Chögyam Trungpa
Achtsamkeit, Meditation und Psychotherapie
Achtsamkeit, Meditation
und Psychotherapie
Einführung in die buddhistische Psychologie
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Michael Schäfer
Arbor Verlag
Freiamt im Schwarzwald
Copyright © 2005 by Diana J. Mukpo
Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt,
by arrangement with Shambhala Publications, Inc.,
P. O. Box 308, Boston, MA 02117, USA
Editor’s Introduction © 2005 by Carolyn Rose Gimian
Foreword by Daniel Goleman © 2005 by Daniel Goleman
Foreword by Kidder Smith © 2005 by Kidder Smith
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Sanity We Are Born With. A Buddhist Approach to Psychology
Alle Rechte Vorbehalten
E-Book 2018
Titelfoto: © Klaus Ender, 2006
Lektorat: Eva Bachmann
Gestaltung: Rosalie Schnell
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-249-8
Inhalt
Vorwort von Daniel Goleman
Vorwort von Kidder Smith
Einleitung der Herausgeberin
Prolog: Die Begegnung von buddhistischer
und westlicher Psychologie
TEIL I
Meditation
1 Das Pferd zähmen, den Geist reiten
2 Das grundlegend Gute entdecken
3 Die vier Grundlagen der Achtsamkeit
4 Wie man Meditation angeht: Ein Vortrag für Psychologen
5 Dharma ist natürlich
TEIL II
Geist
6 Geist: Das offene Geheimnis
7 Das spirituelle Schlachtfeld
8 Die Geburt des Ego
9 Die Entwicklung des Ego
10 Der Urgrund und die acht Arten des Bewusstseins
11 Der Intellekt
12 Die sechs Welten
13 Die fünf Buddha-Familien
TEIL III
Psychologie
14 Ganz Mensch werden
15 Eine gesunde Umgebung schaffen
16 Die Einstellung zum Tod in der Beziehung zwischen Helfer und Patient
17 Ursprüngliche Gesundheit:
Ein Gespräch mit Angehörigen verschiedener Heilberufe
18 „Maitri Space Awareness“ in einer buddhistisch-therapeutischen Gruppe
19 Aus einem Psychotherapie-Workshop
20 Ist Meditation Therapie?
Glossar
Dank
Eine kurze Biographie von Chögyam Trungpa
Anmerkungen
Ausgewählte Schriften von Chögyam Trungpa
Weitere Informationen
Vorwort von Daniel Goleman
Daniel Goleman ist Psychologe und Kognitionswissenschaftler und in Deutschland vor allem durch seinen Bestseller Emotionale Intelligenz (1996) bekannt geworden. Er lehrte als klinischer Psychologe an der Harvard-Universität und gab die Zeitschrift Psychology Today heraus. Auf Deutsch sind von ihm außerdem erschienen: Lebenslügen (1993) und Meditation – Wege nach innen (1994).
Zeit: Das Jahr 1975. Ort: Ein Restaurant in Cambridge, Massachusetts. Chögyam Trungpa Rinpoche hatte mich zum Essen eingeladen, um mir von seinen Plänen für eine neue Bildungseinrichtung zu erzählen, das Naropa-Institut, das er gerade ins Leben rief. Irgendwann im Laufe des Gesprächs beugte er sich mit Verschwörermiene über den Tisch, schaute mir tief in die Augen und sagte mit Nachdruck: „Der Buddhismus wird im Westen als Psychologie Fuß fassen.“
Diese These leuchtete mir sofort ein. Ich hatte vor kurzem in Psychologie promoviert und war nach einem Jahr weiterführender Studien in Sri Lanka und Indien als Gastdozent nach Harvard zurückgekehrt. Mein Thema war das Abhidharma, eine alte buddhistische Theorie des Geistes, die seit mindestens 1500 Jahren als praktische Psychologie Anwendung findet.
Natürlich hatte ich von diesem System in keinem meiner akademischen Seminare je etwas gehört. Die unausgesprochene Lehrmeinung (kulturell geprägt und von einer gewissen Arroganz) war die, dass psychologische Forschung erst ein Jahrhundert zuvor begonnen hatte, und zwar in Europa und Amerika – keiner meiner Psychologie-Professoren hatte je etwas von Abhidharma gehört. Ich verstand Rinpoches Bemerkung so, dass westliche Psychologiestudenten sehr bald von Abhidharma hören und dadurch zu eingehenderen buddhistischen Studien angeregt werden würden. Er selbst reicherte ja seine Vorträge mit Perlen aus diesem üppigen psychologischen Schatz an und sparte nicht mit praktischen Tipps zu allen möglichen Fragen, ob es nun um die innere Einstellung beim Windelnwechseln oder das Transformieren von Aggression ging. Trungpa Rinpoche war einer der Ersten, die einem westlichen Publikum solche Einblicke vermittelten; mal ließ er sie locker in eine Diskussion einfließen, mal referierte er sie ausführlich.
