hinter einem zinkgrauen, länglichen Wasserfass auf Rädern. Scheppern und Poltern war zu hören, und dann reckte sie etwas in die Höhe. »Guck mal, kennst du das hier?«
»Jaja, eine Heugabel. Toll.«
Püppi lachte heiser. »Nee, das ist eine Mistgabel! Bei der Heugabel ist doch der Stiel viel länger, und die Zinken sind mehr gebogen. Du weißt ja nichts. Du weißt ja wirklich gar nichts!« Sie warf die Gabel in eine Ecke und kramte zwischen anderem rostigen Kram herum. »Und bei einer Grabgabel, da ist es noch anders, da ist nämlich …«
»Das ist mir egal, Püppi!«, rief Gunda und stampfte mit dem Fuß auf. »Das muss ich alles nicht wissen. Ich bin sechzehn Jahre alt und kein Kind mehr! Und der Freddy liebt mich auch so!« Sie wandte sich um und wollte in Richtung Ausgang davonlaufen, aber Püppi rief: »Warte, warte! Guck mal! Nur noch das hier! Ja, das wird dir gefallen!«
»Wird es nicht!« Gunda wandte sich um. Gerade noch sah sie aus dem Augenwinkel, wie ihre Freundin etwas aus dem Inneren des alten Treckergehäuses hervorholte. »Mir gefällt gar nichts von dem ollen, rostigen Zeug.«
»Wetten wohl?«, rief Gunda aus dem hinteren Teil des Schuppens. Und dann noch einmal: »Wetten wo-hol?« Ihre Stimme kam jetzt näher. »Das ist nämlich etwas ganz Besonderes!«
Gunda hielt inne und wandte sich langsam um. Mit beiden Händen trug Püppi einen länglichen Gegenstand vor sich her.
Gunda betrachtete skeptisch das Gerät, das Püppi ihr entgegenreckte.
»Eine Stange? Ein Rohr? Was soll das sein?«
Püppi hielt das metallene Ding fast ehrfurchtsvoll fest. In ihren Augen war ein Funkeln zu sehen.
»Das ist etwas, das nur ganz Wenige kennen. Ein Gerät, mit dem man ganz besondere Sachen machen kann. Willst du es ausprobieren?« Über Püppis rechte Wange verlief ein schmutzig brauner Striemen.
»Ich weiß nicht«, sagte Gunda leise. »Was kann man denn damit machen?«
Der röhrenförmige Gegenstand war etwa vierzig Zentimeter lang. Das eine Ende war durch einen metallenen Ring ein wenig verdickt, am anderen Ende saß eine schlankere Metallhülse mit einem silbrig glänzenden Hebel.
»Es … es zeigt einem die Zukunft.«
Gunda zögerte einen Moment, bevor sie sagte: »Quatsch.«
»Doch, wirklich. So was kennt ihr in der Stadt nicht.«
»Das ist Blödsinn. Ich hab dir doch gesagt, ich bin kein Kind mehr. Auf solche Märchen falle ich nicht mehr ein.«
»Wenn ich’s dir schwöre!«
»Und das liegt hier einfach so rum?« Gunda wich ein bisschen zurück, aber Püppi folgte ihr, langsam einen Schritt vor den anderen setzend. Sie hatte so zielstrebig in den Fußraum des alten Treckers gegriffen, dass es fast so ausgesehen hatte, als hätte sie das Gerät vorher dort zurechtgelegt. »Bei uns in Köln«, stammelte Gunda nervös, »da wissen die Leute doch viel mehr … viel mehr als ihr hier auf dem Dorf.«
»Ach ja?« Das Lächeln, das sich jetzt auf Püppis Gesicht abzeichnete, war schwer zu deuten. »Ihr seid schlauer? Das glaubst du also. Du glaubst, wir können nichts, was ihr nicht auch könnt?«
Gunda stieß mit der linken Schulter an den Türrahmen.
