Sharon Salzberg
Metta Meditation

Das Leben der meisten Menschen ist geprägt von der Angst vor Nähe: Nähe zu sich selbst und Nähe zu anderen. Um die Überwindung dieses Schmerzes – der gleichzeitig Ausdruck tiefer Sehnsucht nach Verbundenheit ist – geht es in der Metta-Meditation, durch die wir lernen, ein von persönlicher Zuneigung unabhängiges Wohlwollen allen Wesen gegenüber zu entwickeln. Metta ist der Pali-Ausdruck für Güte/ Wohlwollen, und ist eine der buddhistischen Haupttugenden.

Sharon Salzberg beschreibt die Entwicklung und Entfaltung von metta als Schlüssel zum Glück. Alle Übungen der metta- Meditation beginnen mit uns selbst – denn erst wenn wir uns selbst lieben, können wir auch andere Menschen lieben – und führen uns dann ganz sacht zu Menschen, die uns nahestehen, zu neutralen Personen bis hin zu unseren Feinden. Wir lernen deshalb, alle Aspekte unserer eigenen Natur und alle Aspekte der Welt zu akzeptieren – denn nur so gelingt es uns, unsere eigenen engen Grenzen zu überwinden und zu erfahren, daß wir Teil eines sinnvollen, großen Ganzen sind. Durch Übungen, kleine Geschichten und persönliche Erfahrungen läßt uns Sharon Salzberg vor allem unsere eigene Liebenswürdigkeit erkennen, also die Tatsache, daß wir würdig sind, von uns selbst und anderen geliebt zu werden. Erst diese Erkenntnis erschließt unser Potential der „Liebenden Güte“, die dann nicht nur uns selbst, sondern auch anderen zugute kommt.

Sharon Salzberg praktiziert seit fünfundzwanzig Jahren buddhistische Meditation. Sie gründete zusammen mit einigen Freunden die Insight Meditation Society in Barre, Massachusetts, die heute das bekannteste Meditationszentrum der Vipassana-Tradition in Amerika ist. Aus diesem Umkreis stammen einige der führenden westlichen Autoren zum Thema Meditation wie Jack Kornfield, Joseph Goldstein und Jon Kabat-Zinn, der auch das Vorwort geschrieben hat.

Sharon Salzberg

Metta Meditation

Buddhas revolutionärer
Weg zum Glück

– Geborgen im Sein –

Aus dem Amerikanischen
von Ebba D. Drolshagen

Arbor-Verlag

Freiamt im Schwarzwald

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Einleitung

1. Die revolutionäre Kunst, glücklich zu sein

2. Liebenswürdigkeit neu erlangen

Übung:Bedenken Sie das Gute in sich

Übung:Sätze der Liebenden Güte

3. Facetten der Liebenden Güte

Übung:Die günstigen Wirkungen der Liebenden Güte

Übung:Der Wohltäter

4. Hindernisse bei der Entwicklung von Liebender Güte

Übung:Nachdenken über das Glücklichsein

Übung:Die Bedeutung von Freunden

Übung:Der geliebte Freund

Übung:Die neutrale Person

5. Mit Wut und Aversion arbeiten

Übung:Vergeben

Übung:Das Gute sehen

Übung:Die schwierige Person

Übung:Schwierige Seiten in uns

6. Das liebende Herz öffnen

Übung:Liebende Güte für alle Lebewesen

Übung:Liebende Güte für Gruppen von Lebewesen

Übung:Gehmeditation

Übung:Die zehn Himmelsrichtungen

7. Ein mitfühlendes Herz entwickeln

Übung:Meditation über Mitgefühl

Übung:Mitgefühl mit denen, die Schmerz verursachen

8. Den Geist durch Mitfreude befreien

Übung:Meditation über Mitfreude

Übung:Verdienstvolle Handlungen teilen

9. Das Geschenk des Gleichmuts

Übung:Gleichmut

10. Die Macht der Großzügigkeit

Übung:Schenken

11. Unsere Liebe leben

Übung:Die Praxis der moralischen Integrität

Weitere Informationen

Dies soll tun,

wer das Gute tun und

Frieden erlangen möchte:

Er sei aufrichtig und bescheiden,

er spreche klar und liebevoll.