Dieses Buch ist für all jene im Westen gedacht, die verstehen wollen, wie die buddhistische Psychologie die Situation des Menschen sieht, versammelt es doch lebenslange Einsichten von einem ihrer beredtesten Fürsprecher. Wie das westliche Denken umfasst auch der Buddhismus verschiedenste philosophische und psychologische Schulen. Davon sind mehrere hier vertreten, aber für die Leser, die auf den Geschmack gekommen sind, gibt es natürlich noch mehr zu erforschen. Chögyam Trungpa hat ein reichhaltiges Festmahl für uns angerichtet, das viele verlockende, faszinierende, köstliche Einblicke bietet, wie der Buddhismus unseren Geist und unser Leben betrachtet.
Vorwort von Kidder Smith
Kidder Smith ist Professor für Asienkunde und Chinesische Geschichte am Bowdoin College in Brunswick, Maine. Er ist Mitglied der „Denma Translation Group“, die eine viel gelobte Neuübersetzung von Sunzis Kunst des Krieges vorgelegt hat.
Die Behauptung, dass wir alle geistig gesund1 geboren werden, mag verblüffen, ja schockieren. Die buddhistische Tradition geht jedoch noch weiter und behauptet, dass wir auch jetzt, in ebendiesem Moment, geistig gesund und bei Verstand sind. Wie verwirrt wir uns auch erleben, welche Zweifel und Ängste auch immer in uns hochkommen, unsere grundlegende geistige Gesundheit ist auch dabei immer gegenwärtig. Man könnte sagen, dass dieses Buch die Wahrheit solch einer kühnen Behauptung aufzeigen will. Aber eigentlich liefert dieses Buch Ihnen, den Leserinnen und Lesern, ein Werkzeug, die Stichhaltigkeit dieser Behauptung selbst zu prüfen.
Dieses Werkzeug ist die Meditation. Wie Trungpa Rinpoche sagt, ist Meditation „ein Weg, die tatsächliche Natur des Geistes2 … zu klären“ (Seite 33). Insofern Psychologie die Untersuchung des Geistes ist, bietet uns die Meditation ein in seiner intimen Direktheit einzigartiges, praktisches psychologisches Verfahren. Wir studieren nicht das Erleben von jemand anderem, sondern unser eigenes. Und doch macht uns die Meditation, wie wir noch sehen werden, mit anderen Lebewesen genauso vertraut, wie wir es mit uns selbst sind.
Was ist Geist? Alles. Einen Hinweis darauf liefert uns die Tatsache, wie nahtlos unser Erleben verläuft. Sogar im Tiefschlaf ist unser Geist aktiv, bewusst, verarbeitet er Dinge. Wenn wir meditieren und uns aus nächster Nähe mit unserem Geist befassen, lässt er uns nie im Stich, nähert sich keinem Ende, versiegt nie. Nicht nur deckt unser Bewusstsein alles bequem ab, tatsächlich ist es auch all das, was es abdeckt – und alles Vorstellbare oder Unvorstellbare darüber hinaus. Es ist schlichtweg endlos und ausweglos. Wenn wir einen Fluchtversuch planen, geschieht er schon in unserem Geist. Und wenn wir am Ziel sind, sind wir ebenfalls in unserem Geist dort.
Geist ist alles, was wir wissen. Er schafft unsere Welt. „Indem wir meditieren, befassen wir uns mit genau dem Geist, der unsere Brille entworfen und die Gläser in das Gestell eingesetzt hat, und mit genau dem Geist, der dieses Zelt hier aufgestellt hat. Dass wir hierher gekommen sind, ist das Produkt unseres Geistes … Wir haben also eine lebendige Welt, eine Welt des Geistes. Wenn wir das erkennen, ist die Arbeit mit dem Geist keine mysteriöse oder abgehobene Sache mehr. Es geht nicht mehr um irgendetwas, das verborgen wäre oder irgendwo anders. Geist ist genau hier. Geist ist überall zu greifen. Er ist ein offenes Geheimnis“ (Seite 104 und 105).