»Du glaubst, wir können das nicht? In die Zukunft blicken? Willst du es denn nicht wenigstens mal ausprobieren?«
»Nein, es ist schmutzig.«
»Ach ja, dein neues Kleidchen!« Püppi kam näher. Willst du nicht mal gucken, was sein wird mit dir und dem Freddy?«
»Ach Mensch, Püppi, lass gut sein.« Gunda tastete mit dem Fuß nach dem unteren Querbalken des Tors und stieg rücklings darüber hinweg durch die Türöffnung.«
»Probier es! Probier es doch wenigstens mal aus!«, zischte Püppi. »Probier es!« Das breite Ende des Rohrs bewegte sich auf Gundas Gesicht zu. »Man setzt es auf die Stirn, mitten zwischen die Augen.«
»Ich will nicht!« Gunda drehte sich ruckartig um und begann zu laufen. Immer wieder warf sie dabei hektische Blicke über die Schulter. Das lange, goldfarbene Haar wehte ihr ins Gesicht. Die hohen Gräser wischten ihr über die nackten Unterschenkel.
»Warte!«, rief Püppi. »Bleib doch stehen, du dummes Ding. Bleib doch mal stehen.«
Nach ein paar Metern stolperte Gunda und fiel zu Boden. Jetzt schien es ihr nichts mehr auszumachen, dass ihr neues Sommerkleid Flecken bekam. Sie robbte auf dem Rücken liegend weiter, bewegte sich mit ihren Ellenbogen rückwärts.
Dann warf sich Püppi auf sie. Kichernd und schnaufend. »Du dummes Ding«, sagte sie immer wieder, und es war so, als würden sie im Gras tollen, so wie sie es schon oft getan hatten, mit sanfter Gewalt, mit ruppiger Zärtlichkeit.
Und Gunda fiel in das Kichern ein, wollte ihre Angst weglachen. Sie wollte sich diese Blöße nicht geben, wollte nicht das Dummchen aus der Stadt sein. Als Püppi es schließlich doch schaffte, den kalten, rostigen Metallring auf ihre Stirn zu setzen, atmete sie heftig, ihre Brust hob und senkte sich, ihre Wangen waren hochrot vor Anstrengung, und an ihren Schläfen glänzte der Schweiß.
»Na, was ist, willst du wissen, was sein wird, mit Freddy und dir?«, hauchte Püppi zwischen hektischen Atemstößen. »Willst du es sehen?«
»Ja«, stieß Gunda tonlos hervor und schluckte schwer. »Ja, meinetwegen. Lass es mich sehen!«
»Ich sage dir, was du sehen wirst«, flüsterte Püppi und umfasste das andere Ende des Rohrs.
Es war mit einem Mal ganz still, und das Lied von Roy Black aus dem Transistorradio weiter hinten, an der Scheune, endete in diesem Augenblick mit den Zeilen: Es finden tausend junge Herzen heute keine Ruh. Es haben tausend Menschen Sehnsucht, genau wie du.
»Du siehst deine Zukunft. Deine und die von Freddy. Schau nur genau hin. Was du sehen wirst ist …« Ihre rechte Hand schloss sich langsam. »… nichts!«
Und dann betätigte sie den Hebel.
Herbie riss mit einem Aufschrei das Steuer herum. Zuerst nach rechts, sodass der Wagen mit den Rädern auf die Böschung und somit in eine arge Schieflage geriet, dann wieder nach links, auf die Fahrbahn. Auf der steilen Willy-Brandt-Straße wäre er in der engen Kurve beinahe mit einem entgegenkommenden Kombi samt Anhänger kollidiert. Er hatte nur einen Moment zu lange in den Rückspiegel geschaut, als er sich aufgeregt mit seinem Begleiter unterhalten hatte, der groß, fett und bärtig auf dem Rücksitz thronte.
Den dicken Mann konnte anscheinend nichts aus der Ruhe bringen. Er zuckte nur vielsagend mit der linken Augenbraue. Wenn du uns totfährst, wirst du nie erfahren, was sie gemeint hat.