Bescheiden und nicht eitel,

ohne Habsucht und zufrieden.

Von Pflichten unbelastet und genügsam.

Friedlich und ruhig, und weise und heilsam,

im Wesen nicht stolz und fordernd.

Er tue nicht das geringste,

das dem Weisen mißfiele.

Er wünscht: Möge es allen Wesen wohl ergehen.

Mögen ihre Herzen von Freude erfüllt sein.

Mögen sie alle in Sicherheit und Frieden leben.

Welche Wesen es auch sein mögen,

ob sie schwach sind oder stark, ohne Ausnahme,

ob mittelgroß, lang oder kurz, groß oder klein,

ob sie sichtbar sind oder unsichtbar,

nah oder fern,

geboren und noch nicht geboren -

Möge es allen Wesen wohl ergehen!

Kein Wesen soll ein anderes hintergehen;

kein Wesen verachte ein anderes, wofür auch immer.

Kein Wesen wünsche einem anderen

aus Ärger oder feindlicher Gesinnung

je Kummer oder Leid!

Wie eine Mutter mit ihrem Leben

ihr Kind, ihr einziges Kind schützt,

so sollen auch wir mit grenzenlosem Herzen

alle Lebewesen lieben;

unsere Güte soll

das ganze Universum durchdringen:

sich nach oben zu den Himmeln erstrecken

und nach unten in die Tiefen,

nach außen, unbehindert überall hin, von Haß und Feindseligkeit befreit.

Ob wir stehen oder gehen, sitzen oder liegen,

von Schläfrigkeit frei,

stets sollen wir in dieser Achtsamkeit sein.

Dies nennen wir das erhabene Verweilen.

Wenn er keinen festen Ansichten anhängt,

wird der Tugendhafte, dem Erkenntnis eigen,

von Gier und sinnlichem Verlangen befreit,

nicht mehr in diese Welt geboren.

Worte des Buddha

über Liebende Güte (Metta Sutta)

Vorwort

Über dem Eingangsportal der Insight Meditation Society in Barre, Massachusetts, wo Sharon Salzberg lehrt, steht in großen Lettern METTA, das Pali-Wort für „Liebende Güte“. Man mag sich fragen, warum gerade dieses Wort gewählt wurde und nicht, um nur einige zu nennen, Achtsamkeit, Einsicht, Gleichmut, Weisheit oder Mitgefühl. Für mich sind alle diese Eigenschaften, die wir in langen Meditations-Klausuren an Orten wie der Insight Meditation Society oder in unserem Alltag üben, in dieser schlichten Eigenschaft des Herzens vereint. Die entscheidende Frage ist, ob und wie wir sie in den scheinbar nebensächlichen Alltäglichkeiten leben, und zwar sowohl uns selbst wie anderen gegenüber.

Der Dalai Lama sagt: „Meine Religion ist die Güte.“ Wenn alle so dächten und danach handelten, entstünden sofort innerer und äußerer Frieden, die ja in Wirklichkeit niemals verschwunden sind; sie sind nur verborgen und warten auf Wiederentdeckung. Dies ist das Werk und die Kraft der Liebenden Güte, in der es keine Trennung gibt zwischen dem Ich, den anderen und dem, was geschieht – sie bekräftigt und ehrt das Gute, mit dem wir alle geboren wurden. Die praktizierte Liebende Güte ist in der Tat die Grundlage der Achtsamkeits-Meditation, sie verlangt die gleiche nicht wertende, nicht besitzergreifende, nicht urteilende Orientierung am gegenwärtigen Erfahrungsaugenblick, eine Orientierung, durch die Ruhe, Klarheit des Geistes und des Herzens sowie Verstehen möglich werden und sich entwickeln können.