Unverborgen, allgegenwärtig, nicht woanders, endlos, das ist eine ganze Menge. Wenn wir deshalb mit dem Geist arbeiten wollen, brauchen wir eine Disziplin mit einem ebenso weiten Horizont–die so simpel wie möglich ist. Sonst ist es so, als würden wir ein kunstvolles Porzellanservice mit Zinnkrügen und Silberbesteck entwerfen, um damit die Welt wie ein Festessen zu servieren. Wir hätten nie genug Teile in der richtigen Form, noch hätte die Welt jemals bequem darauf Platz. Im Gegenteil: Eigentlich brauchen wir nur einen sehr, sehr großen flachen Teller. Die Meditation ist dieser flache Teller; darauf hat alles Platz. Und so führt uns Trungpa Rinpoche Kapitel für Kapitel immer wieder zum Einfachen zurück. Wir müssen einfach nur hier auf der Erde sitzen. Wir atmen. Wir achten einfach nur auf diesen Atem.
Während wir uns damit anfreunden, nun praktisch nichts zu tun, stoßen wir auf unsere Denkprozesse. Zuerst bemerken wir vielleicht nur ihre Wertungen: angenehm, unangenehm oder neutral. Wenn wir vertrauter werden mit dieser Vorgehensweise, beginnen wir die subtilere und komplexere Dynamik des Geistes zu bemerken. Dieses Thema sprechen einige Kapitel im zweiten Teil dieses Buches an: die acht Arten des Bewusstseins, die sechs Welten, die fünf Buddha-Familien und so weiter. Praktische Psychologie bedeutet hier, diese Muster zu erkennen, wenn sie sich zu zeigen beginnen, wie die Landschaft am Meeresboden, wenn der Sturm sich gelegt hat.
Aber schon bevor wir diese Klarheit zu bemerken beginnen, drängt uns Trungpa Rinpoche weiter ins tendenziell Peinliche: „Haben Sie keine Angst, sich lächerlich zu machen; fangen Sie eben als Dummkopf an. … Die Techniken der Meditationspraxis sind nicht daraufhin angelegt, aktives Denken zu reduzieren. Sie liefern eine Methode, mit all dem umzugehen, was sich im Inneren abspielt. Wenn wir die Ecken und Kanten in uns entdecken, halten wir sie für antispirituell und versuchen, sie loszuwerden. Das ist der größte Fehler überhaupt bei der Arbeit mit unseren grundlegenden psychischen Mustern“ (Seite 83 und 84). Hier begegnet der Psychotherapeut seinem ersten Klienten: sich selbst. In der Praxis der Sitzmeditation ist er oder sie nicht verpflichtet, irgendetwas oder irgendwen zu reduzieren, zu verändern oder zurückzuweisen. Alles ist willkommen. Es sind alles einfach nur Gedanken. Sie zeigen sich in unterschiedlicher Intensität oder Überzeugungskraft und in endlosen Nuancen, aber ihre Natur ist immer die gleiche. Sie sind nur „das, das, das“ (Seite 68).
Indem wir mit diesem namenlosen „Das“ dasitzen, völlig untätig sind, zulassen, dass das Mysterium, das wir sind, immer und immer und immer wieder neu aufsteigt, wird irgendwann eines offensichtlich: Die Gedanken, die unsere Existenz zu bekräftigen scheinen und unser Wesen definieren, sind ziemlich fadenscheinig. Wenn wir sie direkt anschauen und versuchen, sie zum Zwecke einer genaueren Prüfung festzuhalten, schmelzen sie sofort dahin, verflüchtigen sich zu nichts. Wir haben nichts erreicht: Die Gedanken lösen sich von selbst auf, sogar ohne dass wir sie anschauen. Auch wenn wir es wollten, könnten wir sie nicht konservieren. Nun aber, da wir ihre totale Unbeständigkeit erlebt haben, haben sie das Geheimnis ihres Sekundentodes preisgegeben. Ihre Überzeugungskraft wird fortan nie mehr ganz dieselbe sein.