Herbie fuhr seit zwei Wochen einen uralten Kangoo. Sein Freund Köbes, der Autoschrauber, hatte ihm den klapprigen Firmenwagen für 500 Euro überlassen. Immerhin hatte der Wagen noch drei Monate TÜV. Und es gab auch noch einen kompletten Satz brauchbarer Winterreifen dazu, wobei kein Zweifel daran bestand, dass das Gefährt nicht mehr in den Genuss eines Reifenwechsels kommen würde.
Herbie trat aufs Gaspedal. »Was soll meine Tante schon gemeint haben? Sie hat nur ins Telefon geschrien. Unverständliches, schrilles Zeug. Das war die nackte Panik. Bärbelchen! Bärbelchen!, hat sie immer wieder gekreischt. Und ich soll zu ihr kommen, bevor es zu spät ist.« Er warf erneut einen wilden Blick in den Rückspiegel. »Zu spät, hat sie gesagt. Das kann doch nur eins heißen: Das gemeine Vieh kratzt endlich ab! Das will ich nicht verpassen!«
Eine regelrecht abgöttische Liebe verband seine Tante Hettie mit ihrer verzogenen Pudeldame Bärbelchen. Herbie würde sie am liebsten beide auf den Mond schießen. Seine hartherzige Tante verwehrte ihm den Zugriff auf sein Geld, und der hinterhältige Hund biss ihn bei jeder Gelegenheit in alle erreichbaren Körperteile.
Und jetzt lockte die Aussicht darauf, dass wenigstens eine dieser Plagen aus seinem Leben verschwand. Dieser Sommertag hatte schon jetzt das Zeug dazu, als alljährlicher Feiertag in Herbies Kalender Einzug zu halten.
Er hatte die Strecke von Hillesheim nach Bad Münstereifel in Rekordzeit zurückgelegt. Die Geräusche, die das Auto dabei gemacht hatte, waren so laut und vielgestaltig gewesen, dass Herbie befürchtete, unterwegs zahlreiche Teile der Karosserie und des Motors verloren zu haben.
Das Handy auf dem Beifahrersitz klingelte in diesem Augenblick schon wieder. Herbie hatte der Nummer seiner Tante einen eigenen Klingelton zugeordnet: Spiel mir das Lied vom Tod.
Im Rückspiegel zeigte Julius ein hintergründiges Schmunzeln. Vielleicht will sie dir ja nur sagen, es sei falscher Alarm gewesen.
Da saß sie, Herbies dritte Plage: Julius, sein ständiger Begleiter. Alle Welt glaubte, er existiere nur in Herbies Fantasie. Dabei konnte er ihn doch sehen, diesen geschniegelten, bärtigen Snob im feinen Dreiteiler – tagein, tagaus. Er ließ sich von ihm immer wieder in fruchtlose Diskussionen verstricken, musste sich auslachen lassen und war seit vielen Jahren seinem beißenden Spott und seinem triefenden Sarkasmus schutzlos ausgeliefert.
Besonders die Ärzte vertraten die unverrückbare Auffassung, dass die angebliche Anwesenheit von Julius auf einen psychischen Defekt zurückzuführen sei. Und deshalb war ihm seine greise Tante Henriette Hellbrecht als Vormund vor die Nase gesetzt worden. Sie sah es offenbar weniger als ihre Aufgabe an, ihm Schutz und Geleit zu bieten, als vielmehr, ihm das Leben so sauer wie möglich zu machen. Seit er denken konnte, waren all die Fäden seines Ungemachs fest miteinander verknotet und verzurrt.
Und jetzt schien einer dieser Knoten plötzlich aufzugehen!
»Wenn dies Dreckstöle tatsächlich in die ewigen Jagdgründe abhechelt, hoffe ich, dass dort schon die Jäger auf sie warten.« Herbie brachte den Wagen mit einem ungestümen Schlenker in der Einfahrt seiner Tante zum Stehen. »Und wer weiß, vielleicht kriegt Tante Hettie ja über diese ganze Sache endlich einen krachenden Infarkt!« Er sprang aus dem Auto und widerstand dem Impuls, die Tür kraftvoll zuzuwerfen. Das könnte verheerende Folgen haben. Bodo Schönleber – Fliesenleger-Meisterbetrieb, besagten die im Laufe der Jahre arg verschrumpelten Folienbuchstaben, die unübersehbar groß auf dem hinteren Teil des knallroten Wagens prangten. Er hatte erfolglos versucht, die Schrift zu entfernen. Nur das R am Ende von Schönleber hatte er abgekriegt. Was die Sache noch bizarrer aussehen ließ.