Sharon zeigt in diesem Buch, wie wir die Liebende Güte in unserem Leben systematisch pflegen können. Angesichts des Schmerzes und der Verwirrung, die wir oft erleben, des tiefgreifenden Irrtums im menschlichen Denken darüber, wer und was wir sind, sowie der Art, wie wir auf Belastungen und Leid in unserem Leben reagieren, ist das Praktizieren Liebender Güte schwierig – ebenso schwierig, wie auf den eigenen Atem zu achten oder den Fluß der eigenen Gedanken zu beobachten. Aber es ist ein überaus wirkungsvoller Weg, ein fundamentaler Weg, um Geist und Herz zu öffnen. Aus dieser Saat erwachsen wahres Glück, inneres Wohlbefinden und Genesung für uns und für alle Lebewesen, menschliche und andere – ein jedes ein Wunder, mit denen wir diesen zerbrechlichen Planeten Erde teilen. Möge Sharons Buch dazu beitragen, diese Entwicklung überall zu fördern.

JON KABAT-ZINN

Juli 1994

Danksagung

Im Laufe meines Lebens haben mir so viele Lehrer, Freunde und Schüler geholfen, etwas über Liebende Güte zu lernen, daß ich sie hier nicht alle einzeln aufzählen kann. Daher nenne ich nur jene namentlich, die mir bei diesem Buch halfen:

Steve Smith und Alan Clements, die mich zu meiner ersten Birma-Reise* anregten. Rand Engel, der vorschlug, ich solle ein Buch über Liebende Güte schreiben. Joseph Goldstein, der jeden Schritt des Weges mit mir gegangen ist und der mir in letzter Zeit beibrachte, was man mit schwierigen Kapiteln macht.

Barbara Gates, die mit außerordentlicher Eleganz und Fachkenntnis redigiert und die mich einige Grundbegriffe des Schreibens lehrte. Ann Barker, Sarah Doering, Catherine Ingram, Kate Wheeler, Judith Stanton und Dorothy Austin, die mich unermüdlich unterstützten und denen ich Verbesserungsvorschläge und kreative Ratschläge verdanke. Die Angestellten und Lehrenden der IMS, die sich diesen Lehren widmen.

Eric Kolvig, der das Projekt mit mir begann, dessen außerordentliche Fähigkeiten als Lektor dies alles möglich machten und der einige Kapitel durch seine Anregungen bereicherte. David Berman, der mir sechs der sieben Sachen beibrachte, die ich auf dem Computer kann, der heroisch mitten im Winter zurückflog, um mir zu helfen, und der mir bis zum Schluß unbeirrbar eine Stütze war.

Der Writers’ Club: Tara Bennet-Goleman, Susan Harris, Dan Goleman, Ram Dass, Kedar Harris und Joseph Goldstein, die eine ständige Anregung für mich waren und gelegentlich produktiven kollegialen Druck ausübten. Susan Harris für den Computer, den sie mir ebenso schenkte wie eine revolutionäre Freundschaft. Tara Bennet-Goleman und Kate Wheeler, die großzügig zahllose Stunden in die Titelsuche steckten. Anasuya Weil, die viel transkribierte und sich unablässig nach dem Fortgang des Buches erkundigte.

Kedar Harris, der mir furchtlos seine Meinung sagte und dessen Kommentare über frühere Fassungen des Buches leider genau zutrafen. Jack Kornfield, der mir Mut machte. Shoshana Alexander, die ihre eigene Arbeit liegenließ, um mit ihrem großen editorischen Talent den Fortgang meiner Arbeit auf wunderbare Weise zu erleichtern. Surya Das bugsierte meinen Computer durch LaGuardia und brachte mich mit Menschen zusammen, denen ich ein neues Verständnis von Liebe und Mitgefühl verdanke.