Diese Erkenntnis macht es uns möglich, uns in unserer angeborenen Sanftheit zu entspannen. Weil wir unseren Geist nicht als bedrohlich erleben, können wir, wie Trungpa Rinpoche oft sagt, mit uns Freundschaft schließen. Diese Freundschaft ist die Basis für jegliche Art von Beziehung. Vor allem ist sie auch das Modell für die psychotherapeutische Praxis:
„Das bedeutet zunächst einmal, dass wir mit unserer natürlichen Fähigkeit zu menschlicher Wärme arbeiten. Zuerst können wir Wärme gegenüber uns selbst entwickeln und sie sich dann auf andere ausdehnen lassen. Das liefert die Grundlage für die Beziehung zu psychisch Kranken, zu anderen und zu uns selbst, alles im selben Rahmen. … Ein Patient sollte spüren, dass Sie selbst Gesundheit ausstrahlen. … Therapie muss auf gegenseitiger Wertschätzung beruhen. … Man muss seine eigene Ungeduld loslassen und lernen, Menschen zu lieben. Das ist der Weg, grundlegende Gesundheit in anderen zu kultivieren“ (Seite 182, 184, 185 und 187).
In diesem Anerkennen einer grundlegenden Gesundheit unterscheidet sich die buddhistische Psychologie von allen anderen, die mir begegnet sind. Durch die Praxis der Sitzmeditation, während wir – plumps – mitten im Denkprozess unseren Gedanken beim Vergehen zuschauen, mitten in unserer völligen Unfähigkeit, unserer Geschichte oder der von irgendetwas anderem einen sinnvollen Handlungsfaden zu geben, stoßen wir direkt oder indirekt auf etwas, was immer da war. Trungpa Rinpoche nennt es das grundlegend Gute. Es wird auch Buddha-Natur, ursprüngliche Reinheit, wahre Natur des Geistes, Essenz des Dharma genannt. Es ist unsere uns angeborene geistige Gesundheit.
Ich glaube, dass viele von uns sich der Psychologie zuwenden, weil wir das Gefühl haben, dass irgendwie etwas nicht stimmt. Unsere Wissbegier in Bezug auf den menschlichen Geist kommt nicht von ungefähr. Mögen wir die Vorstellung von einer Erbsünde auch zurückweisen, das Erleben unserer eigenen geistigen und seelischen Verfassung hat sie noch nicht stichhaltig widerlegt. Die Praxis der Meditation jedoch, mit ihrer furchtlosen Erforschung und ihrem bedingungslosen Akzeptieren aller Formen des Bewusstseins, bringt uns unausweichlich zu einem tieferen Wissen. Wir erleben die fundamentale Makellosigkeit des Geistes, unseres Geistes, tatsächlich. Das ist kein blinder Glaube und kein Dogma, und wir können sie auch nicht willentlich herbeizaubern. Aber wir können sie auch nicht verfehlen, wenn sie sich in unserem Erleben zeigt. Und allmählich entwickeln wir ein Vertrauen in ihre ständige Präsenz, so wie wir wissen, dass unsere Lungen Luft zum Atmen finden werden, ein und aus, ein und aus. Wir müssen nicht extra daran denken.
An diesem Punkt können wir nicht mehr behaupten, dass wir oder irgendjemand anders im tiefsten Kern beschädigt ist. Im Gegenteil, „die Welt, in der wir leben, ist fabelhaft. Sie ist ausgesprochen brauchbar. …
Wir sollten erkennen, dass in dem, was wir sehen, keinerlei Gier, Aggression oder Ignorierenwollen existiert. … Was immer wir tun, ist heilig“ (Seite 49 und 50).
Diese sagenhafte Heiligkeit bedeutet, dass die buddhistische Psychologie kein Therapieren oder Heilen kennt. Im Märchen verwandelt sich der Frosch durch einen Kuss in einen Prinzen. Im Buddhismus wird der Frosch jedoch als Frosch gekrönt. Unser Brunnen ist ein Königsthron. „Man erkennt, dass man fähig ist, wie ein König oder eine Königin auf dem Thron zu sitzen. Das Majestätische dieser Situation zeigt einem, welche Würde darin liegt, einfach still dazusitzen“ (Seite 53). „Man bekommt deshalb allmählich das Gefühl, dass man, ohne Egozentrik, der König des Universums ist. Weil Sie das Unpersönliche begriffen haben, können Sie eine Persönlichkeit werden. … Dieses Stadium heißt Erleuchtung“ (Seite 96).