Deine Tante stirbt sicher vor Ungeduld.
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Was ist, wenn sie von mir verlangt, Mund-zu-Mund-Beatmung bei dem Vieh zu machen?«
Herbie verstummte abrupt, als ihm seine Tante schon auf der Treppe ihres Anwesens entgegenkam. Sie schien sich bester Gesundheit zu erfreuen. Nicht einmal auf ihre orientalische Krücke schien sie sich, wie sonst üblich, stützen zu müssen. Dafür hielt sie ihren anscheinend frisch ondulierten Pudel in beiden Armen, der heftig hechelte und wild mit dem Kopf hin und her ruckte, sodass die flauschigen Schlappohren nur so flogen. Der Hund versuchte unentwegt, sich dem Griff seiner Besitzerin zu entwinden. Er zappelte und wand sich und schien kerngesund zu sein. Ein taubes Gefühl der Enttäuschung breitete sich in Herbies Innerem aus.
»Herrgott, da bist du ja endlich! Steh nicht rum wie Pik Sieben!«, herrschte ihn Tante Hettie an. »Das hat ja eine halbe Ewigkeit gedauert!« Sie wirbelte herum und hastete mit kurzen, schnellen Schritten zurück ins Haus.
Herbie stolperte hinterher.
»Kein Grund, sich die Schuhe nicht abzutreten!«, keifte sie. »Tür zu!«
Julius folgte ihnen gemessenen Schrittes und strich sich betont lässig die Falten aus dem Jackett. Irgendwie scheint sich die Geschichte ganz anders zu entwickeln, als du dir das gedacht hast.
»Ich hab so schnell gemacht, wie ich kann, Tantchen. Was ist denn mit Bärbelchen? Ist sie …? Hat sie …? Wird sie …?«
»Wird sie was?« Seine Tante stieß ihn mit dem Ellenbogen in das geräumige Wohnzimmer und ließ dabei den Hund nicht los. »Du stammelst herum wie ein Trottel.«
Julius schürzte die Lippen. Der Satz hätte von mir sein können.
»Los, schließ die Zimmertür! Schnell! Fest zu!« Sie reckte auffordernd das Kinn in Herbies Richtung. Als er nicht gleich reagierte, rief sie schrill: »Mein Gott, du sollst da keine Wurzeln schlagen! Komm her und mach endlich die Tür zu!«
Herbie fasste nach der Klinke und wollte die mit goldfarbenen Schnörkeln verzierte Tür sanft schließen, als plötzlich von irgendwoher dumpfes Poltern zu hören war und seine Tante schrill aufkreischte: »Oh, mein Gott!«
Jemand schien im Haus zu sein. Jemand, der dem schreckverzerrten Gesicht seiner Tante zufolge nicht im Haus sein sollte.
Da gab es Fritz Schlösser, den alten Pensionär, der sie durch die Gegend fuhr und sich um den riesigen Garten kümmerte. Aber vor dem fürchtete sich doch Tante Hettie nicht.
Ist das etwa Angst, da in ihren Augen? Julius wies mit dem Finger auf Herbies Tante. Hast du so was schon mal bei ihr gesehen?
Herbie hätte das gerne verneint, aber er durfte Julius seiner Tante gegenüber mit keiner Silbe erwähnen.
Das dumpfe Geräusch wurde lauter, kam näher wie ein anschwellender Gewitterdonner.
»Zu spät!«, schrie Tante Hettie, und dann brach von einem Moment auf den nächsten ein gewaltiger Tumult aus.
Etwas Großes, Schwarzes warf sich mit Wucht von außen gegen die Zimmertür, sodass sie aufschwang und Herbie rücklings gegen eine Chippendale-Kommode geworfen wurde.