* Birma heißt seit 1989 Myanmar. Der Einfachheit halber wird das Land im Text weiterhin als Birma bezeichnet.

Einleitung

Wir sehnen uns ein Leben lang danach, uns selbst mehr lieben zu können und uns mit anderen tiefer verbunden zu fühlen. Statt dessen ziehen wir uns oft in uns zurück, fürchten Nähe und leiden unter einem bestürzenden Gefühl von Getrenntsein. Wir sehnen uns nach Liebe und sind doch einsam. Die Ursache dieses Schmerzes ist die Täuschung, wir seien voneinander und von allem, das uns umgibt, getrennt. Welcher Weg führt uns hinaus?

Meditieren entzieht dem Mythos des Getrenntseins die Basis, enthüllt das strahlende, fröhliche Herz, das jede und jeder von uns hat, und läßt die Welt an diesem Strahlen teilhaben. Hinter dem schmerzhaften Konzept von Trennung finden wir eine Verbindung zu uns selbst und allen Lebewesen. Wir finden eine Quelle großen Glücks, das jenseits aller Vorstellung und Konventionen ist. Wenn wir uns von der Illusion des Getrenntseins befreien, können wir in einer natürlichen Freiheit leben, statt von vorgefaßten Meinungen über unsere Grenzen und Beschränkungen getrieben zu werden.

Der Buddha sah den Weg zu dieser Freiheit in der vollkommenen Befreiung des Herzens, in der Liebe, und er lehrte, wie man das Herz systematisch aus einer isolierenden Enge zu wahrer, tiefer Verbundenheit führen kann. Dieser Pfad wird noch heute in einer Meditations-Tradition gepflegt, die Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut übt. Diese vier gehören zu den schönsten und kraftvollsten Gefühlen, die wir haben können. In Pali, der Sprache des Buddha, heißen sie die brahma-viharas. Brahma bedeutet „himmlisch“ oder „erhaben“, vihara „Heimstatt“, „Heimat“. Durch diese Meditationsübungen werden Liebe (Pali: metta), Mitgefühl (karuna), Mitfreude (mudita) und Gleichmut (upekkha) zu unserer Heimat.

1971, als ich in Indien den Buddhismus kennenlernte, begegnete ich den brahma-vihara-Übungen das erste Mal. Ich war auf der Suche nach den spirituellen Lehren des Ostens, zu einer Zeit, als so viele Amerikaner und Europäer dorthin fuhren, daß es einer Völkerwanderung gleichkam. Damals war ich sehr jung, doch ich kam, weil ich das Leben und das Leid, das ich bereits erlebt hatte, besser verstehen wollte.

Wir erlebten noch mehr Leid, als wir auf die Extreme des indischen Klimas und die dortigen Tropenkrankheiten trafen. Später unterhielt sich eine der Frauen, die mehrere Jahre in Indien gewesen war, mit einem Arzt des Stadtkrankenhauses von Barre, Massachusetts, wo wir die Insight Meditation Society gegründet hatten. Sie beschrieb die furchtbare Hitze in Neu-Delhi, wo die Temperaturen auf weit über 40 Grad ansteigen können. Einmal mußte sie im Sommer ihr Visum verlängern und war gezwungen, in der unvorstellbaren Hitze von einer Regierungsbehörde zur nächsten zu gehen. Sie erzählte dem Arzt, sie habe sich in diesem Sommer besonders schwach gefühlt, da sie kurz zuvor Gelbsucht, Amöbenruhr und Würmer gehabt habe. Ich sehe den Arzt noch vor mir, der sie völlig entsetzt ansah und sagte: »Sie hatten all diese Krankheiten und wollten Ihr Visum erneuern? Was hatten Sie vor? Hofften Sie auf Lepra?« Auf den ersten Blick war unser Indien-Aufenthalt wirklich eine Geschichte von Krankheiten, Unannehmlichkeiten und der heroischen (oder närrischen) Entschlossenheit, weiterzumachen. Doch ich weiß, daß die inneren Erfahrungen, die meine Freundin damals machte, trotz aller körperlicher Leiden, von denen sie sprach, die reine Magie waren. Unsere Zeit in Indien, fern aller üblichen sozialen Konventionen und höflichen Reaktionen, erlaubte jeder und jedem von uns einen völlig neuen Blick auf sich. Durch die Meditation wurden sich viele zum ersten Mal ihrer Fähigkeit bewußt, Gutes zu tun, und wir spürten Jubel, als wir eine völlig neue Verbundenheit mit allen Lebewesen entdeckten. Dieses Wissen würde ich für nichts eintauschen – kein Geld, keine Macht über andere, keine Trophäen und keine Auszeichnungen.