An diesem Punkt kehrt sich unser Verhältnis zum Sein völlig um. Wir fangen nicht mehr mit unserem Erleben an und versuchen seine verwirrende Vielfalt auf der Suche nach Tiefe, Klarheit oder Buddha zu durchschauen. Stattdessen entdecken wir, wie wir im grundlegend Guten ruhen, und aus ihm entfaltet sich in seinem eigenen Rhythmus ständig unser Erleben. Wir brauchen keinen Klammergriff aufzubrechen, kein verkrampftes Herz. Wir können offen zu lieben anfangen mit einer Liebe, die weiß, wann etwas festzuhalten und wann loszulassen ist. Weil das so etwas Intim-Unpersönliches ist, können wir eine Persönlichkeit werden – und „ent-werden“.
Deshalb antwortete Trungpa Rinpoche, als er nach dem Unterschied zwischen Meditation und Psychotherapie gefragt wurde: „Der Unterschied liegt in der Einstellung des Einzelnen zu den Disziplinen Meditation und Psychotherapie. Bei der Psychotherapie im landläufigen Stil hat der Einzelne die Einstellung, dass er wieder gesund werden muss. Er sucht eine Technik, die ihm hilft, seine Beschwerden loszuwerden oder zu überwinden. Die meditative Einstellung akzeptiert auf eine gewisse Weise, dass Sie sind, was Sie sind“ (Seite 224). „So gesehen“, sagt er an einer anderen Stelle, „könnten wir sagen, dass Meditation keine Therapie ist. Wenn es auf dem spirituellen Weg oder bei irgendeiner spirituellen Disziplin irgendwo eine Vorstellung von Therapie gibt, dann wird sie von Bedingungen abhängig. … Die Praxis der Meditation ist die Erfahrung der Totalität. Man kann sie überhaupt nicht einordnen, sondern sie ist absolut universell“ (Seite 232 und 234).
Sollte also ein authentischer Psychologe Buddhist werden? Natürlich nicht. Wir könnten noch weiter gehen: Ein authentischer Psychologe muss aufhören, Buddhist oder Mensch aus dem Westen zu sein oder irgendetwas, was auf Begriffen, Doktrinen oder Schemata beruht. „Buddhistische Psychologie“ ist also ein seltsamer Begriff. Wir sind im Grund gar keine Psychen, das Ganze ist unlogisch, und der Buddhismus existiert nicht. „Im Grunde gibt es nur offenen Raum, den Urgrund, was wir wirklich sind. Unser grundlegendster Geisteszustand, vor der Erschaffung des Ego, sieht so aus, dass es eine grundlegende Offenheit gibt, grundlegende Freiheit, ein Gefühl der Weite; und diese Offenheit haben wir jetzt und haben sie immer gehabt. … Wir sind dieser Raum, wir sind eins mit ihm“ (Seite 123 und 124)
Das sind Worte. Deuten sie auf die Wahrheit hin? Das müssen Sie entscheiden, liebe Leserinnen und Leser. Alles, was Sie brauchen, um diese Entscheidung zu treffen, besitzen Sie schon.
Chögyam Trungpa Rinpoche ist mein Lehrer. Ich bin in der Lage, dieses Vorwort zu schreiben, weil ich denselben Geist habe wie er. Und Sie sind in der Lage, es zu lesen, weil Sie diesen Geist auch haben. Er bildet die Grundlage der geistigen Gesundheit, auf der in jedem Moment diese ganze wunderbare, durchgedrehte, brodelnde Welt entsteht.
Mein eigener Entwicklungsweg ist in vielerlei Hinsicht den Grundlinien gefolgt, die ich skizziert habe. Meditation und Psychotherapie sind für mich eng miteinander verknüpfte praktische Wege der Befreiung geworden, die sich gegenseitig stützen. Sie gehen mit unbeschreiblicher Präzision auf den Geist ein und befreien seine Aktivität von innen heraus.
Ein paar persönliche Anekdoten illustrieren das vielleicht ein wenig. Jahrelang wurde ich immer dann, wenn Chaos ausbrach, zu einer Art Polizeihund, der sämtliche Blumenbeete zerwühlte, um den Schuldigen dingfest zu machen. Sowohl auf dem Meditationskissen wie auf der Couch des Therapeuten lernte ich jedoch, mitten in diesem Chaos zu ruhen. „Sie hasst mich, weil …“ wurde einfach wieder zu Schmerz. „Ich hasse sie, weil …“ wurde einfach wieder zu Wut und die einfach wieder zu Schmerz. In diesem Schmerz gab es keine Rechtfertigung, kein Hin- und-her-Überlegen, keine angemessene Reaktion, keine wohlüberlegte Schuldzuweisung, keinen Versuch zu verzeihen, eigentlich nichts irgendwie Bedeutsames. Vor allem gab es kein Heilmittel. Es war einfach Schmerz. Ich entdeckte, dass ich Schmerz ertragen konnte, es tat halt nur ziemlich weh. Und dann tat es nicht mehr ganz so weh.