Haare und Sabbertropfen wirbelten durch die Luft, und mit großem Getöse galoppierte ein monströses, zotteliges Tier auf Henriette Hellbrecht zu, die ihren Pudel nun nicht mehr gebändigt bekam. Bärbelchen entwand sich ihrem Griff und sprang herunter, und sofort war der gewaltige, schwarze Hund über ihr und begrub sie beinahe völlig unter sich.
Huch, jetzt ist das Tierchen weg.
»Da, er tut es schon wieder!«, zeterte Tante Hettie.
Der Hundekoloss vollführte jetzt heftige, kopulierende Bewegungen. Das Jaulen der Hündin unter ihm konnte in vielerlei Richtungen gedeutet werden.
»Er tut es ununterbrochen! Er wird mein Bärbelchen umbringen! Tu doch was! Tu sofort was dagegen, du Nichtsnutz!« Sie hatte sich von irgendwoher ihren Krückstock gegriffen und wirbelte ihn drohend durch die Luft. »Lass mein Hundchen in Ruhe, du Monster! Du sexbesessenes Monster!«
Herbie warf sich todesmutig in das Getümmel und bekam das Halsband des Riesenhunds zu packen.
Julius betrachtete das Geschehen mit unverhohlenem Amüsement. Ein Eimer kaltes Wasser könnte jetzt Wunder wirken.
»Wo kommt der denn her?«, rief Herbie atemlos, während er versuchte, das Tier zu bändigen und gleichzeitig irgendwie Halt auf dem Parkettboden zu finden. »Wieso hast du plötzlich zwei Hunde?«
»Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen! Rette lieber meinen Pudel!«
Am Rand seines Sichtfeldes sah Herbie, dass eine weitere Person in den Raum gestolpert kam: der alte Schlösser.
Henriette Hellbrecht fuchtelte mit der Krücke in dessen Richtung. »Sie sollten ihn doch festbinden! Hatte ich Ihnen nicht eingeschärft, dass er auf keinen Fall frei rumlaufen darf, Sie alter Tölpel?«
»Er hat die Leine durchgekaut!«, jammerte Schlösser und packte mit zitternden Händen den Pudel. »Und er kann die Zimmertüren aufmachen. Er hat sogar den Schlüssel rumgedreht bekommen!«
»Bringen Sie Bärbelchen weg von hier!«, ächzte Herbie und zerrte mit aller Kraft an dem Halsband.
Im nächsten Moment riss Schlösser den Pudel in die Höhe und rannte aus dem Zimmer, wobei er das zierliche Tier wie eine Trophäe hoch über dem kahlen Schädel in die Luft reckte.
Henriette Hellbrecht versuchte, die Zimmertür zu erreichen, um sie zu schließen, aber der schwarze Hund hatte es inzwischen geschafft, das Halsband abzustreifen, sodass Herbie rückwärts zu Boden kullerte. Wie ein finsterer Wirbelwind schoss er aus dem Raum, und im nächsten Moment sahen sie durch das große Panoramafenster, wie Fritz Schlösser mit dem sich windenden Pudel in Henriette Hellbrechts parkähnlichen Garten floh. Die klapprigen, alten Beine staksten über den geharkten Kies zwischen den Rosenrabatten davon, und es dauerte nur einen kurzen Moment, bis der schwarze Hund auf der Bildfläche erschien, und ihnen folgte.
Man sah in der Ferne nur noch Schlössers verschwitzten Oberkörper zwischen den Sträuchern, das in der Luft zappelnde Bärbelchen und den sie umtanzenden Riesenhund.
»So geht das jetzt schon seit gestern Abend.« Henriette Hellbrecht stöhnte ermattet auf und griff mit zitternden Händen nach einer der Glaskaraffen auf dem Servierwagen. »Er wird mein süßes, kleines Hundchen zu Tode … er wird sie kaputt … also … das, was er tut, dieses … Dings …« Unter klimpernden Geräuschen schaffte sie es, sich einen Likör einzuschenken, den sie rasch hinunterstürzte.
»Was ist das für ein Hund?«
Du hast da was. Julius wies mit dem Finger auf Herbies Gesicht. Der zupfte sich ein langes schwarzes Haar von den Lippen.