Damals saß ich unter dem Bodhi-Baum, wo der Buddha Erleuchtung erlangte, und wünschte mir, das Geschenk der Liebe zu leben, das der Buddha gelebt und verkörpert hatte. Die brahma-viharas – Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut – sind das Geschenk, und die Möglichkeit, sie auszuüben, ist das Vermächtnis des Buddha. Wenn wir diesem Weg folgen, lernen wir, heilsame Eigenschaften zu fördern und unheilsame loszulassen.

Die Ganzheit, die wir auf diesem spirituellen Weg entwickeln, entsteht, weil wir die heilsamen geistigen Gewohnheiten und Einflüsse, aus denen Liebe und Achtsamkeit entstehen, ebenso erkennen wie die unheilsamen, die unser irriges Gefühl von Trennung verstärken. Der Buddha sagte dazu:

Gebt auf, was unheilsam ist. Ihr könnt das Unheilsame aufgeben. Wäre es nicht möglich, sagte ich nicht, daß ihr es tun sollt. Brächte euch dieses Aufgeben Schaden und Schmerz, sagte ich nicht, daß ihr es aufgeben sollt. Doch da es euch Nutzen und Glück bringt, sage ich, gebt auf, was unheilsam ist. Pflegt das Gute. Ihr könnt das Gute pflegen. Wäre es nicht möglich, sagte ich nicht, daß ihr es tun sollt. Brächte euch diese Pflege Schaden und Schmerz, sagte ich nicht, daß ihr es tun sollt. Doch da euch diese Pflege Nutzen und Glück bringt, sage ich, pflegt das Gute.

Wir geben die unheilsamen Eigenschaften, die Leiden verursachen, nicht auf, weil wir sie fürchteten oder verachteten, und auch nicht, weil wir uns dafür verachteten, daß sie in unserem Denken entstehen konnten. Das Unheilsame läßt sich nicht aufgeben, indem wir das vertraute Gefühl von Getrenntsein einfach ärgerlich beiseite fegen. Es geschieht vielmehr, indem wir lernen, uns und alle Lebewesen wirklich zu lieben. Im Licht dieser Liebe können wir die Bürde klarer erkennen, und wir beobachten, wie sie einfach von uns abfällt.

Statt verbissen an Eigenschaften wie Zorn, Angst oder Anhaftung festzuhalten, die uns und anderen schaden, können wir sie fallenlassen wie eine beschwerliche Last. Unheilsame Reaktionen, die wir gewohnheitsmäßig mit uns umhertragen, sind uns eine Bürde. Sobald wir einsehen, daß wir diese Reaktionen nicht brauchen, können wir sie aufgeben.

Das Gute pflegen bedeutet, die strahlende Macht der Liebe wiederzuerlangen, die in uns allen verborgen liegt. In einem erwachten Leben werden wir die begrenzenden Auffassungen, die wir von unseren Möglichkeiten haben, grundsätzlich revidieren. Wenn wir sagen, daß wir das Gute pflegen, dann heißt das, daß wir uns eine offene Sicht davon zu eigen machen, was für uns möglich ist, und durch die Meditation können wir in den Erfahrungen, die wir in jedem Moment machen, diese visionäre Erkenntnis pflegen.