Das machte es mir möglich, meine Gefühle wie Kinder zu adoptieren – lebhaft, entzückend, impulsiv, stur, überzeugend und mit unfehlbarer Intuition, was ihre Welt betraf. Aber als ihr liebevoller Vater musste ich entscheiden, wie wir miteinander umgehen sollten.
Ich habe das auch mit anderen Menschen versucht, wenn sie vor meinem geistigen Auge auftauchten. Mein Vater ist in vielerlei Hinsicht ein schroffer, ehrgeiziger Mensch. Ich entsinne mich, wie ich im Büro meiner Psychotherapeutin saß und mich plötzlich wie ein König fühlte. Ich saß auf einem Felsblock auf dem Gipfel eines Berges, weit unter mir grünes Land bis zum fernen Horizont. Vor mir standen ein Dutzend Leute, darunter mein Papa. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist“, sagte ich. Und wortlos machte ich ihn zu meinem Stellvertreter und gab ihm einen Platz direkt rechts neben meinem Thron. Wir hatten die perfekte Rolle für seine immer vorhandene, aber nur in extremen Situationen ausgesprochene wütende Missbilligung gefunden, eine, in der sie gewürdigt werden konnte.
War das mein Vater oder ich selbst? Wenn ich sage: „Ich liebe dich“, wessen Energie ist das? Wer ist dieses „Selbst“? Mein starkes Gefühl, ich selbst zu sein, dieses Hartnäckig-Individuelle und Isolierte, lockerte sich allmählich. Innen und außen waren schwerer zu unterscheiden. Und das grundlegend Gute fing an, in die Dinge einzusickern. Natürlich erlebten meine Frau und meine Töchter mich nicht immer so. Aber trotzdem war offensichtlich, dass es genug Liebe für alle gab, obwohl ich das gerne vergaß.
Ich erinnere mich auch an Therapiesitzungen, bei denen nichts passierte – ich schaute einfach meiner Therapeutin in die Augen und sie mir. Und irgendwann ging ich nicht mehr hin, zumindest für eine Weile. Denn obwohl die Muster des Ego von endloser Komplexität sind, gibt es Zeiten, in denen wir auch allein zu Einsicht gelangen. Dann ist unser Seelenleben nicht anders als das Wetter: Bei Regen ziehen wir Hut und Mantel an, oder wir rennen nackt durch den Regen, aber beides kann man nicht richtig persönlich nehmen. Oder richtig ernst. Das setzt gigantische Energien für andere frei. Es zeigt uns auch die gesamte Existenz als ein weites Spielfeld für eine Liebe ohne Hintergedanken.
Sowohl die Psychologie als auch die Meditation haben eine spezielle Art, mit dem Geist zu arbeiten. Auf gekonnte Weise praktiziert, löst Psychotherapie die raffinierten Verkleidungen auf, mit denen wir unsere Gedanken und Gefühle maskiert haben, und sie stößt dabei auf ein uraltes Bauchgrimmen, das sie als Sprachrohr benutzt hat. Indem diese Muster ans Licht der Sonne kommen, werden sie durchsichtig – wir können sie durchschauen und dadurch mit einer gewissen distanzierten Höflichkeit mit ihnen umgehen.
Die Meditation führt uns in immer tiefere Schichten des Geistes. Zuerst genügt es vielleicht, einfach zu sehen, dass wir einen Geist haben, dass wir Geist sind. Allmählich jedoch und in blitzartigen Momenten erkennen wir, dass wir nicht deckungsgleich sind mit den Gedanken und Gefühlen, die uns ständig beschäftigen, die uns scheinbar definiert haben. Um sie herum ist Platz; noch besser: wir sind dieser Raum, und Gedanken und Gefühle ereignen sich hier als unsere Gäste. Und eigentlich ist dieser Raum Weisheit an sich und unsere Gedanken und Gefühle sind seine greifbare Intelligenz. Wir können uns in diese vibrierende Leere entspannen. Das ist der ganze Weg: diese Entspannung, dieses Die-Seele-baumeln-Lassen in der grundlegenden geistigen Gesundheit.
Meine Dankbarkeit an alle meine Lehrer, Eltern, Therapeuten und Freunde, an alle Wesen und Nicht-Wesen.