»Ein Russischer Terrier.«
»Ich meine, wem gehört er?«
»Meiner Freundin Brigitte, der Gräfin von Türnich. Sie ist für eine Woche nach Dubai, und da hatte sie mich gebeten, auf ihn aufzupassen. Hätte ich gewusst …« Sie trank einen weiteren Likör.
Im Garten bewegte sich unterdessen das turbulente Trio wie in einem wilden Walzer zwischen den Staudenbeeten hin und her, schlüpfte durch Rosenbögen und umrundete Vogelbassins und Jungfrauenstatuen.
»Hat der Bursche auch einen Namen?«
»Allerdings. Erstklassige Zucht, so hat mir Brigitte versichert. Er heißt Agamemnon von den Gotthelffriedrichsgrunder Osterwiesen.«
Julius prustete laut los, und Herbie warf ihm einen kurzen tadelnden Blick zu.
»Wirklich Agamemnon?«
»Brigitte lebt das halbe Jahr in Griechenland.«
»Verstehe … Aga … Wiese …« Herbie verfolgte mit gerunzelter Stirn das Treiben im Garten. »Der alte Schlösser wird nicht mehr lange durchhalten«, murmelte er.
»Ja, dann tu doch endlich was!« Tante Hetties Stimme war jetzt wieder fest und schneidend. »Geh raus und hilf ihm!«
»Aber das ist doch keine Lösung. Du wirst das Tier wohl kaum sechs Tage in Ketten legen können.«
»Das muss ich ja auch nicht«, sagte seine Tante mit Eiseskälte, und er blickte direkt in ihre funkelnden Augen, als sie sagte: »Du wirst ihn nämlich solange mit zu dir nehmen.«
Julius klatschte begeistert in die Hände. Ui, das ist aber mal eine schöne Überraschung! Wir werden sicher jede Menge Spaß mit dem kleinen Springinsfeld haben!
»Aber Tante Hettie …«
»Aber, aber, aber …«, fuhr ihn seine Tante an.
»Aber das geht nicht!«
»Es ist nicht an dir, zu bestimmen, was geht und was nicht.«
»Aber …«
»Hör endlich mit dem stumpfsinnigen Gelabere auf! Du nimmst den Hund und basta!«
»Meine Wohnung ist nicht groß genug, um …«
»Immerhin hast du noch eine Wohnung. Noch!« Das war genau der Ton, den sie immer anschlug, wenn sie im Begriff war, ihm sämtliche finanzielle Unterstützungen zu entziehen. »Hast du einen Job?«
»Im Moment nicht.«
»Wer zahlt deine Miete?«
»Das ist nicht fair, Tante Hettie, ich …«
»Ab jetzt hast du einen Job! Dein Gehalt wird mit der Miete verrechnet. Eine Woche lang wirst du auf den Hund aufpassen.«
Julius zog die Augenbrauen hoch. Das ist länger als du je an einer Arbeitsstelle warst, mein Lieber.
Tante Hettie zielte mit der Krücke auf Herbies Nase. »Und komm mir nicht mit Mindestlohn oder solchen neumodischen Fisematenten!«
Herbie seufzte kraftlos und blickte wieder nach draußen.
Der alte Schlösser war unterdessen in einem üppig bepflanzten Dahlienbeet gelandet. Nur seine Füße zappelten noch zwischen den bunten Blumen hervor. Die Hunde sprangen in einem ungestümen Reigen durch die Luft und wurden von Blütenblättern umwirbelt.
»Ich kann ihn aber doch unmöglich Agamemnon rufen. Auf welche Kurzform hört er denn? Agi? Memmi? Nonni?«
»Red keinen Stuss. Er hört sowieso nicht. Und sein Name ist Agamemnon, auch wenn das für deinen hohlen Schädel zu kompliziert zu sein scheint.«
»Und was frisst der so?«
Alte Männer in braunen Socken. Julius gluckste amüsiert.
Der Hund zerrte an Schlössers Hosenbeinen und versuchte offenbar, ihn aus dem Beet herauszuziehen.