Diese Erkenntnis ist immer für uns verfügbar; es ist unerheblich, wie lange wir schon in dem Gefühl von Beschränkung gefangen sind. Wenn wir einen dunklen Raum betreten und das Licht anmachen, spielt es keine Rolle, ob der Raum einen Tag, eine Woche oder zehntausend Jahre lang dunkel gewesen ist – wir drehen das Licht an, und es ist hell. Sobald wir mit unserem Potential, zu lieben und glücklich zu sein – mit dem Guten –, Verbindung aufnehmen, wird es hell. Das Üben von brahma-vihara ist der Weg, das Licht anzuzünden und brennen zu lassen. Es ist ein Prozeß tiefer spiritueller Wandlung.

Diese Wandlung vollzieht sich, wenn wir den Weg tatsächlich gehen: dessen Wertvorstellungen und Theorien in die Praxis umsetzen, zum Leben erwecken. Wenn wir danach streben, das Unheilsame aufzugeben und das Gute zu pflegen, tun wir dies in der Überzeugung, daß es uns wirklich gelingen wird. „Wäre es nicht möglich, sagte ich nicht, daß ihr es tun sollt.“ Wenn wir diesen Satz des Buddha im Gedächtnis behalten, folgen wir dem Weg in der sicheren Gewißheit, unser einzigartiges Potential für Liebe und Wahrheit auch leben zu können.

Der Weg beginnt, indem wir unsere Einheit mit anderen Lebewesen durch Großzügigkeit, Nicht-Verletzen, rechte Rede und rechtes Handeln pflegen. Auf der Grundlage dieser Eigenschaften läutern wir unseren Geist durch meditative Sammlung. Dabei erfahren wir die Wahrheit und das Leid, das durch Trennung verursacht wird, ebenso wie das Glück, uns mit allen Wesen verbunden zu wissen. Diese Erkenntnis gipfelt in der „vollkommenen Befreiung des Herzens“, wie der Buddha es ausdrückte. Die Erfüllung des spirituellen Weges ist es, die wahre Natur des Herzens und des Glücks zu verstehen. Brahma-vihara zu praktizieren ist sowohl der Weg dorthin als auch der natürliche Ausdruck eines solchen Verstehens.

Meine eigene intensive Beschäftigung mit den vier brahma-viharas begann 1985 in Birma. Unter Anleitung von Sayadaw U Pandita, einem Theravada-Meditationsmeister, widmete ich mich den ganzen Tag lang der Ausbildung und Pflege von Liebe, Mitgefühl, selbstloser Freude und Gleichmut. Es war eine außergewöhnliche Zeit! In der geschützten Atmosphäre der Klausur klärten und festigten sich die brahma-viharas so sehr, daß sie nach der Klausur nie wieder verblaßten, sondern wirklich zu meiner Heimat wurden. Natürlich verliere ich gelegentlich den Kontakt zu ihnen, jetzt aber führt mich meine Sehnsucht nach Glück immer wieder zu ihnen zurück.

In diesem Buch erläutere ich die Meditationsübungen, die ich in Indien das erste Mal praktizierte und später in Birma systematisch erlernte. Seit meiner ersten Begegnung mit dem Buddhismus zeigten mir alle meine Lehrerinnen und Lehrer auf ihre je eigene Art die Segnungen der Liebenden Güte und vermittelten mir ein Gefühl für deren grenzenlose Möglichkeiten. Dieses Buch entstand aus der tiefen Verehrung für meine Lehrerinnen und Lehrer. Wenn ich hier die Meditationstechniken erläutere, dann in grenzenloser Dankbarkeit dafür, daß ich sie erlernen durfte, sowie in dem Wunsch, daß andere davon profitieren mögen.