»Und jetzt rette endlich meinen Hund und den alten Trottel da draußen und zieh mit diesem … diesem … Tier ab!« Sie wandte ihm ruckartig den Kopf zu, und der Blick, den sie ihm entgegenschleuderte, strotzte nur so vor Gift und Galle. »Und wehe, dem Hund wird auch nur ein einziges Härchen seines struppigen Fells gekrümmt.«
Herbie schluckte laut hörbar.
Es war nicht von der Hand zu weisen, dass das Hotel Eifelblick all die vielen Jahre davon profitiert hatte, dass es keine allzu nahe verlaufende Hauptverkehrsstraße gab. Diese Tatsache hatte verlässlich für Stille und Abgeschiedenheit gesorgt. Wer hierher kam, den erwarteten frische Luft und Erholung, den lud ein weit verzweigtes Netz von gepflegten Wegen zu langen Spaziergängen ein. Der Lärm der Menschheit drang erfreulich selten bis zum Eifelblick.
Andererseits brachte es die Ferne zu den Hauptverkehrsadern der Eifel mit sich, dass es so gut wie nie Zufallsgäste gab. Wer sich hier einfand, der hatte dieses Hotel als Ziel sorgsam ausgewählt. Der wusste, was ihn erwartete.
Die Landschaft war sanft geschwungen und wenig abwechslungsreich. Sie bestach weder durch außergewöhnlichen Liebreiz, noch durch besonders pittoreske Ausblicke. Im Winter gab es keine Garantie auf Schnee, dazu lag das Hotel samt dem kleinen Örtchen nicht hoch genug. Im Sommer konnten die Abende ungewöhnlich kühl sein. Ein herkömmliches Hotel hätte die lange Zeit nicht überstanden, und an diesem in die Jahre gekommenen Haus war vieles mehr als herkömmlich. Der ein oder andere Wasserhahn tropfte, die Tapeten waren in manchen Ecken in einem Maß ausgeblichen, welches gerade noch hinnehmbar war, und die Bettwäsche war zeitlos zart gemustert. Ein paar zerschlissene Stellen waren so sorgfältig und kunstvoll geflickt, dass sie mit bloßem Auge kaum wahrzunehmen waren. Die Küche hielt das, was die rustikale Speisekarte versprach, nicht mehr und nicht weniger.
Man hätte sich also durchaus fragen können, was ein so durch und durch mittelmäßiges Landhotel über einen so langen Zeitraum am Leben erhalten hatte. Hier, an einem abgelegenen Flecken in der Eifel, abseits der bekannten Sehenswürdigkeiten.
Dann aber würde man zu den wenigen Menschen gehören, die noch nichts von Hotel Eifelblick gehört hatten, der alten Fernsehserie, die in den Sechzigerjahren wöchentlich über die deutschen Bildschirme geflimmert war und das Publikum verzaubert hatte. Hotel Eifelblick erzählte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Woche für Woche jeweils eine Stunde lang unterhaltsame Geschichten von ganz gewöhnlichen Menschen, ihren kleinen Katastrophen und ihren großen Gefühlen. Zwar waren alle Innenaufnahmen in einem Studio im nahen Köln gedreht worden, aber die Außenfassade des Hotels war authentisch, die Fensterläden und das Hirschgeweih über dem Eingang, die Kletterrosen und der Sandsteinbrunnen, all das hatte die Kamera vor Ort eingefangen und in die deutschen Wohnzimmer geschickt. Es gab viele Szenen, die sich an Hochsitzen und Waldseen ringsum abspielten, auf der Kaffeeterrasse, in den Stallungen und in der Kirche des nahen Dorfes.
Diese kreuzbrave Fernsehserie war fünf Jahre lang ein regelrechter Dauerbrenner gewesen, über den man sich beim Friseur unterhielt, und dessen Handlung man am Stammtisch diskutierte. Und jeder konnte mitreden, jeder hatte das Gefühl, die Hoteliersfamilie Bornkamp in dem kleinen Eifeldorf wäre gleich in der Nachbarschaft angesiedelt.
Große Stars aus Fernsehen und Kino hatten der Serie in Gastrollen ihre Ehre erwiesen, und so mancher Kleindarsteller war aus diesen Dreharbeiten als hoffnungsvoller Nachwuchsschauspieler hervorgegangen.
Manche Karriere hatte hier ihren Anfang genommen. Viele waren längst beendet, nur wenige dauerten bis heute an. Das alles war schließlich schon über ein halbes Jahrhundert her.
In der Eingangshalle des Hotels hing hinter Glas eine Schwarzweiß-Fotografie, umrahmt von einer schlanken Leiste aus hellem Holz. Sie zeigte eine junge Frau mit blonden Zöpfen. Das Gesicht war ein wenig zu länglich, um dem gängigen Schönheitsideal zu genügen, und die Nase war etwas zu spitz und wies ein kleines bisschen zu sehr nach oben. Da war eine gute Portion spitzbübischen Schalks in den klaren, hellen Augen, ein schelmisches Lächeln auf den Lippen. Den Hals umschloss ein kleiner, weißer Kragen, und auf den Schultern waren die Schlaufen einer Schürze zu erkennen.
Den unteren Rand des Passepartout-Kartons zierte eine Unterschrift mit mädchenhaftem, fast kindlichem Schwung.
»Und die ist echt so berühmt?«, fragte das Zimmermädchen und betrachtete mit schiefgelegtem Kopf das Portrait. Sie hatte die Hände in die Seiten gestemmt und spitzte skeptisch die Lippen.
»Aber Alina, was für eine Frage! Hilde Laresser ist ohne Zweifel eine der berühmtesten Schauspielerinnen Deutschlands«, sagte die alte Frau an ihrer Seite mit ehrfurchtsvollem Unterton. Sie hatte die kurzen Finger mit den roten Knöcheln ineinander verschränkt, und ein unwissender Beobachter hätte den Eindruck gewinnen können, sie schickte ein Gebet zum Antlitz der Muttergottes empor. Das Alter hatte Liesel Zender schrumpfen lassen, ihr Nacken hatte sich zu einer buckligen Wölbung verformt. Nur ihre Augen erzählten noch von einer Zeit, in der sie eine strahlende Schönheit gewesen war, mit der sich ihre Gäste gerne fotografieren ließen. Etliche Fotografien an der Rezeption bebilderten die Zeiten, in denen sie und ihr Mann die Besucher des Hotels bewirtet und mit geradezu elternhafter Fürsorge umhegt hatten.
»Die ist doch voll alt.«
»Das bin ich auch«, sagte Liesel Zender, ohne dass es sich beleidigt anhörte.
»Meine Oma aus Nettersheim kennt die noch. Die kennt ja echt alle Schauspieler. Aber ich kenne die alle nicht. Deutsche sowieso nicht. Maisie Williams kenn ich und Emilia Clarke und so. Die sind ja wohl echt viel berühmter als die da, oder?«
»Keine Ahnung, Kind.« Liesel Zender seufzte. »Von denen habe ich noch nie was gehört. Jedenfalls wird Frau Laresser ab morgen ein paar Tage hier drehen. Hier bei uns im Eifelblick. So wie früher.«
»Klar, hab ich mitgekriegt. Das ganze Dorf ist aus dem Häuschen. Ist das jetzt gut für uns?«
»Na, ich bitte dich. Du hast doch gesehen, wie viele Presseleute sich hier seit Wochen die Klinke in die Hand geben.«
»Wegen der da? Kaum zu glauben.«
»Das musst du verstehen, Kind. Hilde Laresser hat als Zimmermädchen in der Fernsehserie ihre erste Rolle gespielt. Das Evchen. Eigentlich hat sie genau das gemacht, was du heute auch tust. Zuerst hier im Hotel, und dann vor der Kamera.«
»Betten machen und so?«
»Betten machen, Kaffee servieren, Staubsaugen, genau. Sie war hier angestellt, und dann ist sie ab zum Film.«
Alina grinste spitzbübisch. »Dann lasse ich mich auch beim Tischdecken filmen, und vielleicht werde ich ja auch berühmt.«